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Ein selbstsüchtiger Mann, der stets nur eigene Ziele verfolgt, erfährt eines Tages, dass er an einem unheilbaren Gehirntumor leidet und dass er bald sterben würde. In der Zeit, die ihm noch bleibt, versucht er eine furchtbare Tat, die er einer Frau vor vielen Jahren angetan hatte, wiedergutzumachen. Während seine Krankheit unaufhaltsam fortschreitet, leidet er unter immer stärker werdenden Kopfschmerzen, und gleichzeitig wird er von seltsamen Träumen heimgesucht, scheinbar über vergangene Leben und Zeitalter, die ihm so luzide erscheinen, als ob es seine eigenen Erinnerungen wären. Eines haben sie alle gemeinsam, er begegnet dort immer wieder einer besonderen Frau, die er zu beschützen versucht und für die er unzählige Male sein Leben hergibt, bis es ihm gelingt ... Was hat das alles zu bedeuten? Wer oder was ist er? Und wer ist diese Frau? Und was wird wohl passieren, wenn er diesmal seine letzte Reise antritt?
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Seitenzahl: 393
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Der alte Mann
Die Weihnachtsfeier
Der Sklave und die Auserwählte
Das Traumgespinste
Der Geschäftsmann
Der Krieger und die Prinzessin
Die Abschiedsparty
Die Schandtat
Der Diener und die Sklavin
Abendessen zu dritt
Der Alchemist und die Königin
Der Yogalehrer
Der Gottesdiener
Das Erwachen
Davids Vermächtnis
Die Erkenntnis
Die alten Seelen
Die Suche
Epilog
***
Die Vergangenheit und Zukunft verflochten in der Zeit
Die Verdammnis des Vergessens das Leid der Seelen heilt
Auf ewig verflucht zu finden und Trennung widerfahren
Stets aufs Neue zu suchen, wer wir sind und wer wir waren
Dem Schicksal auf ewig zu trotzen und sich endlos quälen
Unzählige Wandel vollziehen und Wanderung der Seelen
In Hoffnung den Kreislauf des Lebens endlich zu brechen
Und sich nicht mehr des Messers Spitze ins Herz zu stechen
Doch manchmal der Wille schwindet und der Glaube fällt
Für jeden Einzelnen, der sich dem eigen‘ Schicksal stellt
Zu hoffen bleibt nur, dass der Tag mal kommen wolle
An dem man erwacht und endlich los wird seine Rolle
Um die Ketten zu sprengen und sich nicht mehr binden
Und allem zu Trotz seine wahre Bestimmung finden
***
Dunkelheit, nichts als undurchdringliche, tiefschwarze Dunkelheit und tödliche Kälte. Das machte ihm jedoch gar nichts aus, das Einzige, was sein Bewusstsein wahrnahm, war die Geschwindigkeit, mit der er sich vorwärts bewegte. Angst verspürte er keine, weil er genau wusste, was er tat und wohin seine Reise zielte. Zeit und Entfernung spielten für ihn keine Rolle. Er befand sich im tiefsten Weltall, irgendwo zwischen den Galaxien. Das Tempo, mit dem er nach vorne schnellte, ließ für ihn die Zeit fast stehenbleiben. Es war ihm sehr wohl bewusst, dass er nicht alleine unterwegs war und dass sich die anderen ebenfalls auf der Suche befanden, auch nach ihm. Er hatte jedoch den Vorteil, dass er sich tarnen konnte, um nicht entdeckt zu werden, wenn er dies beabsichtigte. Nicht viele hatten diese Fähigkeit erwerben können. Er war mehr oder weniger eine Ausnahme, doch gerade diese Eigenschaft hatte er wirkungsvoll zu nutzen gelernt. Wie lange er bereits auf diese Weise das All durchstreifte, hätte er nicht sagen können, weil er sein Dasein nicht nach der Zeit bestimmte. Dennoch spürte er gerade, dass er seinem Ziel langsam näherkam. Die pechschwarze Finsternis fing langsam an zu schwinden. Es war zuerst nur ein Hauch von einem helleren Spot in der weiten Ferne, den er vernahm und der nicht mehr so dunkel zu sein schien, wie das unendliche Weltall um ihn herum. Nur ein Schatten, der für ein menschliches Auge nicht wahrzunehmen wäre, für ihn jedoch ein eindeutiges Zeichen, dass sich seine Reise dem Ende näherte. Bald würden die ersten Sterne erscheinen und die absolute Dunkelheit, die ihn bislang umgab, verdrängen, was ihn irgendwie erfreute. Gefühle waren für ihn bis vor Kurzem etwas völlig Unbekanntes gewesen. Damit musste er noch zurechtkommen. Er verspürte eine leichte Aufregung, sein Bewusstseinszustand veränderte sich auf eine Weise, die ihm noch vollkommen fremd gewesen war. Diese Veränderungen seiner eigenen Substanz erschienen in der letzten Zeit immer häufiger. Er würde lernen müssen, damit umzugehen. Das war auch einer der Gründe gewesen, warum er sich auch auf die Suche begeben hatte. Wie viele Galaxien und Sonnensysteme hatte er bereits durchforstet und erkundet, erfolglos und vergebens. Zwischendurch hatte er sogar ans Aufgeben gedacht. Etwas, ein bislang unbekannter Drang, hatte ihn jedoch vorangetrieben und diese Gefühlsregung, die er immer wieder verspürte, zwang ihn stets weiterzumachen. Außerdem musste er schneller sein als die anderen, das war enorm wichtig. Und dieses Mal hatte er ein unverkennbares Gefühl, dass es sich endlich um den richtigen Ort handelte, hier würde er fündig werden. Er konnte sich diese Sinnesempfindung nicht erklären, doch er war sich sicher, dass er diesmal richtiglag, dass seine Suche sich dem Ende näherte, dass…
Der alte Mann, der auf einer schäbigen Bank mitten in einer kleinen Parkanlage saß, wachte ruckartig auf. Es dauerte eine Weile, bis ihm wieder bewusst wurde, wo er sich gerade befand. In der Nähe spielten auf einem Spielplatz ein paar Kinder, deren Tätigkeit von ihren Müttern sorglos verfolgt wurde. Es war Spätherbst und die Bäume um ihn herum hatten ihr buntes Laub größtenteils bereits verloren. Sie standen still und majestätisch um ihn herum und ihre verflochtenen Äste ragten kahl und traurig in den wolkenlosen Himmel hinauf. Die Nachmittagssonne schien zwar ungehindert auf den alten Mann nieder, die Wärme blieb dennoch aus. Klirrende makellose Kälte, die ihn an seinen seltsamen Traum erinnerte. Trotzdem erwachte er völlig verschwitzt. Seine Kopfschmerzen meldeten sich abermals, stärker denn je. In dem Augenblick beachtete er sie jedoch gar nicht, sondern versuchte er, sich zu besinnen und einen klaren Gedanken zu fassen. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass ihn solche Träume heimgesucht hatten. In der letzten Zeit kamen sie immer öfter, meistens jedoch kurz vor dem Aufwachen, wo man am intensivsten träumte. Heute war es das erste Mal gewesen, dass er in seine Traumwelt auch tagsüber eingetaucht war. Und noch nie war der Traum so klar und so real gewesen. Als ob es seine eigenen Erinnerungen gewesen wären und niemals zuvor hatte er so umfassend geträumt. Meistens waren es nur Bruchstücke gewesen, die Dunkelheit, die unvorstellbare Kälte des Weltalls, die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der er sich fortbewegte. Seine Empfindungen, alles um ihn herum, waren dabei stets so greifbar und wahrhaftig, dass er jedes Mal einige Zeit gebraucht hatte, um aufzuwachen und sich der Gegenwart zu stellen.
