Sieh nicht hin, sonst bist du tot - Silvia Muster - E-Book

Sieh nicht hin, sonst bist du tot E-Book

Silvia Muster

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Beschreibung

In einer beschaulichen Kleinstadt werden zwei Männer im Stadtpark ermordet. Daniela und Axel beobachten zufällig die Tat und fürchten um ihr Leben. Sandra, die spätabends noch ihre Joggingrunden dreht, findet wenig später die Leichen der Ermordeten. Für Daniela, Axel und Sandra beginnt schon bald ein Wettlauf gegen die Zeit, denn der Mörder ist ihnen auf der Spur. Die drei werden umgehend in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Aber ein dummer Fehler verrät sie. Ihr Leben ist in höchster Gefahr, denn der Mörder nimmt erneut ihre Spur auf.

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Für alle meine Freunde – schön, gibt es euch.

Es war bereits nach Mitternacht. Die Laternen im Stadtpark beleuchteten einen einsamen Weg. Die Nacht war klar, der Mond fast voll. Grillen zirpten und hie und da hörte man unterdrückte Stimmen, Gekicher oder ein Rascheln im Unterholz.

Vereinzelte Liebespaare waren auf dem Weg nach Hause. So auch Daniela und Axel. Sie waren im Kino gewesen, hatten sich im Spätprogramm den neuen James-Bond-Film angesehen oder vielmehr angehört, denn für die Bilder auf der Leinwand hatten sie weder Muße noch Augen. Aber im Kinosaal waren sie wenigstens ungestört. Sie besuchten mindestens einmal in der Woche das Kino, saßen meistens in der hintersten Reihe, rechts außen.

Daniela Kohl war 23 Jahre, 1,75 und schlank. Eine Invasion Laubflecken, auch Sommersprossen genannt, bedeckte ihr Gesicht, ihre blauen Augen und strohblonden Haare ergänzten ihre liebenswürdige Erscheinung. Sie war Referendarin auf Lehramt und freute sich schon darauf, in einem Monat mit Axel zusammenzuziehen. Daniela lebte derzeit noch in einer WG mit ihrer Mutter; das klang jedenfalls besser, als wenn sie sagen würde, dass sie noch zu Hause wohnte.

Axel Bach, 25, sportlich und immer mit einem Lächeln im Gesicht unterwegs, hatte dunkelbraune Augen und blau-schwarze, leicht gewellte, kurze Haare. Sein attraktives Aussehen hatte er von seinem Großvater geerbt, der in den Fünfzigern vom Süden Italiens nach Deutschland gekommen war. Axel hatte einen seriösen Handwerksberuf erlernt und arbeitete jetzt daran, den Meisterbrief zu erlangen. Sein Ziel war es, in absehbarer Zeit ein eigenes Geschäft zu führen. Er witzelte oft, dass die Kinder, die er eines Tages mit Daniela haben würde, eisblaue Augen und blauschwarze Haare oder dunkle Augen mit blonden Haaren hätten. Von jedem von ihnen nur das Beste. Axel wohnte mit drei anderen Jungs zusammen in einer WG. Aber dorthin wollten sie natürlich selten, da sie dort einfach keine Ruhe hatten.

Langsam schlenderten sie durch den Park, denn es zog sie noch nicht nach Hause. Daniela wusste genau, dass ihre Mutter auf sie warten würde. Und sie hatte gerade kein bisschen Bock darauf, zu erzählen, wie der Film war. Da sie nämlich alles andere gemacht hatten, nur nicht der Handlung folgten, hatte sie keine Ahnung, wie er gewesen war oder wovon er überhaupt handelte. Also müsste sie sich erst noch etwas ausdenken, was sie ihrer Mutter später erzählte.

Bei einer Laterne, deren Lampe defekt war, drückte Axel Daniela an sich und küsste sie innig. Dann schaute er sich verstohlen um und zog sie in die Büsche. Sie setzten sich an ein dunkles Plätzchen und knutschten weiter. Danach liebten sie sich und blieben eine Weile eng umschlungen liegen und sahen dem Mond zu, wie er langsam über das Firmament schlich. Daniela und Axel waren in diesem Moment wunschlos glücklich.

Auf einmal vernahmen sie wütende Stimmen die näherkamen. Sie verstanden zuerst nicht, was gesagt wurde, doch dann wurden die Worte deutlicher. Daniela wollte aufspringen und sich anziehen, aber Axel legte ihr seinen Finger auf den Mund und schüttelte den Kopf. Sie blieben regungslos liegen.

»Ich schwöre es, Luca, ich habe nichts gesagt!«

»Ich auch nicht, bitte, glaube uns doch, Luca!«

»Wieso sollte ich euch beiden glauben? Hä? Ihr bescheißt doch sogar eure eigenen Mütter und verkauft eure Großmütter, wenn es sein muss. Nein, irgendwann ist Schluss.«

»Nein, bitte, Luca! Mach jetzt bloß keinen Fehler!«

»Den einzigen Fehler, den ich je gemacht habe, war der, euch zu vertrauen. Ihr habt mich und meine ganze Familie ruiniert und verraten. Aber damit ist jetzt Schluss. Kniet nieder.«

Die Stimmen ertönten jetzt in unmittelbarer Nähe von Daniela und Axel. Beide schwitzten und getrauten sich kaum, zu atmen. Sie blieben weiterhin regungslos sitzen und starrten durch die Dunkelheit zu der Stelle, wo die Diskussion erklang.

»Nein, bitte, Luca!« Die Stimme kippte fast schon ins Panische.

»Dann sag mir, wer der Verräter war und wo Giulias Tochter ist.«

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Und du?«

»Ich auch nicht. Aber ich habe gehört, dass Pietro mal großspurig herumerzählte, dass er dich vom Thron stürzen wolle.«

»Pietro? Warum denn Pietro?«

»Ich … ich weiß es doch nicht. Bitte, Luca, bitte lass mich ...«

Dann hörten Daniela und Axel ein ploppendes Geräusch und beobachteten, wie einer der beiden, die gekniet hatten, auf die Seite kippte … mit einem Loch zwischen den Augen.

Axel hielt geistesgegenwärtig Daniela die Hand vor den Mund und drückte sie fest an sich. Trotzdem schien Luca etwas gehört zu haben. Er spähte argwöhnisch durch das Gestrüpp, die Pistole immer noch auf den vor ihm Knienden gerichtet.

Axel betete im Stillen, dass Daniela ruhig blieb, denn sonst wäre ihr Leben mit Sicherheit hier und jetzt auf der Stelle vorbei.

Dann hörten sie in einiger Entfernung weitere Stimmen, die durch den Stadtpark in ihre Richtung kamen. Es raschelte ein Stück weit weg von ihnen. Offensichtlich ein anderes Liebespaar, das vorhatte, sich ebenfalls irgendwo ein Schäferstündchen zu gönnen.

Luca starrte auf den Mann, der vor ihm kniete.

»Ihr wusstet doch, was mit Verrätern geschieht, oder?« Er hielt inne und lauschte. »Hast du auch was gehört?«, fragte er leise. Sein Gegenüber schüttelte den Kopf, die Augen immer noch vor Todesangst geweitet.

»Okay«, meinte Luca schulterzuckend.

Axel registrierte, wie der Mann, der vor Luca kniete, aufatmete und Anstalten machte, aufzustehen. Doch bevor er sich komplett aufrichten konnte, lag auch er, mit einem Loch zwischen den Augen, neben seinem Komplizen.

Daniela stieß einen unterdrückten Schrei aus, was Luca umgehend dazu brachte, den Revolver auf die Stelle zu richten, aus der das Geräusch gekommen war.

Luca trat einen Schritt auf die beiden zu und schoss ohne Vorwarnung. Seine Augen waren jedoch nicht an die Finsternis gewöhnt, sodass er einfach ziellos ins Gestrüpp feuerte.

Das war Axels und Danielas Chance.

Er wisperte in ihr Ohr: »Lauf, so schnell du kannst.« Sie sprangen beide gleichzeitig auf und sprinteten von Luca weg, in die von ihm entgegengesetzte Richtung.

