Die vergessene Familie - Silvia Muster - E-Book

Die vergessene Familie E-Book

Silvia Muster

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Beschreibung

Oberhalb des Brienzersees thront das Grandhotel Schwandenbach. Seine Eröffnung feierte das Hotel im Jahre 1875 eine ganze Woche lang mit illustren und zahlungskräftigen Gästen. Darunter ist die Familie von Bonstetten aus Bern. Wilhelm von Bonstetten rennt jedem Rock nach und vernachlässigt seine Frau Charlotte, wie auch seine drei Kinder. Sie machen einmal im Jahr für eine Woche Ferien im Grandhotel. 147 Jahre später entdecken Bauarbeiter bei der Renovation eingemauerte Leichen. Wer waren sie? Was geschah damals? Und warum wurden die Menschen nie als vermisst gemeldet? Von Allmen und Berger von der Kripo untersuchen den Fall. Allmählich reagiert von Allmen seltsam, er hat keine Ahnung, wieso er in diesen Fall so sehr hineingezogen wird. Es wird eine Reise in die Vergangenheit, mit einem überraschenden Ende.

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Für meine Schwester, die immer an mich geglaubt hat.

Ich hoffe, dass mir der Spagat zwischen 1875 und Heute gut gelungen ist.

Da die Handlung in der Schweiz stattfindet, kann es sein, dass sich ein paar Schweizerdeutsche Ausdrü cke eingeschlichen haben, die sich zum Deutschen und Österreichischen Hochdeutsch unterscheiden. Ich bitte um Nachsicht und wünsche eine span nende Reise in die Vergangenheit und zurück.

Silvia Muster

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

DANKSAGUNG

LESEPROBE

KAPITEL 1

2022

»Stopp! Was zum Teufel ist das?«

Der Lärm ebbte langsam ab, die Maschinen standen still. Die Staubwolke lag eine Zeit lang in der Luft. Der Mann, der gebrüllt hatte, wedelte mit den Armen und hoffte, dadurch mehr zu sehen. Aber, ganz im Gegenteil, es wurde um ihn herum nur noch arger.

»Karl, hör auf, so herumzufuchteln. Was hast du gesehen?«

Jeder starrte auf die Wand, an der ein grosses Loch herausgeschlagen worden war. Angelockt durch den Lärm, kamen immer mehr Männer dazu. Sie alle arbeiteten im in die Jahre gekommenen Grandhotel Schwandenbach, oberhalb des Brienzersees. Das Hotel stand seit Jahrzehnten still und verfiel langsam. Bis sich vor ein paar Monaten ein Mann auf einer Wanderung in dieses ehemalige Juwel verliebt hatte. Er wirbelte daraufhin die Werbetrommel, hatte jedes Register gezogen und sämtliche Klinken geputzt, die er hatte finden können. So war der Förderverein zur Erhaltung des Grandhotel Schwandenbach entstanden. Mit dem Ziel, alles wieder so herzustellen, um es im alten Glanz auferstehen zu lassen. Jeder Winkel, jedes Relief und Detail wurde akribisch dokumentiert und fotografiert. In diesem Projekt steckte viel Geld. Aber wer ein Auge für die vergangene Schönheit besaß, sah, dass es gut investiertes Geld war.

Das Grandhotel war damals wie heute nur mit dem Schiff zu erreichen. Der Anlegesteg war kurz, der See, der kaum Flachwasserzonen aufwies, tief. Vom Steg aus führte ein schmaler, sanft geschwungener Weg über eine kleine Treppe die Böschung hinauf. An jeder der sieben Biegungen befand sich eine Sitzbank. Früher pflegten sich die Damen daraufzusetzen, um sich vom anstrengenden Aufstieg etwas auszuruhen. Je weiter man nach oben kletterte, desto betörender die Aussicht. Beim Grandhotel angekommen stand man dann vor einer gigantischen Kulisse, obwohl diese im Laufe der Jahre ein wenig von seinem Glanz eingebüßt hatte. Das Hotel war majestätisch auf dem Felsen gelegen und seine dem See zugewandte Seite wies eine grosse Terrasse aus, welche einen wahrlich grandiosen Blick über das Gewässer bot. An den zwei vorderen Ecken des imposanten Gebäudes prangten kleine Erker, die wie Türmchen anmuteten. Ein paar von der Sonne ausgebleichte Fensterläden hingen schräg in ihren Halterungen. Der Verputz bröckelte an verschiedenen Stellen ab.

Drei Stufen führten zur pompösen, braunen Doppeltüre, welche oben abgerundet war. Die Glaseinsätze liessen märchenhaftes Licht in den Eingangsbereich fallen, ebenso wie die deckenhohen Fenster rechts und links davon. Die Eingangshalle wirkte stattlich und luftig mit ihrem marmornen Boden und dem Empfangstresen, der in der Mitte des Raumes stand und von edlem Holz war. Hinter dem Tresen hing das Schlüsselbrett. Noch heute befanden sich fast alle Schlüssel an ihrem Platz. Vom Foyer aus gelangte man auf der rechten Seite durch drei Türen in verschiedene Räumlichkeiten, die hauptsächlich zum Speisen benutzt wurden. Auf der linken hingegen gab es nur zwei imposante Durchgänge. Dahinter versteckte sich ein riesiger Raum, der Ballsaal. Das stilvolle Parkett war jetzt mit einer hohen Staubschicht bedeckt. Die Zimmerdecke war weiß, mit prächtigem Stuck und hoch. Die bodenlangen Fenster ließen viel Licht in den Raum, obwohl bei manchen die dicken Vorhänge zugezogen waren. An den Wänden hatte man kunstvoll verzierte Lampen angebracht und von den Decken hingen massive Leuchter. Zwei lagen auf dem Boden im Staub. An einigen Mauern verblassten eindrucksvolle Wandbilder. Die zwei Türen, die in diesen großen Saal führten, waren in dunklem Holz gehalten und zeigten noch heute die aparte Maserung. Vom Ballsaal gelangte man direkt auf die Terrasse, damit die Herrschaften nach dem Tanz frische Luft atmen konnten.

Im hinteren Teil des Hauses lag die Küche, riesengroß für die damalige Zeit. Hier wurde gepflegte Gastronomie gelebt. In unmittelbarer Nähe der Tür gab es einen Speiselift, welcher mit den beiden oberen Geschossen verbunden war. So konnten Tee oder sonstige Speisen und Getränke direkt in die betreffenden Etagen transportiert werden.

Rechts neben dem Empfangstresen führte eine breite Treppe nach oben. Auf dem ersten, sowie auch dem zweiten Obergeschoss lagen die Suiten der Gäste. Jede von ihnen war großzügig bemessen, nebst einem imposanten Bett gab es Sitzecken, Frisiertische und ein eigenes Bad, was dem Standard eines Nobelhotels entsprach. Neben jeder Zimmerflucht befand sich ein kleineres Zimmer, welches meistens die Zofen mit den Kindern der Herrschaften belegten. Ab und zu wohnten aber auch einmal weniger betuchte Gäste darin.

Die Aussicht von den Suiten war umwerfend. Unten erstreckte sich der Brienzersee mit so ziemlich jeder Farbschattierung von Grün bis Blau, dahinter erhoben sich die Berge, die das Emmental mit dem Oberland trennten, wie das Augstmatthorn auf der Westseite und das Allgäuwhoren, das fast gegenüberlag. Im Westen lag Interlaken, welches man nur vage erkennen konnte. Im Osten war Brienz, das Dorf, das dem See seinen Namen gegeben hatte.

Die bodenlangen Fenster ließen alles luftig und hell erscheinen. Jede Suite hatte natürlich einen Balkon, von dem man den faszinierenden Blick bei einer Tasse Tee und Gebäck genießen konnte.

Im hinteren Teil, neben der Küche, versteckt durch eine unscheinbare Türe, gelangte man direkt in die dritte Etage, wo die Bediensteten hausten. Diese Zimmer waren zwar bescheiden und eng, doch um solch ein Hotel am Laufen zu halten, brauchte es natürlich Personal. Und deswegen gab es in jeder Kammer zumindest jeweils zwei Kajüten-Betten, dazugehörige Kommoden und ein Tisch mit vier Stühlen. Die Toiletten und kleinen Badezimmer lagen auf dem Flur.

In solch einem Bediensteten-Kämmerlein befanden sich jetzt die Arbeiter.

Der Staub hatte sich gelegt und alle starrten in die Öffnung. Karl fand als Erster die Sprache wieder. Er sah die anderen kurz an und hob dann die Hand.

»Gut, ich würde sagen, wir machen für heute Feierabend. Ich informiere die Polizei.«

»Heilige Scheiße«, hörte man einer der Männer rufen, als sein Blick durch den Durchbruch fiel.

»Was ist denn los?«, fragten die Bauarbeiter, die erst in diesem Moment dazu kamen und sich nach vorne drängten, um das Geschehen in Augenschein nehmen zu können.

Die Männer nickten, schüttelten die Köpfe oder tuschelten miteinander. Sie blieben jedoch stehen und sahen sich das Bild, das sich ihnen bot, immer wieder an. Es brannte sich in ihre Gedächtnisse ein, ob sie es wollten oder nicht.

Karl trat zurück, sorgsam darauf bedacht, die Männer im Auge behalten zu können, und wählte den Notruf.