Allmählich gelang es ihm, diesen fremdartigen Traum zu verscheuchen und sich der Realität zuzuwenden. Es wurde ihm wieder bewusst, warum er sich überhaupt gerade um diese Zeit in dem Stadtpark befand. Er schaute in Richtung der tobenden Kinder. Sie schrien, hüpften und jagten fröhlich hintereinander her. Doch er beachtete sie gar nicht, sondern richtete seinen Blick auf die Frau, die alleine auf einer der Parkbänke am Spielplatz saß und die spielenden Kinder im Auge behielt. Sie war nicht mehr ganz jung, dennoch war sie immer noch wunderhübsch. So empfand es wenigstens der alte Mann. Sie besaß eine Art zeitlose Schönheit, der das Alter nichts anhaben konnte. Insbesondere ihr nachdenklicher Blick mit einem Hauch von Trauer und ihre grünblauen Augen stachen unverkennbar aus ihrem schmalen Gesicht mit hohen Wangenknochen hervor, umrandet von schulterlangem, dunkelbraunem Haar. Während sie ihre kleine Tochter, die sich auf dem Spielplatz befand, betrachtete, umspielte ein leichtes Lächeln ihre sinnlichen Lippen. Die anderen meist jungen Mütter unterhielten sich gesellig miteinander und verfolgen die Tätigkeit ihrer Kinder lediglich hin und wieder, um sich zu vergewissern, dass nichts passiert war. Nicht jedoch diese hübsche Frau. Sie saß abseits der anderen, allein, ihre Hände in den Schoß gelegt, wo sie ein aufgeschlagenes Buch hielt. Sie las jedoch nicht viel darin, sondern beobachtete die meiste Zeit die Aktivität ihrer Tochter. Auch das kleine Mädchen spielte nicht mit den anderen Kindern, sondern saß alleine im Sandkasten und baute völlig konzentriert eine Sandburg. Immer wieder schaute sie jedoch zu ihrer Mom auf und lächelte sie an. Und diese Frau erwiderte jedes Mal mit glücklicher Miene das Lächeln.
Der alte Mann betrachtete sie eine Weile unauffällig. Er wollte auf keinen Fall, dass sie herausfand, wie er sie anstarrte. Andererseits, warum sollte sie überhaupt Verdacht schöpfen? Für sie war er nur ein Greis, der sich im Park an der Sonne seine Knochen aufwärmte, wie so viele andere alte Menschen. Hier, an diesem abgelegenen Ort, war es zu Gewohnheit geworden, dass sich die hiesigen Rentner bei schönem Wetter in dieser städtischen Parkanlage oder in den umliegenden Cafés und gemütlichen Restaurants zu einer kleinen Plauderei zusammenfanden. Er mied jedoch seine Gleichaltrigen, so gut es ihm nur möglich war und an dem meist nichtssagenden Geschwätz hatte er sich nie beteiligt. In diesem Park und gerade um diese Zeit befand er sich nur ihretwegen. Sie war der alleinige Grund gewesen, in diese unbedeutende Kleinstadt zu ziehen.
Hin und wieder hatten sich ihre Wege bereits gekreuzt, weil er in das gleiche Viertel und durch Zufall auch in die gleiche Straße wie sie eingezogen war. Sie hatte ihn sogar einige Male angelächelt, als sie sich auf dem Gehweg ab und an begegnet waren. Einmal war ihre kleine Tochter, ohne hinzusehen, vor ihr die Straße entlanggelaufen und direkt mit ihm zusammengestoßen. Ihre Mutter hatte sich sofort entschuldigt und die Tochter dafür umgehend gescholten. Der alte Mann hatte es jedoch nur mit der Hand abgewinkt und das kleine Mädchen sogar freundlich angelächelt und angezwinkert. Den direkten Augenkontakt mit dieser bezaubernden Frau versuchte er jedoch immer zu vermeiden. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn nicht hätte wiedererkennen können. Das wollte er auf keinen Fall. Er sehnte sich nur danach, in ihrer Reichweite zu sein. Er wusste selbst nicht warum. Ihre Nähe beruhigte ihn irgendwie, sie brachte ihm Frieden. Als ob sie eine Art Aura ausstrahlen würde, die ihn in ihren Bann zog, als ob er sein Leben lang nach ihr gesucht hätte. Bislang hatte sie ihn glücklicherweise nicht erkannt. Wie auch, er hatte lange, zerzauste, schneeweiße Haare und einen weißen Vollbart. Dazu sah er deutlich älter aus, als es tatsächlich der Fall war. Außerdem waren bereits mehr als zwanzig Jahre vergangen, seitdem sie sich das letzte Mal begegnet waren, miteinander gesprochen hatten.
Es ist bereits so lange her und dennoch als ob es erst gestern gewesen wäre, dachte er sich oft schwermütig. Für ihn war es eine lange Reise gewesen, die er hinter sich gebracht hatte und hier würde sie nun auch enden. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, das war ihm deutlich bewusst. Seine Schmerzen tauchten des Öfteren auf und wurden immer heftiger. Die gängigen schmerzlindernden Medikamente halfen nicht mehr und zudem versuchte er deren Einnahme so weit wie möglich hinauszuzögern. Sobald er in einem Krankenhaus landen würde, wäre es vorbei, er käme dort lebend nicht mehr heraus. Und er würde sie dann auch nie wiedersehen.
Jedes Mal, nachdem die Anfälle wieder abgeklungen waren, sagte er sich deshalb immer und immer wieder, noch ein paar Tage, vielleicht einige Wochen, so lange, so lange ich es noch aushalten kann.
Am schlimmsten waren die Kopfschmerzen. Sie kamen unerwartet und waren oft so stark, dass er in der letzten Zeit hin und wieder sogar kurzzeitig sein Bewusstsein verlor.
Es ist unfair, wie das Leben mit einem so spielt, dachte er sich verbissen. Er war sein Leben lang unterwegs gewesen, rastlos, immer auf der Suche. Suche nach was? fragte er sich jetzt oft. Auf seinen stetigen Reisen war er nirgendwo lange geblieben, um sesshaft zu werden. Ein einziges Mal war er verheiratet gewesen, kinderlos und die Ehe hatte nicht lange gehalten. Die Schuld hatte, wie so oft, bei ihm gelegen und er war einfach weitergezogen, wie immer. Die Flucht nach vorn war immer sein Motto gewesen. Wegzulaufen war immer einfacher und bequemer als sich den Problemen zu stellen, dem Leben die Stirn zu bieten.
Und dann, vor etwa einem Jahr, nachdem er immer häufiger unter starken Kopfschmerzen gelitten hatte, hatte er schließlich einen Arzt aufgesucht. Die Diagnose fiel niederschmetternd aus. Er hatte einen Hirntumor im fortgeschrittenen Stadium und dessen Lage war so ungünstig, dass ein chirurgischer Eingriff ausgeschlossen war und es für ihn im Grunde keine Heilungschancen mehr gab. Dazu fing der Tumor bereits an zu streuen, so dass, auch wenn es gelingen würde, die Krebsgeschwulst erfolgreich herauszuschneiden, es nicht wirklich helfen würde.
