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Christian von Allmen und Lukas Berger, das Ermittlerteam aus "Die vergessene Familie", kehrt zurück. Ersterer macht mit seiner Frau Anna Urlaub auf Guadeloupe in der Karibik. Doch es sind nicht Dinge wie Sonne, Sand, Meer und Erholung, die sie erwarten, sondern ein Toter in einem versteckten Verlies. Christian bietet dem Chef der örtlichen Polizei seine Hilfe an. Wenig später kommt Lukas Berger aus der Schweiz hinzu. Schon bald wird klar, dass es sich um einen Krieg zwischen zwei Drogenbossen handelt. Einer davon befindet sich bereits auf der Insel, über den anderen kursieren nur Gerüchte, denn niemand hat ihn bislang zu Gesicht bekommen. Doch dann freundet sich genau der mit Anna und Christian an, ohne dass die beiden wissen, wer er ist. Ein spannender Wettkampf um die Zukunft der Insel entbrennt.
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Seitenzahl: 354
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»Ach, wen haben wir denn da?«
Der Mann grinste übers ganze Gesicht und umrundete langsam die beiden Männer, die vor ihm knieten.
»Lantaro, Don Alvaros kleiner Bruder ... und Emiliano, seine rechte Hand. Ich habe tatsächlich die Ehre, endlich einen von euch in meinen Fängen zu haben. Nur schade, dass ich Alvaros‘ Visage nicht sehen kann, wenn er euch zurückbekommt. Gut gemacht, Männer.« Er schaute jeden seiner Männer, die in einem weiten Kreis um die beiden standen, eine Weile an. Einige von ihnen grinsten, andere nickten lediglich oder schnalzten leise mit der Zunge.
»Also, was schlägst du vor, was wir mit euch machen sollen?« Er ging vor Lantaro in die Hocke, der ihn voller Hass anstarrte und ihm sogleich mitten ins Gesicht spuckte. Der Bespuckte blieb, im Gegensatz zu seinen Männern, die brüllten und ihre Fäuste erhoben, erstaunlich gefasst. Einige kamen dabei Lantaro gefährlich nahe.
Der Anführer hob eine Hand und blitzartig wurde es still.
»Santiago, lass es mich einfach beenden.«
Nicolas, Santiagos rechte Hand, trat neben seinen Boss. Der wischte sich gerade den Speichel von der Wange, holte danach aus und schlug Lantaro mit voller Wucht ins Gesicht. Das Blut spritzte dem Gefangenen aus Mund und Nase, während er in die umstehenden Männer geschleudert wurde. Diese jubelten und manch einer trat nach Lantaro. Erneut hob Santiago eine Hand und sofort kehrte wieder Ruhe ein.
»Ich weiß, dass ihr wild auf ihn seid, aber erst einmal gehört er mir, verstanden? Danach dürft ihr mit ihm kuscheln, solange ihr wollt.«
Wieder grinste die Horde und einige murmelten vor sich hin.
Santiago trat zu Lantaro, packte ihn am Hemd und zerrte ihn auf die Füße.
»Also? Ich warte noch immer. Wie sollen wir dich an Don Alvaros zurückschicken? In einem Paket? Oder in mehreren? Sag schon, wie hättest du es denn gerne?«
Santiago grinste schief. »Scheinbar hat es unserem Gast die Sprache verschlagen. Auch gut, dann denken wir uns eben was aus. Per Luftpost würde natürlich am schnellsten gehen, aber das gönne ich dem Dreckskerl nicht.« Er zeigte auf Lantaro. »Verbuddeln bringt auch nichts, weil dich dein feiner Bruder nicht finden würde. Dass der blind und taub ist, weiß schießlich die ganze Welt. Der ist nur so gut wie seine Knaben um ihn herum. Aber weißt du was? Seine Truppe schmilzt gerade dahin wie Eis in der Sonne. Und bald ist der große Don Alvaros auf sich alleine gestellt, und dann wollen wir mal schauen, wie groß er noch ist.«
Seine Männer johlten und brüllten, einige hoben die Fäuste, andere klatschten zustimmend.
Santiago ließ die Männer im Freudentaumel. Er wusste, dass sie dieses Gefühl genauso brauchten wie den Rum am Abend.
»Leg dich mit meinem Bruder an und du wirst sehen, wer dabei den Kürzeren zieht«, zischte Lantaro zwischen seinen Zahnlücken hervor.
»Oh, jetzt bekomme ich aber Angst. Ich pisse mir schon fast in die Hose.« Santiago wedelte übertrieben mit einer Hand herum, während seine Männer lachten.
»Okay, ich würde sagen, das Gespräch ist beendet. Bringt beide in den Keller.«
»Aber Boss, du willst sie doch nicht so einfach davonkommen lassen?« Nicolas schaute Santiago verwirrt an.
»Keine Angst, das wird nicht geschehen.«
Die Männer stießen Lantaro und Emiliano vor sich her bis zur Treppe, die nach unten führte.
»Vorsicht, Männer, wir wollen doch nicht, dass sie sich so schnell den Hals brechen!«
Santiago vernahm ein missmutiges Brummen und Knurren, beobachtete jedoch zufrieden, dass seine Männer die beiden Geiseln die Treppe hinunterbegleiteten, ohne sie zu schubsen und zu stoßen.
Er legte Nicolas einen Arm um die Schulter und gemeinsam betraten sie den Wohnraum.
»Willst du sie jetzt auch noch durchfüttern?«
Santiago lachte laut auf. »Nein, Nicolas, ich denke da eher an etwas ganz Besonderes. Wir geben Don Alvaros zuerst einmal Emiliano häppchenweise in kleinen Portionen zurück. Dir wird da sicherlich was Vernünftiges einfallen, so wie ich dich kenne.«
Nicolas‘ Augen funkelten.
»Ähm ... mit Sicherheit. Das mache ich wirklich sehr gerne, Boss.«
Die beiden schauten sich kurz an und grinsten.
*
»Schatz, schau mal! Ach wie herrlich, endlich Urlaub!«
Anna stand auf dem Balkon des Hotelzimmers und ihr glückliches Lächeln strahlte mit der Sonne um die Wette. Sie konnte sich kaum sattsehen an den Palmen und der Poolanlage, die direkt vor ihren Augen lagen. Und natürlich das glitzernde Meer im Hintergrund. Sie presste die Hände auf ihre Brust und vergaß fast, zu atmen.
»Schatz, nun komm doch mal schauen!«, schmollte sie nach einer Weile.
»Hm«, war der einzige Kommentar, der hinter ihr aus dem Zimmer kam, dann hörte sie ein Rascheln und bald darauf leichtes Schnarchen. Resigniert schüttelte sie den Kopf und drehte sich wieder der fantastischen Aussicht zu. Sie beobachtete, wie einige Hotelgäste in aller Herrgottsfrühe Liegen mit ihren Badetüchern belegten, um dann erst einmal gemütlich frühstücken zu gehen.
