Die verlorene Handschrift - Gustav Freytag - E-Book

Die verlorene Handschrift E-Book

Gustav Freytag

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Beschreibung

"Indiana Jones" trifft "Der Name der Rose": eine Schatzsuche im Universitäts-Milieu des 19. Jahrhunderts. Doktor Fritz Hahn und Professor Felix Werner suchen die verlorene Handschrift des Tacitus. Einen ersten Hinweis auf den Fundort macht der Professor in einem Bibliotheksverzeichnis. Das gesuchte Objekt soll sich in einem Kloster befinden. Dort macht der Professor Bekanntschaft mit der lieblichen und nicht weniger patenten Ilse, während sich Doktor Hahn mit der Tochter eines alten Erbfeindes auseinandersetzen muss. Für Spannung ist gesorgt in diesem unterhaltsamen Professorenroman des Erfolgsschriftstellers Gustav Freytag. "Das ist mein Lieblingsbuch. Seit meiner Jugend bis heute." B. Gregor (gustav-freytag.info) Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 1283

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Gustav Freytag

Die verlorene Handschrift

Historischer Roman in fünf Büchern

Gustav Freytag

Die verlorene Handschrift

Historischer Roman in fünf Büchern

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-954187-64-5

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Edi­to­ri­sche An­mer­kun­gen

Ers­tes Buch

Ers­tes Ka­pi­tel -- Eine ge­lehr­te Ent­de­ckung

Zwei­tes Ka­pi­tel -- Die feind­li­chen Nach­barn

Drit­tes Ka­pi­tel -- Die Rei­se ins Blaue

Vier­tes Ka­pi­tel -- Das alte Haus

Fünf­tes Ka­pi­tel -- Zwi­schen Her­den und Gar­ben

Sechs­tes Ka­pi­tel -- Eine ge­lehr­te Frau vom Lan­de

Sie­ben­tes Ka­pi­tel -- Neue Feind­se­lig­keit

Ach­tes Ka­pi­tel -- Noch ein­mal Ta­ci­tus

Neun­tes Ka­pi­tel -- Ilse

Zehn­tes Ka­pi­tel -- Die Wer­bung

Elf­tes Ka­pi­tel -- Spei­hahn

Zwölf­tes Ka­pi­tel -- Der Ab­schied vom Gute

Zwei­tes Buch

Ers­tes Ka­pi­tel -- Die ers­ten Grü­ße aus der Stadt

Zwei­tes Ka­pi­tel -- Ein Tag der Be­su­che

Drit­tes Ka­pi­tel -- Un­ter den Ge­lehr­ten

Vier­tes Ka­pi­tel -- Der Pro­fes­so­ren­ball

Fünf­tes Ka­pi­tel -- Herr Hum­mel als Fal­sa­ri­us

Sechs­tes Ka­pi­tel -- Klei­ne Ge­gen­sät­ze

Sie­ben­tes Ka­pi­tel -- Die Er­kran­kung

Ach­tes Ka­pi­tel -- Eine Fra­ge der Re­si­denz

Drit­tes Buch

Ers­tes Ka­pi­tel -- Die But­ter­ma­schi­ne

Zwei­tes Ka­pi­tel -- Aus drei Ka­bi­net­ten

Drit­tes Ka­pi­tel -- Vi­el­lieb­chen

Vier­tes Ka­pi­tel -- Un­ter den Stu­den­ten

Fünf­tes Ka­pi­tel -- Al­les ge­stört

Sechs­tes Ka­pi­tel -- Vor dem Dra­ma

Vier­tes Buch

Ers­tes Ka­pi­tel -- Der Fürst

Zwei­tes Ka­pi­tel -- Im Pa­vil­lon

Drit­tes Ka­pi­tel -- Zwei neue Gäs­te

Vier­tes Ka­pi­tel -- Ne­cke­rei­en

Fünf­tes Ka­pi­tel -- Hum­mels Tri­umph

Sechs­tes Ka­pi­tel -- Ein Ka­pi­tel aus der ver­lo­re­nen Hand­schrift

Sie­ben­tes Ka­pi­tel -- Der Hum­meln Zäsa­ren­wahn­sinn

Ach­tes Ka­pi­tel -- Alte Be­kann­te

Neun­tes Ka­pi­tel -- Im Turm der Prin­zes­sin

Zehn­tes Ka­pi­tel -- Il­ses Flucht

Elf­tes Ka­pi­tel -- Der Oberst­hof­meis­ter

Fünf­tes Buch

Ers­tes Ka­pi­tel -- Des Ma­gis­ters Aus­gang

Zwei­tes Ka­pi­tel -- Vor der Ent­schei­dung

Drit­tes Ka­pi­tel -- Auf dem Weg zum Stei­ne

Vier­tes Ka­pi­tel -- In der Höh­le

Fünf­tes Ka­pi­tel -- To­bi­as Bach­hu­ber

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

Klas­si­ker bei Null Pa­pier

Ali­ce im Wun­der­land

Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

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Editorische Anmerkungen

Ich habe den Text be­hut­sam in die ak­tu­el­le Deut­sche Recht­schrei­bung über­tra­gen, da­von un­be­rührt blie­ben na­tür­lich alle Pas­sa­gen in Mund­art.

Erstes Buch

Erstes Kapitel -- Eine gelehrte Entdeckung

Es ist spä­ter Abend in un­serm Stadt­wald, lei­se wis­pert das Laub in der lau­en Som­mer­luft und aus der Fer­ne tönt das Ge­schwirr der Feld­gril­len bis un­ter die Bäu­me.

Durch die Gip­fel fällt blei­ches Licht auf den Wald­weg und das un­deut­li­che Ge­äst des Un­ter­hol­zes. Der Mond be­sprengt den Pfad mit schim­mern­den Fle­cken, er zün­det im Ge­wirr der Blät­ter und Zwei­ge ver­lo­re­ne Lich­ter auf, hier läuft es vom Baum­stam­me bläu­lich her­ab wie bren­nen­der Spi­ri­tus, dort im Grun­de leuch­ten aus tiefer Dun­kel­heit die We­del ei­nes Farn­krau­tes in grün­li­chen Gol­de, und über dem Weg ragt der dür­re Ast als un­ge­heu­res wei­ßes Ge­weih. Da­zwi­schen aber und dar­un­ter schwar­ze, greif­ba­re Fins­ter­nis. Run­der Mond am Him­mel, dei­ne Ver­su­che den Wald zu er­leuch­ten sind un­or­dent­lich, bleich­süch­tig und lau­nen­haft. Bit­te, be­schrän­ke dei­ne Lich­ter auf den Damm, der zur Stadt führt, wirf dei­nen fal­ben Schein nicht all­zu schrä­ge über den Weg hin­aus, denn lin­ker Hand geht es ab­schüs­sig in Sumpf und Was­ser.

Pfui, du Lüg­ner! Da ist der Sumpf, und der Schuh blieb dar­in ste­cken. Aber dir ist das ge­ra­de recht, Täu­schen und Be­trü­gen ist dei­ne liebs­te Ar­beit, du Phan­tast un­ter den Ster­nen. Man wun­dert sich all­ge­mein, dass die Men­schen der Vor­zeit dich als Gott ver­ehr­ten. Einst hat das grie­chi­sche Mäd­chen dich Se­le­ne ge­ru­fen und sie hat dir die Scha­le mit pur­pur­nem Mohn be­kränzt, um durch dei­nen Zau­ber den treu­lo­sen Ge­lieb­ten zu ih­rer Tür­schwel­le zu lo­cken. Da­mit ist es für im­mer vor­bei. Wir ha­ben die Wis­sen­schaft und Fo­to­gen, und du bist her­ab­ge­kom­men zu ei­nem ar­men al­ten Gauk­ler, der fern von Men­schen im Wal­de um­her­fla­ckert. Zu ei­nem Gauk­ler! Man er­weist dir noch all­zu viel Ehre, wenn man dich über­haupt als le­ben­des We­sen be­han­delt. Was bist du denn ei­gent­lich? Eine Ku­gel aus­ge­brann­ter bla­si­ger Schla­cke, luft­los, far­ben­los, was­ser­los. Bah! Eine Ku­gel? Un­se­re Ge­lehr­ten wis­sen, dass du nicht ein­mal rund bist, auch dar­in lügst du. Wir von der Erde ha­ben dich nach un­se­rer Sei­te in die Län­ge ge­zo­gen. Du bist ge­wis­ser­ma­ßen zu­ge­spitzt, und dei­ne Ge­stalt ist er­bärm­lich und un­re­gel­mä­ßig. Du bist nichts als eine Art großer Er­drü­be, wel­che sich in ewi­ger Skla­ve­rei um uns her­um­wälzt.

Der Wald lich­tet sich, zwi­schen der Stadt und dem Wan­de­rer liegt noch eine wei­te Ra­sen­flä­che mit ih­rem Wei­her. Sei ge­grüßt, du grü­ner Tal­grund; wohl­ge­pfleg­te Kies­we­ge zie­hen sich über die Wald­wie­se, hier und da er­hebt sich lus­ti­ges Ge­büsch und eine Gar­ten­bank. Auf der Bank ras­tet bei Tage der wohl­hä­bi­ge Bür­ger; die Hän­de auf das spa­ni­sche Rohr ge­stützt, sieht er stolz nach den Tür­men sei­ner gu­ten Stadt hin­über. Ist heut auch die Flur ver­wan­delt? Vor dem Wan­de­rer brei­tet sich’s wie eine wo­gen­de Was­ser­flä­che, und es wallt, bro­delt und ballt sich um die Füße, in end­lo­sen Ne­bel­mas­sen so­weit das Auge reicht. Wel­ches Geis­ter­heer wäscht hier sei­ne grau­en Ge­wän­der? Sie flat­tern von den Bäu­men, sie zie­hen durch die Luft, matt­schei­nend, zer­flie­ßend, sich wie­der ver­we­bend. Und hö­her er­he­ben sich die dämm­ri­gen Ge­bil­de. Sie schwe­ben dem Wan­de­rer über das Haupt, die düs­tern Mas­sen der Bäu­me ver­schwin­den, auch den Him­mel ver­birgt die Däm­me­rung, je­der Um­riss löst sich auf in ein Cha­os von blei­chem Licht und wo­gen­der Un­form. Noch dau­ert die fes­te Erde un­ter den Fü­ßen des Schrei­ten­den, und doch wan­delt er ge­schie­den von al­len wirk­li­chen Ge­stal­ten der Erde un­ter leuch­ten­den kör­per­lo­sen Schat­ten. Hier sam­melt sich’s und dort wie­der zu schwe­ben­dem Schei­ne. Lang­sam schwei­fen die Luft­ge­bil­de an dem Flor, der den Wan­de­rer um­hüllt. Hier dringt eine ge­beug­te Ge­stalt her­an, ei­nem kni­en­den Wei­be ver­gleich­bar, das vor Schmerz zu­sam­men­bricht, dort ein Zug in lan­gen wal­len­den Ge­wän­dern wie rö­mi­sche Se­na­to­ren, an ih­rer Spit­ze ein Kai­ser mit der Strah­len­kro­ne, aber die Kro­ne und das Haupt zer­flie­ßen, kopf­los und ge­spens­tig glei­tet der große Schat­ten vor­über. -- Dunst der feuch­ten Wie­se, wer hat dich so ver­wan­delt, Wet­ter! Das tat wie­der der Alte dort oben, der gau­keln­de Mond.

Weicht hin­ter­wärts, täu­schen­de Bil­der der Däm­me­rung. Das Tal ist durch­schrit­ten, vor dem Wan­de­rer schim­mern er­leuch­te­te Fens­ter, hier ra­gen die nächs­ten Häu­ser der Stadt, zwei statt­li­che Häu­ser und zwei Haus­be­sit­zer! Hier woh­nen Men­schen, Steu­er­zah­ler, rüh­rig Schaf­fen­de; sie hül­len sich zur Nacht in war­me De­cken und nicht in dei­ne wäs­se­ri­gen Ge­spins­te, o Mond, wel­che als rol­len­de Trop­fen von Haar und Bart träu­feln; sie ha­ben ihre Lau­nen und ihre Bie­der­keit und schät­zen dei­nen Wert, Mond, ge­nau nach den Sum­men, die du der Stadt­kas­se an Gas­licht er­sparst.