Nachdem er das erste Mal von seiner aussichtslosen Lage erfahren hatte, hatte er zuerst Trost im Alkohol gesucht. Wochenlang war er betrunken gewesen, war durch die Nachtbars gezogen, bis er schließlich irgendwo am Straßenrand, zusammengeschlagen und ausgeraubt, mit einem riesigen Kater und unzähligen blauen Flecken aufgewacht war.
Die Ärzte hatten ihm trotz seinem ausweglosen Zustand einige Behandlungsmöglichkeiten angeboten, die er zwar zögerlich, dennoch zuerst angenommen hatte. Ein ganzes Jahr lang hatte er alles Mögliche über sich ergehen lassen, angefangen mit Chemotherapie, dann Strahlentherapie, adjuvante Therapie und schließlich sogar mit Hilfe einiger neuen molekularbiologischen Heilverfahren. Nichts hatte jedoch geholfen. Am Ende war er so erschöpft und ausgemergelt gewesen, dass er einfach nur noch sterben wollte. Es waren ihm auch weitere alternative Behandlungsmöglichkeiten angeboten worden, die er jedoch dankend doch entschieden abgelehnt hatte. Danach hatte er sich zurückgezogen, um wieder zur Vernunft zu kommen und um sich zu erholen. Er hatte langsam begriffen, dass sich seine Reise auf dieser Welt dem Ende näherte, sein baldiger Tod unvermeidbar war und er ihn schließlich akzeptieren musste. Die Zeit der Erholung hatte er genutzt, um über sich und sein Leben gründlich nachzudenken. Darüber, warum er stets so rastlos gewesen war, warum er nirgendwo lange hatte verweilen können.
Was ist es, wonach ich mich so sehne, wieso ich mich nie zur Ruhe setzen kann? fragte er sich oft. Geld? Macht? Anerkennung? Liebe?
Er wusste es nicht. Während seiner langen Grübeleien erinnerte er sich an vieles, was er erlebt hatte, an die vielen Menschen, die er gekannt hatte, und auch an Frauen, denen er in seinem Leben begegnet war.
Und plötzlich, wie aus heiterem Himmel, kam ihm auch die längst verdrängte Erinnerung an die eine Frau, die ihm in seinem Leben wahrhaftig etwas bedeutet hatte. Er hatte geglaubt viele Frauen zu lieben, mit denen er zusammen gewesen war, doch im Nachhinein stellte er fest, dass es nur Begierde und Leidenschaft gewesen waren. Ein Gefühl, das nach einiger Zeit wieder verflogen war. Doch diese eine Frau hatte er nie richtig vergessen können. Das Interessanteste dabei war, dass er mit ihr nie wirklich etwas gehabt hatte. Sie war nur seine Kollegin gewesen, eine junge Praktikantin, die er eingearbeitet hatte, und die ihm damals bei seiner eigenen Arbeit helfen sollte. Erst als sie fortgegangen war, wieder zurück an die Universität, war ihm im Nachhinein bewusst geworden, wieviel sie ihm tatsächlich bedeutet hatte. Sie war anders als alle anderen Frauen, denen er bis dahin begegnet war. Sie schien ihm etwas Besonderes zu sein, ihr Verhalten, wie sie sprach, wie sie lächelte, wie sie sich bewegte, wie sie einen ansah, einfach alles.
Damals hatte er als Fachberater in Sachen Zulassung neuer Medikamente bei einem großen Pharmaunternehmen gearbeitet. Er fand sie zwar gleich bei der ersten Begegnung, als man sie ihm als neue Praktikantin vorgestellt hatte, die ein Jahr lang Erfahrung bei der Firma sammeln wollte, attraktiv und anziehend, hatte aber keine Absichten gehegt, mit ihr etwas anzufangen. Er hatte sich bereits mit ein paar Kolleginnen eingelassen und es hatte ihm meist mehr Ärger eingebracht, als es das Vergnügen überhaupt wert gewesen war. Sie war damals etwa um die zwanzig Jahre alt und somit deutlich jünger als er. Mit der Zeit, als er sie jedoch besser kennengelernt hatte, hatte er festgestellt, dass er in seinem Leben noch nie so einer Frau begegnet war. Und das hatte sich bis zum heutigen Tage nicht geändert. Im Nachhinein, als er darüber nachdachte, fand er, dass es mit ihr eine sehr schöne Zeit gewesen war. Wann immer sie sich in seiner Nähe befand, hatte er einfach seine Sorgen vergessen, es hatte nur ihn und sie gegeben. Es war ihm jedoch alles erst danach richtig klar geworden und auch die Tatsache, dass er sich in sie verliebt hatte. Sie hatte großes Vertrauen in ihn gehabt und hatte ihn auch für seine Kenntnisse und sein Wissen bewundert. Das hatte sie selbst gesagt, als sie ihr Praktikum beendet hatte. Sie hatte ihm sogar angeboten, sie könnten weiterhin in Kontakt bleiben und sich regelmäßig treffen. Das hätte sie sehr gefreut. Er hatte aber alles vermasselt. Während der Abschiedsfeier hatte er wieder einmal zu viel getrunken und seine wahre Natur war dadurch abermals zum Vorschein gekommen. Er war nie ein guter Mensch gewesen. Doch das, was er getan hatte …, was er ihr angetan hatte, das war unverzeihlich.
Nein ich will nicht einmal daran denken!
Er rannte weg, zog durch die Bars und trank bis zur Bewusstlosigkeit und erwachte am nächsten Tag mit einem schrecklichen Kater in einem fremden Bett mit einer fremden Frau, an deren Namen er sich nicht einmal erinnern konnte. Die Praktikantin hatte trotz allem versucht, ihn zu kontaktieren. Er schämte sich jedoch für das, was er getan hatte, und mied fortan jeglichen Kontakt mit ihr. Kurz danach hatte er seinen Job gekündigt und war weitergezogen, genauso wie bereits so oft zuvor. Er war einfach geflüchtet und seitdem hatte er keine Ruhe mehr gefunden.
Als er erfahren hatte, dass er bald sterben würde, und sich an diese besondere Frau erinnerte, überfiel ihn in dem Augenblick eine unstillbare Sehnsucht nach ihr und ihrem Wesen. Er wollte erfahren, wie es ihr ging, was sie tat, wo sie lebte. Er beabsichtigte damit auch, seine schändliche Tat irgendwie wiedergutzumachen. Es dauerte eine Weile, bis er sie gefunden hatte, und jetzt war er da, in diesem kleinen Kaff, irgendwo am Rande der Welt. Dennoch war er glücklich, ihre Nähe hatte ihn wieder ins Gleichgewicht gebracht und mehr wollte er ja gar nicht, mehr brauchte er gar nicht mehr. Als er in ihre Nähe eingezogen war, hätte er sie am liebsten direkt angesprochen und ihr die Wahrheit gesagt, doch er traute sich nicht. Er hatte Angst, dass sie ihm nicht verziehen hatte und dass sie ihn abweisen würde. Deshalb hatte er sich am Ende lieber für die Rolle eines stillen Zuschauers und Beobachters entschieden.