Was die können, kann ich auch!
Sie betrat das Zimmer, zog sich Shorts an und ein Top über und verließ, mit der Zimmerkarte und zwei Badetüchern bewaffnet, den Raum. Dann lief sie mit schnellen Schritten durch den Flur, die Treppe hinunter und durchquerte die riesige Hotelhalle in Richtung Poolanlage. Dort angekommen legte sie die beiden Badetücher auf zwei nebeneinanderstehende Liegen und setzte sich kurz auf eine davon. Sie konnte ihr Glück noch immer nicht fassen, dass sie es endlich geschafft hatte, nach über vier Jahren Christian zu diesem Ferienaufenthalt überreden zu können. Nicht, dass sie in dieser Zeit keine gemeinsamen Ferien verbracht hatten, aber ihr Partner wollte schlicht und einfach nicht zu weit weg. Vor ein paar Wochen stellte sie ihm dann ein Ultimatum: Urlaub in der Karibik oder sie würde ihn verlassen und ausziehen.
Mit etwas Unbehagen dachte sie an diesen Augenblick zurück, als er sie lange ansah und dann langsam nickte.
Anna schaute auf die Uhr und sprang auf. Bald darauf stand sie wieder im Zimmer, wo sich scheinbar nichts verändert hatte. Sie trat zum Bett und zog dem noch immer leise schnarchenden Mann die Decke weg.
»Aufstehen! Sonst gibt es kein Frühstück mehr.«
»Lass mich doch einmal mal ausschlafen.«
»Es ist aber schon nach halb zehn, und Frühstück gibt es nur bis zehn. Außerdem habe ich einen Mordshunger. Also steh auf, du Faultier!« Liebevoll küsste sie ihn und wich elegant zur Seite, als er sie ins Bett ziehen wollte.
Widerstrebend setzte er sich auf und schaute blinzelnd in die Sonne.
»Boa, schon so hell?«
»Nun komm schon ... bitte«, bat sie ihn.
Er nickte, verließ das Bett und zog sich an. Schon bald darauf betraten sie den Frühstücksraum. Es stellte sich heraus, dass sie eindeutig die Letzten waren, denn das Personal räumte schon das Buffet ab.
Schnell schnappten sie sich einen Teller und füllten ihn mit allerlei Köstlichkeiten. Dann setzten sie sich draußen an einen Tisch unter einem Sonnenschirm und genossen ihr Frühstück.
»Zum Glück habe ich heute früh schon zwei Liegen am Pool mit unseren Tüchern belegt. Jetzt hätten wir wahrscheinlich keine Chance mehr.«
»Ach nee, musste das denn sein? Wollten wir nicht an den Strand?«
»Da ist aber alles voll Sand.«
»Na und? Genau deswegen sind wir doch hierher geflogen, oder nicht? Um an einem Pool zu liegen, hätten wir auch zu Hause bleiben können. Bitte lass uns an den Strand gehen. Dort suchen wir uns dann ein lauschiges Plätzchen und ...«
Anna machte einen Schmollmund.
»Du darfst dafür entscheiden, was wir morgen machen. Einverstanden?«
Anna überlegte kurz und grinste dann.
»Egal was?«
Christian verdrehte theatralisch die Augen. »Schatz, ähm ... du weißt schon, dass wir hier zur Erholung sind?«
Beide grinsten sich zu und bald darauf schlenderten sie Hand in Hand zum Strand.
*
Am nächsten Tag mieteten sie sich ein Auto, um die Umgebung zu erkunden. Sie waren beide das erste Mal in der Karibik und hatten sich zu Hause gemeinsam für Guadeloupe entschieden. Die Insel bot nebst Sandstränden und Regenwäldern den Vulkan La Soufrière und mehrere Wasserfälle. Das berühmte Fort Napoléon lag auf der Nachbarinsel Terre-de-Haut, die mit der Fähre in etwa zwanzig Minuten zu erreichbar war. Und genau dorthin waren sie jetzt unterwegs.
Dort angekommen erklommen sie sofort den Weg hoch zum Fort, das majestätisch auf dem Hügel thronte. Sie schlenderten zuerst einmal über das Gelände und schauten sich die Festung an. Sie bestaunten die vielen Kanonen, die, zwar unbenutzt, mit Sicherheit, interessante Zeitzeugen wären, könnten sie erzählen. Das Fort hatte in Kriegszeiten nie eine wichtige Rolle gespielt, diente vielmehr als Gefängnis. Wer hierhergebracht wurde, blieb meistens auch an diesem Ort. Eine Flucht war nahezu ausgeschlossen, denn dafür war die kleine Insel zu weit von Guadeloupe entfernt. Zudem tummelten sich auch noch Haie im Gewässer, die eine Flucht zusätzlich noch zu verhindern wussten.
Anna stand an einem Platz mit wunderschönem Panoramablick und schaute mit einem Strahlen im Gesicht aufs Meer. Dann entdeckte sie bunt leuchtende Blumen, die etwas entfernt wuchsen. Bevor Christian reagieren konnte, sprang Anna auch schon auf den Pfad zu, nahm die Kamera in die Hand und schoss einige Bilder. Sie spähte über einen größeren Felsen und sah, dass dort noch mehr dieser Blumen waren. Vorsichtig umrundete sie den Felsbrocken und blieb erschrocken vor einem vergitterten Loch im Stein stehen.
»Schau mal, Christian, das muss eines der Gefängnisse gewesen sein. Da hättest du die Verbrecher, die du geschnappt hast, wohl auch eingebuchtet. Wenigstens hatten sie einen schönen Blick aufs Wasser.«
Anna wandte sich wieder dem vergitterten Fenster zu und schaute ins Innere.
»Das sieht wirklich gruselig und echt aus, ich bekomme gerade eine Gänsehaut.«
Christian grinste schief und schlenderte auf sie zu. Anna war sein ruhender Pol. Sie war Pflegefachfrau und brachte ihn nach einem stressigen Arbeitstag bei der Kripo innerhalb weniger Momente wieder auf den Boden zurück. Obwohl auch ihr Alltag alles andere als stressfrei war, besaß sie die Gabe, in ihm, mit nur einem kurzen Blick in sein Gesicht, wie in einem Buch zu lesen. Oft brauchte es nicht viel im Leben: nur zwei Arme, die für einen da waren, und einen warmen Körper, den man spürt.
Christian bedankte sich jeden Tag im Stillen, dass er Anna im Laufe einer Ermittlung im Krankenhaus kennengelernt und sich auf sie eingelassen hatte.