Daniela hörte ein Plopp hinter ihrem Rücken, dann ein Röcheln. Sie traute sich nicht, sich umzusehen, sondern rannte weiter um ihr Leben. Sie registrierte weder die Zweige noch die Dornen, die ihr ins Gesicht schlugen. Daniela hatte nur ein Ziel, nämlich so weit wie möglich von hier wegzukommen …

*

In den späten Abendstunden trat Sandra, wie jeden Tag, aus dem Haus. Ihre Joggingrunde führte sie durch den Stadtpark. Sie hörte dabei immer Musik über ihre Ohrstöpsel, meistens Vivaldi oder Bach, je nach Verfassung. Das Laufen und die Musik waren Seelenbalsam und Meditation in einem für sie. Sandra kam danach zwar erschöpft, aber total glücklich wieder zu Hause an. Nach dem Duschen fiel sie in der Regel todmüde ins Bett und schlief augenblicklich ein.

Heute beschäftigten sie jedoch einige Gedanken. Sie war unglücklich in ihrer Beziehung und überlegte, ob sie die Situation als Chance sehen sollte, um neu anzufangen.

Sie bog um eine Kurve … und lag plötzlich der Länge nach auf dem Boden. Zuerst wusste sie nicht, wie ihr geschah, dann rappelte sie sich aber schnell wieder auf, schaltete die Taschenlampe an ihrem Handy ein und sah sich nach der Ursache ihres Sturzes um. Vor ihr lagen zwei Männer auf dem Weg. Der eine auf dem Rücken, der andere auf der Seite. Sie schien über den auf dem Rücken Liegenden gestolpert zu sein. Dieser starrte mit gebrochenen Augen, zwischen denen ein schwarzer Punkt zu erkennen war, in den Himmel.

Sandra hielt die Hand vor den Mund, um nicht laut zu schreien. Dann trat sie vorsichtig zu dem anderen Typen, der auf der Seite lag. Auch er hatte ein Loch zwischen den Augen, die vor Schreck noch geweitet waren.

Sandra schaute sich gehetzt um. Niemand war zu sehen. Sie wollte schnellstens weg von hier, also rannte sie, so gut ihre Füße sie trugen, dem Ausgang der Parkanlage entgegen. Als sie auf dem Gehsteig stand und ein paar Menschen um sich herum sah, nahm sie wieder das Handy in die Hand und wählte den Notruf.

Kurze Zeit später war die Gegend voller Polizei. Das Gebiet wurde großräumig abgesperrt. Sandra saß wie ein Häufchen Elend auf einer Bank und wurde von einer netten Polizistin betreut. Ihr saß der Schrecken so tief in den Knochen, dass sie das ganze Ausmaß des Geschehens noch gar nicht realisierte.

Die Spurensicherung kam hinzu und auch zwei Leichenwagen fuhren vor.

Später traten zwei Männer in Zivil auf Sandra zu, die der Polizistin, die sie betreute, kurz zunickten, worauf diese wortlos verschwand und einer anderen Arbeit nachging.

»Guten Tag, Sie sind Frau Sandra Wagner?«

Sandra nickte.

»Ich bin Hauptkommissar Dietrich. Und das hier ist mein Kollege Schulz. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Sandra nickte und rutschte etwas zur Seite. Sie kam sich vor wie in einem schlechten Traum, aus dem sie hoffentlich bald erwachte, sobald der Wecker klingelte. Aber es schrillte kein Wecker und der Albtraum ging weiter.

»Sie fanden die Leichen?«

Sandra nickte erneut.

Was für eine depperte Frage.

»Laufen Sie immer im Stadtpark?« Dabei zeigte er auf ihre Jogging-Klamotten.

»Ja, ich mache das so ziemlich jeden Tag. Je nach Lust und Laune und natürlich auch Zeit schlage ich mal diesen oder einen anderen Weg ein.«

Dietrich nickte und kritzelte ein paar Notizen in ein Buch.

»Können Sie mir sagen, aus welcher Richtung Sie kamen und ob Sie etwas Verdächtiges gesehen haben? Oder sind Sie vielleicht jemandem begegnet?«

»Also, gekommen bin ich vom Weiher. Ich wollte durch diesen Ausgang wieder aus dem Park laufen. Begegnet ist mir auf der ganzen Strecke kein Mensch, war ja auch schon spät. Ich startete gegen 23 Uhr. Und … nein, gesehen habe ich niemanden. Ich fiel über einen der beiden Männer und landete auf dem Bauch« Sie deutete auf ihr verschmutztes Oberteil. »Und als ich bemerkt habe, dass die beiden …, nun ja, ich rannte jedenfalls um mein Leben. Erst außerhalb des Parks wählte ich dann den Notruf. Ich weiß also nicht genau, ob da noch jemand war, aber das wollte ich, ehrlich gesagt, auch gar nicht so genau wissen.« Entschuldigend hob sie ihre Schultern.

»Das ist schon in Ordnung, es war sicher besser, dass Sie sich so schnell vom Tatort entfernt haben. Danke, dass Sie uns umgehend informiert haben. Dürfen wir Sie nach Hause bringen?«

»Vielen Dank, aber nein, das ist nicht nötig. Ich wohne gleich dort vorne um die Ecke. Deshalb ist das ja auch meine bevorzugte Joggingstrecke. Dann brauchen Sie mich also nicht mehr? Ich würde nämlich gerne duschen und danach ins Bett gehen.«

»Ja klar. Wir haben ja Ihre Daten. Aber bitte melden Sie sich morgen gegen zehn Uhr im Präsidium, damit Sie das Protokoll noch unterschreiben können. Gute Nacht.« Der Beamte stand auf und entfernte sich.

Komischer Kauz, dachte Sandra.

Während sie sich auf den Weg nach Hause machte, achtete niemand auf den adrett gekleideten Mann, der sich hinter der Absperrung inmitten der anderen Schaulustigen aufhielt und alles genau beobachtete.

*

Die zwei Männer wurden regelrecht hingerichtet, das war allen sofort klar. Und so wie es aussah, war da eine organisierte Bande am Werk gewesen. Aber was außergewöhnlich war, war die Tatsache, dass beide noch ihre Ausweise bei sich trugen.

Hauptkommissar Dietrich ging zum Tatort zurück und traf dort auf seinen Kollegen, Benjamin Schulz, der sich dort schon weitere Informationen verschafft hatte.

»Was Neues?«

»Ja, das solltest du dir ansehen.« Er stapfte durchs Dickicht voran, bis Dietrich gleißendes Licht und die Männer der Spurensicherung in ihren weißen Anzügen sah. Er ahnte Schlimmes.

Schulz trat einen Schritt zur Seite. Vor ihnen lagen zwei Personen, scheinbar ein Liebespaar. Ebenfalls erschossen. So wie es aussah, wollten sie fliehen, wurden jedoch schwer getroffen und danach mit gezielten Schüssen ermordet.

Dietrich schüttelte den Kopf.

Langsam machte ihn seine Arbeit mürbe. Er war mit Leib und Seele Polizist, hatte vor Jahren diesen Beruf aus voller Überzeugung gewählt, aber in letzter Zeit wünschte er sich oftmals, dass er besser einen anderen Weg eingeschlagen hätte.

»Weißt du, was mich langsam ankotzt?« Ohne aufzusehen und jemanden bestimmten zu meinen, galt diese Frage mit Sicherheit dennoch seinem Kollegen.

Schulz schüttelte den Kopf. Jeden von ihnen kotzte dieser Alltag ab und zu an, besonders in solchen Fällen wie diesem.

»Dass wir immer, aber wirklich immer, zu spät kommen. Wir hinken unentwegt einen Schritt hinterher, manchmal sogar auch zwei. Wir können jedes Mal nur aufräumen und die Sauerei beseitigen. Langsam bin ich dem Ganzen hier überdrüssig.«

Schulz war etwas jünger als Dietrich, aber auch er hatte schon ab und zu solche Gedanken.

»Weiß man schon, um wen es sich handelt?«

Schulz nickte. »Kevin Sager, 20 Jahre alt, wohnt an der Esplanade 57. Und Sarah Böhm, 18 Jahre, wohnhaft in der Pappelallee 27.«

Dietrich schloss kurz seine Augen.

»Wie ich es hasse, den Eltern solche Nachrichten zu überbringen. Ben, ich werde eindeutig alt.«

»Ich auch, Jürgen, ich auch.«

Beide nickten der SpuSi zu und drehten sich von den Leichen weg. Sie stapften durchs Unterholz zurück auf den Weg, als jemand rief: »Hierhin, schnell! Ein Notarzt, schnell!«

Schulz und Dietrich blickten sich überrascht an und schauten in die Richtung, aus der der Ruf kam. Sie rannten los. Unterwegs schrie Dietrich einem Beamten zu, er solle sofort den Notarzt avisieren.

Sie liefen durch ein Dickicht, das entgegengesetzt von dem lag, in dem die zwei anderen Leichen lagen, und kamen völlig außer Atem bei einem Kollegen an, der neben jemandem kniete, der röchelnd auf dem Boden lag.