Wie er nach und nach erfahren hatte, hatte sie es in ihrem Leben nicht gerade leicht gehabt. Als sie damals miteinander gearbeitet hatten, war sie gerade frisch verliebt gewesen. Dieser junge Mann hatte sie jedoch mit einer anderen Frau hintergangen und ihre empfindliche Seele hatte sehr lange gebraucht, um darüber hinwegzukommen. Als sie schließlich jemanden anderen kennengelernt hatte, war sie bereits in mittlerem Alter, doch ihr Glück währte nicht lange. Das gleiche Schicksal hatte sie ereilt, wie zuvor. Das Einzige, was ihr am Ende blieb, war ihre Tochter. Es hatte danach einen heftigen Streit um das Sorgerecht gegeben. Das war auch der Grund, warum sie in diese kleine Stadt gezogen war, um so weit wie möglich von ihrem Exmann entfernt zu sein, dort, wo er sie nicht finden würde. Der alte Mann konnte nicht verstehen, wie jemand so eine besondere Frau überhaupt betrügen könnte, es war für ihn einfach unbegreiflich und unvorstellbar.
»Glaubst du wirklich, dass wir uns wiedersehen werden?«, fragte sie zögerlich.
Er betrachtete sie eine Weile mit einem traurigen Gesichtsausdruck aus nächster Nähe, dann fuhr er mit seinen Fingern leicht über ihre Wange. Er wusste, dass er fort musste, sonst würde er verhaftet und eingesperrt, vielleicht sogar getötet werden. Alles in ihm sträubte sich dagegen, weil er sie nicht verlassen wollte. Es war ihm bewusst, dass, wenn er bleiben würde, er sie dadurch ebenfalls in Gefahr bringen könnte.
Sie erwiderte seinen Blick, ohne zu blinzeln. »Davon bin ich überzeugt«, antwortete sie schließlich leise, senkte kurz ihre Augen und fügte zuversichtlich hinzu, »in diesem oder im nächsten Leben«.
Er lächelte vor sich hin. Das wäre schön, wirklich schön, dachte er sich, wenn er nur daran glauben könnte, so wie sie. Sie hatten sehr oft darüber diskutiert, sich deswegen ab und an sogar gestritten. Sie selbst war immer davon überzeugt, dass es eine Art Seelenwanderung gab, dass in jedem Körper eine Seele hauste, die nach dem Tod einfach in einem anderen Körper wiedergeboren werden würde. Er war dagegen ein bodenständiger Mensch, der sich nur selten der Träumerei hingab. Er brauchte für alles Beweise, etwas, was er anfassen konnte. Für das, was sie ihm jedoch erzählte und woran sie glaubte, gab es keine. Es war deshalb schwer für ihn, an so etwas zu denken oder sich so etwas überhaupt vorzustellen.
Er hob plötzlich seine Hand und fuhr mit der Handfläche sanft über ihre langen dunklen Haare, dann küsste er sie schnell auf den Mund und, bevor sie darauf reagieren konnte, drehte er sich um und eilte davon, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Er konnte nicht. Wenn er nur ein wenig gezögert, ein einziges Mal zurückgeblickt hätte, wäre er nicht in der Lage gewesen, sie zu verlassen. Ein ungutes Gefühl nistete sich in seiner Magengrube ein, als er sich nach und nach entfernte. Er würde sie nie vergessen, dass war ihm sehr wohl bewusst. Es blieb ihm nur die Hoffnung, dass er sie wiedersehen würde, irgendwann einmal. Nein! Er war sich vollkommen sicher, eines Tages würde er zurückkommen und er würde sie wiederfinden. Er würde nach ihr suchen, egal wie lange es dauern sollte.
Ihre traurigen Augen, voller Tränen, begleiteten ihn, bis seine Gestalt in der kalten und regnerischen Nacht völlig verschwand und sein Schatten mit der Dunkelheit unverkennbar verschmolz.
Der alte Mann wachte verschwitzt in seinem Bett auf. Es war erst kurz nach Mitternacht. Erneut brauchte er eine geraume Zeit, bis er realisierte, dass er sich in seiner kleinen Wohnung befand. Auch wenn der Traum nur kurz gedauert hatte, war er so real gewesen, dass es ihm unheimlich schwerfiel, loszulassen. Als ob es ein kurzer Abschnitt seines eigenen Lebens gewesen wäre. Er konnte sich noch deutlich an die Nacht erinnern, als er mit dieser jungen Frau vor der Haustür gestanden hatte. Ein kleines schäbiges Haus am Rande der Straße. Die Nacht war mondlos gewesen, düster und es war bitterkalt. Er erzitterte, als er diese Erinnerung vor seinem inneren Auge wieder durchlebte. Sogar den typischen Geruch des späten Herbsts konnte er immer noch klar wahrnehmen. Das Erlebnis in seinem Traum ereignete sich fast um die gleiche Jahreszeit wie jetzt. Und sie, eine zierliche dunkelhaarige Frau mit goldbraunen Augen. Sie kam ihm bekannt vor, ihre Gesichtszüge, wie sie ihn ansah, ihr durchdringender Blick.
Ich kenne sie, aber woher? schoss ihm durch den Kopf. Darauf hatte er jedoch keine Antwort. Eins wusste er dennoch mit Sicherheit, diese Nacht würde er nicht mehr einschlafen können.
Eine Weile wälzte er sich noch im Bett, dann entschied er sich schließlich aufzustehen. Als er sich aufsetzte, bekam er einen Schwindelanfall und musste sich mit den Händen auf die Matratze stützen, um nicht zusammenzusacken. Er atmete einige Male tief durch und versuchte sich zu entspannen. Es dauerte eine Weile, dann, nach und nach, wurden seine Kopfschmerzen wieder erträglicher. Vorsichtig richtete er sich auf, ließ jedoch seinen Kopf immer noch hängen und blieb eine Zeitlang sitzen. Er wagte noch nicht aufzustehen, weil er befürchtete, dass die Kopfschmerzen wiederkehren und er zu Boden stürzen würde. Auf diese Weise hatte er sich bereits einige Male verletzt, hatte an Knien und Ellbogen zahlreiche Schürfwunden und jede Menge blauer Flecken am ganzen Körper, weil er immer wieder gegen verschiedene Gegenstände, Tische, Stühle, Schränke, Wand oder Tür gestoßen war. Glücklicherweise hatte er sich jedoch bislang noch nicht ernsthaft verletzt. Dies könnte jedoch jederzeit passieren und wenn er im Krankenhaus landen würde, käme er da nie wieder heraus. Davor fürchtete er sich am meisten. Das würde bedeuten, dass er sie nie wiedersehen würde und dafür war er noch nicht bereit. Er wollte sich ja bei ihr noch entschuldigen und sie um Verzeihung bitten. Diese Absicht, bevor er die Welt endgültig verlässt, hatte er noch nicht zustande gebracht, dafür fehlte ihm immer noch der Mut.