In dem Hau­se zur lin­ken Hand glänzt aus der obern Fens­ter­rei­he eine Lam­pe nahe den Schei­ben. Ver­geb­lich mühst du dich, blei­ches Wol­ken­licht, dei­ne trü­gen­den Strah­len auch dort hin­ein­zu­wer­fen. Denn ihn, der dort wohnt, sollst du mit dei­nen Pos­sen nicht krän­ken, er ist ein Kind der Son­ne und ein Held die­ser Ge­schich­te. Es ist der Pro­fes­sor Fe­lix Wer­ner, ein ge­lehr­ter Phi­lo­log, noch ein jun­ger Herr, aber von wohl­ver­dien­tem Ruf. Da sitzt er an sei­nem Ar­beit­s­tisch und blickt auf ver­bli­che­ne alte Schrift; ein an­sehn­li­cher Mann; wenn er auf­steht, von gu­ter Mit­tel­grö­ße, dunkles ge­lock­tes Haar um­gibt ihm ein großes Ant­litz von kräf­ti­ger Bil­dung, nichts Klei­nes dar­in, hel­le treue Au­gen un­ter dun­keln Brau­en, die Nase leicht ge­bo­gen, die Mus­keln des Mun­des stark ent­wi­ckelt, wie bei ei­nem be­lieb­ten Leh­rer der stu­die­ren­den Ju­gend na­tür­lich ist. Jetzt ge­ra­de fährt ein fei­nes Lä­cheln dar­über und die Wan­gen sind ihm von der Ar­beit oder ge­hei­mer Auf­re­gung ge­rötet. Ver­schwin­de hin­ter ei­ner Wol­ke, Mond, die Ge­sell­schaft mei­nes Pro­fes­sors ist mir lie­ber.

Der Pro­fes­sor sprang von sei­nem Ar­beit­s­tisch auf und durch­schritt ei­ni­ge Male eif­rig das Zim­mer, dann trat er an ein Fens­ter, wel­ches auf das Nach­bar­haus hin­aus­sah, stell­te zwei große Bü­cher auf das Fens­ter­brett, leg­te ein klei­ne­res dar­über und brach­te da­durch eine Fi­gur her­vor, wel­che ei­nem grie­chi­schen P ähn­lich sah und durch den Licht­schein da­hin­ter für die Au­gen im Nach­bar­hau­se sicht­bar wur­de. Nach­dem er dies te­le­gra­fi­sche Zei­chen ge­zim­mert hat­te, eil­te er wie­der an den Tisch und beug­te sich von neu­em über sein Buch.

Der Die­ner trat lei­se ein, das Abendes­sen weg­zuräu­men, wel­ches auf ei­nem Sei­ten­tisch zu­recht­ge­stellt war. Da er die Spei­sen un­be­rührt fand, blick­te er miss­bil­li­gend auf den Pro­fes­sor und blieb lan­ge hin­ter dem lee­ren Stuhl ste­hen. End­lich rück­te er sich in mi­li­tä­ri­sche Hal­tung: »Der Herr Pro­fes­sor ha­ben das Abend­brot ver­ges­sen.«

»Räu­men Sie ab, Ga­bri­el«, be­fahl der Pro­fes­sor.

Ga­bri­el be­wies kei­nen gu­ten Wil­len. »Der Herr Pro­fes­sor soll­ten we­nigs­tens ein Stück kal­ten Bra­ten zu sich neh­men. Aus nichts wird nichts«, füg­te er wohl­wol­lend hin­zu.

»Es ist nicht in der Ord­nung, dass Sie her­ein­kom­men, mich zu stö­ren.«

Ga­bri­el nahm einen Tel­ler und trug ihn zum Pro­fes­sor. »Neh­men der Herr Pro­fes­sor we­nigs­tens ein paar Bis­sen.«

»So ge­ben Sie«, sag­te der Pro­fes­sor und aß.

Ga­bri­el be­nutz­te die Pau­se, in wel­cher sein Herr wi­der­stands­los bei ver­ständ­li­cher Tä­tig­keit ver­weil­te, zu ei­ner re­spekt­vol­len An­mah­nung: »Mein se­li­ger Haupt­mann hielt sehr auf ein gu­tes Abendes­sens...«

»Jetzt aber sind Sie ins Zi­vi­le über­setzt,« ver­setz­te der Pro­fes­sor lä­chelnd.

»Es ist aber auch nicht in der Ord­nung,« fuhr Ga­bri­el hart­nä­ckig fort, »wenn ich al­lein den Bra­ten esse, den ich für Sie hole.«

»Ich hof­fe, Sie sind jetzt zu­frie­den,« ver­setz­te der Pro­fes­sor und schob ihm den Tel­ler zu­rück.

Ga­bri­el zuck­te die Ach­seln. »Es ist zum we­nigs­ten gu­ter Wil­le. Der Herr Dok­tor war nicht zu Hau­se.«

»Ich sehe. Sor­gen Sie da­für, dass die Haus­tür ge­öff­net bleibt.«

Ga­bri­el mach­te kehrt und ent­fern­te sich mit den Tel­lern.

Wie­der war der Ge­lehr­te al­lein, das gol­de­ne Licht der Lam­pe fiel auf sein Ant­litz und die Bü­cher, wel­che um ihn la­gen, schnel­ler rausch­ten die wei­ßen Blät­ter un­ter der Hand des Nach­fra­gen­den und in star­ker Span­nung ar­bei­te­ten sei­ne Züge.

Da poch­te es an die Tür, der er­war­te­te Be­such trat ein.

»Gu­ten Abend, Fritz,« rief der Pro­fes­sor dem Ein­tre­ten­den ent­ge­gen, »set­ze dich auf mei­nen Platz und sieh hier­her.«

Der Gast, eine zar­te Ge­stalt, mit fei­nen Zü­gen und ei­ner Bril­le vor den Au­gen, rück­te sich ge­hor­sam zu­recht und er­griff ein klei­nes Buch, wel­ches Mit­tel­punkt ei­nes Krei­ses von auf­ge­schla­ge­nen Wer­ken in je­dem Al­ter und For­mat war. Mit Ken­ner­bli­cken mus­ter­te er zu­erst den De­ckel: ge­schwärz­tes Per­ga­ment mit al­ten No­ten und dar­un­ter ge­schrie­be­nem Kir­chen­text, er warf einen spä­hen­den Blick auf das In­ne­re des Ein­ban­des und such­te nach den Per­ga­ment­strei­fen, durch wel­che der übeler­hal­te­ne Rücken des Bu­ches mit dem De­ckel ver­bun­den war. Dann erst sah er auf das ers­te Blatt des In­halts, auf die ver­gilb­ten Buch­sta­ben des ge­schrie­be­nen Tex­tes. »Das Le­ben der hei­li­gen Hil­de­gard -- die Hand des Schrei­bers aus dem fünf­zehn­ten Jahr­hun­dert,« -- sprach er, und sah den Freund fra­gend an.

»Nicht des­halb zei­ge ich dir das alte Buch. Sieh wei­ter. Der Le­bens­ge­schich­te fol­gen Ge­be­te, eine An­zahl Re­zep­te und Wirt­schafts­re­geln von ver­schie­de­nen Hän­den bis über die Zeit Luthers hin­aus. Ich hat­te die­se Blät­ter für dich ge­kauft, du konn­test dar­in viel­leicht et­was für dei­ne Sa­gen oder Volks­a­ber­glau­ben fin­den. Bei der Durch­sicht aber traf ich auf ei­ner der letz­ten Sei­ten die­se Stel­le, und ich muss dir jetzt das Buch noch vor­ent­hal­ten. Es scheint, dass meh­re­re Ge­ne­ra­tio­nen ei­nes Mönchs­klos­ters das Buch be­nutzt ha­ben, um Be­mer­kun­gen ein­zu­zeich­nen, denn auf die­sem Blatt ist ein Ver­zeich­nis von Kir­chen­schät­zen des Klos­ters Rossau. Es war ein dürf­ti­ges Klos­ter, das Ver­zeich­nis ist nicht groß oder nicht voll­stän­dig. Es wur­de von ei­nem un­wis­sen­den Mönch, so­weit man aus sei­ner Schrift schlie­ßen kann, etwa um 1500 ge­macht. Sieh, hier Kir­chen­ge­rät und we­ni­ge geist­li­che Ge­wän­der, und hier ei­ni­ge theo­lo­gi­sche Hand­schrif­ten des Klos­ters, für uns gleich­gül­tig, dar­un­ter aber zu­letzt fol­gen­der Ti­tel: ›Das alt un­gehür puoch von ußfart des swi­gers.‹«

Der Dok­tor prüf­te neu­gie­rig die Wor­te. »Das klingt wie Über­schrift ei­nes Rit­ter­ge­dichts. Und was be­deu­ten die Wor­te selbst: Ist der Aus­fah­ren­de ein Schwie­ger oder ein Schwei­gen­der?«

»Ver­su­chen wir das Rät­sel zu lö­sen,« fuhr der Pro­fes­sor mit glän­zen­den Au­gen fort, und wies mit dem Fin­ger auf das­sel­be Blatt. »Eine spä­te­re Hand hat in la­tei­ni­scher Spra­che da­zu­ge­schrie­ben: ›Dies Buch ist la­tein, fast un­les­bar, fängt an mit den Wor­ten: la­cri­mas et si­gna und en­det mit den Wor­ten: Hier schließt der Ge­schich­ten -- ac­torum -- drei­ßigs­tes Buch.‹ Jetzt rate.«

Der Dok­tor sah in das er­reg­te Ge­sicht des Freun­des: »Lass mich nicht war­ten. Die An­fangs­wor­te klin­gen viel­ver­spre­chend, aber ein Ti­tel sind sie nicht, es mö­gen im An­fan­ge Blät­ter ge­fehlt ha­ben.«

»So ist es,« ver­setz­te der Pro­fes­sor ver­gnügt. »Neh­men wir an: ein, zwei Blät­ter ha­ben ge­fehlt. Im fünf­ten Ka­pi­tel der An­na­len des Ta­ci­tus ste­hen die Wor­te la­cri­mas et si­gna hin­ter­ein­an­der.«

Der Dok­tor sprang auf, auch ihm flog ein freu­di­ges Rot über das Ant­litz.

»Set­ze dich,« fuhr der Pro­fes­sor fort, den Freund nie­der­drückend. »Der alte Ti­tel von den An­na­len des Ta­ci­tus lau­te­te wört­lich über­setzt: ›Ta­ci­tus vom Aus­gan­ge des gött­li­chen Au­gus­tus‹, bes­ser Deutsch: ›Vom Hin­schei­den des Au­gus­tus ab.‹ Wohl­an, ein un­wis­sen­der Mönch ent­zif­fer­te auf ir­gend­ei­nem Blat­te die ers­ten la­tei­ni­schen Wor­te der Über­schrift: ›Ta­ci­ti ab ex­ces­su‹ und ver­such­te sie ins Deut­sche zu über­set­zen. Er war froh zu wis­sen, dass ta­ci­tus schweig­sam be­deu­tet, hat­te aber nie et­was von dem rö­mi­schen Ge­schichts­schrei­ber ge­hört, und über­trug also wört­lich: Vom Aus­gan­ge des Schwei­gen­den.«

»Vor­treff­lich,« rief der Dok­tor. »Und der Mönch schrieb sei­ne ge­lun­ge­ne Über­set­zung des Ti­tels auf die Hand­schrift. Tri­umph! Die Hand­schrift war ein Ta­ci­tus.«

»Höre noch wei­ter,« er­mahn­te der Pro­fes­sor. »Im drit­ten und vier­ten Jahr­hun­dert un­se­rer Zeit­rech­nung be­stan­den die bei­den großen Wer­ke des Ta­ci­tus, die An­na­len und His­to­ri­en, in ei­ner Samm­lung ver­eint un­ter dem Ti­tel: Drei­ßig Bü­cher Ge­schich­ten. Wir ha­ben da­für meh­re­re alte Zeug­nis­se, sieh her.«

Der Pro­fes­sor schlug be­kann­te Stel­len auf und leg­te sie vor den Freund. »Und wie­der am Ende der ver­zeich­ne­ten Hand­schrift stand: ›Hier schließt das drei­ßigs­te Buch der Ge­schich­ten.‹ Da­durch schwin­det, wie mir scheint, je­der Zwei­fel, dass die­se Hand­schrift ein Ta­ci­tus war. Und um das Gan­ze zu­sam­men­zu­fas­sen, war das Sach­ver­hält­nis fol­gen­des: Zur Zeit der Re­for­ma­ti­on be­fand sich eine Hand­schrift des Ta­ci­tus im Klos­ter Rossau, der An­fang fehl­te. Es war eine alte Hand­schrift, sie war durch die Zeit und ihre Schick­sa­le für Mönchsau­gen fast un­les­bar ge­wor­den.«

»Es muss aber an dem Buch noch et­was Be­son­de­res ge­han­gen ha­ben,« un­ter­brach der Dok­tor, »denn der Mönch be­zeich­net es mit dem Aus­druck: un­ge­heu­er, wel­ches etwa un­serm Wort un­heim­lich ent­spricht.«