»Hm, was siehst du denn da drin?«
»Schau mal, das sieht aus wie ... da ist einer angekettet ... irgendetwas stimmt da nicht ... das riecht eklig, als wäre etwas verwest ... und ... ist das da getrocknetes Blut? Und wieso trägt der Typ Klamotten, die in unsere Zeit passen?«
Christian trat neben sie und schaute ebenfalls durch die Gitterstäbe. Seine Augen mussten sich nach der grellen Sonne erst an das diffuse Licht gewöhnen. Er sah genauer ins Innere und zog die Augenbrauen nach oben.
Irgendwas stimmt hier tatsächlich nicht, ging es ihm durch den Kopf.
»Komm, wir gehen mal zum Museum und fragen dort nach. Vielleicht sind ihnen die historischen Kleidungsstücke ausgegangen, um die Puppen entsprechend einzukleiden ...«
»Das glaubst doch du selbst nicht! Christian, da ist was nicht in Ordnung, das spüre ich.«
»Ja, ja, Miss Marple, okay ... lass uns rübergehen.«
Sie betraten wenig später das Museum und verlangten dort, mit jemandem sprechen zu dürfen, der ihnen einige Auskünfte geben könnte.
»Schließen Sie sich doch einer Führung an, da bekommen Sie alles zu sehen und alle Fragen werden beantwortet.«
»Wir haben aber eine Frage betreffend des Gefängnisses. Dort liegt nämlich eine Person, die unserer Meinung nach dort nicht hingehört.«
»Das Gefängnis war aber dazu da, Menschen einzusperren, die sich nicht an die Regeln gehalten haben.« Die junge Angestellte des Museums lächelte die beiden Besucher an.
Christian nickte. »Ja, das wissen wir. Ich ... ähm, ich bin Polizist. Aber der Mann, der dort liegt, ist definitiv keine Puppe. Ich muss leider den Verdacht äußern, dass das es sich dabei um einen toten Menschen handelt«, raunte er den letzten Satz der jungen Frau zu.
»Oh, da hat sich wohl wieder jemand einen Streich erlaubt. Manchmal gelangen Besucher in das Gefängnis, obwohl es abgesperrt ist. Oftmals tun die Leute das nur, um ein paar Fotos zu machen. Aber manchmal ... Ich werde es gleich melden, vielen Dank.« Sie nahm ein Walkie-Talkie zur Hand und sprach etwas auf Kreolisch hinein, dann lachte sie kurz und beendete das Gespräch.
»Der Kollege geht gleich mal nachschauen. Vielen Dank noch mal.« Und damit wendete sie sich wieder anderen Besuchern zu.
Anna und Christian schauten sich unschlüssig an, dann drehten sie sich wortlos um und marschierten zurück zum vergitterten Fenster. Der Mann hatte sich in der Zwischenzeit nicht bewegt. Er saß noch immer in der gleichen Stellung da, halb an die Mauer gelehnt, den linken Arm hochgestreckt in einem Eisen gefesselt, das an der Wand befestigt war. Den Kopf hatte er vornüber auf seine Brust gelegt.
»Da stimmt wirklich was nicht. Das ist ein Toter.« Christian sprach ganz leise, fast wie zu sich selbst. Anna nickte.
»Schau mal, dort steht eine Wasserflasche und ein paar Reste von einem Brot. Die sind aber so weit entfernt, dass der Typ sie niemals erreichen konnte«, flüsterte Anna Christian zu. »Aber wer hat denn das Brot halb aufgegessen?« Sobald sie ihre Frage ausgesprochen hatte, lief eine Ratte quer durch den Raum auf den Mann zu und knabberte an seinem Bein.
Erst in diesem Moment sahen sie, dass dieser an beiden Beinen Wunden hatte. Ebenfalls an der rechten Hand. Dort schien es, als fehle der Daumen.
Anna unterdrückte einen Schrei, in dem sie die Hand vor den Mund hielt, sich kurz darauf abwendete und erbrach.
Danach warteten Anna und Christian eine gefühlte Ewigkeit, aber niemand vom Museum kam, um nach ihnen zu sehen.
»Komm, wir gehen noch mal zur Kasse.«
Die Kassiererin sah sie mit einem stumpfen Blick an, als sie den Eingangsraum betraten, sagte jedoch kein Wort.
»Ähm, ja ... wir wollten fragen, wann denn endlich jemand zum Gefängnis kommt. Wissen Sie, der Typ dort ist tot und Ratten nagen schon an ihm.« Anna schaute die Frau hinter dem Tisch dabei fragend an.
»Ich verstehe echt nicht, was Sie damit erreichen wollen. Welchen Spaß haben Sie denn daran, solche Märchen zu erzählen? Der Kollege war vorhin beim Gefängnis, aber da liegt keiner. Also hören Sie auf, solchen Unsinn zu erzählen! Und? Wollen Sie noch ins Museum? Wenn ja, dann macht das vier Euro, ansonsten muss ich Sie bitten, Platz für die anderen zu machen.«
Anna und Christian sahen zuerst sich und dann die Kassiererin erstaunt an.
»Aber ...«, Christian verstummte, schüttelte den Kopf, nahm Anna beim Arm und zog sie weg. Als sie außer Hörweite waren, nahm er sein Telefon zur Hand und zeigte darauf.
»Pass auf, wir machen jetzt ein kleines Filmchen und präsentieren das der Lady. Mal schauen, was sie dann sagt.«
Sie filmten also, wie eine Ratte an dem Leblosen knabberte und eine andere davonlief. Dann suchten sie wieder die Kassiererin auf, die schon die Augen verdrehte, als sie die beiden kommen sah.
Christian hielt ihr sein Telefon hin und spielte den Film ab. Gelangweilt schaute die junge Frau aufs Display, bis sich endlich ihre Augen weiteten.
»Wo ... wo haben Sie das gefilmt? Woher ist das?«
»Na, vom Gefängnis, woher denn sonst? Glauben Sie uns jetzt endlich?«
Die Kassiererin schüttelte vehement den Kopf. »Das ... das ist nicht unser Gefängnis. Also, wo haben Sie das gefilmt?«
»Da vorne führt ein Trampelpfad zu einem vergitterten Fenster in einem Felsen. Ist das etwa gar nicht das Gefängnis?« Anna schaute ihr Gegenüber fragend an.
Die Kassiererin schüttelte den Kopf und sprach dann erneut ins Walkie-Talkie.
»Bitte warten Sie hier, der Kollege kommt gleich.«
*
Franco war um die fünfzig und Vorgesetzter einer Polizeitruppe. Als er vor ein paar Jahren als Chef eingesetzt wurde, hätte er am liebsten die Insel fluchtartig verlassen, aber dann musste er doch klein beigeben und den Job annehmen.