»Himmel, Arsch und Zwirn! Gib sofort den Befehl, dass die ganze Gegend durchforstet wird.«

Schulz nickte knapp und gab sofort eine entsprechende Anweisung.

Der Notarzt und zwei Begleiter erschienen und nahmen sich umgehend der Erstversorgung des Verletzten an.

»Wie steht’s? Wird er es überleben?«

»Jürgen, lass uns erst einmal unsere Arbeit machen. Mehr kann ich dir im Moment nicht sagen. Er hat jedenfalls enormes Glück, dass er überhaupt noch lebt. Der arme Kerl hat extrem viel Blut verloren.«

Die Sanitäter packten den nackten jungen Mann in eine wärmende Folie ein und trugen ihn zum Rettungswagen. Jeder der Anwesenden betete, dass das Opfer überlebte.

Dietrich und Schulz durchsuchten das Gelände noch einmal selbst, nachdem der Krankenwagen abgefahren war. Der junge Mann war nackt, das bedeutete, dass er mit Sicherheit in der Nähe ein Schäferstündchen abgehalten hatte. Also mussten seine Kleider noch irgendwo herumliegen. Nach ein paar Minuten hatten sie tatsächlich Glück. Ihnen war natürlich klar, dass ein junger Mann nicht alleine ein solches Beisammensein abhielt, doch als sie die Kleidungsstücke einer jungen Frau entdeckten, ergriff beide dennoch ein beklemmendes Gefühl.

»Verflixt! Hat man sie schon gefunden?«

Schulz schüttelte den Kopf.

»Alle herhören, vermutlich befindet sich eine junge Frau hier. Ob sie noch lebt, ist ungewiss. Also, sofort alles nochmals durchkämmen.« Er stellte das Walkie-Talkie ab und hoffte, dass sie das Opfer noch lebend fanden.

*

Sandra Wagner lief rasch den Weg nach Hause. Sie wollte so schnell wie nur möglich in ihre schützenden vier Wände. Sie schloss die Eingangstüre auf und stieg eilig die Treppen hoch. Sie war so in ihre Gedanken versunken, dass sie nicht darauf achtete, ob die Tür gleich wieder zuschnappte. Im dritten Stock angekommen, öffnete sie ihre Wohnungstür und zog sie sofort hinter sich zu. Dann lehnte sie sich einen Augenblick dagegen und schloss die Augen. Sie sperrte die Tür mit dem Schlüssel ab und schob zusätzlich noch den Sicherheitsriegel vor.

Sicher ist sicher.

Dann bückte sie sich, um ihre Schuhe auszuziehen, und hörte dabei ein Plopp. Sie überlegte kurz, was das gewesen sein könnte, als sie ein weiteres Geräusch hörte. Diesmal zischte etwas haarscharf an ihrem Gesicht vorbei.

Ohne zu überlegen, ließ sie sich instinktiv bäuchlings auf den Boden fallen. Dabei fiel der Schirmständer um. Sandra biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszubrüllen, und schmeckte Blut. Sie blieb lautlos liegen und spitzte die Ohren. Sie hörte, wie jemand vor ihrer Tür stand. Die Person lauschte und war offensichtlich mit dem Resultat zufrieden, denn bald darauf vernahm Sandra, wie jemand die Treppe wieder nach unten lief.

Sie erwachte langsam aus ihrer Starre, kramte umständlich das Handy hervor und wählte die Nummer der Polizei. Gleichzeitig trat sie zum Fenster, nachdem sie sich erhoben hatte, und schaute auf die Straße hinunter.

Dort sah sie, wie ein Mann im Lichtkegel der Straßenlampe die Fahrbahn überquerte. Er war etwa um die 35 Jahre alt und in einen adretten Anzug gekleidet.

»Hallo, Sandra Wagner hier. Auf mich ist gerade geschossen worden.« Dann lauschte sie kurz und schüttelte anschließend den Kopf. »Nein, wirklich, das ist kein Witz. Würden Sie bitte Hauptkommissar Dietrich Bescheid geben? Danke.«

Sie legte auf und erst in diesem Augenblick brach all das Erlebte über ihr zusammen. Sandra rutschte auf den Boden, rollte sich wie ein Baby auf die Seite und blieb eine Weile so liegen. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, weinte um die beiden Toten und letzten Endes auch um sich.

*

Hauptkommissar Dietrich befand sich noch am Tatort, als er den Anruf bekam.

»Was?«, brüllte er in den Apparat. »Sofort einen Personenschutz zu ihr schicken. Wir sind auf dem Weg.«

Schulz blickte ihn besorgt an.

»Auf Frau Wagner wurde gerade geschossen. So wie es aussieht, durch die Wohnungstür.«

Beide schauten sich kurz an und sputeten dann zu ihrem Auto. Mit quietschenden Reifen fuhren sie die kurze Strecke zu Sandras Wohnung. Sie klingelten bei jeder Partei und als endlich der Türöffner summte, stürmten sie sofort die drei Stockwerke nach oben.

»Frau Wagner, hier ist Hauptkommissar Dietrich, bitte öffnen Sie. Frau Wagner?« Er presste das Ohr an die Tür und vernahm ein leises Schluchzen.

»Frau Wagner, bitte machen Sie die Tür auf.« Er hämmerte dagegen.

In der Zwischenzeit organisierte Schulz einen Schlüsselservice und einen Rettungswagen.

Der Schlüsselservice öffnete die Tür und Dietrich rechnete mit dem Schlimmsten. Er vermutete, dass die Frau im Flur in einer Blutlache liegen würde, weshalb er äußerst überrascht war, sie im Wohnzimmer, auf dem Boden liegend, anzutreffen. Sie weinte noch immer, schien aber unverletzt. Der Notarzt gab ihr eine Beruhigungsspritze und langsam ließ die Anspannung nach.

Sandra und Dietrich setzten sich an den Tisch, während Schulz in der Küche hantierte. Bald darauf kam er mit einer dampfenden Tasse Tee zurück.

Dankbar schaute Sandra ihn an. Sie brachte im Moment keinen Ton zwischen ihren Lippen hervor. Der Schock saß noch zu tief in ihren Knochen.

Sie trank langsam den Tee und fühlte, wie ihr Körper ihr langsam wieder gehorchte. Dann stellte sie die Tasse auf den Tisch und sah beide Polizisten eine Weile nachdenklich an.

»Ich habe ihn gesehen.«

»Was? Sie haben den Täter gesehen?« Ungläubig starrte Schulz sie an.

Sandra nickte. »Ja, ich habe ihn beobachtet, als er unter meinem Fenster die Straße überquerte.«

»Okay, bitte der Reihe nach«, sagte nun Dietrich.

Sandra nickte und nahm nochmal einen Schluck vom Tee.

»Ich bin direkt nach Hause gegangen, so wie ich sagte. Er muss mir gefolgt sein, aber ich habe nicht darauf geachtet. Ich kam also in meine Wohnung und wollte so schnell wie möglich unter die Dusche. Doch ich wollte zuerst die Tür verriegeln, um keine unliebsamen Überraschungen zu erleben. Da hörte ich ein Geräusch an der Wohnungstür. Nur ganz kurz … und ich wusste nicht, woher es kam. Als ich mich bückte, um die Schuhe auszuziehen, hörte ich ein Ploppen und kurz darauf zischte etwas ganz dicht an meinem Gesicht vorbei. Da begriff ich, dass gerade jemand auf mich geschossen hat. Ich biss mir auf die Lippen, damit ich nicht zu schreien anfing, warf mich auf den Boden und blieb eine Weile so liegen. Dabei fiel der Schirmständer um. Das muss der Täter gehört haben, denn er schoss noch ein weiteres Mal durch die Tür und bald darauf hörte ich, wie er die Treppe nach unten lief. Ich ging zum Fenster«, sie zeigte zum Wohnzimmerfenster, »und schaute auf die Straße. Und da sah ich ihn.«

Sie realisierte, dass Dietrich seine Hand auf die ihre gelegt hatte. Sie zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub. Das alles war eindeutig zu viel für einen Tag. Sandra spürte, wie sich unter ihr der Boden auftat und sie verschlingen wollte. Und sie wollte sich fallen lassen, einfach nur fallen lassen. An nichts mehr denken, sondern nur noch sie selbst sein. Aber Dietrich war da wohl anderer Meinung als sie.