»So ist es,« be­stä­tig­te der Pro­fes­sor. »Man darf mut­ma­ßen, dass ent­we­der eine Klos­ter­sa­ge, die sich dran­ge­hef­tet hat­te, oder ein al­tes Ver­bot, das Buch zu le­sen, oder wahr­schein­li­cher eine un­ge­wöhn­li­che Be­schaf­fen­heit des De­ckels oder For­mats die­se Be­zeich­nung ver­ur­sacht hat. Die Hand­schrift ent­hielt bei­de Ge­schichts­wer­ke des Ta­ci­tus, wel­che durch fort­lau­fen­de Bü­cher­zahl ver­bun­den wa­ren. Und wir,« fuhr er fort und warf in der Auf­re­gung das Buch, wel­ches er in der Hand hielt, auf den Tisch, »wir be­sit­zen die­se Hand­schrift nicht mehr. Kei­nes von den bei­den Ge­schichts­wer­ken des großen Rö­mers ist uns voll­stän­dig er­hal­ten; uns fehlt, wenn wir die Lücken zu­sam­men­rech­nen, wohl mehr als die Hälf­te.«

Der Freund durch­schritt has­tig das Zim­mer. »Das ist eine von den Ent­de­ckun­gen, die das Blut schnel­ler in die Adern treibt. Da­hin und ver­lo­ren! Aber es über­läuft einen heiß, wenn man deut­lich emp­fin­det, dass so we­nig fehl­te, einen kost­ba­ren Schatz des Al­ter­tums für uns zu ret­ten. Er hat Völ­ker­mord, Brand und Zer­stö­rung von an­dert­halb Jahr­tau­sen­den über­dau­ert, er liegt noch zu der Zeit, wo das Mor­gen­rot der neu­en Bil­dung bei uns her­ein­bricht, glück­lich ver­bor­gen und un­be­ach­tet in ei­nem deut­schen Klos­ter, we­ni­ge Weg­stun­den von der großen Völ­ker­stra­ße, auf wel­cher die Hu­ma­nis­ten hin und her wan­dern, die Bil­der rö­mi­scher Herr­lich­keit im Haup­te, be­gie­rig nach je­der Über­lie­fe­rung aus der Rö­mer­zeit su­chend. Und kaum eine Ta­grei­se ent­fernt er­blü­hen Uni­ver­si­tä­ten, auf de­nen die Ju­gend sich be­geis­tert in la­tei­ni­schen Ver­sen und Pro­sa übt. Es lag so nahe, dass ir­gend­ein Mönch aus Rossau ei­nem Or­dens­bru­der da­von er­zähl­te, der die Kun­de nach Mainz oder Köln trug. Es scheint un­be­greif­lich, dass nicht ei­ner von den la­tei­ni­schen Schul­leh­rern, die sich da­mals über das gan­ze Land ver­brei­te­ten, Nach­richt von dem Bu­che er­hielt und den Brü­dern et­was von dem Wert ei­nes sol­chen Denk­mals sag­te. Und wie na­tür­lich war, dass der geist­li­che Herr, wel­cher die Obe­r­auf­sicht über das Klos­ter übte, von dem ge­heim­nis­vol­len Ban­de er­fuhr und neu­gie­rig die ver­bli­che­nen Blät­ter um­schlug. Selbst dann wäre doch eine Kun­de in die Welt ge­drun­gen und die Hand­schrift uns wahr­schein­lich ir­gend­wo er­hal­ten. Aber nichts von al­le­dem. Und im bes­ten Fall hat ein Zeit­ge­nos­se von Eras­mus und Me­lan­chthon, ein ar­mer hun­gern­der Mönch, die Hand­schrift an den Buch­bin­der ver­kauft, und ab­ge­schnit­te­ne Strei­fen kle­ben noch ir­gend­wo an al­ten Ein­bän­den. So­gar da­für ist die­se Nach­richt wich­tig. Das war eine schmerz­li­che Freu­de, die dir das klei­ne Buch be­rei­tet hat.«

Der Pro­fes­sor fass­te die Hand des Freun­des, die bei­den Män­ner sa­hen ei­ner dem an­dern in das treue Ge­sicht. »Neh­men wir an, der alte Erb­feind er­hal­te­ner Schät­ze, das Feu­er, habe auch die­se Hand­schrift ver­zehrt«, schloss der Dok­tor trau­rig. »Wir sind Kin­der, dass wir den Ver­lust emp­fin­den, als hät­ten wir ihn heut er­lit­ten.«

»Wer sagt uns, dass die Hand­schrift un­wie­der­bring­lich ver­lo­ren ist?«, ent­geg­ne­te der Pro­fes­sor in un­ter­drück­ter Be­we­gung. »Noch ein­mal set­ze dich vor das Buch, es weiß uns auch von den Schick­sa­len der Hand­schrift zu er­zäh­len.«

Der Dok­tor sprang an den Tisch und er­griff das Büch­lein von der hei­li­gen Hil­de­gard.

»Hier hin­ter dem Ver­zeich­nis,« sprach der Pro­fes­sor und wies auf die letz­te Sei­te des Bu­ches, »steht noch mehr.«

Der Dok­tor starr­te auf das Blatt, la­tei­ni­sche Buch­sta­ben ohne Sinn und Wortab­satz wa­ren in sie­ben Zei­len zu­sam­men­ge­schrie­ben, dar­un­ter stand ein Name: F. To­bi­as Bach­hu­ber.

»Ver­glei­che die­se Buch­sta­ben mit je­ner la­tei­ni­schen Be­mer­kung ne­ben dem Ti­tel der un­heim­li­chen Hand­schrift. Es ist un­zwei­fel­haft die­sel­be Hand, fes­te Züge des sieb­zehn­ten Jahr­hun­derts, hier das s, r, das f.«

»Es ist die­sel­be Hand,« rief der Dok­tor ver­gnügt.

»Die Buch­sta­ben ohne Sinn sind kind­li­che Ge­heim­schrift, wie man sie im sieb­zehn­ten Jahr­hun­dert übte. Die­se hier ist leicht zu lö­sen, je­der Buch­sta­be ist mit sei­nem fol­gen­den ver­tauscht. Auf einen Zet­tel habe ich die la­tei­ni­schen Wor­te des Tex­tes zu­sam­men­ge­stellt. Die Wor­te lau­ten auf deutsch: Beim Her­an­na­hen des wü­ten­den Schwe­den habe ich, um den ver­zeich­ne­ten Schatz un­se­res Klos­ters den Nach­stel­lun­gen des brül­len­den Teu­fels zu ent­zie­hen, dies al­les an ei­ner trock­nen und hoh­len Stel­le des Hau­ses Biel­stein nie­der­ge­legt. Am Tage Qua­si­mo­do­ge­ni­ti 37. Also am 19. April 1637. -- Was sagst du nun, Fritz? Es scheint doch, die Hand­schrift war bis in den Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg nicht ver­brannt, denn Fra­ter To­bi­as Bach­hu­ber -- sein An­den­ken sei ge­seg­net -- hat sie in die­ser Zeit noch ei­ner Be­trach­tung ge­wür­digt, und da er ihr in dem Ver­zeich­nis eine be­son­de­re An­mer­kung gönnt, wird er sie zu­ver­läs­sig bei der Flucht nicht zu­rück­ge­las­sen ha­ben. Die ge­heim­nis­vol­le Hand­schrift war also bis zum Jah­re 1637 im Klos­ter Rossau, und der Fra­ter hat sie im April die­ses Jah­res mit an­de­rer Habe in der hoh­len und tro­ckenen Stel­le des Schlos­ses Biel­stein vor Ba­ners Schwe­den ver­bor­gen.«

»Jetzt wird die Sa­che ernst,« rief der Dok­tor.

»Ja, es ist Ernst, mein Freund; nicht un­mög­lich, dass die Hand­schrift noch ir­gend­wo ver­bor­gen dau­ert.«

»Und Schloss Biel­stein?«

»Es liegt nahe bei dem Städt­chen Rossau. Das Klos­ter hat un­ter dem Schut­ze des geist­li­chen Schirm­herrn bis zum Drei­ßig­jäh­ri­gen Krie­ge in dürf­ti­gen Ver­hält­nis­sen fort­be­stan­den; im Jah­re 1637 wur­de Stadt und Klos­ter durch die Schwe­den ver­wüs­tet. Die letz­ten Mön­che ver­lo­ren sich, das Klos­ter wur­de nicht wie­der ein­ge­rich­tet. Das ist al­les, was ich zur Zeit er­fah­ren konn­te. Für das Wei­te­re er­bit­te ich dei­ne Hil­fe.«

»Die nächs­te Fra­ge ist, ob das Schloss den Krieg über­dau­ert hat,« ver­setz­te der Dok­tor, »und was bis jetzt dar­aus ge­wor­den. Schwe­rer wird zu er­mit­teln sein, wo Bru­der To­bi­as Bach­hu­ber ge­en­det hat, und am schwers­ten, durch wel­che Hän­de sein klei­nes Buch auf uns ge­kom­men ist.«

»Das Buch fand ich heut bei ei­nem hie­si­gen An­ti­quar, es war neu­er Er­werb und noch nicht in sein Ver­zeich­nis auf­ge­nom­men. Die wei­te­re Aus­kunft, wel­che der Ver­käu­fer etwa ge­ben kann, wer­de ich mor­gen ho­len. Es lohnt doch, nach­zu­fra­gen,« fuhr er küh­ler fort, be­müht, einen Strom ver­stän­di­ger Er­wä­gung über die auf­bren­nen­de Glut sei­ner Hoff­nun­gen zu lei­ten. »Seit je­ner ge­hei­men No­tiz des Fra­ters sind mehr als zwei­hun­dert Jah­re ver­flos­sen, die zer­stö­ren­den Kräf­te wa­ren in die­ser Zeit nicht we­ni­ger tä­tig als frü­her, vor an­dern Krieg und Raub der Jah­re, in de­nen das Klos­ter zu­grun­de ging. So sind wir zu­letzt nicht wei­ter, als wenn die Hand­schrift ei­ni­ge hun­dert Jah­re frü­her ver­lo­ren wäre.«

»Und doch steigt mit je­dem Jahr­hun­dert die Wahr­schein­lich­keit, dass die Hand­schrift bis zur Ge­gen­wart er­hal­ten ist,« warf der Dok­tor ein, »selbst wenn man für je­des Jahr­hun­dert eine glei­che Zahl von An­grif­fen auf das Be­ste­hen­de an­nimmt. Aber die Zahl der Men­schen, wel­che das Merk­wür­di­ge ei­nes sol­chen Fun­des ah­nen, ist seit je­nem Krie­ge so groß ge­wor­den, dass we­nigs­tens eine Zer­stö­rung durch rohe Un­wis­sen­heit fast un­denk­bar wird.«

»Wir dür­fen dar­in auch dem Wis­sen der Ge­gen­wart nicht zu viel ver­trau­en,« warf der Pro­fes­sor ein. »Wenn es aber wäre,« fuhr er auf, und sei­ne Au­gen strahl­ten, »wenn uns die Kai­ser­ge­schich­te des ers­ten Jahr­hun­derts, wie sie Ta­ci­tus ge­schrie­ben, durch ein güns­ti­ges Ge­schick zu­rück­ge­ge­ben wür­de, es wäre ein Ge­schenk, so groß, dass der Ge­dan­ke an die Mög­lich­keit einen ehr­li­chen Mann wohl be­rau­schen darf, wie rö­mi­scher Wein.«

»Un­schätz­bar,« be­stä­tig­te der Dok­tor, »für uns­re Kennt­nis der Spra­che, für hun­dert Ein­zel­hei­ten rö­mi­scher Ge­schich­te.«

»Für die äl­tes­te Ge­schich­te dei­ner Ger­ma­nen,« rief der Pro­fes­sor.

Bei­de ma­ßen wie­der mit schnel­len Schrit­ten die Stu­be, schüt­tel­ten ein­an­der die Hän­de und sa­hen ei­ner den an­dern fröh­lich an.

»Und wenn ein güns­ti­ger Zu­fall auf die­ser Spur zu der Hand­schrift lei­te­te,« be­gann Fritz, »wenn sie durch dich dem Ta­ges­licht zu­rück­ge­ge­ben wür­de, du, mein Freund, du bist auch der bes­te Mann, sie her­aus­zu­ge­ben. Der Ge­dan­ke, dass dei­nem Le­ben eine sol­che Freu­de und so ruhm­volle Ar­beit wer­den könn­te, macht mich glück­li­cher als ich sa­gen kann.«

»Fin­den wir die Hand­schrift,« ver­setz­te der Pro­fes­sor, »so kann sie nur von uns bei­den zu­sam­men her­aus­ge­ge­ben wer­den.«

»Von uns?«, frag­te Fritz ver­wun­dert.

»Von dir mit mir,« ent­schied der Pro­fes­sor, »das soll dei­ne Tüch­tig­keit in wei­te­ren Krei­sen be­kannt­ma­chen.«

Fritz trat zu­rück. »Wie kannst du glau­ben, dass ich so et­was an­neh­men wür­de?«

»Wi­der­sprich mir nicht,« rief der Pro­fes­sor, »du bist voll­kom­men da­für ge­eig­net.«

»Das bin ich nicht,« ver­setz­te Fritz fest, »und ich bin zu stolz, et­was zu un­ter­neh­men, wo­bei ich dei­ner Güte mehr ver­dank­te als mei­ner Kraft.«

»Das ist un­ge­schick­te Be­schei­den­heit,« rief der Pro­fes­sor wie­der.