Mit Don Alvaros war jedenfalls nicht zu spaßen. Jedes Mal wenn Franco an ihn dachte oder etwas mit ihm zu tun hatte, erinnerte ihn dies daran, dass er seinerzeit sozusagen gezwungen wurde, diesen Posten anzunehmen. Und dann lief ihm immer ein Schauer den Rücken entlang nach unten. Er war sich in diesen Augenblicken bewusst, dass er auf sehr dünnem Eis stand.
Don Alvaros hatte ihn vollkommen in der Hand. Sein Filius Franco Junior hatte Don Alvaros Koks entwendet, sehr viel Koks. Jeder andere wäre auf der Stelle erschossen worden, doch sein Sohn hatte Glück. Aber seither hatte Don Alvaros ihn in der Hand. Er beförderte ihn unverzüglich zum Polizeichef, machte ihm jedoch unmissverständlich klar, dass er seine ganze Familie auslöschen würde, wenn er nicht nach seinen Regeln tanzte. Zur Verstärkung seiner Worte entführte Don Alvaros Francos fünfzehnjährige Tochter Isabella, die erst nach drei Tagen wieder freigelassen wurde. Franco flehte sie nach ihrer Rückkehr an, ihm zu sagen, wo sie gewesen war und was mit ihr angestellt wurde, aber sie schaute ihn nur mit großen, traurigen Augen an und schwieg wie ein Grab.
Seit diesem Tag war er der Polizeichef von Guadeloupe und den nahe gelegenen, dazugehörigen Inseln Marie-Galante und La Désirade. Franco war ebenfalls bewusst, dass Don Alvaros eine große Nummer im Drogengeschäft war. Der konnte nun, nachdem er ihn, Franco, unter den Fittichen hatte, ungeniert seinen Geschäften in der ganzen Karibik nachgehen. Franco kämpfte sein Leben lang gegen die Drogenkriminalität an und nun hatte er keine andere Wahl, als tatenlos zuzusehen, wie seine Insel zu einem Drogenumschlagplatz wurde.
»Also, was wissen wir über den Toten?«
Franco saß hinter seinem Schreibtisch und schaute seine Männer fragend an. Betretenes Schweigen setzte ein.
»Bitte, meine Herren, nicht alle auf einmal!«
Der junge Timba meldete sich zu Wort, indem er zaghaft seine rechte Hand auf halber Höhe in die Luft streckte. Franco schaute ihn erwartungsvoll an.
»Ja, also, Chef ... der Tote war im Dienst von Don Alvaros. Wir hatten zwar den Verdacht, dass er einer der Drogenkuriere war, aber wir konnten ihm nie etwas nachweisen.« Er sah sich Hilfe suchend um. »Ist doch so, oder?«
Einige seiner Kollegen nickten, andere schauten betreten auf den Boden.
»Der wird sich ja mit Sicherheit nicht selbst umgebracht haben, und Don Alvaros opfert einen Kurier auch nicht einfach so, wenn ihm nichts Schlechtes nachzuweisen war. Also? Was denkt ihr? Was passierte mit ihm?«
Erneut legte sich betretenes Schweigen über den Raum.
»Was ist? Hat es euch die Sprache verschlagen? Weshalb erfahre ich nur was von unserem jüngsten Teammitglied?«
Camilo räusperte sich.
»Er hat recht, Franco, das ist, oder war einer von Don Alvaros‘ Männer. Touristen fanden ihn am äußersten Zipfel von Saint- François, eingebuddelt am Strand. Nur noch der Kopf schaute aus dem Sand heraus, und der war eingeschmiert mit Honig. Du hast ja gesehen, was davon noch übrig war. Der arme Kerl muss elendig gelitten haben.«
Franco nickte. Er sah auf die Fotos und schon wurde ihm wieder übel, trotzdem musste er nachher noch in der Gerichtsmedizin vorbeischauen.
»Was geht auf unserer Insel vor sich? Hat einer von euch irgendwas gehört?«
Jeder der Anwesenden schüttelte den Kopf.
»Haltet Augen und Ohren offen, ich will nicht, dass hier noch ein Bandenkrieg ausbricht.«
»Du meinst, dass sich eine Gruppe von Alvaros‘ Männern abspaltet?«
Franco überlegte kurz, hob dann die Hände und sah seine Männer nachdenklich an.
»Keine Ahnung, aber irgendwas ist im Busch, nur wissen wir noch nicht, was und wer damit zu tun hat.«
*
Anna und Christian warteten unter Beobachtung der Kassiererin neben dem Museum. Kurz darauf kamen zwei Männer in Uniform wild gestikulierend auf sie zu.
»Guten Tag, ich bin Tom und das ist Bob, wir sind vom Sicherheitsdienst. Bitte zeigen Sie uns doch erst einmal den Film, den Sie vorhin gemacht haben.«
Christian zückte sein Handy und zeigte ihnen die Aufzeichnung. Die beiden sahen gebannt aufs Display und Christian entging nicht, dass Bobs Gesicht leicht die Farbe wechselte.
Tom schaute Christian danach fragend an. »Wo genau ist das?«
Christian hob die Schultern.
»Da vorne. Wir genossen gerade den Ausblick übers Meer, als meine Frau Blumen entdeckte, die sie fotografieren wollte. Sie ging dann den Trampelpfad entlang ... sie ist von Natur aus neugierig ... und es zog sie dann einfach dorthin, wo dieser Stein steht, an dem wir dann das hier gefunden haben.«
Bob entfernte sich ein paar Meter, telefonierte kurz und kam dann wieder zu ihnen zurück.
»Die Polizei ist informiert. Bitte kommen Sie doch schon mal mit in unser Büro, damit wir die Personalien aufnehmen können.«
*
Nach einer gefühlten Ewigkeit legte ein Polizeiboot an der Insel an und kurz darauf betraten zwei Polizeibeamte das Büro des Sicherheitsdienstes. Sie nickten den anwesenden Personen zu und einer begab sich sofort zu Christian.
»Guten Tag, mein Name ist Rodriguez, Camilo Rodriguez. Und Sie sind ...?«
»Christian von Allmen. Und das ist meine Frau, Anna.«
»Ich bin Timba«, stellte sich der zweite, junge Polizist vor und deutete mit dem Zeigefinger auf seine Brust.
»Freut mich, Timba, Sie sind noch sehr jung ... und schon bei der Polizei ...?«
Anna streckte ihm die Hand entgegen und lächelte ihn freundlich an.
Christian und Camilo schauten sich der-weilen nur an. Jeder taxierte den anderen argwöhnisch. Dann nickte Camilo und sah zu Bob.