»Ja, guten Tag. Hier ist Flückiger, Karl Flückiger. Wir arbeiten im Grandhotel Schwandenbach. Ähm, wir haben gerade ... eine Leiche gefunden, also, genauer gesagt zwei.« Er lauschte und stimmte zu. »Ist verstanden. Niemand hat was berührt. Ja, wir machen Feierabend für heute. Ich warte hier auf Sie. Vielen Dank, auf Wiedersehen.«

Seine Männer schauten ihn neugierig an und nickten. Aber von hier weggehen, das wollte keiner. So etwas sah man schließlich nicht alle Tage. Sie stiegen langsam ins Erdgeschoss hinunter. Einige waren still und in sich gekehrt, andere mutmaßten flüsternd, was da passiert sein könnte. Sie setzten sich an einen Tisch und tranken Bier.

Nach etwa einer halben Stunde hörten sie, wie ein Schiff am Steg anlegte. Polizisten, zwei Männer in Zivil und Beamte in weißen Schutzanzügen, mit Koffern bewaffnet, verließen das Boot und kamen den Weg hoch.

Karl trat vor und begrüßte sie. »Guten Tag, Flückiger. Ich habe angerufen. Ich bin hier der Bauleiter.«

Einer der Männer in Privatkleidung reichte ihm die Hand. »Hallo, Herr Flückiger. Mein Name ist von Allmen, ich leite die Ermittlung. Das ist mein Kollege Berger. Zeigen Sie uns bitte erst einmal den Fundort.«

Karl führte sie in den dritten Stock. Er durchschritt einen staubigen Gang und trat dann in die Kammer, in der ein massives Loch in einer Wand klaffte. Der Staub hatte sich zwischenzeitlich etwas gelegt, sodass man nun das ganze Ausmaß der Entdeckung sah. Hinter der vor einer Stunde noch zugemauerten Wand kam eine Nische zutage, welche in der Vergangenheit vermutlich als Wandschrank genutzt worden war. Und genau in dieser Vertiefung kauerten zwei mumifizierte Skelette. Bei einem davon handelte es sich unverkennbar um eine Frau, denn am Kopf hingen noch lange Haarfetzen und das Kleid, das sie einst getragen hatte, zeugte von einer vergangenen, aber immer noch eleganten Schönheit. Die Füße waren in Schnürstiefeletten, welche damals zum guten Ton gehört haben mussten. Das andere Skelett schien das eines Jungen zu sein. Auch an seinem Kopf fanden sich Reste von Haaren und der Körper steckte in knielangen Hosen mit Hosenträgern und einem wahrscheinlich ehemals weißen Hemd. Er trug dunkle Socken in Schnürschuhen.

Sie lagen sich bis zum heutigen Tag stumm in den Armen. Die Nische war zu klein, als dass sie in der Lage gewesen wären, sich hinzulegen.

»Mein Gott«, flüsterte von Allmen. »Die müssen ja schon ewig hier liegen.«

Es war ein berührendes Bild, wie die größere Person das Kind festhielt und dieses an sich schmiegte, gleichzeitig aber auch grauenhaft, weil die beiden mit Sicherheit einen langsamen, qualvollen Tod gestorben waren.

Von Allmen schaute die Kollegen der Spurensicherung an. »Könnt ihr da noch was machen?«

»Wir versuchen es. Meistens gibt es immer irgendwo noch Spuren. Wir nehmen die Forensik dazu. Wichtig ist erst einmal herauszufinden, wie lange die schon hier liegen.«

Von Allmen trat einen Schritt zurück und ließ seine Kollegen ihre Arbeit tun. Er sah Karl an. »Habt ihr sonst noch etwas Ungewöhnliches bemerkt?«

Der schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Und warum kamen Sie überhaupt dazu, diese Wand aufzubrechen?«

»Nun ja ... In jedem weiteren Zimmer gab es solch einen Wandschrank, nur hier nicht. Also haben wir nachgeschaut...«

»Gut, können wir durch die restlichen Räumlichkeiten gehen?«

Karl nickte. »Natürlich.«

Sie betraten die nächsten Räume, und tatsächlich gab es überall diese Nischen, welche mit einer Holztür verschlossen waren. Keine davon war zugemauert, wie in dem vorherigen Zimmer.

Von Allmen ging zurück in den Raum, in dem man die Leichen entdeckt hatte.

»Die meisten der anderen Vertiefungen sind leer«, wandte er sich an seine Kollegen. »Nur in zwei dieser Wandschränke haben wir eine Art Gepäck gefunden. Unter Umständen bekommt ihr heraus, wie alt die sind. Vielleicht liefern uns die irgendwelche weiteren Anhaltspunkte.«

KAPITEL 2

1875

Das Grandhotel Schwandenbach feierte Eröffnung. Alles, was Rang und Namen hatte, war angereist. Sehen und gesehen werden, lautete die Devise. Schiffe legten an und ab, entluden zwischendurch scharenweise Gäste, welche sich bei strahlendem Sonnenschein und tiefblauem Himmel, am Hotel und der Aussicht gar nicht sattsehen konnten.

Die Herren trugen dunkle, bis zu den Knien reichende Gehröcke, darunter eine Weste und ein blütenweißes Hemd, das zeigte, dass der Träger nicht selbst arbeitete, sondern für sich arbeiten ließ. Eine Krawatte oder neuerdings eine Fliege gehörte ebenfalls zu diesem Erscheinungsbild. Die Haare waren kurz geschnitten und pomadisiert. Einen Schnurrbart und Koteletten, die fast bis zum Kinn reichten, rundete das Bild ab. Die Schuhe wurden so lange poliert, bis sie wie ein Edelstein glänzten. Dazu trug der Herr einen Zylinder oder eine Melone und für gewöhnlich einen Gehstock zur Zierde.

Die eleganten Frauen trugen bodenlange, schmale Gewänder. Jedes Kleid wies Verzierungen und Maschen auf, meist von anderer Farbe als der Rock selbst. Die Taillen waren gertenschlank dank des Kü-rass-Mieders, was das Atmen zur Qual machte und die Beweglichkeit massiv einschränkte. Im Rücken unterhalb der Körpermitte drapierte man die Röcke voluminös. Der Halsausschnitt war hochgeschlossen. Damen, die sich mehr trauten, trugen einen Ausschnitt an ihrem Kleid, der mit Rüschen eingefasst war. Die Haare wurden kunstvoll in Form eines Knotens hochgesteckt, oder, vom Hinterkopf ausgehend, mit Locken versehen. Den Abschluss bildete dann meist ein kleiner Hut, mit oder ohne Schleier, der auf dem vorderen Teil des Kopfes saß und bis fast in die Stirn reichte. Außerdem hatte die Frau von Welt stets einen Sonnenschirm zur Hand. Als Schuhwerk trug sie geschnürte Stiefelchen mit Absatz.

Die Kinder, die das Glück besaßen, der Eröffnung beizuwohnen, blieben meist in der Obhut eines Kindermädchens, damit die Eltern ungestörte Tage und Abende verbringen durften.

Mit einem dieser Schiffe kam die Familie von Bonstetten. Wilhelm von Bonstetten stand wie eine Statue an der Reling und schaute erwartungsvoll zum Grandhotel hinauf. Seine Kleidung ließ darauf schließen, dass er aus betuchtem Hause entsprang. Er war hochgewachsen und hatte einen nicht mehr zu übersehenden Bauchansatz. Seine Hände waren gepflegt und an beiden kleinen Fingern trug er einen Siegelring. Der eine stammte aus seiner Familie, der ihn als altes Patriziergeschlecht auswies, der andere war eine Anerkennung seiner Militärlaufbahn als Jurist. Er trug sie mit Stolz zur Schau und wirkte aufgeblasen und arrogant. Wilhelm hatte bislang kein einziges Mal in seinem Leben körperlich gearbeitet. Er ließ sein Geld für sich arbeiten. Und seine Angestellten, pflegte er immer zu sagen. Er besaß ein Büro in der Stadt, in welches er gerne unangemeldet hereinplatzte. Wer dann nicht gerade arbeitete bis zum Umfallen, wurde gekündigt. Die interessanteren Fälle oder dort, wo er viel Geld witterte, übernahm er selber, in einem anderen Büro, denn nicht jeder musste wissen, woher sein Einkommen kam. Gegenwärtig hatte Wilhelm nur zwei Anwälte angestellt. Den beiden, die bis vor kurzem noch auf seiner Gehaltsliste standen, hatte er Unterschlagung und Faulheit vorgeworfen und sie kurzerhand vor die Türe gestellt.

Wilhelms Frau Charlotte von Bonstetten, eine geborene von Büren und gertenschlanke, ausgemergelte Mittdreißigerin, hielt sich etwas zurückversetzt hinter ihrem Mann auf. Sie war alles andere als erfreut, an diesem Ereignis teilnehmen zu müssen. Die gekünstelten Gespräche, die Heucheleien der gehobenen Gesellschaft … sie hatte es so satt. Wilhelm hatte über ihren Kopf hinweg entschieden, dass sie eine Woche in dieser Abgeschiedenheit verbringen würden und da gab es leider kein Entkommen für sie. Ihr Gesichtsausdruck zeigte genau, was in ihr vorging. Das war schon immer so gewesen. Ihr Vater hatte stets zu sagen gepflegt, seine Charlotte sei ‚dem Teufel vom Karren‘ gefallen. Sie selber fand, dass Ehrlichkeit weitaus besser sei, als all den Lug und Betrug, der tagtäglich um sie herum stattfand. Manche Menschen liebten Charlotte dieser Direktheit wegen, andere hassten und mieden sie.