»Ich wer­de es nie tun,« ent­geg­ne­te Fritz. »Du ver­leug­nest dein Zart­ge­fühl, wenn du nur einen Au­gen­blick dar­an denkst, dass ich mich vor dem Pub­li­kum mit frem­den Fe­dern schmücken könn­te.«

»Ich weiß bes­ser als du,« rief un­wil­lig der Pro­fes­sor, »was du ver­magst und was dir frommt.«

»Je­den­falls frommt mir nicht, dir, der du bei der Ar­beit selbst den Lö­wen­an­teil ha­ben wür­dest, den Lohn da­für heim­lich ab­zu­na­gen. Nicht mei­ne Be­schei­den­heit, son­dern mei­ne Selbst­schät­zung ver­bie­tet das. Und dies Ge­fühl sollst du eh­ren,« schloss Fritz mit großer Ener­gie.

»Nun,« lenk­te der Pro­fes­sor ein, die auf­lo­dern­de Emp­fin­dung bän­di­gend, »vor­läu­fig ge­bär­den wir uns wie der Mann, wel­cher Haus und Acker vom Er­lös ei­nes Kal­bes kauf­te, das ihm noch nicht ge­bo­ren war. Sei ru­hig, Fritz, nicht du, nicht ich wer­den die Hand­schrift her­aus­ge­ben.«

»Und nie­mals wer­den wir er­fah­ren, was rö­mi­sche Kai­ser an Thus­nel­da und Thu­me­li­cus ge­fre­velt ha­ben,« sag­te Fritz und trat wie­der teil­neh­mend zu dem Freun­de.

»Aber es sind doch nicht Ein­zel­hei­ten, wel­che uns den größ­ten Ge­winn bräch­ten,« be­gann der Pro­fes­sor ru­hi­ger, »und nicht, dass wir die­se miss­en, macht uns den Ver­lust der Hand­schrift emp­find­lich. Denn für die Haupt­sa­chen ver­sa­gen an­de­re Quel­len nicht. Das wich­tigs­te wäre im­mer, dass Ta­ci­tus der ers­te und in man­cher Hin­sicht der ein­zi­ge Ge­schichts­schrei­ber ist, der höchst auf­fal­len­de, un­heim­li­che Sei­ten der mensch­li­chen Na­tur dar­ge­stellt hat. Sei­ne Wer­ke sind uns zwei ge­schicht­li­che Tra­gö­di­en, Sze­nen des Ju­li­schen und des Fla­vi­schen Kaiser­hau­ses, marker­schüt­tern­de Bil­der der un­ge­heu­ren Um­wand­lung, wel­che durch ein Jahr­hun­dert der größ­te Staat des Al­ter­tums, die See­len der Ge­hor­chen­den, die Cha­rak­tere der Herr­scher er­fah­ren; die Ge­schich­te ei­ner Ty­ran­nen­herr­schaft, wel­che die edeln Ge­schlech­ter ver­tilgt, eine hohe und rei­che Bil­dung her­aus­treibt und verdirbt, vor al­lem die Herr­schen­den selbst mit we­ni­gen Aus­nah­men ent­mensch­licht. Wir ha­ben bis zur Ge­gen­wart kaum ein an­de­res Werk, des­sen Ver­fas­ser so spä­hend in die See­len ei­ner gan­zen Rei­he von Fürs­ten blickt, so scharf und ge­nau die Ver­wüs­tun­gen schil­dert, wel­che die dä­mo­ni­sche Krank­heit der Kö­ni­ge in den ver­schie­dens­ten Na­tu­ren her­vor­ge­bracht hat.«

»Mich hat im­mer ge­är­gert,« sag­te der Dok­tor, »wenn man ihm vor­warf, dass er zu­meist Kai­ser- und Hof­ge­schich­te ge­schrie­ben. Wer darf Trau­ben von ei­ner Zy­pres­se ver­lan­gen und be­hag­li­che Freu­de an dem groß­ar­ti­gen Staats­le­ben von ei­nem Man­ne, der durch einen großen Teil sei­nes Man­nes­al­ters täg­lich Mes­ser und Gift­be­cher ei­nes wahn­sin­ni­gen De­spo­ten vor sei­nen Au­gen sah.«

»Ja,« fuhr der Pro­fes­sor bei­stim­mend fort, »er ge­hör­te zu den Ari­sto­kra­ten, de­ren Häup­ter hoch über die Men­ge her­aus­ra­gen, eine Kör­per­schaft, un­fä­hig zum Re­gie­ren, un­wil­lig im Ge­hor­sam. In dem Ge­fühl ei­ner be­vor­zug­ten Stel­lung wa­ren sie die un­ent­behr­lichs­ten Die­ner, die stil­len Fein­de und Ri­va­len der Fürs­ten, in ih­nen bil­de­ten sich die Tu­gen­den und Las­ter ei­ner ge­wal­ti­gen Zeit zu un­ge­heu­ern Er­schei­nun­gen. Wer soll­te die Ge­schich­te rö­mi­scher Fürs­ten schrei­ben als ein Mann aus die­sem Krei­se? Durch Palas­tin­tri­gen und stil­len Ein­fluss dunk­ler Ne­ben­ge­stal­ten ent­wi­ckeln sich die Tat­sa­chen, die schwär­zes­te Mis­se­tat ver­birgt sich hin­ter den stei­ner­nen Wän­den des Palas­tes, das Gerücht, das lei­se Ge­mur­mel des Vor­zim­mers, der lau­ern­de Blick ver­steck­ten Has­ses sind oft die ein­zi­gen Quel­len des Ge­schichts­schrei­bers. Uns bleibt vor sol­cher Zeit nichts üb­rig, als be­schei­den das Ur­teil des Man­nes zu schät­zen, der uns von die­sen fremd­ar­ti­gen Zu­stän­den Kun­de über­lie­fert hat. Wer die er­hal­te­nen Bruch­stücke des Ta­ci­tus ehr­lich und ge­scheit be­trach­tet, der wird sei­nen si­chern Blick in die tiefs­ten Fal­ten ei­nes rö­mi­schen Ge­mü­tes be­wun­dernd eh­ren. Es ist ein er­fah­re­ner Staats­mann, ein kräf­ti­ger und wahr­haf­ter Geist, der uns die ge­hei­me Ge­schich­te sei­ner Zeit so er­zählt, dass wir die Men­schen und all ihr Tun ver­ste­hen, als ob wir selbst Ge­le­gen­heit hät­ten, ih­nen in das Herz zu se­hen. Wer das ver­mag für spä­te­re Jahr­tau­sen­de, der ist nicht nur ein großer Ge­schichts­schrei­ber, er ist auch ein be­deu­ten­der Mensch. Und vor sol­cher Ge­stalt habe ich im­mer eine tief­herz­li­che Ehr­furcht emp­fun­den, und ich hal­te für eine Pf­licht erns­ter Kri­tik, das Mä­keln der Klei­nen von sol­chem Bil­de fern­zu­hal­ten.«

»Schwer­lich hat ei­ner sei­ner Zeit­ge­nos­sen,« be­stä­tig­te der Dok­tor, »so tief die Schwä­chen der ei­ge­nen Zeit­bil­dung ge­fühlt als er. Im­mer hat mich ge­rührt, wie er das Schwerflüs­si­ge sei­ner Spra­che, das Viel­deu­ti­ge des Aus­drucks mit der Scheu und Vor­sicht ent­schul­digt, wel­che un­ter der Herr­schaft des Scheu­sals Do­mi­ti­an auch in die See­len der Bes­ten ge­schla­gen wur­den.«

»Ja,« schloss der Pro­fes­sor, »er ist ein Mann, so­weit das in sei­ner Zeit noch mög­lich war, und das ist zu­letzt die Haupt­sa­che. Denn was uns am meis­ten för­dert, ist doch nicht die Sum­me des Wis­sens, die wir ei­nem großen Man­ne ver­dan­ken, son­dern sei­ne ei­ge­ne Per­sön­lich­keit, die durch das, was er für uns ge­schaf­fen, ein Teil un­se­res ei­ge­nen We­sens wird. Der Geist des Ari­sto­te­les ist für uns noch et­was an­de­res als die Sum­me sei­ner Leh­ren, wel­che wir aus den er­hal­te­nen Bü­chern zu­sam­men­su­chen. Und So­pho­kles be­deu­tet uns et­was ganz an­de­res als sie­ben er­hal­te­ne Tra­gö­di­en. Die Art, wie er dach­te, fühl­te, das Schö­ne emp­fand, das Gute woll­te, die soll ein Stück von un­se­rem Le­ben wer­den. Da­durch vor al­lem wirkt das Wis­sen aus ver­gan­ge­ner Zeit be­fruch­tend auf un­ser Sein und Wol­len. In die­sem Sin­ne ist auch die schwer­mü­ti­ge, trau­er­vol­le See­le des Ta­ci­tus für mich weit mehr als selbst sei­ne Schil­de­run­gen des Kai­ser­wahn­sinns. -- Sieh, Fritz, und des­halb sind mir dein Sans­krit und dei­ne In­der nicht recht, ih­nen feh­len die Män­ner.«

»Sie sind we­nigs­tens für uns schwer er­kenn­bar,« er­wi­der­te der Freund. »Aber wer, wie du, die Ho­me­ri­schen Ge­sän­ge den Stu­den­ten er­klärt, der darf nicht ver­ken­nen, wel­cher Reiz dar­in liegt, in die ge­heim­nis­volls­ten Tie­fen des mensch­li­chen Schaf­fens hin­ab­zu­stei­gen, in die Pe­ri­ode der Mensch­heit, wo noch die jun­ge Volks­kraft den ein­zel­nen, wel­cher in ihr ar­bei­tet, un­serm Bli­cke ver­deckt, und das Volk selbst in Poe­sie, Sage, Recht, wie im Ein­zel­we­sen Le­ben­di­ges ge­stal­tend, vor uns tritt.«

»Wer sich nur da­mit be­schäf­tigt,« ver­setz­te der Pro­fes­sor eif­rig, »der wird leicht phan­tas­tisch und weich. Das Stu­di­um sol­cher Ur­zei­ten wirkt wie ori­en­ta­li­scher Mohn­saft. Die Ar­beit un­ter die­sen schil­lern­den, un­deut­li­chen Ge­bil­den, wel­che im Dun­kel auf­leuch­ten und wie­der ver­schwin­den, ver­führt zu un­ge­re­gel­tem Kom­bi­nie­ren; wer sein Leb­tag dar­über ver­weilt, wird auch in den Ge­sichts­punk­ten, durch die er sein ei­ge­nes Le­ben be­stimmt, schwer­lich Will­kür fern­hal­ten.«

Fritz stand auf. »Das ist un­ser al­ter Streit. Ich weiß, du willst mir nichts Har­tes sa­gen, aber ich emp­fin­de, dass du da­bei an mich denkst.«

»Und habe ich un­recht?«, fuhr der Pro­fes­sor fort, »wahr­lich ich habe Re­spekt vor je­der geis­ti­gen Ar­beit, aber mei­nem Freund möch­te ich die gön­nen, wel­che für ihn am se­gens­reichs­ten ist. Dein Su­chen im in­di­schen Göt­ter­glau­ben und deut­scher My­tho­lo­gie lockt dich von ei­nem Rät­sel zu dem an­dern; in dem end­lo­sen Ge­biet von un­kla­ren An­schau­un­gen und Bil­dern un­ter we­sen­lo­sen Schat­ten soll eine jun­ge Kraft nicht im­mer wei­len. Zwin­ge dich zu ei­nem Ab­schluss. Auch aus äu­ßern Grün­den. Es taugt dir nicht, Pri­vat­ge­lehr­ter zu sein, das Le­ben ist zu be­quem, der äu­ße­re Zwang, ein be­stimm­tes Ge­biet von Pf­lich­ten feh­len dir. Du hast meh­re­re von den bes­ten Ei­gen­schaf­ten ei­nes Leh­rers. Sit­ze nicht im Hau­se der El­tern, du musst Uni­ver­si­täts­leh­rer wer­den.«

Dem Freun­de stieg eine dunkle Röte lang­sam über die Wan­gen. »Es ist ge­nug,« rief er ge­kränkt, »wenn ich zu we­nig an mei­ne Zu­kunft ge­dacht habe, du sollst mir dar­über kei­ne Vor­wür­fe ma­chen. Es war mir viel­leicht zu große Freu­de, an dei­ner Sei­te zu le­ben und der stil­le Ver­trau­te dei­ner kräf­ti­gen Ar­beit zu sein. Et­was von dem Se­gen, den das Le­ben ei­nes Man­nes al­len mit­teilt, die an sei­nem geis­ti­gen Schaf­fen teil­neh­men, habe ich in dei­ner Nähe doch auch emp­fun­den. Gute Nacht.«

Der Pro­fes­sor ging auf ihn zu und fass­te sei­ne bei­den Hän­de. »Blei­be,« rief er, »bist du mir böse?«

»Nein,« er­wi­der­te Fritz, »aber ich gehe.« Er schloss lei­se die Tür.