»Kannst du uns zum Tatort führen?«
Bob nickte und alle machten sich daraufhin auf den Weg. Als Camilo den fast nicht zu erkennenden Pfad erblickte, schaute er Anna erstaunt an.
»Weshalb sind Sie denn dorthin gegangen?«
Anna zeigte auf ihre Kamera.
»Meine Passion ist die Fotografie. Ich sah diese Blumen dort und musste deswegen diesen Stein umrunden. Dann sah ich etwas weiter noch mehr Blumen und fand dann das Verlies.«
Danach standen sie vor dem vergitterten Fenster und sahen in den dahinterliegenden Raum. Das Einzige, das sich bewegte, waren Ratten. Mittlerweile rannten fünf von ihnen in der Zelle umher, jetzt aufgeschreckt von den Menschen am Gitter.
Der angekettete Mann schien sich auf mysteriöse Weise bewegt zu haben, denn seine Beine lagen anders. Aber dann konnten sie beobachten wie eine der Ratte ein größeres Stück Fleisch aus dem Unterschenkel des Leichnams riss und diesen dabei bewegte.
»Igitt, das ist ja eklig!« Anna drehte sich um und sah, tief ein- und ausatmend, aufs Meer hinaus.
»Wo ist der Eingang?« Camilo sah Bob fragend an, der die Schultern hob und sich Hilfe suchend zu Tom umsah. Aber auch der schüttelte den Kopf.
»Ihr wollt mir jetzt allen Ernstes sagen, dass ihr hier arbeitet, aber nicht wisst, wie man in diesen Raum kommt?«
»Nein, Chef, Sir ...« Bob war dermaßen von der Rolle, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.
»Gibt es denn hier jemanden, der mir eine befriedigende Antwort auf meine Frage geben kann?« Am Klang seiner Stimme erkannten alle, dass Camilos Nerven gerade blank lagen.
»Äh, Moment ... ich frage mal nach.« Tom schaute Camilo mit großen Augen an, nahm sein Walkie-Talkie zur Hand und sprach leise hinein. Jeder hörte die Antwort, die kurz darauf erfolgte.
»Tut mir leid, Tom, ich weiß es auch nicht. Und irgendwie scheint es niemand zu wissen ... jedenfalls keiner von denen, die heute arbeiten.« Dann rauschte es in der Leitung und Bob beendete das Gespräch.
Camilo sah sich das vergitterte Fenster genauer an und rüttelte an den Stäben, in der Hoffnung, auf diese Weise Einlass zu bekommen. Aber keiner der Stäbe rührte sich auch nur einen Millimeter.
»Camilo, ich schaue mich mal um.« Der junge Polizist namens Timba machte mit der Hand ein Zeichen und Camilo nickte.
»Ich gehe mit. Vier Augen sehen mehr als zwei.« Christian von Allmen hob den Daumen und streckte ihn Richtung Camilo.
»Kommt überhaupt nicht infrage«, antwortete dieser. »Ich kann doch keinen Zivilisten unsere Arbeit machen lassen.«
»Na gut, wie Sie wollen. Dann bleiben wir einfach dort auf der Bank sitzen und genießen die Aussicht. Komm, Schatz.« Von Allmen drehte sich um und zog Anna mit sich.
»Sie verlassen nicht ohne unser Einverständnis die Insel, haben Sie mich verstanden?«
Von Allmen nickte nur und stapfte weiter. Erst als er auf der Bank saß, schüttelte er den Kopf.
»Was für ein sturer Hund.«
Anna lächelte. »Hättest du dir denn helfen lassen, wenn sowas in deinem Revier passiert wäre?«
Christian brummte leise, schloss die Augen und hielt sein Gesicht der Sonne entgegen.
»Das ist schon seltsam ... nicht mal im Urlaub hast du Ruhe vor dem Verbrechen.«
*
Timba, Bob und Tom untersuchten das Gelände, fanden jedoch keinen Zugang in das Gefängnis. Niedergeschlagen kamen sie zu Camilo zurück. Timba schüttelte enttäuscht den Kopf.
»Nichts? Dann habt ihr nicht richtig gesucht! Der Typ zwängte sich jedenfalls nicht durch die Stäbe ins Innere.«
Timba schaute zum wiederholten Mal ins Verlies.
»Camilo, siehst du da drin irgendwo eine Tür?«
Der Angesprochene sah zuerst seinen jungen Kollegen stutzig an, bevor er auch noch mal in den Raum schaute.
»Du hast recht, ich sehe keine. Aber wie ist der denn da sonst reingekommen?«
»Und vor allem, wie sind die anderen da rausgekommen?«
»Welche anderen?« Verständnislos schaute Camilo seinen jüngeren Kameraden an.
»Der wird sich doch sicher nicht selbst angekettet haben, oder?«
Camilo nickte und schlug Timba anerkennend auf die Schulter.
»Gut gemacht, Timba. Also los, dann suchen wir noch einmal das ganze Gelände nach einer Eingangstür ab. Irgendwo muss sie ja sein.«
Alle vier suchten also noch einmal nach dem Eingang. Von Allmen sah ihnen nach und schüttelte den Kopf.
Sturer Hund, aber wenn er nicht will, dann eben nicht.
Die Sonne warf schon lange Schatten und eine angenehme Brise zog vom Meer her übers Land.
Anna hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt und döste. Sie erwachte, als sie stimmen hörte, und sah die vier Männer, die von ihrer Suche zurückkehrten.
Von Allmen sah ihnen sofort an, dass sie keinen Eingang gefunden hatten. Camilo schüttelte immer wieder den Kopf. Dann klingelte sein Handy und, während er sprach, entfernte er sich etwas von der Gruppe.
»Lasst mich raten. Ihr habt keinen Eingang gefunden, stimmt’s?« Von Allmen schaute die drei Männer fragend an. Jeder schüttelte den Kopf.
»Ich wusste nicht mal, dass dort noch eine Zelle ist.« Leicht beschämt betrachtete Tom seine Schuhspitze.
»Da bist du nicht der Einzige, ich wusste es auch nicht ... und Camilo scheinbar auch nicht.«
»Habt Ihr denn keine Pläne oder Aufzeichnungen aus der Zeit, als das Fort noch als Gefängnis diente?«
Timba zeigte auf Camilo. »Er telefoniert gerade mit dem Amt, das uns hoffentlich weiterhelfen kann. Wir müssen diesen Kerl doch irgendwie da herausschaffen.«
Camilo kehrte zur Gruppe zurück und schüttelte den Kopf.
»Scheinbar existiert nichts mehr aus dieser Zeit. Vor einigen Jahren brannte das Rathaus. Und dort lagen sämtliche Unterlagen, Baupläne und Urkunden über diesen Ort. Scheinbar hielt das niemand für wichtig, nach den verloren gegangenen Plänen für das alte Fort zu suchen.« Er kratzte sich am Kopf und schaute zum Verlies hinüber.