Sie gab offen zu, eine arrangierte Ehe eingegangen zu sein. Das war in dieser Zeit nichts Ungewöhnliches, aber sie hätte sich ihren Mann trotzdem lieber gerne selber ausgesucht. Charlotte war eine emanzipierte Frau, die sich nicht in ein Schema pressen ließ.

Adel gehört zu Adel. Ihr Vater hätte nie abgesegnet, dass seine Charlotte einen bürgerlichen Mann gewollt hätte. Solch einen Mann hatte es in ihrem jungen Leben einmal gegeben. Sie hatte sich früh in Johann verliebt, den Gärtner des Hauses. Am Anfang hatte sie ihn unauffällig beobachtete, dann war sie ihm irgendwann nachgeschlichen, um herauszufinden, was für ein Schlag Mann er war und ob er ein Mädchen hatte.

Es kam, wie es kommen musste, und sie begannen, sich heimlich zu treffen. Eines Abends, während des Essens, ließ ihr Vater verlauten, dass er den passenden Mann für Charlotte gefunden habe: einen von Bonstetten. Er habe bereits alles mit dessen Vater arrangiert. Nächsten Sonntag seien sie bei der Familie eingeladen. Dann könne über die Heirat gesprochen werden.

Er hatte dies so beiläufig erwähnt, als ginge es lediglich um Wäschewaschen. Charlotte hatte vor Schreck ihren Löffel fallen lassen und die Suppe war sowohl auf das blütenweiße Tischtuch als auch ihren Rock gespritzt. Ihr Vater hatte sie daraufhin mit einem strengen Blick fixiert.

»Contenance, Charlotte!«

Sie funkelte ihn erbost an, schob ihren Stuhl geräuschvoll nach hinten und stürmte aus dem Raum. Ihre Mutter schaute völlig überrascht zu ihrem Mann hinüber. »Aber Heinrich, was ist denn los?«

»Was los ist, Adele? Hast du denn keine Augen im Kopf? Hast du nicht bemerkt, dass unsere Tochter sich mit dem Gärtner trifft?«

Ihre Mutter schnappte hörbar nach Luft. »Um Himmelswillen! Da wird doch nicht schon was passiert sein?« Sie drückte ihre Serviette gegen den Mund, um nicht loszuheulen.

»Ich hoffe nicht, sonst können wir die Hochzeit mit den von Bonstetten vergessen. Der junge von Bonstetten nimmt keine gebrauchte Braut.«

»Heinrich! An sowas darfst du nicht einmal denken! Oh ...«, rief sie und fiel unmittelbar danach in Ohnmacht.

Von all dem bemerkte Charlotte nichts, denn sie war aus der Villa gerannt und über den Garten zum Haus, in dem die Bediensteten wohnten. »Johann? Johann!« Sie stürmte ins Haus und stieß mit Hans zusammen. »Hans, wo ist Johann?«

Der Mann schaute sie lange und traurig an. »Er ist fort, gnädiges Fräulein.«

»Fort? Aber wohin denn? Und warum hat er mir nichts davon gesagt?« Charlotte ließ die Schultern fallen, die Tränen liefen ihr über die Wangen.

»Er musste heute nach dem Mittagessen gehen. Er durfte sich nicht von uns verabschieden. Gnädiges Fräulein, das wäre sowieso nie gut gegangen mit euch beiden. Ihr Vater hätte dem doch niemals zugestimmt.« Wie zur Bestätigung schüttelte er ein paar Mal den Kopf. Dann nahm er die laut weinende und schluchzende Charlotte in den Arm und hielt sie lange fest.

Am darauffolgenden Sonntag lernte sie dann, wie von ihrem Vater angekündigt, Wilhelm von Bonstetten und seine Familie kennen. Er sah nicht annähernd so charmant aus wie Johann, aber was für ihre Familie zählte, war seinen Rang und Namen, und nicht sein Aussehen und die inneren Werte. Charlotte hatte sich die Tage vor dem geplanten Aufeinandertreffen zickig und ungehalten benommen.

»Charlotte, du heiratest diesen Wilhelm von Bonstetten. Da gibt es nichts zu diskutieren. Ich bin das Familienoberhaupt und gebiete dir, dich da hineinzuschicken. Etwas anderes gibt es nicht!«

Zum Treffen erschien dann eine stille, in sich zurückgezogene Charlotte, die nur vor sich hinstarrte und eintönige Antworten gab. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Aber wohin? Kurz vor der Heirat nahm sie all ihren Mut zusammen und bat ihre Mutter um eine Unterredung.

»Ach Kind, was ist schon Glück und Liebe? Das sind doch nur Hirngespinste, so etwas existiert nur in Groschenromanen. Sei lieber froh, was dir passiert. Da bist du gut versorgt. Lass Wilhelm einfach gewähren, wenn er zu dir ins Bett steigt. Denke dabei an etwas Schönes, bis es vorbei ist, und dann hast du wieder ein paar Tage Ruhe.« Ihre Mutter tätschelte Charlottes Hand und dann war das Thema für sie vom Tisch. Und so fügte sich Charlotte, still leidend, in diese Ehe und schenkte Wilhelm drei Kinder.

Warum muss ich denn gerade jetzt an das alles zurückdenken?, dachte sie. Ja, sie fühlte sich vom Leben betrogen. Wie schön hätte es doch mit Johann werden können, den sie immer noch liebte und dem sie täglich heimliche Tränen nachweinte. Charlotte schüttelte leicht den Kopf und schloss die Augen. Es hatte keinen Sinn, länger in solch düsteren Gedanken zu versinken. Es gab kein Zurück.

Sie schützte ihr Haupt mit dem Sonnenschirm gegen die unsagbare Hitze. Am liebsten wäre sie wieder nach Hause gefahren. Sie hasste derartige Empfänge, denn sie gehörte schlichtweg dort nicht hin. Sie wusste nur zu gut, dass hinter ihrem Rücken getuschelt wurde. Das Gesprächsthema war immer dasselbe: ihr untreuer Ehemann. Charlotte war bekannt, dass ihr Mann schon vor der Heirat zu anderen Frauen ins Bett gestiegen war und er tat es bis heute. Ihr war es nur recht, denn so kam er nicht oft zu ihr. Ihr war klar, was er von ihr erwartete, also erduldete sie den Beischlaf regungslos, bis sie zum dritten Mal guter Hoffnung war und er endlich einen Erstgeborenen in den Armen halten konnte. Danach machte sie Wilhelm unmissverständlich klar, dass sie nun ihre Pflicht erfüllt habe und sie nicht länger für derartige Zwecke herhalten würde.

Wilhelm war das nur recht. Er hatte den langersehnten Stammhalter und konnte sich endlich sozusagen offiziell anderweitig umschauen. Erst machte er sich noch die Mühe, unbefleckte junge Dinger zu umgarnen, doch dann wurde er dessen müde. So war er meist in einschlägigen Etablissements anzutreffen. Dort wurde er verstanden, und sei es nur, um mit einer Dame zusammen einen Brandy zu trinken und eine Zigarre zu rauchen, bevor es zur Sache ging. Später lernte er immer wieder nette und vor allem hübsche junge Damen kennen, die ihm über eine kürzere oder längere Zeit zur Verfügung standen. Doch meist waren es nur kurze Eskapaden, bevor er sie wegwarf wie einen gebrauchten Gegenstand.

Wilhelm wurde unsanft in den Rücken gestoßen. Verärgert schaute er sich um und hob den rechten Zeigefinger. Max, sein Sohn, floh vor seinen Schwestern und sprang leichtfüßig um seinen Vater herum. Sicherlich hatte er Dorothea und Katharina wieder einmal geärgert.

»Bleib sofort stehen, du Wicht!«. Katharina versuchte Max zu ergreifen, doch dieser wich ihrer Hand aus und prallte gegen Dorothea.

»So, nun haben wir dich. Das machst du nicht nochmal, verstanden?«

Wilhelm schaute sich Hilfe suchend nach Charlotte um. »So mach doch was, das ist dein Ressort«, brummte er.

Charlotte atmete hörbar aus und sah sich dann nach Minna, ihrer Zofe um. »Wo ist Minna?«, fuhr sie ihre Töchter an.

»Keine Ahnung, Mama, ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.«

»Minna? Minna! Wo steckst du?«

»Herrgott noch mal, Charlotte, kannst du nicht auf deine Bälger aufpassen?« Mit funkelnden Augen starrte Wilhelm seine Frau an.

»Das sind auch deine Bälger, wie du sie nennst.«

Wilhelm musste sich zusammenreißen, damit er nicht losbrüllte. Er wollte sich diese Woche auf keinen Fall versauen lassen. Deshalb schaute er wortlos und mit funkelnden Augen seine Kinder an, eines nach dem anderen, langsam, aber gründlich und alle drei wussten, das verhieß nichts Gutes.

»Also? Was ist hier los? Dorothea? Warum hast du solch eine unordentliche Frisur?«

Dorothea richtete sich auf und traute sich kaum ihren Vater anzuschauen. »Ähm, Max hat mir das Haarband herausgerissen und nun liegt es im See.«

»Und du hast kein zweites mitgenommen?«

»Doch, Minna hat es, aber ich kann Minna nicht finden.«

Wilhelm musste seinen Sohn nur kurz anschauen, der sofort bis zu den Haarwurzeln rot wurde.