Er fasste deshalb den Entschluss, seine Medikamente wieder zu nehmen. Bislang hatte er die Einnahme gemieden, solange er in der Lage gewesen war, die Schmerzen auszuhalten, weil sie sein Bewusstsein vernebelten und das Träumen verhinderten. Das wollte er aber nicht. Diese seltsamen Träume waren sein jetziges Leben, das einzige Leben, das er noch hatte. Sie waren so lebendig, so real und so gefühlsreich, dass er stets eine Zeitlang brauchte, sich wieder auf die Gegenwart einzustellen. Sein Geist wehrte sich selbst dagegen. Die Realität war trostlos, fad, schmerzhaft und endlich, es blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Seine luziden Träume waren dagegen ein anderes Leben, andere Zeiten, er war wieder jung, stark und gesund. Auch wenn der Traum in Wirklichkeit vermutlich nur einige Stunden, vielleicht sogar nur Minuten während der Nacht dauerte, waren es für ihn in seiner Traumwelt Tage oder sogar Jahre gewesen. Es schien ihm ab und an, als ob er sogar ein ganzes Leben in diesem Traum durchlebt hätte, mit allen seinen Höhen und Tiefen. Einige Ereignisse träumte er sogar des Öfteren und es schien ihm hin und wieder, als ob einige der Träume aus verschiedenen Abschnitten des gleichen Lebens entstammten.
Als er über seine Träume nachdachte, fiel ihm dabei etwas ein und er musste vor sich hin lächeln. Es handelte sich um eine lebhafte Erinnerung an die Frau und ihre Tochter, die er im Park beobachtet hatte. Es lag bereits über zwanzig Jahre zurück. Als jedoch dieses besondere Ereignis vor seinem inneren Auge abermals erschien, kam es ihm vor, als ob das alles erst vor einigen Tagen geschehen wäre. Er schloss seine Augen und sein Gesicht entspannte sich langsam. Das leichte schmerzverzerrte Lächeln umspielte weiterhin seine Lippen.
Sie hätte ihm vermutlich ohne Weiteres erklären können, was seine Träume bedeuteten, doch er hatte damals nicht daran geglaubt. Als er sich jedoch an das, was sie ihm damals zu erklären versucht hatte, wieder erinnerte, kam es ihm nicht mehr so verkehrt und unrealistisch vor.
Vielleicht hat sie recht gehabt? dachte er sich dabei. Dann wäre auch mein baldiges Dahinscheiden für mich viel einfacher. Wer weiß?
***
Es hatte damals gerade eine Weihnachtsfeier gegeben, organisiert von der Firma, bei der er arbeitete, in einer kleinen gemütlichen Bar. Sie saßen beide, er und die junge Frau, an einem kleinen Tisch, abseits der Feierlichkeiten. Er beobachtete sie eindringlich und lächelte dabei vor sich hin. Sie absolvierte bei ihm ein Praktikum und ihre Zeit war neigte sich dem Ende zu. Ihr Gesicht war nur durch das Licht einer Kerze, die in der Mitte zwischen ihnen stand, beleuchtet. Das Flattern der Flamme warf Schatten auf ihr hübsches Gesicht, Schatten, die sich ständig bewegten und fortlaufend ihre Ausdrucksweise in einem unendlichen Spiel einer besonderen Schönheit veränderten. Ihre Haut war weiß wie Alabaster und ihr Gesicht schien wie aus Marmor gemeißelt. Ein wahrer Meister vollbrachte hier eine makellose Arbeit, dachte er sich dabei. Sie schaute ihm die ganze Zeit in die Augen, als sie es ihm zu erklären versuchte. Er erwiderte ihren Blick. Auch wenn er gewollt hätte, hätte er nicht wegsehen können. Er war irgendwie in diesem Augenblick ihrem Zauber verfallen. Und allerlei Gedanken über die gemeinsame Zeit, die sie in der Firma verbracht hatten, gingen durch seinen Kopf.
Als er sie auf diese Weise betrachtete, kam ihm plötzlich eine seltsame Erkenntnis in den Sinn. Es schien ihm, als ob er sie bereits seit einer Ewigkeit gekannt hätte, von früher. Alles an ihr schien ihm vertraut zu sein. Das war jedoch unmöglich. Sie war noch sehr jung, eine Studentin im Praktikum, er dagegen doppelt so alt und sie waren sich erst vor Kurzem das erste Mal begegnet, als sie bei ihm als Praktikantin angefangen hatte.
Wieso verstehen wir uns dann so gut? fragte er sich selbst. Es trennen uns ja Welten. Doch kenne ich dich irgendwoher. Diesen Gedanken konnte er einfach nicht loswerden. Er lächelte leicht vor sich hin. Mein Gehirn spielt mir nur einen Streich, mehr nicht.
»Und du glaubst es wirklich?«, fragte er nachdenklich.
»Natürlich«, war ihre vollkommen überzeugte Antwort, »es muss einfach so sein.«
Wenn ich es nur so wie du glauben könnte, wäre für mich vieles deutlich einfacher, dachte er sich dabei. »In diesem Fall habe ich eine Frage dazu.«
Er lehnte sich noch ein Stück weiter nach vorn und stütze sich dabei auf seine Ellbogen. Ihr Gesicht befand sich nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. Sie wich jedoch nicht zurück, sondern beobachtete ihn aufmerksam und wartete geduldig seine Antwort ab.
»Wenn es tatsächlich so wäre, wie du es mir gerade erzählt hast, wie vereinbarst du es dann mit der ständig steigenden Anzahl der Menschen auf unserem Planeten? Am Anfang waren wir nur ein paar Hunderttausend, jetzt sind wir bereits sieben Milliarden. Woher kommen diese zusätzlichen Seelen? Soll es aus deiner Sicht eine 'Halle der Seelen' geben, wie in der Bibel beschrieben?«
Er machte eine kleine Pause, um seine Gedanken zu ordnen und fuhr fort. »Ich glaube nämlich nicht an einen Gott, nicht so, wie es in der Bibel steht. Ich bin überzeugt, dass es etwas gibt, etwas, das ... über uns steht …«, er überlegte, wie er es am besten ausdrücken konnte, »… vielleicht eine Art höheres Bewusstsein. Aber dass neue Seelen aus dem Nichts entstehen, einfach so, um den Körper eines neugeborenen Menschen zu füllen, das glaube ich nicht.«
Sie lächelte nachdenklich und überlegte eine Zeitlang, bevor sie weiterhin versuchte, seine Bedenken auszuräumen. »Ich glaube auch nicht, dass neue Seelen einfach so ohne Weiteres entstehen können. Vielleicht ab und an, aber nicht für jedes einzelne Neugeborene. Du vergisst jedoch, dass wir sicherlich nicht der einzige Planet mit menschlichen Wesen im Universum sind. Es gibt auch andere Planeten, einige sind vielleicht gerade oder bereits vor einiger Zeit zu Grunde gegangen. Durch Naturkatastrophen oder sie haben sich selbst vernichtet. Diese Seelen werden wieder frei und wandern fortan im Weltall umher, um erneut eine geeignete Hülle zu finden, bis sie schließlich einen anderen mit menschlichen oder menschenähnlichen Wesen bewohnten Planeten entdecken. Einige der Seelen sind vermutlich bereits seit einer Ewigkeit hier und warten auf eine neue Hülle.«
Er dachte darüber nach. Es wäre wirklich schön, wenn es tatsächlich so wäre.