»Wenn aber nichts mehr existiert, woher wussten dann die Täter von diesem Raum?«, äußerte von Allmen.
Camilo schaute ihn lange an und schüttelte dann wieder den Kopf.
»Das ist mir auch ein Rätsel. Niemand hier wusste davon ... und ausgerechnet Sie finden diesen Ort. Ist das nicht etwas sonderbar?«
»Stopp! Nicht ich, wir fanden ihn, weil Anna diese schönen Blumen dort sah, sonst würde der Tote wohl noch die nächsten Jahre still und leise vor sich hinstinken ... was er vielleicht auch tun wird, wenn Sie nicht endlich einen Eingang finden.«
Camilo und von Allmen, der sich, während seiner Rede erhoben hatte, standen sich wie zwei Streithähne gegenüber.
»Und überhaupt: Weshalb müssen wir hier warten? Worauf? Wenn Sie unsere Hilfe sowieso nicht wollen?«
Camilo schaute Christian einen Moment an, nickte dann und machte ein Handzeichen, dass sie gehen konnten.
»Sie halten sich aber bitte zu unserer Verfügung und verlassen Guadeloupe erst, wenn wir es erlauben, verstanden?«
Von Allmen nickte. Anna grinste und salutierte in Camilos Richtung.
»Verstanden, Sir!«
Ausgelassen lachend stiegen sie den Weg hinab und erreichten in letzter Minute das Boot, das sie wieder nach Guadeloupe zurückbrachte.
»Was ist diesem armen Kerl wohl passiert?«, überlegte Anna.
»Keine Ahnung. Aber uns geht das sowieso nichts an. Ich freue mich jetzt jedenfalls auf einen Sprung in den Pool und danach aufs Abendessen. So langsam knurrt mir nämlich gewaltig der Magen.«
»Ja, mir auch.«
*
Franco schwitzte, sein Herzschlag hatte sich verdoppelt und ihm war flau im Magen. Er stand am geöffneten Fenster und versuchte, seine Gedanken zu sortieren.
Was geht auf meiner Insel nur vor? Erst der Tote am Strand ... und nun einer beim alten Fort. Und warum hatte niemand Kenntnis von diesem Verlies? Stimmt ja nicht ganz, denn jemand muss davon gewusst haben, sonst wäre der Tote schließlich nicht dort.
Franco zermarterte sich den Kopf, wen er nach dem Eingang fragen konnte, und schickte dann zwei seiner Kollegen zu den ältesten Inselbewohnern, um diese auszuhorchen.
Camilo informierte ihn kurz darauf, dass sie die Suche am nächsten Tag bei Tageslicht fortsetzen würden.
Die Befragung brachte nichts. Niemand schien je von diesem Felsraum gewusst zu haben.
Am nächsten Tag bei Tagesanbruch verließ ein Polizeiboot Guadeloupe und steuerte Terre-de-Haut an. Franco hatte jeden zur Verfügung stehenden Mann aufgeboten und hoffte dadurch, den Eingang endlich zu finden. Timba blieb als Einziger auf der Station. Er hatte den Auftrag, den Polizeibericht der gestrigen Ereignisse zu verfassen und von Christian unterschreiben zu lassen.
Beim alten Fort angelangt, hörten Franco und seine Männer schon bald fürchterliche Schreie. Sie schauten sich einen Sekundenbruchteil lang an und rannten dann den Hügel hoch zum Verlies. Franco bahnte sich einen Weg durch die Beamten, die um einiges schneller angekommen waren als er. Er registrierte, dass er völlig außer Puste war und anscheinend überhaupt keine Kondition mehr besaß. Die durch die Luft hallenden Schreie waren fürchterlich und Franco stockte fast der Atem, als er in den Raum sah. Er würgte, drehte sich von dem vergitterten Fenster weg und übergab sich.
»Schießt auf die Viecher ... los, verdammt!«
Sofort holten seine Kollegen die Revolver hervor und schossen in den Raum. Zu den Schreien kam jetzt noch der Krach dazu. Ein ohrenbetäubender Lärm entstand, bis sich Franco wieder einen Weg nach vorne bahnte, seine Waffe nahm und einen einzigen Schuss abgab. Schlagartig verstummten die Schreie.
»Verdammt! Was soll das? Ich dachte, ihr hättet alles abgesucht ... wie kommt denn nun dieser zweite Mann in diesen Raum?«
Mit hochrotem Gesicht schaute er Camilo an.
»Hatten wir auch ... und nichts gefunden, sonst hätten wir den Ersten doch schon mal befreit.« Er deutete auf den Leichnam, der schon am Vortag dort gelegen hatte.
»Und wie erklärst du dir das?«
Camilo senkte den Blick und schüttelte nur stumm den Kopf.
»Also, Männer, ausschwärmen. Dreht mir jeden verdammten Stein um, den ihr findet. Irgendwo muss der Eingang schließlich sein! Ich will euch erst wieder sehen, wenn ihr ihn gefunden habt, verstanden?
Die Männer nickten betreten und machten sich an die Arbeit.
Franco strich sich übers Gesicht. Erst jetzt registrierte er, dass er zitterte, was mit Sicherheit daran lag, dass er gerade den ersten Menschen in seiner Karriere erschossen hatte.
Er blickte erneut in den Raum. Es wimmelte von Ratten, die ein großes Fressgelage abhielten. Angeekelt drehte er sich um und erbrach sich ein zweites Mal. Er war froh, dass er alleine war und sich diese Blöße nicht vor seinen Kollegen geben musste. Dann rüttelte er an den Stäben und schüttelte resigniert den Kopf. Es sah nicht danach aus, als wären sie erst vor Kurzem einbetoniert worden, also musste es einen anderen Weg hinein geben. Er sah aber keine Tür, die in den Raum führte. Hätte es eine gegeben, hätten sie wenigstens die ungefähre Richtung, in der der Zugang liegen müsste, eruieren können.
Franco hielt es vor dem Fenster nicht mehr aus und setzte sich auf die Bank, auf der Christian und Anna am Vortag gesessen waren. Seine Gedanken fuhren Karussell.
Was hatte er übersehen? Wer waren diese beiden Männer? Zu wem gehörten sie? Gab es vielleicht sogar eine Verbindung zwischen ihnen? Und warum wurden sie bislang noch nicht von jemandem vermisst?
*
Christian und Anna erschienen pünktlich auf der Polizeistation. Überrascht sahen sie sich um, als niemand zu sehen war.
»Hallo? Ist jemand da?«
Sie hörten ein Rascheln und bald darauf stand Timba vor ihnen.