»Sohn, hast du mir etwas zu sagen?«

Max schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Dann geh‘ und hol Minna, wenn du nicht die nächsten Tage in deinem Zimmer versauern willst!«

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, sauste Max auch schon davon.

Wilhelm konnte ihm durchaus nachfühlen. Er hatte ebenfalls zwei ältere Schwestern, die seit jeher auf ihn eifersüchtig waren, denn er war der Stammhalter gewesen und hatte ihnen immer wieder Streiche gespielt. Bei den Erinnerungen schmunzelte er. Seine Mutter hatte damals von seinem Vater verlangt, dass dieser ihn für sein ungehaltenes Benehmen bestrafen sollte. Nur zu gut erinnerte sich Wilhelm daran, was anschließend im Herrenzimmer geschah. Er hörte förmlich das Klatschen des Riemens, wenn der Vater den Gürtel auf den Ledersessel schlug, während beide wussten, dass die Frauen mit den Ohren an der Tür kleben würden. Wilhelm schrie und wimmerte theaterreif. Nach dem dritten Schlag sagte der Vater dann, dass es reiche und er genug Strafe bekommen habe. Bis heute blieb dieses Vorgehen ihr Geheimnis, das sein Vater sogar mit ins Grab genommen hatte. Noch kurz vor seinem Tod konnten beide darüber lachen. Wilhelm machte schon immer, was er wollte, keiner hat sich je getraut, ihm gegenüberzutreten.

Er war noch in seinen Gedanken versunken, als eine mitgenommene Minna zu ihnen lief, hochrot im Gesicht und deutlich empört. Sie steuerte direkt Wilhelm an, baute sich vor ihm auf und holte Luft. Aber bevor sie etwas sagen konnte, tätschelte Wilhelm ihr den Arm.

»Das doppelte Gehalt, wenn du bleibst und uns die Kinder vom Hals hältst, Minna. Abgemacht?« Er schaute ihr dabei tief in die Augen. Sie schüttelte den Kopf und wollte erwidern, dass sie nun endgültig genug habe.

»Also gut. Das Doppelte und hundert obendrauf«, erhöhte Wilhelm sein Angebot.

Minna zog jetzt hörbar Luft in ihre Lunge. Das war eine Menge Geld. Damit konnte sie ihren Eltern helfen, endlich einen Arzt aufzusuchen. Doch wie auch immer, der Preis dafür war zu hoch. Mit den Mädchen hatte sie keinerlei Probleme, aber Max, der brachte sie schier um den Verstand. Trotzdem nickte sie nach kurzer Bedenkzeit.

»Sehr gut, dann sehen wir uns gleich im Hotel.« Mit diesen knappen Worten entließ er sie.

*

Wilhelm von Bonstetten bemerkte erst jetzt die vielen Gäste und ärgerte sich, nicht schon mit dem ersten Schiff angekommen zu sein. So hätte er in aller Ruhe jeden unter die Lupe nehmen und beobachten können, nun wurden sie beobachtet. Sein Name und hauptsächlich das Geld seiner Frau öffneten ihm Tür und Tor. Ohne diese zwei Aspekte, wäre er heute ein Nichts, denn sein elterliches Erbe hatte er schon vor langer Zeit für seine Eskapaden verbraucht und auch seine Kanzlei lief leider nicht mehr so, wie er es gerne gesehen hätte.

In jungen Jahren war Charlotte unbestreitbar eine Schönheit. Gertenschlank und mit perfekten Proportionen an den richtigen Stellen. Das hatte er auch früher bei einigen seiner Abenteuer angenommen, bis er irgendwann dahinterkam, dass Damen ihre Geheimnisse hatten und zu manch einem Trick griffen, um dem Idealbild für Männer zu entsprechen. Doch nicht bei seiner Frau. Da war wirklich alles, wie es sein sollte. Wenn nur diese Kälte nicht an ihr gehaftet hätte. Vor der Heirat waren sie keinen Augenblick alleine gewesen, kannten einander also kaum.

Die von Bonstetten waren ein altes Adelsgeschlecht, jedoch leider total verarmt, was allerdings die wenigsten wussten. Die von Bürens hingegen hatten Geld, aber das war es dann auch schon. Glücklich waren Charlotte und Wilhelm nie miteinander, aber das war auch gar nicht der Sinn der Heirat oder Gründung ihrer Familie. Wilhelm kannte bislang niemanden, der in seiner Ehe aufging. Außer vielleicht Otto und Germaine, falls das Ganze nicht vorgespielt war.

Das Schiff legte an und die Besatzung ließ die Brücke auf den Steg hinab. Wilhelm sah, dass Max als Erster von Bord springen wollte und unsanft von jemandem an den Hosenträgern zurückgezogen wurde. Minna hielt ihn mit eiserner Hand fest und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Schlagartig hörte Max auf, wie wild um sich zu schlagen. Wilhelm hätte zu gerne gewusst, was sie ihm gesagt hatte.

Die ersten Passagiere verließen das Schiff. Wilhelm wollte nicht der Letzte sein, also steuerte auch er dem Ausgang zu. Charlotte trippelte hinter ihm her, wohlbedacht, dass kein Sonnenstrahl auf ihr bleiches Gesicht fiel, während Wilhelm mit langen Schritten davonzog.

»Wilhelm, so warte doch.« Charlotte mühte sich mit ihrem Rock ab, ihrem Mann zu folgen. Dieser schaute sich genervt um und runzelte die Stirn.

»Warum genießt du nicht einfach das Verlassen des Schiffes und den Aufstieg zum Hotel in deinem Tempo, Charlotte? Ich habe Freunde gesehen, die ich begrüßen will. Wir sehen uns also oben.« Er wollte so schnell wie möglich auf der Anhöhe sein, weil er genau wusste, wen er dort treffen würde. Und mit diesen Worten entschwand er hinter der ersten Biegung ihren Augen.

Sein abrupter Weggang ließ sie innerlich zittern und ihre Knie begannen zu schlottern. Es lief überhaupt nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte. Von Anfang an hatte sie das Gefühl gehabt, dass dies kein gutes Ende nehmen würde. Eine ganze Woche würde sie in diesem Grandhotel gefangen sein, bis in fünf Tagen erst wieder ein Schiff kommen und sie abholen würde. Charlotte hatte große Bedenken, dass sie das nicht durchstehen würde. Sie vernahm hinter sich ein Gerangel und wusste sofort, ohne sich umdrehen zu müssen, dass es Max war, der seine Kräfte mit Minna maß. Sie versuchte, das Ganze zu ignorieren, zumal ihr immer mehr schwindlig wurde. Froh, endlich eine Bank vorzufinden, ließ sie sich darauf nieder, betupfte sich das Gesicht und atmete hörbar ein und aus. Sie war sich den bemitleidenden Blicken der anderen Gäste bewusst, aber das war ihr im Augenblick egal. Sie ignorierte es geflissentlich.

Wilhelm hätte bei ihr bleiben sollen. Keine Frau wie sie, mit Rang und Namen, sollte solch einen Weg ohne Begleitung hochkraxeln müssen.

Charlotte schaute sich einen Moment lang um, dann sah sie wieder auf den Weg. Sie war vollkommen alleine. Die übrigen Gäste waren an ihr vorübergezogen und hatten sich an den Aufstieg gemacht. Sie versuchte, die aufkommende Panik zu verdrängen.

»Also gut, wenn es die anderen geschafft haben, dann schaffe ich das auch«, sagte sie sich. Sie erhob sich mit wackeligen Beinen und drehte sich Richtung Anstieg. »Ein Schritt nach dem anderen. Gut so, ja, du machst das gut.« Intuitiv sprach sie sich selbst Mut zu und erklomm Schritt für Schritt den Weg nach oben, den Blick meist krampfhaft auf den Boden gerichtet.

Als sie am Hotel angekommen war, schaute sie sich erstaunt um. Es war schon fast dunkel und auf der Terrasse sah sie niemanden mehr. Sie eilte zum Eingang und blieb kurz davor stehen, um noch einmal kurz zu verschnaufen. Dann trat sie ein und schritt mit erhobenem Haupt zum Empfang, wo sie den Empfangschef anlächelte.

»Du meine Güte, ich konnte mich kaum sattsehen an dem schönen Ausblick, darüber habe ich doch glatt die Zeit vergessen. Ich bin Frau von Bonstetten. Mein Mann hat uns sicher schon angemeldet?«

»Oh, guten Abend Frau von Bonstetten, ja, die Aussicht hier ist wirklich erstklassig. Zimmer 128. Im ersten Stock, die Treppe hoch, dann rechts.« Der Empfangschef lächelte sie ebenfalls freundlich an. Charlotte nickte ihm zu, drehte sich von ihm weg und stieg langsam, wie es sich für eine Dame gehörte, die Stufen hinauf. Vor dem Zimmer 128 blieb sie kurz stehen, strich ihren Rock glatt und trat dann in die Suite.

*

Fast zur selben Zeit hörte man aus Zimmer 256 Gekicher und unterdrücktes Stöhnen.

»O, Gott, wie hat mir das gefehlt. Bitte hör‘ nicht auf.«

»Pst, willst du das ganze Haus zusammenschreien?«

Der Mann, der das gesagt hatte, hielt der Frau die Hand vor den Mund. Diese lächelte nur glücklich und sah ihn verliebt an.

»Wenn das hilft, dass du für immer bei mir bleibst, dann sofort.«

»Untersteh dich.« Dann hörte man wieder das Gekicher.