Um es zu glauben, dafür war er jedoch ein zu großer Realist. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es Seelen gab, die herumschwirrten und geduldig warteten, bis ein neuer Mensch geboren wurde. Auch diese Seelen müssten irgendwie entstanden sein. Wie und woraus? Und es existierte kein einziger überzeugender Beweis über solche Seelenwanderungen, Wiedergeburt oder auch Reinkarnation genannt, eine Vorstellung, dass die Seele oder das Bewusstsein sich nach dem Tod erneut in einem anderen Wesen manifestierte. Es gab immer wieder Berichte, dass sich angeblich einige Leute an frühere Leben erinnern konnten, meist jedoch von denen, die eine todesnahe Erfahrung oder eine schwere Erkrankung durchlitten hatten. Es kam ihm selbst häufig vor, als ob er eine Art Déjà-vu erfahren oder als ob er bestimmte Ereignisse erneut durchleben würde. Zum Beispiel, dass er dieser hübschen jungen Frau, die ihm gerade gegenübersaß, in einem früheren Leben schon einmal bereits begegnet war? Er lächelte nur amüsiert vor sich hin.
Er versuchte lieber das Thema zu wechseln.
»Es ist auf jeden Fall ein interessanter Gedanke«, äußerte er sich bedacht, »was wieder einmal beweist, dass du etwas Besonderes bist. Das habe ich dir in der letzten Zeit bereits einige Male gesagt. Du bist eine attraktive Frau, ehrlich und anständig. Du versuchst auch immer jedem entgegenzukommen und allem auf deine Weise gerecht zu werden.«
Er beobachtete sie eine Weile still und lächelte nachdenklich, bevor er hinzufügte. »Insbesondere bezüglich deiner Ehrlichkeit, wäre es eindeutig zu deinem Vorteil, nicht jedem gleich die volle Wahrheit zu offenbaren. Damit machst du dir nur Feinde und die meisten Vorgesetzten sehen es nicht gern, wenn sie jemand kritisiert.«
Plötzlich überkam ihn das Bedürfnis, sie zu berühren, ihre Hand oder ihre Wange, seine Finger in ihre dunkelbraune Haarpracht zu tauchen. Er musste sich zusammenreißen, um es nicht zu tun. Vielleicht hätte sie sogar nichts dagegen gehabt, er traute sich aber nicht.
Diese Zurückhaltung seinerseits überraschte ihn und brachte ihn gleichzeitig aus der Fassung. Früher hätte er sich nie irgendwelche Gedanken darüber gemacht und hätte es einfach getan, ob es angebracht gewesen wäre oder nicht, das war ihm sowieso meistens egal gewesen. Frauen waren da, um sie zu erobern und wer seine Gelegenheit nicht nutzte, war selbst schuld. Das war immer sein Leitspruch. Ob passend oder nicht, kümmerte ihn nicht im Geringsten.
»Ich hoffe, dass du mit der Zeit lernst, die Wahrheit ab und an auch nur für dich zu behalten, sonst wird dein Leben nicht gerade einfach sein.«
Plötzlich fiel ihm noch etwas zu der Seelenwanderung, über die sie gesprochen hatte, ein und er lächelte breit, als er diesen Gedanken zur Sprache brachte.
»Ich glaube, dass du in deinen früheren Leben, falls es sie wirklich gab«, fügte er noch hinzu, weil er selbst nicht daran glaubte, »entweder eine Prinzessin, eine hohe Priesterin, Königin oder etwas Ähnliches gewesen wärest, was ich mir aufgrund deiner besonderen Schönheit und Anmut sehr gut vorstellen kann. Und wenn du im Mittelalter gelebt hättest, hätte man dich vermutlich als eine Hexe verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt.«
Sie lächelte ihm nur mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck entgegen, äußerte sich jedoch nicht zu seinen Anmerkungen. Ihre Augen glänzten dabei auf eine besondere Art. Auch er schwieg eine Weile. Dabei blickte er ihr weiterhin in die Augen, überlegte kurz und sprach anschließend weiter.
»Ich dagegen, falls es die Reinkarnation, über die du gesprochen hast und an die du zu glauben scheinst, tatsächlich geben sollte, war sicherlich immer ein Sklave, ein Schwerstarbeiter, ein Bauer oder vielleicht ein Krieger oder Diener. Ich habe stets gelitten, wurde gefoltert oder getötet. Ich bin bestimmt nicht derjenige, der je als König gelebt hat. Dazu bin ich einfach nicht der Typ. Macht und Geld haben mich nie besonders interessiert und dazu bin ich ein Einzelgänger, auch wenn ich durchaus ab und an die Gesellschaft einer schönen...«, er führte den Satz nicht zu Ende, sondern widmete sich lieber weiter dem angesprochenen Thema. Sie sollte nichts darüber erfahren, dass er sie irgendwie lieb gewonnen hatte.
Und wozu sollte es auch gut sein? fragte er sich selbst. Sie ist sowieso bald fort und er hegte nicht die Absicht, mit ihr etwas anzufangen.
»Wie ich bereits gesagt habe, dich dagegen …«, plötzlich, ohne nachzudenken, schoss seine Hand unwillkürlich nach oben, um ihr Gesicht zu berühren, ihre Haare zu streichen. Im allerletzten Moment konnte er sich noch beherrschen. Was soll das Ganze? herrschte er sich in Gedanken selbst entsetzt an. Sie waren nicht alleine hier. Er zog die Hand widerwillig zurück, griff nach seinem Weinglas und spielte damit einen Moment lang, indem er es in den Fingern drehte, um sich wieder zu fassen. Dabei betrachtete er verlegen die Tischplatte vor ihm.
Sie bemerkte seine gehobene Hand und auch sein seltsames Verhalten danach, zog sich jedoch nicht zurück, sondern lächelte leicht amüsiert vor sich hin und betrachtete ihn weiterhin auf eine besondere Weise, ohne ein einziges Mal wegzusehen, was ihn noch zusätzlich verunsicherte.
Sie waren beide so intensiv in das Gespräch vertieft, dass sie die ganze Welt um sich herum vergessen hatten. Beide verfielen in Schweigen. Er mied vorsichtshalber den Augenkontakt, um keinen Fehler zu begehen, nicht bei dieser Frau. Dafür war sie ihm zu wichtig. In seinem Leben hatte er bereits genug Unfug angerichtet, insbesondere was Frauen betraf. Er fixierte eine Zeitlang die flatternde Flamme der Kerze auf dem Tisch, um sich zu konzentrieren, bevor er schließlich seine Überlegungen weiter ausführten konnte.