Der Pro­fes­sor ging mit star­ken Schrit­ten auf und ab, mach­te sich Vor­wür­fe über sei­ne Hef­tig­keit und sorg­te um die Stim­mung des Freun­des. End­lich warf er die Bü­cher, wel­che Te­le­gra­fen­diens­te ver­rich­tet hat­ten, hef­tig auf die Bret­ter zu­rück und trat wie­der an den Ar­beit­s­tisch.

Ga­bri­el leuch­te­te dem Dok­tor die Trep­pe hin­ab, öff­ne­te die Haus­tür und schüt­tel­te den Kopf, als sein Nacht­gruß bei dem Herrn nur kur­ze Er­wi­de­rung fand. Er lösch­te das Licht und horch­te nach dem Zim­mer sei­nes Herrn. Als er die Schrit­te des Pro­fes­sors hör­te, ent­schloss er sich, noch ei­ni­ge Züge lau­er Abend­luft zu schöp­fen und stieg in den klei­nen Haus­gar­ten. Dort stieß er auf den Haus­be­sit­zer Herrn Hum­mel, wel­cher wahr­schein­lich in der­sel­ben Ab­sicht un­ter den Fens­tern des Pro­fes­sors spa­zier­te. Herr Hum­mel war ein breit­schult­ri­ger Mann mit ei­nem großen Kop­fe und ei­gen­sin­ni­gem Ge­sicht, wohl­hä­big und gut er­hal­ten, von ehr­ba­rem und alt­frän­ki­schem An­strich. Er rauch­te aus sei­ner lan­gen Pfei­fe mit ei­ner sehr di­cken Spit­ze, an wel­cher eine Rei­he klei­ner Kirch­turms­knöp­fe hin­ter­ein­an­der stand.

»Ein schö­ner Abend, Ga­bri­el,« be­gann Herr Hum­mel, »ein gu­tes Jahr, das wird eine Ern­te!« Er stieß den Die­ner ver­trau­lich an: »Da oben hat’s heut et­was ge­ge­ben, das Fens­ter stand of­fen. Nicht dass ich hor­chen woll­te, aber ich muss­te so man­ches ver­neh­men, Ga­bri­el!«, schloss er be­deut­sam und be­weg­te miss­bil­li­gend sei­nen Haus­be­sit­zer­kopf.

»Er hat wie­der das Fens­ter auf­ge­macht,« ver­setz­te Ga­bri­el aus­wei­chend. »Die Fle­der­maus und die Mot­te wer­den bei der frei­en Aus­sicht zu­dring­lich, und wenn er mit dem Dok­tor dis­ku­tiert, sind bei­de manch­mal so laut, dass die Leu­te auf der Stra­ße ste­hen blei­ben und zu­hö­ren.«

»Ver­schluss ist im­mer gut,« be­stä­tig­te Herr Hum­mel. »Was hat’s denn ei­gent­lich ge­ge­ben? Der Dok­tor ist der Sohn von da drü­ben, und Sie ken­nen mei­ne Mei­nung, Ga­bri­el, ich traue nicht. Ich will nie­man­dem zu nahe tre­ten, aber was von je­nem Hau­se kommt, dar­über habe ich so mei­ne An­sich­ten.«

»Wor­über es ging?«, ant­wor­te­te Ga­bri­el, »ich hab’s nicht ge­hört, aber das kann ich Ih­nen ge­nau sa­gen, es ging über die al­ten Rö­mer. Se­hen Sie, Herr Hum­mel, wenn wir die al­ten Rö­mer hät­ten, so wäre vie­les bei uns an­ders. Das wa­ren Ei­sen­bei­ßer, die ver­stan­den zu fu­ra­gie­ren. Sie führ­ten Krieg, sie er­ober­ten hier und dort.«

»Sie spre­chen ja wie ein Mord­bren­ner,« sag­te Herr Hum­mel miss­bil­li­gend.

»Ja, sie ta­ten es nicht an­ders,« er­wi­der­te Ga­bri­el selbst­zu­frie­den, »sie wa­ren ein ei­gen­nüt­zi­ges Volk und hat­ten Haa­re auf den Zäh­nen wie die Igel. Und was am wun­der­bars­ten ist, wie viel Bü­cher die­se Rö­mer bei al­le­dem ge­schrie­ben ha­ben. Klei­ne und große, vie­le auch in Fo­lio. Wenn ich die Biblio­thek ab­stäu­be, nimmt es mit den Rö­mern kein Ende, jede Art von Ka­li­ber, und man­che sind di­cker als die Bi­bel. Nur sind alle schwer zu le­sen, wer aber die Spra­che ver­steht, er­fährt vie­les.«

»Die Rö­mer sind ein ab­ge­stor­be­nes Volk,« ver­setz­te Herr Hum­mel, »als es mit ih­nen zu Ende ging, ka­men die Deut­schen. Der Rö­mer wür­de es bei uns nie­mals tun. Das ein­zi­ge, was uns hel­fen kann, ist die Han­sa. Das ist die Ein­rich­tung. Mäch­tig zur See, Ga­bri­el,« rief er und schüt­tel­te den Rock des­sel­ben an ei­nem Knop­fe, »die Städ­te müs­sen es un­ter­neh­men, Bünd­nis­se, Ka­pi­tal­auf­nah­me, denn Han­del ist da, Kre­dit ist da, an Men­schen fehl­t’s nicht. Schif­fe bau­en, Flag­gen auf­his­sen.«

»Und wol­len Sie mit Ihrem Kah­ne auf das große Meer?«, frag­te Ga­bri­el und wies mit der Hand auf einen klei­nen Kahn, der an der hin­tern Sei­te des Gar­tens um­ge­stülpt auf zwei Höl­zern lag. »Soll ich mit mei­nem Pro­fes­sor auf die See ge­hen?«

»Da­von ist nicht die Rede,« ver­setz­te Herr Hum­mel, »aber die jun­gen Leu­te, wel­che zu­vör­derst un­nütz sind. Man­cher könn­te et­was Bes­se­res tun, als bei sei­nen El­tern zu Hau­se sit­zen. Wa­rum soll Ihr Dok­tor von drü­ben nicht als Ma­tro­se fürs Va­ter­land mit­ge­hen?«

»Ich bit­te Sie, Herr Hum­mel,« rief Ga­bri­el er­schro­cken, »der jun­ge Herr? Er hat ja ein kur­z­es Ge­sicht.«

»Tut nichts,« brumm­te Hum­mel, »da­für gib­t’s auf der See Fern­röh­re, und er kann’s ja mei­net­we­gen bis zum Ka­pi­tän brin­gen. Ich bin nicht der Mann, der sei­nem Nächs­ten et­was Bö­ses wünscht.«

»Er ist ein Ge­lehr­ter,« ent­geg­ne­te Ga­bri­el, »und die­ser Stand ist auch nö­tig. Ich ver­si­che­re Sie, Herr Hum­mel, ich habe über das ge­lehr­te We­sen nach­ge­dacht, ich ken­ne mei­nen Pro­fes­sor ge­nau und zu­wei­len den Dok­tor, und ich muss sa­gen, es ist et­was an der Sa­che, es ist viel dar­an. Manch­mal bin ich zwei­fel­haft. Wenn der Schnei­der den neu­en Rock bringt, merkt so ei­ner nicht, was je­der­mann weiß, ob ihm der Rock sitzt oder ob auf dem Rücken Fal­ten sind. Wenn er auf den Ein­fall kommt, von ei­nem Bau­er eine Fuh­re Holz zu kau­fen, die viel­leicht doch nur ge­stoh­len ist, so be­zahlt er hin­ter mei­nem Rücken das Holz viel teu­rer als je­der Mensch. Und wenn er un­ver­se­hens är­ger­lich wird und sich strei­tet über Din­ge, die wir bei­de ru­hig mit­ein­an­der be­spre­chen, so wird mir die Sa­che zwei­fel­haft. Wenn ich aber dann sehe, wie er sonst ist, barm­her­zig und freund­lich so­gar ge­gen die Flie­gen, die um sei­ne Nase tan­zen -- denn er holt sie mit dem Löf­fel aus dem Kaf­fee und setzt sie drau­ßen aufs Fens­ter­brett -- und wie er al­ler Welt das Bes­te gön­nen möch­te, und wie er sich sel­ber gar nichts gönnt und noch tief in der Nacht liest und schreibt, so wird mir sei­ne gan­ze Ge­schich­te ge­wal­tig. Und ich sage Ih­nen, ich las­se nichts auf die Ge­lehr­ten kom­men. Sie sind an­ders als wir, sie ver­ste­hen nicht, was un­serei­ner ver­steht. Aber wir ver­ste­hen nicht, was sie ver­ste­hen.«

»Nun, man hat auch sei­ne Bil­dung,« ver­setz­te Herr Hum­mel. »Was Sie sa­gen, Ga­bri­el, ha­ben Sie als ein acht­ba­rer Mensch ge­spro­chen, aber das eine will ich Ih­nen an­ver­trau­en, man kann eine große Wis­sen­schaft ha­ben und ein recht hart­her­zi­ges Sub­jekt vor­stel­len, das sein Geld auf Wu­cher­zin­sen gibt und sei­nen gu­ten Freun­den die Ehre ab­schnei­det. Und des­we­gen mei­ne ich: die Haupt­sa­che ist Ord­nung und Gren­ze und sei­nen Nach­kom­men et­was hin­ter­las­sen. Ord­nung hier,« er wies auf sei­ne Brust, »und Gren­ze dort,« er wies auf sei­nen Zaun, »dass man si­cher weiß, was ei­nem selbst ge­bührt und was den an­dern ge­hört. Und für die Kin­der ein fes­tes Ei­gen­tum, auf dem sie sit­zen; dann mö­gen die­se wie­der für ihre Kin­der sor­gen. Das ist, was ich un­ter Men­schen­le­ben ver­ste­he.«

Der Haus­herr ver­schloss die Tür des Zau­nes und die Tür des Hau­ses, auch Ga­bri­el such­te sein La­ger, aber noch lan­ge brann­te die Lam­pe in der Ar­beits­stu­be des Pro­fes­sors, und ihre Strah­len kreuz­ten sich an der Fens­ter­brüs­tung mit dem blei­chen Schein des Mon­des. End­lich ver­losch die Leuch­te des Ge­lehr­ten, das Zim­mer stand leer; drau­ßen am Him­mel fuh­ren klei­ne Wol­ken an der Mond­schei­be vor­über, und dämm­ri­ge Lich­ter tanz­ten jetzt als Be­herr­scher der Stu­be über den Schreib­tisch, über die Wer­ke der al­ten Rö­mer und über das Büch­lein des se­li­gen Fra­ter To­bi­as.

Zweites Kapitel -- Die feindlichen Nachbarn

In künf­ti­gen Zei­ten wird, wie man hört, auf dem Erd­ball ei­tel Freu­de und Lie­be sein. Die Mensch­heit wird in was­ser­grü­nem und him­melblau­em Ge­wan­de ein­her­ge­hen, San­da­len an den Fü­ßen und Palm­zwei­ge in der Hand, um den letz­ten Hass und der letz­ten Bos­heit Salz auf den Schwanz zu streu­en und die­se Nacht­vö­gel für das große Mu­se­um der Zu­kunft aus­zu­stop­fen. Bei sol­cher Jagd wird man fin­den, dass das letz­te Nest der Un­hol­de zwi­schen den Wän­den zwei­er Nach­bar­häu­ser hängt. Denn zwi­schen Nach­bar und Nach­bar nis­ten sie, seit der Re­gen vom Dach des einen Hau­ses in den Hof des an­dern rie­selt, seit der Son­nen­strahl durch eine Haus­mau­er der an­dern vor­ent­hal­ten wird, seit Kin­der die Hän­de durch den Zaun ste­cken, um Bee­ren zu na­schen, seit der Haus­herr nicht ab­ge­neigt ist, sich selbst für bes­ser zu hal­ten als sei­ne Mit­menschen. Und es gab zu un­sern Ta­gen we­nig Ge­bäu­de im Lan­de, zwi­schen de­nen Wi­der­wil­le und feind­li­che Kri­tik so arg wirt­schaf­te­ten als zwi­schen den bei­den Häu­sern am großen Stadt­park.