Das Ganze dauerte jetzt schon über eine Stunde und manch einer der männlichen Hotelgäste beneidete den Mann, der augenscheinlich jede Menge Spaß hatte. Es gab sogar Herren, die absichtlich über die zweite Etage schlenderten, nur um eventuell einen Blick auf den Glücklichen zu erhaschen, denn es wurde gemunkelt, dass die Zimmertüre nicht ganz geschlossen war. Und natürlich wollte man auch die Frau sehen, die dazu fähig war, solch eine diese bejahende Lebenslust zu versprühen.

Doch die Tür war verschlossen, niemand konnte etwas von dem lautstarken Techtelmechtel beobachten.

Jeder, der einem anderen dabei begegnete, wandte sich peinlich berührt ab. Die Hochachtung vor dem Herrn in Zimmer Nr. 256 stieg.

Ein Schaulustiger nach dem anderen verließ so unauffällig wie möglich den Schauplatz des Geschehens und bald war die Etage leer und vereinsamt.

Irgendwann schallte der tiefe Klang eines Gongs durch das Haus, um anzukünden, dass das Dinner in Kürze serviert werden würde.

Die Zimmertür mit der Nummer 256 öffnete sich leise. Eine Frau mit glänzenden Augen und roten Wangen lugte vorsichtig in den Flur. Dann trat sie wieder nach hinten und ein Mann huschte in den Korridor. Sehnsüchtig schaute die Frau ihm nach, wie er mit schnellen, federnden Schritten die Treppe hinunterlief.

Dann zog sie sich kurz in die Suite zurück, kontrollierte ihre Frisur und den Sitz ihres Rocks im Spiegel. Sie erblickte eine schlanke, wohlproportionierte Frau mit roten Haaren, welche jetzt nicht mehr so kunstvoll hochgesteckt waren wie noch ein paar Stunden zuvor. Eine junge Frau, die das Glück mit einem Mann in jeder Sekunde genossen hatte. Mit ihrem Mann, wie sie ihn im Geheimen nannte.

Sie kannten einander seit ein paar Monaten, jedoch waren ihre Treffen bislang immer im Verborgenen abgelaufen. Nach hartnäckigen Gesprächen hatte sie ihn irgendwann dazu überreden können, mitzufahren. Sie freute sich ungemein auf diese aufregende Zeit, die ihnen bevorstand. Alleine der Kitzel des Versteckspieles gefiel ihr.

Sie sah sich kokett im Spiegel an, schlug ein paarmal mit den Wimpern und zog einen Schmollmund.

Auf in den Kampf dachte sie, schnappte sich ihr Täschchen und rauschte auf den Flur. Leise zog sie die Tür hinter sich zu und stieg langsam die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Sie wusste genau, welche Wirkung sie mit ihrem Aussehen erzielte. Nicht nur Männer, auch Damen drehten sich nach ihr um und so manch neidische Musterung streifte ihre Figur. Mit geradem Rücken und hoch aufgerichtet betrat sie den Speisesaal. Sie ließ den Blick kurz über die anwesenden Gäste schweifen und wurde von einem Kellner zu ihrem Tisch begleitet. Dort saßen bereits zwei Paare gesetzteren Alters. Die Frau hatte offiziell keinen Begleiter, also musste sie während der Mahlzeiten in den sauren Apfel beißen und sich in Gesellschaft dieser Herrschaften begeben.

*

Charlotte verweilte zur gleichen Zeit vor dem Frisiertisch und zupfte hier und da an ihrer Frisur herum. Sie hörte, wie die Zimmertür geöffnet wurde und Wilhelm die Suite betrat. Charlotte schaute ihn nur stumm durch den Spiegel an.

Wilhelm stellte sich hinter sie und kontrollierte den Sitz seiner Kleidung. Trotz eines Bauchansatzes war er zufrieden mit dem, was er sah. Er strich sich über die Haare, dann griff er an sein Revers und zog es nach unten.

»Können wir?«

»Wo warst du?«

»Wo warst du? Ich habe über eine halbe Stunde auf dich gewartet, dann habe ich mir das Hotel angesehen.«

»Du weißt doch ganz genau, dass ich Höhenangst habe. Du hast mich einfach mitten auf dem Weg stehen lassen! Mach das nie wieder.«

»Was soll denn jetzt dieses Theater? Du bist hier und ich bin hier, ist doch alles gut. Nun komm, ich sterbe vor Hunger.«

Charlotte kochte innerlich und musste sich zusammenreißen, um nicht loszuschreien.

»Du hast sie also echt hierher mitgenommen? In Anwesenheit unserer Kinder und der anderen Gäste«, schnaubte sie verächtlich. Ihre Augen sprühten Blitze. Wilhelm stand noch immer hinter ihr und beide schauten sich eine Weile mit kalten Blicken an.

»Charlotte, bitte! Willst du jetzt eine Szene machen? Ich dachte, wir sind uns einig.«

»Ha, wir sind uns einig? Ich musste klein beigeben, das sind die Fakten und nichts anderes.«

»Also gut, wenn du dich wieder an deine ehelichen Pflichten erinnerst, dann soll es mir nur recht sein.« Belustigt starrte er sie an. Ihre Blicke trafen sich erneut zu einem stummen Duell, doch Charlotte wusste, dass sie diese Schlacht bereits verloren hatte, bevor sie überhaupt richtig angefangen hatte.

Sie rückte den Hocker mit Gewalt zurück, dass er mit voller Wucht an Wilhelms Schienbeine prallte, und stand auf. Wilhelm zuckte zusammen und knickte fast ein. In letzter Sekunde konnte er sich wieder fangen.

»Spinnst du?« Wütend fixierte er seine Frau, drehte sich dann ohne ein weiteres Wort um und humpelte davon. Er wartete nicht auf sie, sondern riss die Türe auf, sodass diese gegen die Wand prallte, und stapfte, die Hände zu Fäusten geballt und mit zusammengekniffenem Mund, zur Treppe.

»Ah, Wilhelm, ihr seid doch hier?« erklang eine Stimme.

Wilhelm blieb stehen und drehte sich um. Lachend kam ihm sein alter Freund Otto von Sury entgegen, die Hand freudig zum Gruß ausgestreckt. Hinter ihm erkannte Wilhelm Germaine, Ottos Frau. Sie kam, ebenfalls lächelnd, auf ihn zu, schaute sich jedoch sofort verwundert um.

»Ist Charlotte denn nicht da?«

»Doch, doch, sie braucht nur noch ein paar Minuten. Ah, da ist sie ja schon.« Wilhelm benutzte seine ganze Willenskraft, um seinen Ärger hinunterzuschlucken und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Germaine lief mit einem strahlenden Lachen auf Charlotte zu. Die beiden Frauen hauchten sich gegenseitig Küsschen auf die Wangen. Otto begrüßte Charlotte mit einem Handkuss. Dann stiegen die Männer zusammen die Treppe hinab, die Frauen folgten ihnen. Charlotte war froh, dass Germaine auch hier im Hotel war, damit hatte sie gar nicht gerechnet. So würde der Aufenthalt doch etwas angenehmer für sie werden, als sie angenommen hatte.

Sie betraten einen großen Speisesaal. Die runden Tische mit den bodenlangen, weißen Tischtüchern waren mit kostbarem Silber und edlem Porzellan gedeckt. Die Kristallgläser funkelten im Schein der Lüster, die schwer von der Decke hingen. Das Parkett hatte man auf Hochglanz poliert, sodass man sich fast darin spiegeln konnte. Sämtliche Stühle um die Tische waren mit rotem Samt überzogen. In der Mitte standen silberne Kerzenleuchter und geschmackvolle Blumenarrangements. Die Servietten kunstvoll gefaltet und an jedem Platz sorgfältig drapiert.

Die Gäste bestaunten diese Eleganz und von überall hörte man verhaltene Bemerkungen. Die vier warteten geduldig am Eingang, bis sie ihren Tisch zugewiesen bekamen.

Wenig später wurden sie an eine Tafel geleitet, an der schon ein anderes Paar saß. Der Herr stand auf und verbeugte sich kurz vor den herangetretenen Personen. Die Dame blieb sitzen und lächelte die Ankommenden freundlich an.

»Gestatten, Benoit François …. und das ist meine Frau, Adeline.«

Otto trat einen Schritt auf ihn zu und begrüßte ihn wie einen alten Freund.

»Freut mich sehr, Madame.« Damit verbeugte er sich leicht vor Adeline und hauchte ihr einen Kuss auf die behandschuhten Finger.

»Darf ich Ihnen meine Gemahlin Germaine vorstellen? Und das sind unsere Freunde Wilhelm von Bonstetten und seine Gattin Charlotte. Und natürlich noch meine Wenigkeit, Otto von Sury.«

Nachdem sich alle begrüßt hatten, nahmen sie Platz. Charlotte ärgerte sich, auf der einen Seite Wilhelm und auf der anderen Seite Otto als Sitznachbarn zu haben. Sie hatte im Grunde genommen nichts gegen Otto, aber heute war Charlotte absolut nicht in Stimmung, seinen Anekdoten zu folgen. Meist lachten alle am Tisch, wenn er etwas Witziges von sich gab, nur Charlotte blieb in ihrer Welt gefangen und hing ihren Gedanken nach.

Dann legte Wilhelm plötzlich seine Hand auf die ihre und drückte sie leicht. Er beugte sich zu ihr und raunte ihr ins Ohr.