»Frau Wagner, nicht einschlafen. Bitte bleiben Sie bei uns. Nur noch für einen Moment. Es ist unheimlich wichtig, dass wir wissen, wie er aussieht. Was haben Sie gesehen?«

Sandra blinzelte und riss sich zusammen.

»Er war geschmackvoll angezogen, ich meine, er trug einen Anzug. War schlank, hatte dunkle Haare und einen zügigen Schritt.« Sandra schaute vor sich auf den Tisch und überlegte, was sie sonst noch an ihm gesehen hatte.

»Okay, dunkle Haare, sehr gut. Und seine Größe?«

Sandra schaute ihn überrascht an. »Die Größe? Das weiß ich nicht, ich habe ihn ja nur von hier oben aus gesehen. Aber ich denke, er hatte eine normale Größe.«

»Danke, Sie haben uns sehr geholfen. Vor allem, dass Sie weiterhin am Leben sind. Aber ich denke, wir müssen entsprechende Vorkehrungen treffen.«

»Was denn für Vorkehrungen?«

Dietrich schaute Schulz an, der nickte.

Daraufhin stand Dietrich auf, entschuldigte sich und meinte, dass er kurz telefonieren müsse, und verließ den Raum. Sandra hörte ihn wenige Sekunden später leise in der Küche sprechen.

Dann kam ihr plötzlich doch noch etwas in den Sinn, das sie am Täter entdeckt hatte. »Moment mal, irgendwie … er machte mit dem rechten Arm oder der rechten Hand so komische Bewegungen.« Sie machte Schulz vor, was sie meinte. »So, wie wenn er einen Schlüsselbund um den Finger kreisen lassen würde.«

»So in etwa?« Schulz ließ seinen Schlüsselbund wie beschrieben rotieren.

»Ja, genau.«

In diesem Moment kam Dietrich zurück ins Zimmer, nickte Schulz kurz zu und setzte sich wieder an den Tisch.

»Also, ich habe gerade mit dem Staatsanwalt gesprochen. Wir lassen Sie sterben, Sandra. Wir erklären Sie offiziell für tot und schicken Sie in ein Zeugenschutzprogramm. Das heißt, Sie dürfen ab sofort keinen Kontakt mehr mit irgendjemandem aus ihrem bisherigen Leben aufnehmen. In diesem Programm bleiben Sie so lange, bis entweder die Gefahr wirklich eliminiert ist, oder, im schlimmsten Fall, für immer.«

Er legte eine Pause ein, damit Sandra die ganze Tragweite überdenken konnte.

»Ich kann mich nicht mal verabschieden? Nicht mal von meiner Familie? Meinen Freunden? Ist das denn üblich? Ein Zeugenschutzprogramm, weil ich zwei Leichen entdeckt habe?«

Dietrich schüttelte den Kopf. »Es ist vielleicht nicht der gewöhnliche Weg für so ein Handeln, aber auf Sie wurde gerade geschossen. Und nein, Sie dürfen sich von niemandem verabschieden. Wir müssen so vorgehen, als wären Sie wirklich tot. Der Täter muss davon überzeugt sein, Sie tödlich getroffen zu haben. Er hat bereits vier Menschen auf dem Gewissen, wir wollen nicht, dass es fünf werden. Gleich kommt der Bestatter, der bringt Sie dann aus dem Haus. An einem geschützten Ort wartet bereits eine Psychologin auf Sie, die begleitet Sie in Ihr neues Leben. Wir müssen davon ausgehen, dass der Täter noch in der Nähe ist und alles beobachtet.«

Sandra schaute Dietrich ungläubig an. So etwas hatte sie bislang nur in Kriminalfilmen gesehen, aber dass ihr das einmal passieren sollte, erschütterte sie. Je länger sie darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher und skurriler wirkte das Ganze auf sie.

Unten wurde die Klingel ihrer Wohnung gedrückt. Schulz öffnete. Es war der Bestatter. Sie kamen zu zweit mit einer Bahre die Treppen hoch. Das musste wohl sein, denn die Wahrscheinlichkeit war groß, dass auch Mieter das Ganze beobachteten. Sie konnten Sandra also unmöglich das Treppenhaus hinuntergehen und erst unten in die Kiste steigen lassen. Alles musste gut vorbereitet sein und glaubhaft aussehen. Sandra war nur mit ganz viel Glück einem Anschlag entkommen. Und dieses Glück wollten sie nicht noch mal aufs Spiel setzen.

»Was kann ich mitnehmen?«

»Nichts, absolut nichts. Keine Kleider, keine Fotos, keine Erinnerungen, nichts. Sie bekommen alles neu. Einen neuen Namen, eine neue Identität, einen neuen Beruf. Die Sandra Wagner, die Sie im Augenblick noch sind, gibt es in ein paar Minuten nicht mehr.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Ja, das ist uns bewusst. Es ist alles andere als einfach. Aber wenn Sie am Leben bleiben wollen, müssen wir das jetzt so durchziehen. Überlegen Sie doch einmal, Sie haben überhaupt nichts von der Ermordung der Männer im Stadtpark gesehen und sie nur gefunden, und trotzdem trachtet man Ihnen nach dem Leben. Was, meinen Sie, würde passieren, wenn Sie das Ganze auch noch beobachtet hätten? Sie befinden sich in Lebensgefahr.«

Wie auf ein unsichtbares Kommando hin sahen sich die beiden Polizisten an. Das verschwundene Mädchen hatten sie während der letzten halben Stunde und im ganzen Tumult total vergessen. Auch bei ihr herrschte höchste Gefahrenstufe.

Dietrich betrat nochmal die Küche und Schulz vergewisserte sich, dass Sandra nichts einpackte, was sie später verraten würde. Er nahm ihr das Handy und den Wohnungsschlüssel ab, bevor er sie anwies, sich auf die Bahre zu legen, um sie damit, mit einem Tuch bedeckt, nach unten zu tragen. Einige Nachbarn kamen ins Treppenhaus und wollten natürlich wissen, was passiert sei. In diesem Moment begann für Sandra das neue Leben.

Sie hörte die Stimmen unter dem Tuch und hätte am liebsten gerufen, dass alles in Ordnung sei, aber ihr war bewusst, dass sie damit nicht nur sich, sondern auch die Nachbarn in Gefahr gebracht hätte. Und das wollte Sandra auf keinen Fall. Sie widerstand tapfer der Versuchung, sich die Tränen wegzuwischen.

Unten wurde sie dann vorsichtig in den Leichenwagen geschoben, und weggefahren. Zurück blieb nur die Polizei, die den Tatort sicherte. Natürlich hatten sich zwischenzeitlich einige Menschen eingefunden, denn es passierte schließlich nicht alle Tage, dass zwei schreckliche Taten fast zeitgleich am selben Ort stattfanden. Vor allem, dass jemand vor ihrer Nase erschossen wurde. Schon jetzt wurde getratscht und wild spekuliert.

Dietrich und Schulz schauten oben hinter den Gardinen aus Sandras Wohnung auf die Straße hinunter. Sie suchten einen jungen Mann, mit dunklen Haaren und Anzug.

»Dort! Ich glaube, ich sehe den Typ, er ist ganz außen rechts. Siehst du ihn?« Schulz zeigte auf einen Mann.

Dietrich sah genauer hin und nickte. »Ja, du könntest recht haben, das könnte er tatsächlich sein.« Er sprach aufgeregt in sein Walkie-Talkie. Aber sobald sich einige Polizisten der gaffenden Menschenmenge näherten, zerstoben diese in alle Himmelsrichtungen und ließen den Verdächtigen unsichtbar werden.

*

Daniela rannte um ihr Leben. So viel Angst hatte sie in ihrem bisherigen jungen Dasein noch nie gehabt. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie lief. Außerdem war es ihr auch völlig egal, dass sie nackt war. Das nackte Leben retten, schoss es ihr kurz durch den Kopf.

Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, konnte sie nicht mehr. Sie besaß keine Kraft, um richtig zu atmen und langsam aber sicher nahm sie überall an ihrem Körper irgendwelche Schmerzen wahr. Daniela blieb stehen und sah sich um. Sie musste sich am Ende des Stadtparks befinden, denn etwas weiter entfernt sah sie Lichter. Erlösende, befreiende Lichter, die Zivilisation bedeuteten.

Tief atmete sie durch und wartete, bis sich ihr Puls wieder beruhigt hatte.

Dann drehte sie sich um. Sie hatte ihren Liebhaber vollkommen vergessen.

»Axel?« Leise wiederholte sie seinen Namen ein paar Mal. Keine Antwort.