Vie­le er­in­nern sich der Zeit, wo die Häu­ser der Stadt noch gar nicht bis an den wal­di­gen Tal­grund reich­ten. Da­mals hat­te die Tal­gas­se nur we­ni­ge klei­ne Men­schen­woh­nun­gen, da­hin­ter lag ein wüs­ter Raum, Frau Knips, die Wä­sche­rin, trock­ne­te dort Bür­ger­hem­den und ihre bei­den un­ar­ti­gen Jun­gen war­fen ein­an­der mit Holz­klam­mern. Da hat­te Herr Hum­mel einen Tro­cken­platz am letz­ten Ende der Stra­ße ge­kauft und hat­te dar­auf sein schö­nes Haus ge­baut in zwei Stock­wer­ken mit stei­ner­nen Stu­fen und ei­ser­nem Git­ter, und da­hin­ter ein ein­fa­ches Ar­beits­haus für sein Ge­schäft, denn er war Hut­fa­bri­kant und trieb die Sa­che sehr ins Gro­ße. Und wenn er aus sei­nem Hau­se trat und die Vor­sprün­ge des Da­ches und die Gipsa­ra­bes­ken un­ter den Fens­tern mus­ternd über­schau­te, so sah er von al­len Sei­ten Licht und Luft und freie Na­tur und emp­fand sich als den vor­ders­ten Pfei­ler der Zi­vi­li­sa­ti­on ge­gen den Ur­wald.

Da be­geg­ne­te ihm, was man­chem Pio­ni­er der Wild­nis die Ruhe stört: sein Bei­spiel fand Nach­ah­mung. An ei­nem fins­tern Mor­gen des März kam ein Wa­gen mit al­ten Bret­tern an den Wä­sche­platz ge­fah­ren, der ihm ge­gen­über lag, schnell wur­de ein Plan­ken­zaun zu­sam­men­ge­schla­gen, Ta­ge­löh­ner mit Haue und Hand­kar­ren be­gan­nen Grund zu gra­ben. Das war ein har­ter Schlag für Herrn Hum­mel. Aber sein Leid wur­de grö­ßer. Als er zor­nig über die Stra­ße schritt und den Mau­rer­meis­ter nach dem Na­men des Man­nes frag­te, der ge­gen Licht und Ruhm sei­nes Hau­ses feind­lich ar­bei­ten ließ, da er­fuhr er, dass sein künf­ti­ger Nach­bar der Fa­bri­kant Hahn sein soll­te. Von al­len Men­schen auf der Welt war die­ser der größ­te Tort, den ihm das Schick­sal an­tun konn­te. Nicht ei­gent­lich als Bür­ger be­trach­tet, er war nicht un­re­pu­tier­lich, es ließ sich ge­gen die Fa­mi­lie nichts Schwe­res ein­wen­den, aber er war Hum­mels na­tür­li­cher Geg­ner, denn das Ge­schäft des neu­en An­sied­lers be­weg­te sich auch um Hüte, und zwar um Stroh­hü­te. Die­sen leich­ten Plun­der zu ver­fer­ti­gen ist nie für eine erns­te Män­ner­ar­beit ge­hal­ten wor­den, es war nie ein zünf­ti­ges Hand­werk, es hat nie das Recht ge­habt, Lehr­lin­ge frei­zu­spre­chen, es ist sonst nur von ita­lie­ni­schen Bau­ern be­trie­ben wor­den, es hat sich als eine Neue­rung mit an­dern schlech­ten Sit­ten erst spät in der Welt ver­brei­tet, es ist im Grun­de gar kein Ge­schäft, man kauft Stroh­bän­der und lässt sie durch zu­sam­men­ge­lau­fe­ne Mäd­chen im Wo­chen­lohn an­ein­an­der­nä­hen. Und es be­steht eine alte Feind­schaft zwi­schen Filz­hut und Stroh­hut. Der Filz­hut ist eine his­to­ri­sche Macht, durch Jahr­tau­sen­de ge­hei­ligt, nur die Müt­ze dul­de­te er ne­ben sich, als ge­mei­ne Ein­rich­tung für Wer­kel­ta­ge. Da er­hob der Stroh­hut sei­ne An­ma­ßun­gen ge­gen ver­brief­tes Recht und be­an­spruch­te frech die Hälf­te des Jah­res. Seit der Zeit schwan­ken die Waag­scha­len des ir­di­schen Bei­falls zwi­schen die­sen bei­den At­tri­bu­ten des Men­schen­ge­schlechts. Wenn der un­s­te­te Sinn der Sterb­li­chen nach dem Stroh zu­schwankt, bleibt der schöns­te Filz, Fel­bel, Sei­de und Pap­pe un­be­ach­tet stehn, von der Luft aus­ge­zo­gen, von Mot­ten zer­bis­sen. Hin­wie­der­um wenn die Nei­gun­gen der Men­schen nach dem Filz hin­flu­ten, trägt al­les Ge­bor­ne, Frau­en, Kin­der und Kin­der­mäd­chen, klei­ne Män­ner­hü­te, dann liegt das Stroh kläg­lich, kein Herz schlägt da­für und die Haus­maus nis­tet in dem schöns­ten Ge­flecht.

Das war für Herrn Hum­mel ein star­ker Grund zum Zorn. Aber es wur­de noch är­ger. Er sah täg­lich, wie das feind­li­che Haus aus dem Bo­den wuchs, er be­ob­ach­te­te die Gerüs­te, die auf­stei­gen­den Mau­ern, die Zie­ra­ten der Ge­sim­se, die Fens­ter­rei­hen, -- es war zwei Fens­ter län­ger als sein Haus. Das Erd­ge­schoss hob sich in die Höhe, ein zwei­ter Stock, zu­letzt gar ein drit­ter -- alle Fa­bri­kräu­me des Stroh­manns wur­den dem Wohn­haus ein­ver­leibt. Das Haus des Herrn Hum­mel war zu ei­nem un­be­deu­ten­den Din­ge her­ab­ge­drückt. Da schritt er zu sei­nem Ad­vo­ka­ten und for­der­te Ra­che we­gen ent­zo­ge­nem Licht und ver­schlech­ter­ter Aus­sicht. Na­tür­lich zuck­te die­ser die Ach­seln. Das Recht Häu­ser zu bau­en ge­hör­te zu den Grund­rech­ten der Mensch­heit, es war auch ge­mei­nes deut­sches Her­kom­men in Häu­sern zu le­ben, und es war vor­aus­sicht­lich hoff­nungs­los zu be­an­tra­gen, dass Hahn auf sei­nem Grund­stück nur ein. Lein­wand­zelt er­rich­ten dür­fe. So war durch­aus nichts zu tun als sich mit Ge­duld zu fü­gen, und Herr Hum­mel hät­te sich das selbst sa­gen sol­len.

Seit­dem wa­ren Jah­re ver­gan­gen. Zu der­sel­ben Stun­de ver­gol­de­te das Son­nen­licht die Park­sei­te der bei­den Häu­ser, statt­lich und be­wohnt stan­den sie da, bei­de ge­füllt mit Men­schen, wel­che täg­lich an­ein­an­der vor­bei­gin­gen. Zu der­sel­ben Stun­de trat der Brief­trä­ger über bei­de Tür­schwel­len, die Tau­ben flo­gen von dem einen Dach auf das an­de­re, die Sper­lin­ge an den bei­den Haus­rin­nen tra­ten in die ge­müt­lichs­ten Be­zie­hun­gen; um das eine Haus roch es zu­wei­len ein we­nig nach Schwe­fel, um das an­de­re nach ver­seng­ten Haa­ren, aber der­sel­be Som­mer­wind trieb vom Wal­de den Harz­ge­ruch und den Duft der Lin­den­blü­ten durch bei­de Hau­stü­ren. Und doch, die tie­fe Ab­nei­gung der bei­den Häu­ser hat­te sich nicht ver­rin­gert. Das Haus Hahn emp­fand einen Wi­der­wil­len ge­gen ver­seng­te Haa­re, und die Fa­mi­lie Hum­mel hus­te­te in ih­rem Gar­ten zor­nig, so­oft eine Spur von Schwe­fel in dem Sau­er­stoff der Luft ge­arg­wöhnt wur­de.

Zwar wur­de das an­stän­di­ge Ver­hal­ten zu der Nach­bar­schaft nicht ganz mit Fü­ßen ge­tre­ten, wenn auch der Filz eine Nei­gung zu bär­bei­ßi­gem Ver­hal­ten hat­te, das Stroh war bieg­sa­mer und be­wies in meh­re­ren Fäl­len sei­ne Nach­gie­big­keit. Bei­de Haus­her­ren hat­ten eine be­kann­te Fa­mi­lie, in wel­cher sie zu­wei­len zu­sam­men­tra­fen, ja bei­de hat­ten ein­mal vor dem­sel­ben Täuf­ling ge­stan­den und dar­auf ge­ach­tet, dass ei­ner nicht we­ni­ger Pa­ten­geld gab als der an­de­re. Des­halb ent­stand ein un­ver­meid­li­ches Grü­ßen, so oft man ihm nicht aus dem Wege ge­hen konn­te. Aber da­bei blieb es. Zwi­schen dem Markt­hel­fer, wel­cher die Stroh­hü­te schwe­fel­te, und den Ar­bei­tern, wel­che über den Ha­sen­haa­ren wal­te­ten, be­stand glü­hen­der Hass. Und die klei­nen Leu­te, wel­che in den nächs­ten Häu­sern der Stra­ße wohn­ten, wuss­ten das und ta­ten red­lich das Ihre, um das be­ste­hen­de Ver­hält­nis auf­recht zu er­hal­ten. Auch konn­te in der Tat das We­sen der bei­den Haus­her­ren schwer­lich zu­sam­men­stim­men. Der Dia­lekt war ver­schie­den, die Bil­dung hat­te einen an­dern Strich, was der eine an Leib­ge­rich­ten und an­dern Ein­rich­tun­gen des Le­bens lob­te, miss­fiel dem an­dern; Hum­mel war aus ei­nem Baum­stamm des nörd­li­chen Deutsch­land an das Licht ge­flo­gen, Hahn aus ei­ner klei­nen Stadt in der Nähe her­zu­ge­flat­tert.

Wenn Herr Hum­mel von sei­nem Nach­bar Hahn sprach, so nann­te er ihn das Stroh­feu­er und den Phan­tas­ten. Herr Hahn war ein sin­ni­ger Mann, still und flei­ßig über sei­nem Ge­schäft, in den Frei­stun­den aber er­gab er sich aus­fal­len­den Lieb­ha­be­rei­en. Un­leug­bar wa­ren die­se dar­auf be­rech­net, dem wan­deln­den Pub­li­kum, wel­ches zwi­schen den bei­den Häu­sern nach der Wald­wie­se und den grü­nen Bäu­men hin­aus­zog, einen gu­ten Ein­druck zu ma­chen. In dem klei­nen Gar­ten hat­te er nach­ein­an­der die meis­ten Er­fin­dun­gen ge­häuft, durch wel­che mo­der­ne Gar­ten­kunst die Erde ver­schö­nert. Zwi­schen den drei Flie­der­bü­schen er­hob sich ein Fel­sen aus Tuff­stein ge­mau­ert mit schma­lem und stei­lem Pfa­de zur Höhe, dass nur fes­te Berg­stei­ger ohne Al­pen­stock die Ex­pe­di­ti­on nach dem Gip­fel wa­gen konn­ten, auch sie in Ge­fahr, mit der Nase in den za­cki­gen Tuff­stein zu fal­len. Im nächs­ten Jah­re wur­den, nahe am Git­ter­zaun, in kur­z­en Ent­fer­nun­gen Stan­gen er­rich­tet, an de­nen Sch­ling­ge­wäch­se hin­auf­lie­fen; zwi­schen je zwei Stan­gen hing eine bun­te Glas­lam­pe. Wenn die Lam­pen­rei­he an fest­li­chen Aben­den an­ge­zün­det war, warf sie einen ma­gi­schen Glanz auf die Stroh­hü­te, wel­che un­ter dem Flie­der­busch zu­sam­mensa­ßen und die Ur­tei­le der Vor­über­ge­hen­den ein­sam­mel­ten. Den Glas­ku­geln folg­te das Jahr der Pa­pier­la­ter­nen. Wie­der im nächs­ten Jah­re er­hielt der Gar­ten ein an­tikes Aus­se­hen, denn eine wei­ße Muse glänz­te, von Efeu und blü­hen­dem Lack um­ge­ben, bis weit in den Wald hin­ein.

Ge­gen­über sol­cher Neue­rungs­sucht hielt Herr Hum­mel fest an sei­ner Vor­lie­be fürs Was­ser. An der Hin­ter­sei­te sei­nes Hau­ses zog sich eine schma­le Was­sera­der nach der Stadt. All­jähr­lich wur­de sein Kahn mit der­sel­ben grü­nen Öl­far­be an­ge­stri­chen, er setz­te sich in sei­nen Frei­stun­den am liebs­ten al­lein in den Kahn und ru­der­te sich ein we­nig auf den Häu­sern in den Park, nahm sei­ne An­gel zur Hand und er­gab sich dem Ver­gnü­gen, Weiß­fi­sche und an­de­res klei­nes Was­ser­volk zu fan­gen.