»Charlotte, reiß dich gefälligst zusammen! Oder sollen unsere Freunde wissen, wie es um uns steht?«

Er lehnte sich wieder zurück und lächelte Charlotte liebenswürdig an. Für die anderen sah es aus, als hätte er ihr gerade etwas äußerst Wohlwollendes ins Ohr geflüstert. Zudem wurde Charlotte auch noch rot, was sie ärgerte. Sie senkte die Augen, kramte aus ihrem Täschchen ein Taschentuch hervor und hielt es vor den Mund. Dann hüstelte sie leise, was ein wenig den Anschein gab, dass sie ein Lachen verhindern wolle.

Die Aufmerksamkeit der Anwesenden richtete sich wieder auf Otto, der unaufhörlich Geschichten erzählte. Charlotte griff nach der Menükarte, die direkt vor ihr aufgestellt war, und tat, als lese sie die Speisenfolge, die auf sie wartete. Doch sie nahm weder Buchstaben noch sonst irgendetwas auf der Karte wahr. Sie war einfach nur froh, sich dahinter verstecken zu können.

»Oh, meine liebe Charlotte, ist das die Menükarte? Welche auserlesenen Speisen werden uns heute denn serviert? Ich sterbe vor Hunger.« Germaine schaute Charlotte mit offenen, freundlichen Augen an.

»Ähm, ja … die Speisekarte. Wenn ich das lese, bekomme ich auch Appetit«, erwiderte Charlotte, ohne aufzusehen.

»Na, das ist ja mal was Gutes, meine Liebe. Normalerweise isst du ja entweder gar nichts oder wie ein Vögelchen.« Wilhelm sah Charlotte an und lächelte. Die anderen lauschten plötzlich aufmerksam ihrem Zwiegespräch. Charlotte ärgerte sich unermesslich über diese Aussage. Sie war sich durchaus bewusst, dass sie zu wenig auf den Rippen hatte, aber sie konnte sich manchmal einfach nicht überwinden, etwas zu essen, wenn Wilhelm mit am Tisch saß.

»Also, was gibt es denn jetzt zu futtern?«, fragte Otto geradeheraus.

Charlotte räusperte sich. »Also … als Erstes gibt es Austern, dann Geflügelkraftbrühe mit Anchovis-Gebäck, dann Suprême von der Seeforelle mit frischen Champignons, danach Ochsenrippenstück vom Spieß mit grünen Spargelspitzen, Medaillon vom Hummer à la Favorit, gefolgt von Wachteln mit römischem Salat, einer Eisüberraschung und zuletzt noch Gebäck oder Käse.«

Charlotte schaute fast entsetzt von der Speisekarte auf. »Wer um Himmelswillen soll das denn alles essen?«

»Och, da weiß ich schon jemand.« Otto strich sich genüsslich über seinen Bauch. Die Herren lachten und die Damen schmunzelten. Nur Charlotte war der Appetit mittlerweile vollends vergangen. Sie verstand nicht, wie die Oberschicht derart üppig speisen konnte, während der Rest der Bevölkerung hungerte und oft keine Ahnung hatte, was und ob sie überhaupt die nächsten Tage etwas auf dem Tisch hatten.

Charlotte hatte daher schon vor Jahren beschlossen, diesem Spiel nicht länger zuzuschauen. Sie zwackte täglich eine große Portion ihres Essens ab und verteilte es an einige hilfsbedürftige Familien. Sie freute sich jedes Mal, wenn sie in die strahlenden Augen der Kinder und der Mütter sah.

Charlotte hatte im Kindesalter nur eine richtige Freundin, und zwar Frieda, die Tochter der Näherin. Sie begleitete ihre Mutter immer zu deren Arbeitgebern. Die beiden Mädchen waren fast gleich alt. Als Charlotte in ein Alter kam, in dem sie vieles hinterfragte, nahm sie das erste Mal die Diskrepanz zwischen den Schichten wahr. Frieda erzählte ihr einmal, dass sie abends oft hungrig ins Bett müsse, weil der Vater sämtliches Geld in billigen Fusel gesteckt hatte. Ab diesem Moment lag Charlotte ihrer Köchin immer in den Ohren, jeweils einen kleinen Teil vom Essen auf die Seite zu stellen, wenn Frieda kam. Sie sah dann zu, wie diese den vollen Teller gierig verschlang, und hatte dabei das erste Mal in ihrem Leben das Gefühl, etwas Sinnvolles getan zu haben.

Aber diese Tage, in denen Frieda bei ihr war, waren leider viel zu selten. Eines Tages kam die Näherin alleine, ohne ihre Tochter. Sie leide an Kopfschmerzen, Husten und der Hitze, erzählte sie. Charlotte bat daraufhin ihre Mutter, einen Doktor zu ihrer Freundin zu schicken, aber die sah sie nur verächtlich an. Wenn man einmal den kleinen Finger reiche, würde man in Zukunft nur noch ausgenutzt werden, meinte sie. Das sei sicher auch nur eine Finte, um Mitleid zu erregen. Das nächste Mal musste Charlotte erfahren, dass Frieda an Typhus gestorben sei. Sie trauerte tagelang und weinte in ihr Kissen.

Die Gespräche an den Tischen verstummten abrupt, als die pompöse Doppeltür, die zur Küche führte, geöffnet wurde und eine Horde Bediensteter den Saal betrat. Jeder Zweite von ihnen trug ein Serviertablett mit Tellern, die von einem anderen Kellner dann am Tisch mit geschickten Handgriffen aufgetragen wurden.

Charlotte begutachtete die Auster vor ihr mit Widerwillen. Ihr wurde bislang nur einmal eine Auster vorgesetzt, und da sie seinerzeit keine Ahnung hatte, was sie da zu sich nahm, schob sie diese, wie alle anderen am Tisch, in ihren Mund. Sie musste kämpfen, damit die Muschel nicht wieder ihre Speiseröhre hochgekrochen kam. Niemals würde sie so etwas erneut essen, das hatte sie sich damals fest vorgenommen.

Sie sah sich am Tisch um. Einige Männer hatten die Auster bereits mit Wonne verschlungen, während einige Damen ebenfalls ihre Mühe damit hatten wie Charlotte.

*

Charlotte war gerade im Begriff, ihre Auster unauffällig auf Wilhelms Teller zu platzieren, der durch ein intensives Gespräch mit Adeline abgelenkt war, aber Otto bekam ihre Bemühungen mit.

»Willst du das Scheißerchen loswerden?«, flüsterte er ihr zu.

Charlotte nickte unauffällig, woraufhin Otto blitzschnell seine leere Schale gegen ihre volle austauschte. Genüsslich träufelte er etwas Zitronensaft darauf und schon war sie in seinem Mund verschwunden. Er kaute genussvoll und zwinkerte Charlotte verschwörerisch zu, worauf sie zaghaft lächelte.

Warum nur ist mein Ehemann nicht so? Sie seufzte und sah sich erschrocken um, um zu überprüfen, ob es jemand gehört hatte. Doch jeder war auf sein Essen fixiert und nahm gar nicht wahr, was in Charlotte vorging oder was sie von sich gab.

Nachdem die Austernteller abgeräumt worden waren, wurde die Suppe aufgetragen. Auf die freute sich Charlotte, sie wäre auch vollkommen zufrieden mit einer solchen und einem Stück Brot gewesen. Mehr brauchte sie gar nicht. Diese ewige Esserei und Völlerei waren ein weiterer Grund, weshalb ihr derartige Einladungen zuwider waren.

Danach wurde der Fisch gereicht. Charlotte ekelte sich und betrachtete etwas pikiert ihren Teller.

»Nur zu, meine Liebe, der Fisch schmeckt hervorragend.« Otto zwinkerte ihr zu. Sie nahm ein winziges Stück auf die Gabel und schob es widerwillig in ihren Mund. Erst erreichte sie ein angenehmer Buttergeschmack, hinterher dann leicht der Fischgeschmack, ausgezeichnet gewürzt. Erstaunt sah sie auf ihren Teller und dann in Ottos Augen. »Ich hab’s ja gesagt.«

Charlotte aß ein größeres Stück und genoss es mit allen Sinnen. Die Pilze waren für sie plötzlich nur noch Beigemüse. Sie nahm nicht einmal zur Kenntnis, dass Wilhelm sie völlig erstaunt anstarrte.

So einen Fisch könnte ich jede Woche essen und das werde ich in Zukunft auch machen.

Sie notierte gedanklich, dass sie Minna nachher zum Koch schicken musste, damit er ihr das Rezept verraten würde.

Das Abendessen zog sich für Charlotte dennoch viel zu lange hin.

Nach der Suppe und dem Fisch war sie satt und es schüttelte sie fast, wenn sie daran dachte, dass noch so viele Gänge auf sie warteten.

Als das Fleisch serviert wurde, schaute sie Hilfe suchend Otto an, der sofort verstand und ihr seinen Teller zuschob. Das Fleisch wechselte seinen Besitzer und Charlotte hauchte Otto ein Danke zu. Den Spargel hingegen verspeiste sie gerne, denn das war etwas, das sie sich nicht oft leisteten. Dieses Gemüse war teuer und manchmal auch schwer zu bekommen.