Daniela war unschlüssig, ob sie zurück, und nach ihm suchen sollte oder nicht.

Sie hatte vorhin jemanden röcheln gehört und ihr war angst und bange geworden. Was, wenn das Axel war und er jetzt irgendwo schwerverletzt in den Büschen lag und ihre Hilfe brauchte?

Daniela war hin- und her gerissen. Schließlich gewann die Vernunft. Sie musste selbst erst einmal aus der Gefahrenzone verschwinden und danach könnte sie dann weiter schauen.

Langsam kam sie der Zivilisation wieder näher, dem pulsierenden Leben. Sie befand sich noch immer unter Schock und konnte das ganze Ausmaß der Ereignisse nicht einmal ansatzweise erahnen. Ihr war nur eines bewusst, sie musste irgendwie nach Hause kommen.

Halb von Gehölz verborgen, ging sie weiter. Sie musste sich dringend irgendetwas besorgen, das sie überziehen konnte.

Als hätte eine göttliche Macht sie erhört, sah sie in einem Vorgarten eine Decke an einer Wäscheleine hängen. Sie schlich auf das Grundstück, nahm den Stoff von der Leine und legte ihn sich um.

Wenigstens mal etwas Positives.

Danach rannte sie so schnell wie möglich nach Hause. Kurz vor ihrem Ziel realisierte sie erst, dass sie gar keinen Schlüssel hatte. Ihre Tasche lag zusammen mit ihren Kleidern im Gebüsch, wo sie vor Kurzem noch mit Axel ….

Entsetzt schnappte sie nach Luft und hielt eine Hand über den Mund.

Was sollte sie nur tun? Wenn dieser Luca ihre Sachen fand, hatte er ihren Namen mitsamt der Anschrift. Und auch noch den Hausschlüssel als Zugabe obendrein. Somit konnte er ungeniert ins Haus marschieren und sich Daniela schnappen.

Jetzt hatte sie noch mehr Angst als ohnehin schon. Sie spürte ihr Herz wild schlagen und in ihren Ohren dröhnte das Rauschen des Blutes.

Okay, erst mal nach Hause. Alles andere schaue ich dann, wenn es so weit ist.

Wenige Minuten später stand sie vor ihrem Zuhause. Sie bemerkte zufrieden, dass in ihrem Zimmer das Fenster offenstand.

Welch glückliche Fügung.

Sie stieg auf einen Stuhl, der im Garten stand und zog sich bis zum Fenstersims hoch. Völlig erschöpft ließ sie sich Sekunden danach in ihrem Zimmer auf den Boden fallen. So blieb sie eine Weile sitzen, bis sie mit voller Wucht das soeben Erlebte ergriff. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf.

*

Einige Zeit später läutete es an ihrer Haustüre. Daniela vernahm es wie aus weiter Ferne. Sie hörte Stimmen, die näher kamen. Doch sie hatte keine Lust, mit wem auch immer zu sprechen, sie hatte zu überhaupt nichts Lust. Ihr ganzer Körper schmerzte, aber weitaus schlimmer war die Verletzung ihrer Seele.

Es klopfte leise an ihrer Zimmertüre.

»Daniela, Liebes, bist du wach?«

Daniela rührte sich nicht.

»Hier sind zwei Herren von der Polizei, die dich sprechen wollen. Machst du bitte auf?« Wieder klopfte es.

»Frau Kohl, hier ist Oberkommissar Dietrich. Dürfen wir kurz reinkommen? Es dauert nicht lange, versprochen.«

Mühsam erhob sich Daniela, die Decke immer noch fest um sich geschlungen. Sie schleppte sich mühsam zur Türe und öffnete sie.

»Ja?«

Ihrer Mutter entwich ein leiser Schrei. Schnell drückte sie eine Hand auf ihren Mund.

»Kind, was ist denn mit dir passiert?« Mit erschrockenen Augen starrte sie ihre Tochter an.

»Wieso?«

Kurz entschlossen dachte Daniela, dass es vielleicht besser sei, sich erst einmal dumm zu stellen.

»Wieso, fragst du? Schau dich doch nur mal an. Du siehst aus, als wärst du unter die Räder gekommen.«

Na, in etwa stimmt das ja auch.

Sie versuchte, einen unschuldigen Blick aufzusetzen.

»Nun, dürfen wir kurz reinkommen? Ich bin, wie gesagt, Oberkommissar Dietrich und das ist mein Kollege Schulz. Wir möchten nur etwas mit ihnen besprechen.«

Daniela nickte, öffnete die Türe und ließ die beiden Herren eintreten.

»Darf ich fragen, was Ihnen passiert ist?« Dietrich deutete auf ihren Kopf.

Sie griff sich an die Wange und zuckte mit den Schultern.

»Kann es sein, dass Sie gestern Abend im Stadtpark etwas gesehen haben?« Aufmerksam beobachteten beide Beamte ihre Reaktion.

»Frau Kohl, wir haben Ihre Kleider und Handtasche gefunden, zusammen mit Ihren Papieren. Wir wissen also, dass Sie dort waren.«

»Wie geht es Axel?« Aus ihren Augen funkelte blanke Angst.

»Wir haben ihn gefunden. Er wurde zwar angeschossen und hat viel Blut verloren, aber wir gehen davon aus, dass er überlebt.«

»Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?«, erkundigte sich Schulz.

Daniela hob entschuldigend die Schultern, bevor ihre Welt zusammenbrach.

Axel lebt, aber ist angeschossen. Warum nur habe ich nicht nach ihm gesucht? Weshalb bin ich einfach nach Hause gegangen? Was, wenn er stirbt?

Sie sackte zusammen und schluchzte bitterlich.

Schulz half ihr auf die Beine und bemerkte, dass sie unter der Decke noch immer nackt war. Er sah auch kurz ihren zerschundenen Körper. Er deutete mit seinem Kinn zu Dietrich.

»Frau Kohl, wir würden Sie gerne ins Krankenhaus bringen. Und dann müssen Sie unter Polizeischutz gestellt werden.«

»Polizeischutz? Aber weshalb? Der Typ hat mich doch überhaupt nicht gesehen.«

»Das ist nicht bewiesen. Wir wissen nur, dass wir es mit einem Mann zu tun haben, der über Leichen geht. Bitte ziehen Sie sich etwas an. Wir warten solange im Flur auf Sie.«

Mit diesen Worten gingen beide aus dem Zimmer.

Daniela ließ die Decke fallen und sah an sich herab. Blutige Spuren bedeckten den Großteil ihres Körpers. Sie zog eine Jogginghose und ein T-Shirt an.

Als sie in den Flur hinaustrat, sah sie sofort, dass ihre Mutter weinte. Scheinbar war sie in der Zwischenzeit von den beiden Polizisten eingeweiht worden.

»Kind, wo bist du da hineingeraten?«

»Axel ist im Krankenhaus«, flüsterte sie nur und ihre Mutter nickte.

*

Im Krankenhaus wurden sorgfältig alle Wunden gesäubert und verbunden. Am rechten Arm hatte sie einen Streifschuss abbekommen, den sie vor lauter Adrenalinschub bislang gar nicht wahrgenommen hatte.

Danach wurde sie direkt aufs Kommissariat gebracht, wo sie zu den Vorfällen befragt wurde. Daniela antwortete wie ein Roboter.

Gestern noch war ihre Welt in Ordnung gewesen, heute lag sie in Trümmern.

»Frau Kohl, wir wissen, dass wir es hier mit einem brutalen Killer zu tun haben. Wir können Sie also nur beschützen, wenn Sie untertauchen. Das heißt, wenn Sie damit einverstanden sind, in ein Zeugenschutzprogramm zu gehen.«

»Was? Ich alleine? Und was ist mit Axel?«

»Das ist nicht so einfach, er muss erst einmal über dem Berg sein, bevor wir ihn auch ins Programm aufnehmen. Ihr Freund ist zu schwer verletzt. Er wird im Krankenhaus aber rund um die Uhr bewacht.«

»Am besten wäre es, wenn wir Sie sofort an einen sicheren Ort bringen könnten.«

»Sie meinen, jetzt gleich?« Daniela machte große Augen.

»Nun ja, das wäre anzuraten.«

»Aber Mama … und Axel und meine Freundinnen?«

Beide Kommissare schüttelten mitfühlend den Kopf. »Ihre Mutter könnte mitkommen, aber niemand dürfte darüber informiert werden. Sie müssen sich im Klaren sein, dass Sie unheimlich viel Glück hatten. Wir haben noch ein anderes Liebespaar in der Nähe gefunden. Beide tot, erschossen. Diese Kerle gehen anscheinend kein Risiko ein, verstehen Sie?«

Daniela hörte die Worte wie aus weiter Ferne.