Ohne Zwei­fel war das Haus Hum­mel le­gi­ti­mer, das heißt ei­gen­sin­ni­ger, wun­der­li­cher, schwe­rer zu be­han­deln. Von al­len Haus­frau­en der Stra­ße er­hob Frau Hum­mel die größ­ten An­sprü­che, durch sei­de­ne Klei­der, durch eine gol­de­ne Uhr an gol­de­ner Ket­te. Sie war eine klei­ne Dame mit blon­den Lo­cken, im­mer noch recht hübsch, sie war im Thea­ter abon­niert, ge­bil­det und zart­füh­lend und konn­te sehr böse wer­den. Sie sah aus, als wenn sie sich aus nichts et­was ma­che, aber sie wuss­te al­les, was auf der Stra­ße vor­ging. Nur den ei­ge­nen Gat­ten ver­moch­te ihre Re­gie­rungs­kraft nicht im­mer zu be­wäl­ti­gen. Doch be­wies Herr Hum­mel, ty­ran­nisch ge­gen alle Welt, sei­ner Frau große Rück­sicht. Wenn sie ihm im Hau­se zu stark wur­de, ging er still­schwei­gend in den Gar­ten, und wenn sie ihm auch da­hin folg­te, ver­schanz­te er sich in der Fa­brik hin­ter ei­nem Boll­werk von Haa­ren.

Aber auch Frau Hum­mel war ei­ner hö­he­ren Ge­walt un­ter­wor­fen, und die­se Macht übte ihr Töch­ter­chen Lau­ra. Von meh­re­ren Kin­dern war ihr nur dies eine ge­blie­ben, alle Zärt­lich­keit und wei­che Emp­fin­dung der Mut­ter war ihm zu­teil ge­wor­den. Und es war ein präch­ti­ger klei­ner Balg, die gan­ze Stadt­ge­gend kann­te sie, seit sie die ers­ten ro­ten Schu­he trug, schon auf dem Arm der Wär­te­rin war sie oft an­ge­hal­ten und be­schenkt wor­den. Lus­tig wuchs es auf, ein dral­les Mäd­chen mit zwei großen blau­en Au­gen und ro­ten Bäck­chen, mit dun­kelm Kraus­haar und ei­nem schlau­en Ge­sicht. Wenn die klei­ne Hum­mel die Stra­ße ent­lang spa­zier­te, ihre Händ­chen in den Ta­schen der Schür­ze, war sie die Freu­de der gan­zen Nach­bar­schaft. Keck und kurz­ab wuss­te sie sich in alle zu schi­cken und blieb mit dem klei­nen Mäul­chen nie­mand et­was schul­dig. Sie gab dem Holz­ha­cker vor der Tür ihre But­ter­sem­mel und trank mit ihm aus sei­ner Scha­le den dün­nen Kaf­fee, sie be­glei­te­te den Post­bo­ten die gan­ze Stra­ße ent­lang, und ihr größ­tes Ver­gnü­gen war, mit ihm die Trep­pen hin­auf­zu­lau­fen, zu klin­geln und sei­ne Brie­fe zu über­ge­ben; ja sie hat­te sich einst am spä­ten Abend aus der Stu­be ge­schli­chen, saß ne­ben dem Nacht­wäch­ter auf ei­nem Eck­stei­ne und hielt sein großes Horn in un­ge­dul­di­ger Er­war­tung des Stun­den­schla­ges, zu wel­chem das Horn er­tö­nen wür­de. Frau Hum­mel schweb­te in ei­ner un­auf­hör­li­chen Angst, dass ihre Toch­ter ein­mal ge­stoh­len wer­den müs­se, denn mehr als ein­mal war sie auf vie­le Stun­den ver­schwun­den, dann war sie mit frem­den Kin­dern in ihre Woh­nung ge­gan­gen und hat­te mit ih­nen ge­spielt; sie war die Ver­trau­te vie­ler klei­ner Stra­ßen­jun­gen, wuss­te sich bei ih­nen in Re­spekt zu set­zen, gab ih­nen Pfen­ni­ge und emp­fing als Zei­chen der Ach­tung Brumm­teu­fel und klei­ne Schorn­stein­fe­ger, die aus ge­ba­cke­nen Pflau­men und Holz­stäb­chen zu­sam­men­ge­setzt wa­ren. Sie war ein gut­her­zi­ges Kind, das lie­ber lach­te als wein­te, und ihr lus­ti­ges Ge­sicht mach­te das Haus des Herrn Hum­mel wohn­li­cher als die Efeu­lau­be der Haus­frau und das mäch­ti­ge Brust­bild des Herrn Hum­mel selbst, wel­ches recht ei­gen­sin­nig auf Lau­ras Pup­pen­stu­be her­un­ter­sah.

»Das Kind wird un­er­träg­lich,« rief Frau Hum­mel zor­nig und trat, die be­trüb­te Lau­ra an der Hand, in das Wohn­zim­mer. »Sie quirlt den gan­zen Tag auf der Stra­ße um­her. Jetzt, als ich vom Mark­te kam, saß sie ne­ben der Brücke auf dem Stuhl der Obst­frau und ver­kauf­te ihr die Zwie­beln. Je­der­mann blieb ste­hen und ich muss­te mein Kind aus dem Ge­drän­ge her­aus­ho­len.«

»Das Wurm wird gut,« ver­setz­te Herr Hum­mel la­chend, »warum willst du ihr die Ju­gend nicht gön­nen?«

»Sie muss aus dem or­di­nären Ver­kehr her­aus. Es fehlt ihr al­ler Sinn für das Fei­ne­re, sie kennt noch kaum die Buch­sta­ben und sie hat einen Ab­scheu vor dem Le­sen. Auch ist Zeit, dass mit den fran­zö­si­schen Vo­ka­beln ein An­fang ge­macht wird. Die Bet­ty der Re­gie­rungs­rä­tin ist nicht äl­ter und sie weiß ihre Mut­ter schon so zier­lich chè­re mère zu nen­nen.«

»Die Mut­ter Sche­re und Möh­re und den Va­ter Kohl­ra­bi,« ver­setz­te Herr Hum­mel. »Die Fran­zo­sen sind ein ar­ti­ges Volk. Wenn du so be­sorgt bist, dei­ne Toch­ter für den Markt ab­zu­rich­ten, dann ist das Tür­ki­sche im­mer noch bes­ser als das Fran­zö­si­sche. Der Tür­ke be­zahlt dir Geld, wenn du ihm das Kind ver­han­delst, die an­dern wol­len alle noch et­was dazu ha­ben.«

»Sprich nicht so ruch­los, Hein­rich!«, rief die Gat­tin.

»Und du bleib mir mit dei­nen ver­damm­ten Vo­ka­beln vom Lei­be, sonst ver­spre­che ich dir, ich leh­re das Kind alle fran­zö­si­schen Re­dens­ar­ten, die ich ken­ne, es sind ih­rer nicht vie­le, aber sie sind kräf­tig. Bai­sez moi, Ma­da­me Üm­mel.« Da­mit ging er trot­zig aus dem Zim­mer.

Das Er­geb­nis die­ser Be­ra­tung war aber doch, dass Lau­ra in die Schu­le ging. Es wur­de ihr sehr schwer, zu schwei­gen und zu hö­ren, und län­ge­re Zeit wa­ren die Fort­schrit­te we­nig be­frie­di­gend. End­lich kam auch in die klei­ne See­le der Ehr­geiz, sie klomm die un­te­re Staf­feln der Bil­dung bei Fräu­lein Jo­han­ne her­an, dann wur­de sie in das be­rühm­te In­sti­tut von Fräu­lein Jan­net­te be­för­dert, wo die Töch­ter an­spruchs­vol­ler Fa­mi­li­en das hö­he­re Wis­sen er­hiel­ten. Dort lern­te sie die Ne­ben­flüs­se des Ama­zo­nen­stro­mes, viel ägyp­ti­sche Ge­schich­te, tipp­te auf den De­ckel ei­nes Elek­tro­phors, sprach Fran­zö­sisch über das Wet­ter, las Eng­lisch in ei­ner kunst­vol­len Wei­se, wel­che so­gar dem ge­bor­nen Bri­ten die Aner­ken­nung ab­nö­tig­te, dass in dem In­sti­tut eine neue Spra­che er­fun­den wer­de, und wur­de end­lich in al­len Fein­hei­ten ei­nes deut­schen Auf­sat­zes ge­bil­det. Sie schrieb klei­ne Ab­hand­lun­gen über den Un­ter­schied zwi­schen Wa­chen und Schla­fen, über die Ge­füh­le der be­rühm­ten Cor­ne­lia, Mut­ter der Grac­chen, über die Schre­cken ei­nes Schiffs­bruchs und die wüs­te In­sel, auf wel­che sie sich ge­ret­tet hat­te. Zu­letzt er­warb sie Kennt­nis­se in der Ab­fas­sung von Stro­phen und So­net­ten. Bald stell­te sich her­aus, dass Lau­ras Haupt­stär­ke nicht in der fran­zö­si­schen, son­dern in der deut­schen Spra­che lag, ihr Stil wur­de die Freu­de der An­stalt, ja sie be­gann ihre Leh­re­rin­nen und die liebs­ten Mäd­chen in Ge­dich­ten an­zu­sin­gen, wel­che den schwie­ri­gen Vers­bau des großen Schil­ler vom Kran­ze aus gol­de­nen Ähren bis zur Form aus Lehm ge­brannt sehr glück­lich nach­ahm­ten. Jetzt war sie mit acht­zehn Jah­ren ein hüb­sches ro­si­ges Fräu­lein, im­mer noch rund und lus­tig, im­mer noch die Ge­bie­te­rin des Hau­ses, und bei al­len Leu­ten auf der Stra­ße be­liebt.

Die Mut­ter, stolz auf die Bil­dung der Toch­ter, hat­te ihr nach der Kon­fir­ma­ti­on ein Ober­stüb­chen ge­räumt, das auf die Bäu­me des Par­kes hin­aus­sah, und Lau­ra rich­te­te sich ihr klei­nes Heim­we­sen zu ei­nem Feen­schloss ein, mit Efeu, mit ei­nem klei­nen Blu­men­tisch, mit ei­nem al­ler­liebs­ten Schreib­zeug aus Por­zel­lan, auf wel­chem Schä­fer und Schä­fe­rin ne­ben­ein­an­der sa­ßen. Dort oben ver­leb­te sie ihre schöns­ten Stun­den bei Fe­der und Lösch­blatt, denn sie schrieb vor je­der­mann ver­bor­gen ihre Me­moi­ren.

Aber auch sie teil­te die Ab­nei­gung ih­rer Fa­mi­lie ge­gen das Nach­bar­haus. Schon als klei­nes Ding war sie bei die­ser Haus­tür schmol­lend vor­über­ge­gan­gen, noch nie hat­te ihr Fuß den Haus­flur be­tre­ten, und wenn die gute Frau Hahn ein­mal einen Hand­schlag von ihr for­der­te, so dau­er­te es lan­ge, be­vor sie die klei­ne Hand aus der Schür­ze zog. Von den Be­woh­nern des Nach­bar­hau­ses war ihr aber der jun­ge Fritz Hahn am pein­lichs­ten. Sie traf sel­ten mit ihm zu­sam­men, und dann woll­te das Un­glück, dass sie im­mer in ei­ner Ver­le­gen­heit war und Fritz Hahn ih­ren Gön­ner spie­len konn­te. Als sie noch gar nicht in die Schu­le ging, hat­te der äl­tes­te Sohn der Frau Knips, schon ein er­wach­se­ner Sch­lin­gel, wel­cher hüb­sche Bil­der und Ge­burts­tags­wün­sche mal­te und an die Leu­te in der Nach­bar­schaft ver­kauf­te, sie ein­mal zwin­gen wol­len, das Geld, das sie in der Hand hielt, für einen Teu­fels­kopf aus­zu­ge­ben, den er ge­malt hat­te und den nie­mand auf der Stra­ße ha­ben woll­te. Recht wi­der­wär­tig und bos­haft be­han­del­te er sie und sie ge­riet ge­gen ihre Ge­wohn­heit in Angst, gab ihre Gro­schen hin und hielt wei­nend das gräu­li­che Bild zwi­schen den Fin­gern. Da kam Fritz Hahn sei­nes We­ges, frag­te nach dem Han­del, und als sie ihm die Ge­walt­tat des Knips klag­te, ent­brann­te er von ei­nem so hef­ti­gen Zorn, dass sie wie­der über den Fritz er­schrak. Er fuhr auf den Bur­schen los, der sein Mit­schü­ler war und schon eine Klas­se hö­her saß, und be­gann auf der Stel­le eine Prü­ge­lei, wel­cher der jün­ge­re Knips, die Hän­de in der Ta­sche, la­chend zu­sah. Und Fritz dräng­te den gars­ti­gen Bu­ben an die Wand und zwang ihn, das klei­ne Geld­stück her­aus­zu­ge­ben und sei­nen Teu­fel wie­der zu neh­men. Aber die­se Be­geg­nung half gar nicht dazu, ihr den Fritz lieb zu ma­chen. Sie konn­te nicht lei­den, dass er schon als Pri­ma­ner eine Bril­le trug und dass er im­mer so ernst vor sich hin­sah. Wenn sie aus der Schu­le kam und er mit sei­ner Map­pe in die Vor­le­sung ging, such­te sie ihm je­des­mal aus dem Wege zu ge­hen.