Der nächste Gang bestand aus drei Scheibchen Hummer auf einem Weißwein-Schaumsüppchen, darüber knusprige Kartoffelstäbchen. Es sah aus wie gemalen, und als Charlotte eine Gabel gegessen hatte, musste sie sich eingestehen, dass es schlichtweg hervorragend war. Sie kannte keinen anderen Ausdruck als hervorragend für dieses Gourmet-Gericht. Zum Glück waren die Portionen klein und übersichtlich, so bekam Charlotte dann doch plötzlich wieder Appetit, je länger der Abend dauerte. Wilhelm nahm mittlerweile fast keine Notiz mehr von ihr. Er unterhielt sich mit allen anderen am Tisch, nur seine Frau ließ er außen vor. Charlotte war das aber mehr als recht. Mit Otto an ihrer Seite hatte sie einen angenehmen Tischpartner.

Nach kurzer Zeit wurden die Wachteln serviert. Charlotte sah auf den Winzling herab, der auf ihrem Teller lag. Sie hasste es, wenn Tiere darauf lagen, egal, um welches es sich dabei handelte. Widerwillig bewegte sie den Vogel auf die Seite und widmete sich dem Salat. Neben ihr räusperte sich Otto und schob ihr, wieder so unauffällig wie möglich, seinen Teller hin. Charlotte schaute Otto dankbar an.

Der Salat war ganz nach ihrem Geschmack. Bunt, knackig und mit einer exzellenten Sauce. Zu jedem neuen Gang wurde ein anderer Wein serviert, aber schon nach dem zweiten Glas hatte Charlotte abgewunken. Sie wollte später noch einen klaren Kopf haben, und das ging nicht, wenn sie sich dem Wein hingab, obwohl sie das liebend gerne getan hätte. Nicht, dass sie regelmäßig Alkohol trank, aber heute wäre sie nicht abgeneigt, um den ganzen Tag darin zu versenken.

Nun kam die Eisüberraschung. Auf jedem Teller lag eine halbe Kugel Eis, mit Schokolade ummantelt. Sobald jeder sein Dessert vor sich stehen hatte, goss der Kellner aus einem Kännchen eine goldene, warme Flüssigkeit darüber und zündete diese an. Die Kugel fing Feuer und das Licht wurde kurz ausgeschaltet, sodass man die brennenden Kugeln sehen konnte. Augenblicklich setzte begeistertes Gemurmel ein und einige Gäste klatschten sogar Beifall. Als der Alkohol verbrannt und die Schokoladenschicht fast geschmolzen war, stürzten sich die Anwesenden auf das Eis. Ringsum wurde nur Lob ausgesprochen, die Küche hatte ihr Debüt mehr als erfüllt. Zuletzt kam ein Kellner mit einem Tablett, auf welchem verschiedene Käsesorten lagen, zu den Tischen und ein zweiter Bediensteter schnitt die gewünschten Stücke ab und servierte sie. Das auf der Karte angekündigte Gebäck stand ebenfalls schon vor den Gästen. Wie von Geisterhand wurden die Gläser und übrig gebliebene, unbenutzte Gedecke abgeräumt und dafür Kaffeetassen aufgetischt.

Charlotte hatte das Gefühl, sie platze langsam aus allen Nähten. Sie war randvoll satt, aber zu ihrer Verwunderung, war ihr wohlig zumute. So hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Die Männer erhoben sich und schlenderten ins Herrenzimmer, um dort eine Zigarre zu rauchen und einen Cognac oder Whiskey zu trinken, während die Damen an die frische Luft traten und über dies und das plauderten.

»Meine liebe Charlotte, wir hatten noch keine Gelegenheit, miteinander zu sprechen. Ich hoffe, dir geht es gut? Du warst so still am Tisch.« Germaine und Charlotte standen an der Brüstung. Germaine sah ihre Freundin aufmerksam an.

»Ach, Germaine, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich war, als ich euch gesehen habe. Die Woche ist für mich gerettet.«

»So schlimm?«

»Schlimmer! Aber ich erzähle es dir morgen. Jetzt möchte ich einfach nur noch ins Bett fallen.«

Die beiden Frauen betraten wieder das Hotel und verabschiedeten sich bald darauf voneinander.

*

Der erste Tag ist geschafft, die anderen schaffe ich auch noch. Mit diesem Gedanken erwachte Charlotte am nächsten Morgen. Sie blinzelte zum Fenster. Die Sonne schien ins Zimmer. Verwundert setzte sie sich auf. Sie war sicher, dass sie am Abend zuvor die Vorhänge zugezogen hatte. Jetzt waren sie auf und die Balkontür stand weit offen. Erstaunt schielte sie zu Wilhelms Seite des Bettes hinüber. Sie war leer. Wie hätte es auch anders sein können?

Charlotte schwang sich aus dem Bett und trat zum Balkon. Sie war schlicht überwältigt von der grandiosen Aussicht. Obwohl es sich nicht gehörte im Nachtgewand an die frische Luft zu treten, trat sie kurzerhand auf den Balkon. Sie atmete tief ein und aus, schloss die Augen und genoss den Moment.

Das Leben könnte so schön sein. Nein! Das Leben ist schön. Erst wenn ich es zulasse, dass es mich kaputt macht, schadet es mir.

Charlotte öffnete die Augen und blinzelte. Unten erblickte sie ein paar Frühaufsteher, die Kaffee auf der Terrasse tranken und etwas weiter entfernt befanden sich zwei Personen, die zum Steg hinunterspazierten. Was wollen die denn dort? Das Schiff kommt doch erst in fünf Tagen.

Sie sah ihnen hinterher, bis sie verschwanden.

»Huhu, Charlotte!« Erschrocken zuckte sie zusammen und schaute sich nach dem Urheber der Stimme um. Germaine saß ebenfalls unten und hob die Hand in ihre Richtung. Erst da wurde Charlotte bewusst, dass sie nur das Nachtgewand anhatte und ihr die Haare wirr vom Kopf abstanden.

Du meine Güte!

Sie winkte Germaine kurz zu und verschwand wieder im Zimmer. Sie beeilte sich mit dem Frisch machen, zog sich an und band ihre Haarpracht zu einem Dutt. Dann begutachtete sie sich noch einmal im Spiegel und war zufrieden. Sie kniff sich zweimal in die Wange, damit sie etwas Farbe bekamen, und verließ die Suite. Auf dem Flur vernahm sie Geschrei aus dem benachbarten Zimmer. Sie war sich nicht schlüssig, ob sie es einfach überhören und nach unten gehen oder für Ordnung sorgen sollte. Doch da wurde die Zimmertüre schon aufgerissen und eine wutentbrannte Minna schoss an Charlotte vorbei in den Korridor und stürmte zur Treppe.

»Minna, was ist denn los?«

Minna hielt auf halber Höhe an, drehte sich langsam um und funkelte Charlotte wütend an. Sie atmete lautstark ein und aus. Ihr Kopf war hochrot, mit dunklen Streifen durchzogen, und die Frau schien kurz vor einer Explosion zu stehen.

»Was los ist? Mit Verlaub, aber das sind keine Kinder! Das ist eine üble Brut, die Sie da geboren haben. Die besitzen weder Anstand noch Respekt gelernt. Ich kündige! Auf der Stelle! Schauen Sie selber, wie Sie damit zurechtkommen. Ich mache da nicht mehr mit. Zum Teufel mit dem Geld. Ihr reichen Pinkel meint immer nur, dass ihr alles mit Geld zurechtbiegen könnt. Aber eines will ich Ihnen mal sagen: nicht mit mir! Himmelherrgott nochmal!« Mit diesen Worten drehte sie sich um und rauschte die Treppe nach unten.

Charlotte war vollkommen perplex und wusste überhaupt nicht, wie sie reagieren sollte. Verdattert schaute sie der Kinderfrau nach.

Irgendwann vernahm sie Gemurmel und bemerkte, dass einige der Gäste, vom lauten Schreien angelockt, auf dem Flur standen. Charlottes Atmung wurde schneller, in ihren Ohren hörte sie das Blut durch die Adern rauschen und ihr wurde schlagartig schwindelig. Sie drehte sich von den neugierigen Menschen weg und floh zurück in den Raum der Kinder. Hastig schloss sie die Tür hinter sich. Ihre Töchter und ihr Sohn saßen schuldbewusst und mit hängenden Köpfen auf einem der Betten.

»Was hat das zu bedeuten? Dorothea?« Charlotte flüsterte. Die Drei wussten ganz genau, je leiser ihre Mutter sprach, desto gereizter war sie. Das verhieß Ärger, und zwar Riesenärger.

Dorothea stand auf, verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen und hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte.

»Bleib gefälligst stillstehen, Dorothea. Du bist kein Kleinkind mehr. Also … ich höre.«

Dorothea schaute Hilfe suchend zu ihren Geschwistern, die ebenfalls aufgestanden waren und zu Boden starrten.

»Ja, ähm … also, wir wollten Minna nur etwas ärgern.«

»Womit denn? Wie?«

Dorothea räusperte sich. »Wir haben ihre Kleider verknotet.«

»Und deswegen veranstaltet sie solch ein Theater? Was habt ihr sonst noch angestellt?«

»Nun ja, zuerst nähten wir die Ärmel, den Ausschnitt und den Saum zusammen.«

Charlotte schaute ihre Älteste an. »Und weiter?«

»Na ja, dann haben wir ihre Pantoffeln mit dem, was in ihrem Gesichtstiegel drin ist, eingestrichen. Wir konnten ja nicht ahnen, dass sie so schnell aufstehen würde. Und dann … dann ist sie hingefallen.«

»Das hättest du sehen sollen, Mama, die hat eine Pirouette gedreht, das war echt grandios«, sprudelte es regelrecht aus Max heraus und er lachte übers ganze Gesicht. Katharina versetzte ihm einen groben Puffer in die Seite. »Sei sofort still, du Knilch!«

Ohne darauf einzugehen, fixierte Charlotte immer noch ihre Älteste. »Und warum ist sie denn so schnell aufgestanden?«

Alle drei schauten beschämt zu Boden.