Menschen wurden erschossen. Ein neues Leben. Ohne Axel. Das geht nicht. Wir haben doch schon Zukunftspläne geschmiedet.

Obwohl beide noch jung waren, wussten sie, dass sie zusammen gehörten. Und jetzt sollte sie ihn einfach so zurücklassen? Nie im Leben. Dann könnte sie sich gleich selbst umbringen.

Kerle? Wie nannten die beiden jungen Männer den Typen? Daniela schloss die Augen und durchforstete ihr Gedächtnis.

Genau, Luca!

»Wieso denn Kerle? Es war doch nur einer, der um sich geschossen hat. Die zwei anderen, die er vor unseren Augen erschossen hat, nannten ihn Luca. Ja, das ist sein Name, Luca. Beide bettelten um ihr Leben. Es war grauenhaft, das alles mitzuerleben. Wir waren ja nur wenige Schritte von ihnen entfernt.« Aufgeregt sprudelte es jetzt aus Daniela heraus.

Beide Polizisten sahen sich an und nickten.

»Luca, und weiter? Nannte einer vielleicht noch einen Nachnamen?«

Daniela dachte nach und schüttelte dann den Kopf.

»Ich glaube nicht, bin mir jedoch nicht sicher. Aber es sah ganz so aus, als kannten sie sich gut. In so einem Fall spricht man ja eher selten den Nachnamen von jemandem aus, oder?«

»Wie sah er denn aus? Können Sie ihn beschreiben?«

Daniela dachte kurz nach. »Ich weiß nicht genau. Ich hatte ja solche Angst. Ich habe seine Augen gesehen, solche kalten Augen habe ich noch nie gesehen. Es gab ja nicht viel Licht dort, deswegen haben Alex und ich uns ja auch dorthin verzogen, aber seine Augen waren so voller Hass. Das konnte ich erkennen. Er trug einen Anzug, sah aus wie ein Geschäftsmann. Ohne Krawatte, aber mit weißem Hemd.« Daniela schaute vor sich auf den Tisch und nickte, als würde sie sich ihre Erinnerungen selbst bestätigen. »Ach ja, und das Hemd war weit geöffnet. Also bis fast ganz nach unten. Ich sah eine dicke silberne Kette um seinen Hals. Und auch um sein linkes Handgelenk trug er eine Kette. Ich bemerkte sie, als er die beiden jungen Männer erschoss. Ach ja, er war schlank, eher fast mager.«

Beide Polizisten sahen sich an.

»Dann war er Linkshänder?«, fragte Schulz.

Daniela dachte nochmal kurz darüber nach, nickte dann aber. »Ja, er war Linkshänder, ganz sicher. Ich selber bin auch Linkshänderin, da fällt einem sowas sofort auf. Außerdem habe ich ja auch die Kette an seinem Handgelenk gesehen. Und das war eindeutig links.«

»Und wie hat er gesprochen? Hatte er einen Akzent? Betonte er etwas besonders? Welche Tonlage hatte seine Stimme?«

»Ich würde sagen, ganz normal. Ein Akzent ist mir nicht aufgefallen.«

»Und die beiden anderen?«

»Hm, der eine hatte einen, ja, irgendwie einen südländischen Einschlag. Ach ja, der sprach auch noch von einem Pietro, der diesen Luca vom Thron stürzen wolle.« Wie zur Bestätigung nickte Daniela noch einmal.

Dietrich sah sie mit ernstem Gesichtsausdruck an.

»Das sind sehr gute Informationen, die Sie uns da gegeben haben. Danke. Das bringt uns auf jeden Fall weiter. Aber Sie sagten gerade selber, dass Sie nur wenige Schritte von den Geschehnissen entfernt waren. Wenn er Sie also nur vage gesehen hat, sind Sie sich ihres Lebens nicht mehr sicher. Er weiß wohl, dass Sie jedes Wort mit angehört, und nicht nur alles gesehen haben. Das sind nur allzu gewichtige Gründe, um Sie aus dem Verkehr zu ziehen, vertrauen Sie uns. Die zwei Toten wurden übrigens von einer Joggerin gefunden. Wahrscheinlich folgte er Ihnen beiden, denn auch diese Frau hatte sehr viel Glück. Hätte er sich noch am Tatort aufgehalten, wäre sie jetzt vielleicht auch tot. Aber er verschwand danach und verfolgte die Joggerin bis zu ihrer Wohnung. Dort schoss er dreimal durch die Türe auf sie.«

»Ist sie tot?«, fragte Daniela leise.

Dietrich sah sie an. »Ja, sie ist für alle jetzt tot.«

Daniela nickte mit zusammengepressten Lippen, aber sie hatte verstanden, was er meinte.

*

Sandra wusste, dass diese Entscheidung die einzig Richtige war. Trotzdem kam ihr der Weg die drei Stockwerke nach unten wie eine Ewigkeit vor. Sie bekam Panik, trotz der Beruhigungsspritze, die sie vom Notarzt bekommen hatte. Dadurch, dass sie schon lange Yoga machte, besann sie sich auf ihre Atmung, schloss die Augen und atmete tief ein und aus.

Wie aus weiter Ferne hörte sie die Menschen im Treppenhaus miteinander tuscheln.

»Ach, das arme Ding. So jung musste sie sterben.«

»Was ist denn passiert?«

»Die Kleine vom dritten Stock ist erschossen worden.«

»Was? Erschossen? Hier in unserem Haus?«

»Ich sag’s ja schon lange, wir haben viel zu viel Lumpenpack im Land.«

»Ach, dann hast du den Täter gesehen? War es denn ein Ausländer?«

»Nichts habe ich gesehen, aber das weiß man schließlich.«

»Hallo? Was ist das für ein Lärm hier? Oh, wer ist denn gestorben?«

»Sandra, oben aus dem Dritten.«

»Was? Die Sandra? Aber die war doch noch so jung. Man sah ihr ja überhaupt nicht an, dass sie krank war.«

»Umgebracht hamse die, du Dummerchen.«

»Jesses, Maria und Josef, das arme Ding.«

Sandra hätte gerne die Decke hochgehoben und sie allesamt beruhigt. Im Haus war sie bei Weitem die Jüngste, sie hatte immer ein offenes Ohr und half, wo Hilfe nötig war.

Wer hilft ihnen denn jetzt? Wer trägt ihnen die schweren Einkaufstaschen nach oben?

Sie spürte, dass ihr wieder Tränen über die Wangen kullerten.

»Machs jut, Kleene.« Das war Otto, von der untersten Wohnung.

Danach vernahm sie nur noch leises, unverständliches Gemurmel. Sie wusste genau, wie geschockt die Bewohner gerade waren.

Sie spürte ein leichtes Rumpeln und die Bahre, auf der sie lag, wurde ins Auto geschoben. Bald darauf startete der Motor und das Fahrzeug fügte sich in den Verkehr ein. Nach einer kurzen Strecke wurde der Wagen langsamer und bog ab. Sandra bewegte sich nicht unter dem Laken, das man über sie gelegt hatte, hörte, wie etwas leise quietschte, dann fuhren sie noch ein kleines Stück weiter, bis der Motor abgestellt wurde. Sofort wurde die Heckklappe geöffnet und die Bahre nach vorne gezogen. Jemand hob das Tuch hoch und Sandra nahm einen tiefen Atemzug.

Voller Angst starrte sie die fremden Personen an, die um sie herumstanden. Dann schob sich ein ihr bekanntes Antlitz in ihr Gesichtsfeld.

»Claudia Bergmann« sagte die Frau, streckte ihr die Hand hin und half beim Aussteigen.

Sandra nickte mit einem schwachen Lächeln. Sie kannte Bergmann, eine bekannte Psychologin, vom lokalen Sender.

»Sandra Wagner.«

Claudia nickte. »Ich weiß. Ich bin schließlich hier, um Ihnen in den nächsten Tagen zur Seite zu stehen. Wir müssen nun akribisch, aber sehr behutsam vorgehen. Alles läuft schon auf Hochtouren, um für sie eine neue Identität zu erstellen. Also los, kommen Sie.«

Sandra folgte ihr in den hinteren Teil eines Hauses, wo sie einige Treppen nach unten stiegen. Sie liefen durch einen Gang und erreichten eine offene Tür.