Noch spä­ter ein­mal stieß sie mit ihm zu­sam­men -- sie saß un­ter den ers­ten Mäd­chen im In­sti­tut, der äl­tes­te Knips war be­reits Ma­gis­ter und der jün­ge­re Lehr­ling im Ge­schäft ih­res Va­ters und Fritz Hahn soll­te ge­ra­de Dok­tor wer­den --, da hat­te sie sich auf dem Kahn zwi­schen die Bäu­me des Par­kes ge­ru­dert, bis der Kahn an eine Wur­zel stieß und ihr Ru­der in das Was­ser fiel. Und als sie sich da­nach bück­te, gin­gen Hut und Son­nen­schirm den­sel­ben Weg, und Lau­ra sah ver­le­gen um Hil­fe nach dem Ufer. Da kam wie­der Fritz Hahn in tie­fen Ge­dan­ken da­her, er hör­te den lei­sen Schrei, wel­chen Lau­ra bei dem Un­fall aus­stieß, sprang so­fort in das schlam­mi­ge Was­ser, fisch­te Hut und Son­nen­schirm und zog den Kahn an das Ufer. Hier bot er Lau­ra die Hand und half ihr auf fes­ten Grund. Lau­ra war ihm wohl Dank schul­dig, auch hat­te er sie mit Ach­tung be­han­delt und Fräu­lein ge­nannt. Aber er sah doch sehr lä­cher­lich aus, die ha­ge­re Ge­stalt ver­beug­te sich un­ge­schickt und die Glä­ser wa­ren starr auf sie ge­rich­tet. Und als sie dar­auf er­fuhr, dass er von dem Sprung in den Sumpf einen schreck­li­chen Ka­tarrh da­von­ge­tra­gen hat­te, da wur­de sie heiß­zor­nig auf sich selbst und auf ihn, weil sie ge­schri­en hat­te, wo gar kei­ne Ge­fahr war, und weil er zu so un­nö­ti­gem Rit­ter­dienst ge­stürmt war; sie wür­de sich schon al­lein ge­hol­fen ha­ben, und jetzt däch­ten die Hahns, sie sei ih­nen wer weiß wel­chen Dank schul­dig.

Dar­über hät­te sie ru­hig sein kön­nen, denn Fritz hat­te sich still um­ge­zo­gen und die Klei­der in sei­ner Stu­be ge­trock­net.

Frei­lich, dass die bei­den feind­li­chen Kin­der ein­an­der mie­den, war na­tür­lich, denn Fritz war eine ganz an­de­re Na­tur. Auch er war das ein­zi­ge Kind und auch er war von ei­nem gut­her­zi­gen Va­ter und ei­ner über­sorg­li­chen Mut­ter weich er­zo­gen. Von klein auf ein stil­ler, in sich ge­kehr­ter Kna­be, an­spruchs­los, flei­ßig in den Bü­chern, hat­te er sich ne­ben dem Haus­halt der El­tern sei­ne ei­ge­ne Welt in der Wis­sen­schaft aus­ge­baut, wel­che von der großen Heer­stra­ße seit­ab lag. Wäh­rend um ihn das Le­ben lus­tig summ­te, saß er über die Grund­stri­che und Ha­ken des Sans­krit ge­beugt und un­ter­such­te die Fa­mi­li­en­ver­wandt­schaft zwi­schen dem wil­den Geis­ter­heer, das über der Teu­to­bur­ger Schlacht da­hin­fuhr, und zwi­schen den Göt­tern der Weda, wel­che über Pal­men­wäl­der und Bam­bus­rohr in das hei­ße Gan­ge­stal hin­ab­schweb­ten. Auch er war Freu­de und Stolz sei­nes Hau­ses, die Mut­ter ließ sich nicht neh­men, je­den Mor­gen selbst den Kaf­fee hin­auf­zu­tra­gen, dann setz­te sie sich mit ih­rem Schlüs­sel­bund ihm ge­gen­über und sah schwei­gend zu, wäh­rend er sein Früh­stück ver­zehr­te, schalt lei­se über sein Nacht­ar­bei­ten am letz­ten Abend und sag­te ihm, dass sie nicht ru­hig ein­schla­fe, bis sie über sich den Stuhl rücken höre und die Stie­fel klap­pern, die er zum Rei­ni­gen vor die Tür stell­te. Nach dem Früh­stück bot Fritz dem Va­ter gu­ten Mor­gen, und er wuss­te, dass es dem Va­ter Freu­de war, wenn er ei­ni­ge Mi­nu­ten mit ihm durch den Gar­ten schritt, das Wachs­tum der Lieb­lings­blu­men be­trach­te­te und vor al­lem, wenn er dem Va­ter zu ei­ner Ver­schö­ne­rung sei­ne Zu­stim­mung ge­ben konn­te. Das war der ein­zi­ge Punkt, wo Herr Hahn mit sei­nem Soh­ne zu­wei­len in Ge­gen­satz ge­riet. Und da er den Grün­den des Soh­nes nicht zu wi­der­ste­hen ver­moch­te und den ei­ge­nen star­ken Ver­schö­ne­rungs­trieb auch nicht bän­di­gen konn­te, so schlug er gern den Weg ein, der selbst von grö­ße­ren Po­li­ti­kern für nütz­lich er­ach­tet wird, er be­rei­te­te sei­ne Plä­ne heim­lich vor und über­rasch­te durch Tat­sa­chen.

Bei sol­chem Still­le­ben war dem jun­gen Ge­lehr­ten der Ver­kehr mit dem Pro­fes­sor das bes­te Ver­gnü­gen des Ta­ges, sei­ne Er­he­bung, sein Stolz. Er hat­te noch als Stu­dent die ers­ten Vor­le­sun­gen ge­hört, wel­che Fe­lix Wer­ner an der Uni­ver­si­tät hielt. All­mäh­lich war eine Freund­schaft ent­stan­den, wie sie viel­leicht nur un­ter hoch­ge­bil­de­ten und wa­ckern Ge­lehr­ten mög­lich ist. Er wur­de der hin­ge­ben­de Ver­trau­te für die um­fang­rei­che Tä­tig­keit sei­nes Freun­des. Jede Un­ter­su­chung des Pro­fes­sors und ihre Er­fol­ge wur­den bis auf Ein­zel­hei­ten be­spro­chen, jede Freu­de, die ein neu­er Fund mach­te, teil­ten die Nach­barn. Täg­lich sa­hen sie ein­an­der, vie­le Aben­de ver­gin­gen ih­nen in der schö­nen Art der Un­ter­hal­tung, wel­che den Deut­schen ei­gen­tüm­lich ist, in ei­nem Ge­spräch, das zwi­schen Er­ör­te­rung und Ge­plau­der schwebt, wo zwei Geis­ter, wel­che bei­de die Wahr­heit su­chen, sich im Aus­tausch ih­rer An­sich­ten ge­gen­sei­tig för­dern. Dann rühr­te in je­dem, an­ge­regt durch das fei­ne Ver­ständ­nis und die Ein­wür­fe des an­dern, eine schöp­fe­ri­sche Kraft kräf­tig die Schwin­gen, und blitz­schnell und un­ge­ahnt öff­ne­ten sich dem Spre­chen­den und dem Hö­rer neue Ge­sichts­punk­te, ein tiefe­res Ver­ständ­nis. Mit dem bes­ten Teil ih­res Le­bens wuch­sen bei­de zu­sam­men. Frei­lich war Fritz als der Jün­ge­re auch der, wel­cher sich am meis­ten der feu­ri­gen Na­tur des Freun­des be­quem­te, er war mehr Emp­fän­ger als Ge­ben­der. Aber ge­ra­de des­halb wur­de das Ver­hält­nis so fest und in­nig. Nicht ohne klei­ne Stö­run­gen, wie das bei Ge­lehr­ten na­tür­lich ist, denn bei­de wa­ren von schnel­lem Ur­teil, bei­de hoch­ge­spannt in den For­de­run­gen, die sie an sich selbst und an die Men­schen mach­ten, bei­de von sei­ner, leicht er­reg­ter Emp­fin­dung. Aber sol­che Ge­gen­sät­ze wur­den bald über­wun­den, sie tru­gen nur dazu bei, die lie­be­vol­le Rück­sicht, mit wel­cher die Freun­de ein­an­der be­han­del­ten, zu ver­grö­ßern.

Durch die­se Freund­schaft wur­de das schwie­ri­ge Ver­hält­nis der bei­den Häu­ser ein we­nig ge­mil­dert. Auch Herr Hum­mel konn­te nicht um­hin, dem Dok­tor eine klei­ne Rück­sicht zu gön­nen, da sein hoch­ver­ehr­ter Mie­ter den Sohn der Fein­de auf­fal­lend aus­zeich­ne­te. Denn auf sei­nen Mie­ter ließ Herr Hum­mel nichts kom­men. Durch dunkles Gerücht war ihm ver­kün­det, dass der Pro­fes­sor in sei­ner Art ein be­rühm­ter Mann sei, und er war ge­neigt, ir­di­schen Ruhm be­son­ders hoch­zuach­ten, wenn die­ser bei ihm zur Mie­te wohn­te. Auch war der Pro­fes­sor ein vor­treff­li­cher Mie­ter, er pro­tes­tier­te nie ge­gen eine Maß­re­gel, wel­che Herr Hum­mel als obers­te Po­li­zei­be­hör­de des Hau­ses ver­füg­te; er hat­te Herrn Hum­mel einst we­gen An­la­ge ei­nes Ka­pi­tals um Rat ge­fragt, er hielt nicht Hund nicht Kat­ze, gab kei­ne Tanz­ge­sell­schaf­ten, sang nicht zum Fens­ter hin­aus und spiel­te auf kei­nem Flü­gel Bra­vour­stücke. Und was die Haupt­sa­che war, er be­wies ge­gen Frau Hum­mel und Lau­ra, wenn er ih­nen ein­mal be­geg­ne­te, eine rit­ter­li­che Ar­tig­keit, wel­che dem ge­lehr­ten Herrn sehr wohl stand. Frau Hum­mel war von ih­rem Mie­ter be­geis­tert, und Hum­mel hat­te gut be­fun­den, die letz­te not­wen­di­ge Er­hö­hung der Mie­te nicht vor­her im Fa­mi­li­en­krei­se zu be­spre­chen, weil er einen Wi­der­spruch sei­ner ge­sam­ten weib­li­chen Be­völ­ke­rung vor­aus­sah.

Jetzt hat­te der Ko­bold, wel­cher zwi­schen bei­den Häu­sern hin und her lief, Stei­ne in den Weg wer­fend und den Men­schen Eselsoh­ren boh­rend, auch die bei­den frei­en See­len sei­nes Re­viers ge­gen­ein­an­der auf­ge­regt. Aber sein Ver­such blieb küm­mer­lich: die wa­ckern Män­ner wa­ren nicht füg­sam, nach sei­ner miss­tö­nen­den Pfei­fe zu tan­zen.

Früh am nächs­ten Mor­gen trug Ga­bri­el einen Brief sei­nes Herrn zum Dok­tor hin­über. Als er in den feind­li­chen Haus­flur trat, kam ihm ei­lig Dor­chen, das Dienst­mäd­chen der Fa­mi­lie Hahn, ent­ge­gen, einen Brief ih­res jun­gen Herrn an den Pro­fes­sor in der Hand. Die Bo­ten tausch­ten die Brie­fe und zu glei­cher Zeit la­sen die Freun­de ihre Zu­schrif­ten.

Der Pro­fes­sor schrieb: »Mein lie­ber Freund, zür­ne mir nicht, dass ich wie­der ein­mal hef­tig wur­de, die Ver­an­las­sung war so ab­ge­schmackt als mög­lich. Was mich ver­stimm­te, war, ehr­lich ge­sagt, dass Du so un­be­dingt ver­wei­ger­test, einen La­tei­ner mit mir her­aus­zu­ge­ben. Denn die Mög­lich­keit, Ver­lo­re­nes zu fin­den, wel­che wir im ge­fäl­li­gen Trau­me durch ei­ni­ge Au­gen­bli­cke an­nah­men, war mir doch auch dar­um so lo­ckend, weil sie uns bei­den eine ge­mein­sa­me Tä­tig­keit in Aus­sicht stell­te. Wenn ich ver­su­che, Dich in den en­gern Kreis mei­ner Wis­sen­schaft zu zie­hen, so wirst Du vor­aus­set­zen, dass ich da­bei nicht nur durch per­sön­li­che Emp­fin­dun­gen, son­dern weit mehr durch den na­he­lie­gen­den Wunsch be­stimmt wer­de, für die Wis­sen­schaft, auf wel­che ich mich be­schrän­ken muss, Dei­ne Kraft zu ge­win­nen.«