»Guten Tag Herr von Allmen, ich habe gerade den Bericht fertig geschrieben.« Timba schob Christian die Blätter hin.
Dieser ließ den Blick kurz durch den Raum gleiten und schaute dann wieder den jungen Polizisten an.
»Nicht viel los heute, was? Wo sind denn all Ihre Kollegen?«
»Die suchen die Insel ab.« Entschuldigend hob der junge Beamte die Hände.
»Dann haben sie gestern tatsächlich nichts mehr gefunden? Hm, einerseits merkwürdig ... aber andererseits auch wieder nicht, denn ein solches Verlies, das angeblich keiner kennt, hat sicher einen gut versteckten Zugang.«
»Wissen Sie, mein Mann arbeitet auch bei der Polizei ... bei der Kriminalpolizei.« Anna lächelte Timba an, der verwundert von ihr zu Christian schaute.
»Echt? Sie arbeiten bei der Polizei?«
Christian nickte.
Timba holte Luft und wollte etwas sagen, da kam ihm Christian aber schon zuvor. »Und ... ich mache Urlaub. Und zwar mit dieser bezaubernden Frau hier.« Er drückte Anna an sich und gab ihr einen Kuss auf den Kopf.
»Dann wollen Sie uns also nicht helfen?«
»Ich denke jetzt nicht, dass ich nicht helfen könnte ... aber das ist nicht mein Fall und schon gar nicht meine Dienststelle.«
Timba machte ein langes Gesicht.
»Aber Schatz, wir könnten doch wenigstens dabei helfen, den Eingang zu finden. Das wäre dann so was wie ein Abenteuerurlaub.« Sie grinste von Allmen an.
»Ja? Wirklich? Das wäre echt super! Ich informiere gleich mal meinen Chef.« Timba flog förmlich in den hinteren Raum.
»He, Moment mal. Ich habe doch noch gar nicht zugesagt!«
»Ach, jetzt komm schon, Christian. Wir verpassen doch nichts, wenn wir ihnen helfen. Das ist doch bestimmt nur eine kurze Sache.«
»Wenn du meinst ... aber jammere mir dann nicht wieder, dass du dich zu wenig erholen konntest.«
Timba hörte zufrieden dem Dialog zu und grinste über beide Backen.
*
Don Alvaros war wütend, nein, stinksauer. Er war gerade darüber informiert worden, dass zwei seiner Männer das Weite gesucht hatten. Und wenn er eines hasste, dann die Tatsache, dass man ihn und seine Dienste sang- und klanglos verließ.
Er entließ jemanden und nicht umgekehrt. Meistens wurden die untreuen Seelen im Anschluss aus dem Haus getragen und irgendwo verbuddelt.
Alvaros schrie und warf ab und zu etwas gegen die Wand. Irgendwann später beruhigte er sich.
»Edmondo! Wo steckst du?«
Edmondo eilte die Treppe hoch, blieb kurz vor der Tür stehen, atmete tief ein und aus, klopfte und trat ein.
»Tür zu!«
Eilig schloss Edmondo die Tür hinter sich. Sein Boss saß auf dem Thron, wie jeder Angestellte im Stillen den gigantischen Ohrensessel nannte. Don Alvaros zeigte keinerlei Regung, nichts an ihm bewegte sich. Dunkle, kalte Augen waren auf Edmondo gerichtet, der sofort anfing zu schwitzen.
»Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen? Wohin sind die zwei Verräter abgehauen? Los, sprich schon!« Don Alvaros bellte Edmondo jedes Wort entgegen. Der war schon seit vielen Jahren die rechte Hand des Gangsters und genoss im Prinzip seinen Beruf, aber langsam war er der Launenhaftigkeit Don Alvaros überdrüssig. Und er hatte zuweilen tatsächlich Angst, etwas, was er vorher überhaupt nicht kannte.
»Ich weiß es nicht, Don Alvaros. Ich habe überall herumgehört, aber scheinbar weiß niemand etwas über das Verschwinden der beiden.« Entschuldigend hob Edmondo seine Schultern.
Don Alvaros nickte.
»Wo waren sie zuletzt eingesetzt?«
»Beide im Kurierdienst.«
»Hatten sie einen Auftrag, als sie verschwanden?«
Edmondo nickte, »Ja, alle beide.«
Don Alvaros schlug mit der rechten Faust auf die Lehne, sprang auf und trat zum Fenster. Er schaute in den Park, der großzügig um sein Haus herum angelegt war, ohne etwas davon zu registrieren.
»Wieviel hatten sie dabei?«
»Viel ... jeder über zwanzig Kilo. Beide waren seit mehr als zehn Jahren in Ihren Diensten. Bislang sehr zuverlässig ... und sie gehörten zur Elitetruppe.«
»Hätte sie jemand abwerben können?«
Edmondo antwortete nicht sofort, weshalb Don Alvaros sich in seine Richtung drehte. Er hob wie in Zeitlupe eine Augenbraue.
»Ich weiß nicht, was an den Gerüchten wahr ist, aber es wird gemunkelt, dass jemand Santiagos Männer in ihrer Nähe gesehen habe.«
»Santiago ...?« Don Alvaros fielen fast die Augen aus dem Kopf.
*
Timba trat zu Christian und Anna.
»Ich habe mit meinem Boss gesprochen. Er begrüßt es, wenn Sie sich an der Suche beteiligen. Übrigens ... scheinbar haben sie einen weiteren Toten gefunden. Kommen Sie mit, ich fahre Sie hin.«
»Was? Einen weiteren Toten?« Anna schaute Christian mit erschrockenen Augen an.
»Kann meine Frau ins Hotel zurückgehen?«
Bevor Timba antworten konnte, fiel ihm Anna ins Wort.
»Kommt überhaupt nicht infrage, ich gehe doch nicht alleine ins Hotel zurück. Wenn du da mitmachst, komme ich auch mit, Ende der Diskussion.« Zur Unterstützung ihrer Worte verschränkte sie ihre Arme vor der Brust.
Christian kannte sie gut genug, sodass er wusste, dass sie keinen Millimeter von ihrer gefassten Meinung abweichen würde. Er schaute Timba fragend an, der nickte. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Bootssteg.
Die Fahrt zur anderen Insel verlief schweigend. Jeder hing seinen Gedanken nach.
Als sie sich der kleinen Insel näherten und Timba das Boot zum Steg steuern wollte, hob von Allmen die Hand.
»Halt, Timba, bitte fahren Sie doch mal kurz zu der Stelle, wo in etwa das Verlies ist. Vielleicht sehen wir vom Wasser aus etwas, was von oben nicht zu sehen ist.«
Timba drosselte den Motor, nickte, drehte das Boot nach Backbord und fuhr langsam an den Klippen der Insel entlang. Alle drei schauten angestrengt zum Felsen hoch, konnten jedoch nichts Besonderes oder Auffälliges entdecken.