»Das wird in den nächsten Tagen ihr Zuhause sein, bis wir sie anderweitig sicher unterbringen können. Jedoch bleiben Sie erst einmal hier bis zu ihrer Beerdigung.«

»Beerdigung?«

»Ja, klar, es muss doch so authentisch wie nur möglich sein. Ohne Beerdigung, keine tote Sandra Wagner. Und solange die Polizei den Täter nicht geschnappt hat, ist solch ein Vorgehen dringender denn je.«

Sandra verstand das alles nur zur Hälfte. Ein Teil von ihr war zu müde und verzweifelt, ein anderer auf gewisse Art und Weise sogar desinteressiert; deswegen ließ sie das Gesagte einfach erst einmal so stehen.

»Ich denke aber, dass Sie nun erst einmal ein wenig schlafen möchten. Sie finden hier alles, was sie brauchen. Die Kleider sollten Ihnen passen. Dort ist ein Badezimmer und hier eine kleine Küche. Ich hoffe, dass alles Notwendige da ist. Wenn Sie etwas vermissen, sagen Sie es mir oder jemandem vom Team, dann besorgen wir es so schnell wie möglich.«

»Mein altes Leben«, murmelte Sandra.

»Wie bitte?«

»Ich wünsche mir jetzt schon mein altes Leben zurück.« Sandra stand im Raum wie ein Häufchen Elend.

Claudia sah sie lange an. »Genau das ist aber das Einzige, das wir Ihnen nicht zurückgeben können. Alles andere ist kein Problem.«

»Ich weiß, danke.«

Claudia nickte und wollte schon gehen, als sie nochmal stehenblieb.

»Ach ja, noch was. Sie dürfen im Flur spazieren gehen, jedoch nicht die Treppe hoch. Die wird nämlich bewacht. Das ist alles zu Ihrer Sicherheit, okay?«

Sandra nickte müde. Sie wollte tatsächlich nur noch schlafen und das Ganze zumindest für eine Weile vergessen.

Sobald sich die Tür hinter Claudia geschlossen hatte, schaute sich Sandra in ihrer temporären Bleibe um.

Sie blieb weiterhin mitten im Raum stehen. Rechts von ihr befand sich das Badezimmer, links davon eine Nische, in der das Bett stand. Dann gab es noch eine Sitzgruppe, ein Büchergestell mit Büchern, eine Stereoanlage und einen Fernseher. Neben der Tür erblickte sie eine kleine Küche mit Essecke.

Eigentlich behaglich eingerichtet, aber was soll ich hier machen? Ich will nach Hause.

Sandra wandte sich der Nische zu. Sie beschloss, zu schlafen, zog ihre Joggingklamotten aus und warf sich übermüdet aufs Bett, wo sie augenblicklich einschlief.

*

Daniela wurde, wie ihre Mutter, sofort ins Schutzprogramm aufgenommen. Sie hatten wohl glücklicherweise einen kleinen Vorsprung, aber wenn der Killer auch nur den leisesten Verdacht hätte, sie wären noch am Leben und hätten etwas gesehen, dann wären sie schneller tot, als sie denken konnten.

»Aber warum ich?«, fragte Danielas Mutter.

»Weil Sie beide hier zusammen wohnen. Der Täter würde Ihnen überall auflauern, um Daniela aufzuspüren. Und wozu solche Typen fähig sind, muss ich Ihnen wohl nicht nochmals erklären. Es ist also nur zu Ihrer eigenen Sicherheit. Vertrauen Sie uns. Sie bekommen eine neue Identität und fangen ein neues Leben an. Aber Sie müssen dafür alles zurücklassen. Es darf nichts, absolut gar nichts, auf Ihr altes Leben hindeuten«.

»Aber Axel? Der darf doch dann auch mit uns, oder?«

Dietrich schüttelte betrübt den Kopf. »Nein, das funktioniert leider nicht. Das wäre im Übrigen auch zu auffällig. Mutter und Tochter ist okay. Zudem liegt Herr Bach immer noch auf der Intensiv. Sie müssen neu anfangen … und er dann auch, wenn es soweit ist.«

»Aber dann werde ich ihn nie wieder sehen?« Ungläubig schaute sie die beiden Polizisten an.

Dietrich schüttelte erneut den Kopf. »Tut mir leid. Und eines ist dabei äußerst wichtig, denn davon hängt euer Leben ab. Keine Kontaktaufnahme! Haben wir uns verstanden?«

Er schaute Daniela fest in die Augen.

»Verstanden?«, fragte er leise ein zweites Mal.

Daniela schloss ihre Augen und kämpfte gegen die Tränen an. »Ich kann das nicht versprechen.«

»Frau Kohl, Sie würden damit nicht nur Ihr Leben gefährden, sondern auch das von Herrn Bach. Und zusätzlich noch das der Ermittler, die am Anfang noch zu eurem Schutz abgestellt werden. Seien Sie sich also bewusst, was ein Nichtbeachten dieser Regel auslösen würde. Und natürlich auch das Leben Ihrer Mutter, das wäre ebenfalls keinen Pfifferling mehr wert.«

Dietrich war müde und seelisch ausgelaugt. Immer und immer wieder das Gleiche erzählen zu müssen, und dem Verbrecher oftmals mindestens zwei Schritte hinten nach zu sein und trotzdem entweder keine oder nur kleine Erfolge aufweisen zu können. Auch sie waren schließlich nur Menschen, doch von der Polizei erhoffte man sich immer sofortige Hilfe. Aber wenn sie, die Ermittler, mal Hilfe brauchten, beispielsweise einfach nur, dass die Menschen das machten, was sie sollten, dann gab es immer wieder Kämpfe auszufechten.

Er wurde langsam echt zu alt für diese Arbeit. Und obwohl er erst 50 Jahre alt war, sehnte er sich danach, endlich in Rente gehen zu können.

»Also? Wollen Sie nun den Schutz, den wir Ihnen anbieten, oder lassen Sie es darauf ankommen, dass er Sie findet?«

Beklommen schaute Daniela ihn an. »Nein, nein, ist schon gut.«

»Gut, dann bitte ich euch beide jetzt, mit uns zu kommen. Genau so, wie ihr gerade seid. Bitte gebt eure Handys und Ausweise, auch Fahrzeugpapiere, Krankenkassenkarte und so weiter, ab. Und den Wohnungsschlüssel.«

Beide Frauen sahen sich traurig an, warfen noch einen letzten Blick zurück ins Zimmer, schlossen dann die Haustür hinter sich und traten einer ungewissen Zukunft entgegen.

*

Im Kommissariat lief mittlerweile alles auf Hochtouren. Sie jagten den Vornamen Luca durch sämtliche Kanäle, die sie zur Verfügung hatten. Sie fanden natürlich mehr als nur einen Luca, der auf die Beschreibung von Sandra und Daniela passte, aber Linkshänder gab es davon nur drei.

Und Pietros, der zweite Name, an den sich Daniela erinnert hatte, gab es ebenfalls massenhaft. Die Geschäfte im Untergrund schienen zu florieren.

Die beiden Toten brachten sie im Moment auch nicht weiter, denn obwohl sie ihre Ausweise noch in den Taschen hatten, gab es über sie keinen einzigen Eintrag. Sie waren wie zwei weiße Blätter, absolut jungfräulich.

Somit war klar, dass die Dokumente entweder gefälscht oder beide Männer neu im Geschäft waren.

Alle Ermittlungen wurden daraufhin auf die drei Verdächtigen mit dem Namen Luca gerichtet.

»Schon was Neues über einen unserer drei Lucas?«

Schulz schüttelte den Kopf. »Einer sitzt in Einzelhaft, da warten wir noch auf die Besucherliste. Aber der war definitiv nicht zu diesem Zeitpunkt draußen. Ein anderer ist um die 60, kommt also gar nicht erst infrage. Und der Dritte von ihnen ist nicht auffindbar. Da wird jedoch auf Hochtouren daran gearbeitet.«

Dietrich nickte. »Gut. Sind auch alle Flughäfen, Bahnhöfe und Grenzen für diesen Mann dicht?«

Schulz nickte. »Alles, was in unserer Macht steht, haben wir getan. Aber es gibt so viele Grenzübergänge, die nicht mehr bewacht sind, da ist es für uns unmöglich, mitzumischen. Das ist also wie die berühmte Nadel im Heuhaufen zu suchen.«

»Ich weiß.« Dietrich hatte Sorgenfalten auf der Stirn. »Und was ist mit dem Krankenhaus?«

»Vor Axels Zimmer sitzen zwei, wie auch am Eingang. Ablösung im Vier-Stunden-Takt. Und das ganze Krankenhauspersonal ist informiert. Sie sollen vor allem ihr Augenmerk auf Ärzte und Pflegepersonal richten, die scheinbar neu dort arbeiten oder die sie nicht kennen. Da sind wir auf ihre Mitarbeit angewiesen.«

Dietrich nickte. Ihm war klar, dass er sich auf sein Team verlassen konnte, aber sie hatten keine Ahnung, wer Luca war. Ja, sie hatten einen Namen und eine karge Beschreibung, aber er konnte irgendwo wieder zuschlagen, ohne dass sie auch nur die geringste Ahnung hätten. Es war zum verrückt werden.