»Auf der anderen Seite würde deine Vorstellung, dass es auch Seelen aus einer anderen Welt gibt, zu dir sehr gut passen. Du bist anders als die meisten, anders als alle, denen ich bislang begegnet bin. Vielleicht kam deine Seele tatsächlich aus einer fremden Welt, wo Ehrlichkeit, Liebe und Zuvorkommen an erster Stelle stehen. Vielleicht bis du sogar dazu auserkoren, anderen Wesen den richtigen Weg zu weisen.«
Er schaute ihr wieder in die Augen. »Du könntest nach deinem Studium bei uns als Pharmaberaterin für Zulassungen anfangen. Mit Menschen kannst du sehr gut umgehen und du gewinnst leicht deren Vertrauen. Hast du darüber bereits nachgedacht?«
Dieses Mal senkte sie ihren Blick und trank leicht verlegen einen Schluck Wein aus ihrem Glas, bevor sie sich dazu äußerte. »Vielleicht, ich weiß es noch nicht. Ich habe mir über meine Zukunft nach dem Studium noch keine Gedanken gemacht. Ich weiß noch nicht genau, was ich mit meinen Leben anfangen werde. Ich ...«
»Wenn du dich noch nicht entschlossen hast, solltest du es dir überlegen. Ich könnte für dich ein Wort einlegen, das wäre für mich kein Problem«, unterbrach er sie, »und als Praktikantin hast du dich sicherlich bereits gut bewährt.«
»Ja …, vielleicht ..., ich weiß noch nicht …«, sagte sie nach kurzer Überlegung, »… aber auf jeden Fall war die Zeit, die ich mit dir hier verbracht habe, wichtig für mich, um zu lernen und zu erkennen, wer ich bin und was ich mit meinem Leben anfangen soll. Vielleicht war unsere Begegnung nicht zufällig, sondern unsere Bestimmung, um meinen eigenen Weg zu finden«.
Ihre Antwort hat ihn überrascht. »Vielleicht«, antwortete er nach einer Weile zögerlich.
Und genauso wie ich dein Leben geprägt haben soll, hast du längst meines geprägt. Unbewusst, doch du hast mich bereits verändert, ohne, dass du etwas davon weißt. Durch dich bin ich ein besserer Mensch geworden.
Diese Worte schwirrten jedoch nur in seinem Kopf herum, laut auszusprechen wagte er sie nicht. Er wünschte sich, dass sie weiterhin bliebe, doch ihr Praktikum näherte sich unweigerlich dem Ende zu. Sie hatte bereits selbst um eine Verlängerung gebeten, die er ihr mit Freude gewährt hatte.
Sie unterhielten sich noch rege eine Weile auf diese Weise, bis sie schließlich von anderen Mitarbeitern der Firma, die sich ebenfalls auf der Weihnachtsfeier befanden, unterbrochen wurden.
Schade eigentlich, dachte er bedauernd, über so ein Thema könnte ich mit dir bis in alle Ewigkeit ein Gespräch führen.
Einige der Kollegen, die sich zu ihnen gesellten, unter anderem auch Lydia, mit der er eine kurze Affäre gehabt hatte, waren bereits angetrunken und hatten dazu noch ein paar provokante und obszöne Bemerkungen.
»Ihr seht wie ein richtig verliebtes Pärchen aus, wie zwei Turteltäubchen«, äußerte sich einer seiner engeren Kollegen mit leicht stotternder Stimme. Er sprach noch weiter, seine Zunge war jedoch durch den Überschuss an Alkohol bereits schwer geworden, somit konnte man nicht alles verstehen, was er sagen wollte. Vieles davon ergab auch überhaupt keinen Sinn. Noch schlimmer war Lydia, die ihm nie verziehen hatte, dass er die Beziehung nach kurzer Zeit abgebrochen hatte, und es weiter auf die Spitze trieb. Sie beugte sich mit zusammengekniffenen Augen zu ihm vor, so dass ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt war. Ihr Atem roch süßlich nach Früchten und Alkohol.
»Und wie ist sie so?«, fragte sie ihn anstachelnd, »besser als ich? Jünger und hübscher ist sie allemal, oder?«, sie drehte ihren Kopf und schaute die junge Frau gegenüber herausfordernd an.
Seine Praktikantin erwiderte ihren Blick jedoch nicht, sondern starrte nur verdutzt die Tischplatte vor sich an. Ihre Wangen fingen an zu glühen. Es war ihr offensichtlich peinlich und von Lydia auch völlig unangebracht. Dennoch fand er sie in dem Augenblick durch ihre Verlegenheit und die roten Wangen noch attraktiver und anziehender als je zuvor.
So etwas wollte er aber nicht. Er hegte keine Absichten, sie in Verlegenheit zu bringen. Vielleicht sollte er sie von hier wegbringen, sie zu einem Drink einladen oder zum Essen.
Ob sie zustimmen würde?
Erneut traute er sich nicht zu fragen. Seine Unentschlossenheit in dieser Hinsicht, die für ihn bislang etwas Unbekanntes gewesen war, brachte ihn erneut durcheinander.
Aus seiner Unentschlossenheit und der peinlichen Situation wurden sie schließlich unerwartet gerettet. Es folgten glücklicherweise einige Ansprachen der Abteilungsleiter, womit die angetrunkenen Kollegen, zusammen mit Lydia, wieder zu ihren Plätzen zurückkehrten. An diesem Abend hatten sie dennoch keine Privatsphäre mehr gehabt. Er selbst war gezwungen, sich zwischendurch mit anderen Kollegen zu unterhalten, so dass er sich nicht mehr zu ihr gesellen konnte. Die ganze Zeit schaute er jedoch immer wieder zu ihr hinüber und sie schien genauso oft in seine Richtung zu sehen. Ihre Blicke begegneten sich häufig und jedes Mal lächelte sie ihm dabei leicht zu. Es war jedoch ein trauriges Lächeln. So kam es ihm wenigstens vor.
Schließlich verlor er sie für eine Zeitlang aus den Augen und konnte sie dann nirgendwo mehr finden.
Vermutlich ist sie bereits gegangen, dachte er.
Ein Gefühl der Enttäuschung stieg in ihm auf und er spürte seltsamerweise einen stechenden Schmerz in der Brust, was ihn selbst überraschte. Er machte sich sofort zur Bar auf. So etwas hatte er oft durchgezogen, um seinen Kummer, seine Sorgen, zu ertränken und zu vergessen. Solange sie bei ihm gewesen war oder in seiner Nähe, hatte er sich immer zurückhalten können. Sie hatte in ihm immer das Gute geweckt. Trotz dem Verdruss musste er vor sich hin lächeln, als er sich ihr liebliches Gesicht vor seinem inneren Auge vorstellte. Jetzt aber, nachdem sie die Weihnachtsfeier bereits verlassen hatte, fand er keinen Grund mehr, sich zu mäßigen.
Warum hat sie sich nicht von mir verabschiedet? fragte er sich leicht verbittert. Und warum sollte sie auch? antwortete er sich gleich selbst. Sie war nur eine Kollegin, so wie viele andere hier. Es wurde ihm langsam bewusst, dass er sich in sie womöglich verliebt hatte.
Verdammt! schoss ihm in dem Augenblick durch den Kopf. Damit hatte er nicht gerechnet. Seine Gefühle waren in diesem Falle jedoch seine eigene Sache. Sie würde es nie erfahren.
Als er zur Bar vorgedrungen war, bestellte er gleich einen Doppelten. Bevor der Barkeeper den Drink brachte, gesellte sich plötzlich Lydia zu ihm und umarmte ihn kurz, bevor sie sich auf dem Hocker gleich neben ihm niederließ.
»Wo ist deine hübsche Praktikantin?«, fragte sie beschwipst. »Hat sie dich verlassen? Genauso, wie du mich? Jetzt weißt du wenigstens, wie sich das anfühlt!«
Ihren unsicheren Bewegungen nach zu beurteilen, war sie bereits ganz schön betrunken. Es hatte sich damals auf eine ähnliche Weise zugetragen, als er und Lydia, stark unter Alkoholeinfluss auf einem internen Firmentreffen auswärts, das erste Mal miteinander geschlafen hatten. Sie war an ihm interessiert und hatte geglaubt, es könnte mehr werden. Er wollte jedoch gar keine feste Beziehung und noch dazu nicht mit einer Kollegin. So etwas hätte nur Probleme bereitet und er liebte es, ein einfaches und unbekümmertes Leben zu führen.