»Ich höre.«

»Wir haben uns unter einem Leintuch versteckt und Gespenst gespielt. Und Max hat ihr noch eine große Spinne vor die Nase gelegt … na ja, da erschrak sie sich halt.«

»Weiter.« Charlotte kannte ihre Kinder besser als Außenstehende es je angenommen hätten. Sie wusste genau, dass das noch nicht alles war.

»Ja, ähm ...« Verlegen schaute Dorothea Katharina an, die nickte. Es hatte keinen Zweck, etwas vor ihrer Mutter verheimlichen zu wollen. Sie fand es ohnehin raus. Spätestens, nachdem sie nochmal mit Minna richtig gesprochen hatte.

»Wir haben ihr noch Schuhcreme in den Gesichtstiegel getan. Der war ja beinahe leer, das wäre Minna sofort aufgefallen«, sagte sie fast flüsternd.

»Wir konnten ja nicht wissen, dass sie blindlings in den Tiegel greift und sich das Zeugs postwendend ins Gesicht schmierte. Erst als Max dann anfing, laut zu lachen, hat sie in den Spiegel geschaut.«

»Und warum hat Minna die ganze Zeit nichts von eurer Aktivität bemerkt?«

Dorothea traute sich nicht mehr, ihrer Mutter in die Augen zu schauen. »Ähm, also, das war so … wir … wir haben ihr ein Schlafmittel in den Tee getan. Wahrscheinlich war sie deshalb noch nicht ganz wach«, flüsterte sie leise.

»Ein Schlafmittel? Woher habt ihr denn das her?«, Sie ahnte, was jetzt gleich als Antwort kommen würde.

»Das haben wir in deinen Sachen gefunden, Mama.«

Charlotte schaute ihre Kinder der Reihe nach an. Manchmal fragte sie sich, womit sie dieses Leben verdient hatte. Einen Mann, der sie nicht liebte und von einem Bett ins nächste hüpfte, und drei Bälger am Hals, eines erschreckender als das andere.

Sie stand so still im Zimmer, dass man eine Nadel hätte fallen hören können. Jedes der Kinder war angespannt und traute sich kaum mehr, zu atmen.

»Was mache ich bloß mit euch? Am besten, ich versenke euch im See. Der ist tief genug, dass ihr nie wieder das Sonnenlicht erblickt.«

Alle drei schnappten hörbar nach Luft. Dann redeten sie alle gleichzeitig auf Charlotte ein. Max fing an, zu weinen. Charlotte brach es fast das Herz, aber auf irgendeine Art musste man diesen Bälgern schließlich Respekt und Anstand beibringen. Minna hatte recht, Erziehung war hier in der Tat Mangelware.

Die Kinder hingen jetzt an ihrer Mutter, umarmten sie und bettelten um Gnade.

»Ist ja gut, ich habe es ja gar nicht so gemeint. Aber irgendeine Strafe muss sein. Ich werde mit eurem Vater sprechen müssen.«

»Nein, bitte nicht! Bitte, bitte, Mama!«

Charlotte schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber damit habt ihr den Bogen überspannt. Ihr wisst ganz genau, dass kein Kindermädchen im Umkreis von Biel bis nach Thun mit euch zu tun haben will. Ihr seid der Schrecken aller Gouvernanten. Ich weiß wirklich nicht mehr, was wir mit euch machen sollen. Zieht euch an und bringt das Zimmer in Ordnung. Ich gehe in der Zwischenzeit euren Vater suchen. Und wehe, ihr seid nicht hier, wenn wir zurückkommen!«

Sie drehte sich ohne ein weiteres Wort um und rauschte aus der Suite. Im Flur prallte sie fast mit einigen Gästen zusammen, die scheinbar versucht hatten vor der Tür zu lauschen.

»Na? Alles gehört? Oder kann ich noch irgendwie aufklären?« Charlotte war unübersehbar in schlechter Stimmung. Erschrocken wichen die Anwesenden auseinander und begaben sich zurück in ihre Suiten. Wild entschlossen, sich keine Blöße zu geben, ging Charlotte in gemächlichem Tempo die Treppe hinunter. Sie musste sich zusammenreißen, nicht vor Wut zu rennen. Unten angekommen, schaute sie sich erst einmal um und suchte den Mitarbeiter am Empfang.

»Guten Morgen, wissen Sie, wo sich mein Mann aufhält? Herr von Bonstetten?«

Der Empfangschef schien verwirrt. »Ihr Mann?« Dann fing er sich aber wieder. »Oh, ja, Ihr Mann. Er war vor ungefähr einer Stunde da. Ich glaube, er hatte vor, spazieren gehen.« Dass er nicht alleine war, verschwieg er tunlichst.

»Wissen Sie, wohin er wollte?«

»Nein, tut mir leid, das entzieht sich meiner Kenntnis.«

»Würden Sie ihm dann bitte ausrichten, dass er sofort in die Suite kommen soll, wenn er zurück ist?«

»Aber selbstverständlich.« Er verbeugte sich leicht und Charlotte nickte ihm zu, obwohl sie in Gedanken bei Wilhelm war. Sie kannte ihn, das würde noch einige Zeit dauern, bis er wieder hier wäre.

Sie schaute in den Speisesaal, wo noch gefrühstückt wurde. Sie erblickte Germaine und Adeline, die an einem Tisch saßen. Sie lachten und schienen sich bereits am frühen Morgen zu amüsieren.

Warum auch nicht?, fragte sich Charlotte.

Sie steuerte den Tisch an, an dem die beiden Damen saßen, und lächelte freundlich. »Darf ich?«

»Oh, Charlotte, aber natürlich! Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt.«

»Nein, ich hatte nur noch eine kleine Unterredung mit meinen Sprösslingen.«

»Oh, Sie haben Kinder? Sie Glückliche! François und ich hätten so gerne welche, aber bis jetzt wurde unser Wunsch nicht erhört.«

»Glauben Sie mir, meine Liebe, manchmal ist das auch besser so.«

Adeline schaute Charlotte so entsetzt an, dass diese laut auflachte. Nach einem Moment stimmten die anderen beiden mit ein.

Danach standen sie auf und machten sich über das Frühstücksbuffet her. Charlotte war überrascht, dass ihr Magen sofort zu knurren begann, als sie all die leckeren Speisen erblickte. Zu Hause frühstückte sie nie. Sie staunte im Stillen über sich selbst. War das die saubere Luft? Oder doch der Tapetenwechsel?

Jede trug einen reichlich gefüllten Teller an ihren Platz zurück. In der Zwischenzeit wurde der Kaffee serviert.

Sie ließen es sich schmecken und erzählten sich dies und das, zwischendurch lachten sie immer wieder schallend. Sie verhielten sich nicht so verklemmt, wie es einer Dame von Welt eigentlich geziemen würde. Doch das war ihnen egal. Sie hatten Spaß und Charlotte vergaß darüber sogar für einen Moment ihre Sorgen.

Sie waren alle drei satt und zufrieden.

Als sie auf die Terrasse traten und die Aussicht genossen, bemerkte Charlotte, dass Wilhelm den Weg vom Steg nach oben kam. Sie sah an Wilhelm vorbei und erwartete, dass hinter ihm eine zweite Person auftauchen würde, aber da kam niemand.

Seltsam, Wilhelm geht doch nie alleine durch die Gegend. Er geht aber ja nicht einmal mit mir spazieren, es sei denn, er hat einen Nutzen davon. Aber welchen Vorteil könnte er denn hier von einem Spaziergang haben, wenn nicht durch sein liederliches Frauenzimmer? Das Wort Dame ist in diesem Zusammenhang völlig unpassend.

Charlotte durchstöberte ihre Erinnerungen, um sich zu entsinnen, wann er mit ihnen als Familie jemals spazieren war. Ihr Gedächtnis war exzellent, aber sie fand dennoch nur sehr wenige Gelegenheiten, wo dies passiert war.

Sie versuchte, Germaine und Adeline abzulenken, damit sie Wilhelm nicht sahen, denn die beiden würden unweigerlich eins und eins zusammenzählen und das Ergebnis wäre peinlich, nicht nur für ihn.

Als Wilhelm die drei Frauen sah, kam er auf sie zu. »Charlotte, da bist du ja, ich habe dich schon überall gesucht.«

Charlotte war überrascht, wie leicht ihm diese Lüge über die Lippen kam.

»Jetzt hast du mich ja gefunden, mein Gemahl.« Sie lächelte ihn an, während ihre Augen Blitze spien.

»Ich muss mit dir etwas besprechen.« Sie drehte sich zu ihren beiden Freundinnen um. »Ihr entschuldigt mich? Wir sehen uns später, wir können ja hier gar nicht verloren gehen.« Alle lachten und Charlotte marschierte mit zielstrebigen Schritten zur Tür, die ins Innere des Hotels führte.

»Was wolltest du denn mit mir besprechen?«, erkundigte sich Wilhelm vorsichtig.

»Nicht hier, da gibt es eindeutig zu viele Ohren.«

Wilhelm traten Schweißtropfen auf die Stirn. War er diesmal zu unvorsichtig gewesen?