Dietrich hoffte, dass ihr Verdächtiger den Köder der falschen Fährte schlucken würde. So konnten die Zeugen weggebracht werden und schon bald gut vorbereitet in ein neues Leben starten.

*

In den frühen Morgenstunden wurde eine Pressekonferenz einberufen. Die ganze Aktion im Stadtpark blieb der Öffentlichkeit natürlich nicht verborgen, ebenso wie der nächtliche Einsatz bei Sandra. Nun bekam die Polizei ihre Chance, dem Täter eine Falle zu stellen.

Der Saal war zum Bersten voll. So etwas passierte nicht alle Tage, jedenfalls nicht in dieser kleinen, übersichtlichen Stadt. Das zog auch große Zeitungen und Fernsehstationen vom ganzen Land, ja sogar internationale Presse, an.

Es war laut, sehr laut. Jeder sprach mit jedem und sämtliche Anwesenden waren bis aufs Äußerste angespannt.

Als es augenblicklich still wurde, betraten die Staatsanwaltschaft, der Polizeipräsident und zwei Polizisten in Zivil den Raum. Sie setzten sich hinter die Schilder mit ihren Namen, und rückten die Mikrofone auf dem Tisch zurecht. Die Spannung stieg, man hätte eine Nadel fallen gehört.

Jeder der Herren machte ein ernstes Gesicht.

Dann ergriff der Polizeipräsident das Wort.

»Guten Morgen, meine Damen und Herren. Wir danken für das zahlreiche Erscheinen. Uns liegt es am Herzen, diesen Fall so schnell wie möglich aufzuklären. Aber dazu brauchen wir Ihre Hilfe.« Er schaute durch den ganzen Saal und sah in angespannte Gesichter.

»Balmer vom Tagblatt. Können Sie uns denn sagen, was genau passiert ist?«, fragte ein Mann in der dritten Reihe.

Der Polizeipräsident nickte. »Aber sicher. Dazu wäre ich auch gleich gekommen, Herr Balmer.«

Die Journalisten der Stadt kannten Balmer nur zu gut, deswegen kam auch ein verhaltenes Grinsen in ihren Gesichtern zustande. Er war einer, der immer mit dem Kopf durch die Wand wollte. Geduld oder kurz warten waren Fremdwörter für ihn.

»Gestern Abend gegen elf wurden im Stadtpark zwei Männer erschossen. Wohl eher hingerichtet, wie es aussieht. Danach wurde der Täter anscheinend durch zwei Liebespaare gestört, die er ebenfalls erschoss. Die Opfer waren zwischen 18 und 40 Jahre alt. Kurz danach stieß eine Joggerin auf die ersten zwei Leichen. Sie war es auch, die uns informierte. Das Tragische daran ist, dass der Täter ihr wohl nach unserem Verhör aufgelauert hat und sie bis zu ihrer Wohnung verfolgte. Dort schoss er durch ihre Haustüre und traf sie tödlich. Vom Täter fehlt bisher jegliche Spur. Um Hinweise betreffend seines Aussehens, Alters und so weiter sind wir jetzt auf die Bevölkerung angewiesen. Hinweise können bei uns, wie auch bei jeder anderen Dienststelle, deponiert werden.« Der Polizeipräsident atmete tief durch.

Es war sehr still im Raum. Scheinbar waren alle vom Ausmaß der Geschehnisse derart geschockt, dass sich niemand traute, Fragen zu stellen.

Doch dann schossen die Fragen alle miteinander aus den Mündern der Anwesenden nach vorne auf die Bühne. Der Polizeipräsident hob beide Hände und bat um Ruhe.

»Bitte, einer nach dem anderen.«

»Schott vom Abendblatt. Konnte denn die Joggerin keine Angaben über den Täter machen?«

»Dafür übergebe ich das Wort den Ermittlern, Hauptkommissar Dietrich und seinem Kollegen Kommissar Schulz.« Er nickte den beiden zu.

»Leider konnte sie uns keine nützlichen Angaben machen. Sie fiel beim Joggen über einen am Boden liegenden Mann, bekam Panik und rannte so schnell sie konnte aus dem Stadtpark. Erst von dort informierte sie uns. Die Frau konnte uns nur darüber Auskunft geben, wo und wie sie die Leichen entdeckt hatte. Sie war völlig am Ende mit den Nerven. Wir wollten sie heute Vormittag weiter befragen, doch niemand konnte erahnen, was danach passierte.«

»Kramer von der Times. Warum hat man denn keinen Schutz für sie abgestellt, wenn der Täter noch auf freiem Fuß war?«

Schulz räusperte sich. »Sie meinte, dass ihr Haus durchgehend abgeschlossen sei.« Entschuldigend hob er die Schulter.

»Jenny Metzger von der Weltwoche. Wenn ich richtig mitgezählt habe, sind insgesamt sieben Personen getötet worden. Und das innerhalb kurzer Zeit. Das heißt, fünf Personen hätten nicht sterben müssen, wären sie nicht am falschen Ort gewesen, richtig? Und kann man denn anhand der ersten beiden Opfer schon eine Art Täterprofil erstellen?«

»Zur ersten Frage: Ja, das ist richtig. Fünf unschuldige Personen mussten ihr Leben lassen, weil sie zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren. Und zur zweiten Frage: Da sind wir noch dran. Es handelt sich bei den Ermordeten um zwei Männer, 35 und 40 Jahre alt. Sie gehörten wohl einem Verbrecherkartell an, aber mehr können wir noch nicht sagen.«

»Nielson von Jyllands Posten aus Dänemark. Welche Staatsangehörigkeiten hatten die Opfer?«

»Die ersten zwei sind vermutlich Ausländer, die anderen fünf sind von hier.«

»Schott nochmal. Also, das heißt, die fünf waren Einwohner unserer Stadt?«

Dietrich nickte nur und es wurde unangenehm still im Raum.

Nun meldete sich der Staatsanwalt wieder zu Wort. »Nun gut, das ist im Moment alles. Wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Mehr dann zu einem späteren Zeitpunkt.«

Alle standen auf und verließen den Raum. Unter ihnen befand sich ein Mann, Mitte 30, mit einer Schirmmütze auf dem Kopf, unter der dunkle Haare hervorlugten. Er lächelte befriedigt vor sich hin.

*

Das Hauptthema von Der Pate, The Godfather, erklang. Der Mann, der auf dem Sessel saß, lauscht andächtig der Melodie und dirigierte dazu. Dann griff er zum Telefonhörer.

»Ja?«, bellte er in den Hörer.

»Ist erledigt.«

»Beide?«

»Ja. Musste allerdings noch einige Zeugen mit dazu nehmen.«

»WAS?«, brüllte der Mann und stand wie von einer Tarantel gestochen auf. »Sag das noch einmal, und zwar ganz langsam«, sprach er leise, aber umso gefährlicher in den Hörer.

»Ja, ähm, ich konnte ja nicht ahnen, dass um Mitternacht noch so viele Leute unterwegs waren.«

»Du bist der größte Idiot, den es auf Erden gibt! Wo genau hast du denn deine Arbeit erledigt?«

»Im Stadtpark«, kam die Antwort.

»Was? Bist du von allen guten Geistern verlassen?«

»Es war spät und stockdunkel, außerdem suchte ich einen perfekten Platz aus.«

»Perfekter Platz? Dass ich nicht lache. Ein solcher Platz, wie du sagst, bedeutet niemals, hörst du, niemals Zeugen!« Er wurde mit jedem Wort lauter und brüllte zuletzt regelrecht in den Telefonhörer. »Du bist also sicher, dass alles erledigt ist?«

»Ja, ich war heute sogar bei der Pressekonferenz. Niemand hat überlebt.«

»An der Pressekonferenz? Ist das zu glauben? Mein Sohn geht zu einer Pressekonferenz.« Die Stimmlage des Mannes kippte fast. Ungläubig schüttelte er den Kopf und ließ sich zurück in den Sessel fallen.