Gerade, als er tief Atem holte, um Lydia zurechtzuweisen, legte ihm jemand die Hand auf die Schulter. Diese Berührung war leicht und zurückhaltend, doch sie durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag. Noch bevor er sich umdrehte, wusste er, wer hinter ihm stand. Dennoch war er sichtlich überrascht. Seine Praktikantin stand leicht verlegen vor ihm und schaute ihn aus nächster Nähe mit gesenktem Kopf von unter ihren langen Wimpern an.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht stören, ich wollte mich nur verabschieden. Es ist schon spät und ich möchte gerne nach Hause.«
Sie lächelte dabei auf ihre besondere zurückhaltende Weise. Er war wie versteinert. Es freute ihn unheimlich, dass sie die Feier nicht eher verließ, bevor sie sich von ihm verabschiedet hatte. Dennoch fehlten ihm plötzlich die Worte.
»In Ordnung«, sagte er fast stotternd nach einer Weile. »Wir sehen uns dann am Montag in der Arbeit.«
Sie nickte nur, machte noch einen kleinen Schritt in seine Richtung und hob die Arme. David starrte sie leicht verwirrt an. Sie wurde rot und ließ ihre Arme wieder sinken.
»Dann bis Montag«, sagte sie leise und drehte sich um.
Erst dann begriff er und hätte sich am liebsten geohrfeigt. Sie hatte ihn zum Abschied umarmen wollen und er hatte es nicht verstanden!
»Sofia?«, rief er ihr nach. Sie wandte sich überrascht wieder um.
»Ja?«
»Ich …«, plötzlich wusste er nicht, was er sagen sollte, für eine Umarmung war es bereits zu spät. Dann fiel ihm doch noch etwas ein. »Ich ..., ich kann dich nach Hause begleiten. Ich …«.
Sie lächelte erfreut, dann schaute sie jedoch zu seiner Linken, wo sie Lydia neugierig, mit hochgezogenen Augenbrauen, beobachtete und ihren Kopf herausfordernd an seine Schulter lehnte.
»Nein, danke. Ich komme schon zurecht, amüsiere dich nur weiter.«
Dann drehte sie sich um und verließ mit gesenktem Kopf die Weihnachtsfeier.
***
Der alte Mann saß immer noch auf seinem Bett, in seinen Schläfen pochte es inzwischen gewaltig. Dennoch hatte ihn diese Erinnerung seine Schmerzen für eine Weile vergessen lassen. Seitdem er seine luziden Träume hatte, wurden auch seine Erinnerungen an das Vergangene deutlich intensiver und lebendiger, als ob er das alles erneut durchlebt hätte, wie gerade jetzt.
Warum habe ich sie damals nicht nach Hause begleitet? fragte er sich mit deutlichen Vorwürfen. Nachdem sie das Fest verlassen hatte, hatte er sich damals wieder einmal richtig gehen lassen und war doch noch mit Lydia im Bett gelandet, was er danach ungemein bereut hatte. Das war einer der weiteren Gründe gewesen, warum er, nachdem seine Praktikantin, Sofia, ihre Arbeit beendet hatte, die Firma verließ. Er hätte sie umarmen und darauf bestehen sollen, sie zu begleiten. Im Nachhinein war er sich fast sicher, dass sie nichts dagegen gehabt hätte, dass sie sich sogar darüber gefreut hätte.
Jetzt ist es bereits zu spät, dachte er sich bitter. Jede Entscheidung, die man trifft, ist immer endgültig und nichts kann rückgängig gemacht werden, ganz egal, wie sehr man es sich auch wünscht. Deshalb sollte jeder einzelne Entschluss, den man einmal gefasst hat, sorgfältig überlegt werden.
Aber wer sind wir? Wir sind nur Menschen, unvollkommen und armselig. Wir machen Fehler, um aus ihnen zu lernen, um wieder neue Fehler machen zu können und so geht es immer weiter. Ein ewiger Zyklus aus eigenen Fehlentscheidungen und Versagen. Somit ist unser Leben voller Höhen und Tiefen, es ist unser Los, unsere Bestimmung, die wir stets mit uns tragen, dachte sich der alte Mann trostlos und stand schließlich auf, um seine Medikamente zu nehmen.
Er zitterte vor Angst als man ihn zum Altar hinaufschleppte. Auch wenn er sich dagegen wehrte, konnte er dennoch nichts ausrichten. E wollte nicht sterben, er war noch jung und voller Pläne. Es gab noch so viel, was er gerne tun würde, zum Beispiel eine nette Frau kennenlernen und eine Familie gründen. Er hatte noch nie in seinem Leben bei einem Weib gelegen. Er würde gerne wissen, wie es sich anfühlte, geküsst zu werden, die Haut einer Frau zu berühren, ihre Haare zu streicheln. So etwas würde er jedoch nicht mehr erleben. In einem einzigen Moment, der über sein Schicksal unausweichlich entschieden hatte, war alles vorbei.
Es war einfach nicht fair, strebte sich verzweifelt sein Bewusstsein dagegen.
Als die Eindringlinge gekommen waren, mitten in der Nacht, war das ganze Dorf völlig überrascht aus dem Schlaf herausgerissen worden. Niemand hatte mit einem Überfall gerechnet. Es hatte auch keine Anzeichen einer bevorstehenden Invasion gegeben. Die Wilden hatten sich lautlos angeschlichen und erst als sie sich in nächster Nähe befanden, stießen sie ihre furchteinflößenden Kriegsschreie aus und griffen an. Sie waren in jede einzelne Hütte eingedrungen und hatten die Menschen im Schlaf wahllos niedergemetzelt.
Sie hatten seine Eltern, seinen älteren Bruder, der versucht hatte, gegen sie anzukämpfen, und sogar seine kleine Schwester getötet. Er war der Einzige aus seiner Familie, seiner Sippe, gewesen, der überlebt hatte. Mit seinem Tod würde seine gesamte Blutlinie aussterben. Nach dem brutalen Überfall wurden alle Dorfeinwohner, die sich noch am Leben befanden, zusammengetrieben. Diejenigen, die stark genug waren, um als Sklaven zu arbeiten, wurden mit rauen Seilen aneinandergebunden, die Schwachen und Verletzten wurden gnadenlos abgeschlachtet. Es war für ihn unbeschreiblich und ungemein furchtbar, sich das Gemetzel anzusehen.
Er kannte sie alle persönlich, jeden einzelnen von ihnen. Und jetzt wurden sie, einer nach dem anderen ausnahmslos, Kinder und alte Menschen eingeschlossen, die den beschwerlichen Transport durch den Dschungel nicht überleben würden, grausam und kaltblütig ermordet. Meist mit einer Steinkeule oder einer Axt aus vulkanischem Gesteinsglas. Auch wenn er die ganze Zeit zugesehen hatte, konnte er es irgendwie dennoch nicht glauben. Es fühlte sich wie ein schrecklicher Alptraum an, aus dem er jede Sekunde aufwachen müsste. Egal wie