»Können Sie mich da vorne von Bord lassen?«
»Uns!« Anna zeigte mit dem Finger auf ihren Mann und sich. Christian nickte nur.
Timba versuchte, so nahe wie möglich an den Felsen heranzufahren, was sich jedoch als schwieriges Unterfangen herausstellte, da der Wellengang ziemlich stark war.
»Schaut mal, das sieht doch aus wie eine Höhle ... oder etwa nicht? Kann man da vielleicht hineinfahren?«
Anna zeigte auf eine Stelle, wo der Wasserpegel tiefer als der Fels lag, aber eindeutig zu hoch für ihr Boot. Timba fuhr so nahe wie möglich heran und sie versuchten, unter den Felsen etwas zu sehen.
Christian und der Polizist sahen sich an und beide nickten. Sie vermuteten, dass sie den Eingang gefunden hatten.
»Haben Sie eine Lampe an Bord?«
Timba legte eine große Lampe auf den Sitz, dann zeigte er auf Anna und machte ein Zeichen zu Christian, der nickte.
»Anna, bleibst du bitte im Boot? Wir können es hier nirgends befestigen, also muss jemand da bleiben.«
Anna zog eine Schnute, nickte aber. »Gerade wenn es spannend wird ...«
»Ich weiß, mein Schatz, aber wir wissen nicht, was uns erwartet, und da ist es mir lieber, wenn ich dich in Sicherheit weiß ...«
»Und wenn der oder die Täter zurückkommen?«
»Das glaube ich nicht. Die kommen höchstens bei Ebbe, denn da können sie unten durchfahren.« Timba sah sie bittend an.
»Also gut, geht schon, aber ich will nachher über alles ausführlich informiert werden.« Sie gab ihrem Mann einen Kuss, flüsterte ihm zu, dass er aufpassen solle, und entließ beide dann ins Ungewisse.
Christian schwamm mit langen Zügen unter den Felsen, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Lampe wasserdicht war. Er hörte, dass Timba dicht hinter ihm war.
Sie sahen vor sich einen hellen Fleck und Christian legte den Finger an seinen Mund. Timba nickte.
Die beiden verharrten ein paar Minuten, hörten jedoch nur den Lärm der Wellen, die an den Fels schlugen. Christian machte ein Zeichen und sie schwammen, dicht am Felsen entlang, auf das Licht zu.
*
Franco drehte fast durch. Langsam zweifelte er an seinen Fähigkeiten, als Polizeichef sein Geld würdig zu verdienen. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er sagen, dass seine Truppe ihn absichtlich an der Nase herumführen würde, aber es war ihm natürlich klar, dass dem nicht so war. Sie drehten nämlich tatsächlich buchstäblich jeden Stein um, der sich auch nur irgendwie bewegen ließ, und fanden trotzdem keinen Eingang.
Franco stand mit Camilo vor dem vergitterten Fenster, um zum x-ten Mal jeden Zentimeter der Wände zu inspizieren. Sie sprachen kein Wort dabei, mussten sie aber auch nicht, denn beiden war klar, dass so oder so schon bald ein gewaltiger Sturm über ihren Polizeiposten hereinbrechen würde.
»Wir müssen wohl so eine Art Sprengkommando aufbieten, um vorwärtszukommen.«
Franco sah seinen alten Freund erschrocken an. »Nein! Wir warten, bis jede Gruppe zurück ist. Vorher gebe ich nicht auf.«
Camilo nickte und untersuchte jetzt neben dem Fenster den Felsblock.
»Vielleicht gibt es hier irgendwo einen Mechanismus, der eine Tür aufschwingen lässt.« Beide nahmen daraufhin die Außenseite des Steins in Augenschein.
*
In der Zwischenzeit nahmen die Polizisten und alle Helfer, die sich an der Suche beteiligten, die halbe Insel auseinander. Sie war zwar nur sechs Quadratkilometer groß, aber der Eingang konnte letzten Endes überall sein. Es war gar nicht unwahrscheinlich, dass es sich dabei um eine in der Zeit von Piraterie unterirdische Höhle handelte, die gegraben worden waren, um Diebesgut in Sicherheit zu bringen. Die Suchtrupps fanden immer wieder kleinere bis größere Höhlen, jedoch führte keine davon auch nur in die Nähe des Raumes.
Trotzdem konnten sie ein Erfolgserlebnis verbuchen, denn eine Gruppe stieß auf eine geheime Höhle, in der jede Menge Koks gebunkert war. Niemand hatte Kenntnis, wie lange die Drogen schon dort lagen und wer ihr Besitzer war. Man mutmaßte jedoch, dass es Don Alvaros gehörte, aber sicher war sich keiner.
Franco ordnete an, das Koks in Sicherheit zu bringen. Zwei Teams sollten abwechselnd die Höhle observieren, um herauszufinden, wer der Besitzer war.
*
Christian und Timba tauchten langsam in der Höhle auf und erkannten, dass das Licht, das sie zuvor wahrgenommen hatten, von einem Loch im Felsen kam, durch das die Sonne schien. Obwohl sie nichts Verdächtiges sahen, sprachen sie kein Wort miteinander, sondern verständigten sich lediglich durch Zeichen. Die Höhle war hoch und groß, da würden ohne Probleme drei Boote Platz finden. Ein idealer Ort also, um Schmugglerware zu verstecken. Man musste nur die Ebbe abwarten, um hinein und hinausfahren zu können, zwischen den Gezeiten war man sicher.
Langsam stiegen sie aus dem Wasser und schauten sich um. Auf einer Seite befanden sich einige Holzkisten, ansonsten sahen sie nichts, was darauf schließen würde, dass diese Höhle jemandem bekannt war.
Sie fanden recht schnell einen Durchgang, der weiter in den Fels hineinführte. Hintereinander schritten sie den Pfad entlang, dankbar um das Licht der Lampe. Sie hatten schon bald ihr Zeitgefühl und die Orientierung verloren. Der Weg war an manchen Stellen gerade mal so breit, dass ein einzelner Mann Platz hatte, dann wiederum öffnete er sich wieder, sodass sie nebeneinander hergehen konnten.
Sie stiegen in den Felsen gehauene Treppenstufen nach oben, bogen einmal rechts, dann wieder links ab und standen plötzlich vor einer Felswand, an der der Weg endete. Verdutzt schauten sie sich an.
»Entweder ich habe mich wirklich getäuscht und wir sind tatsächlich in einer Sackgasse ... oder aber da verbirgt sich irgendwo eine Tür.« Christian sprach leise und doch ertönte seine Stimme in der Höhle übermäßig laut.