Die verlorenen Seelen von Malcesine - Adolf Pichler - E-Book

Die verlorenen Seelen von Malcesine E-Book

Adolf Pichler

0,0

Beschreibung

ADOLF PICHLER (1819–1900) – PROFESSOR FÜR GEOLOGIE an der Universität Innsbruck, LITERATURKRITIKER, SCHRIFTSTELLER – war zu seiner Zeit der BEKANNTESTE LIBERALE INTELLEKTUELLE TIROLS, ein Universalgelehrter, der sich in einem ausgeprägt katholisch-konservativen Milieu von niemandem das Denken nehmen ließ. Obwohl seine Gesammelten Werke zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer repräsentativen, 17 Bände umfassenden Ausgabe erschienen und seinem Verleger wohlwollende Besprechungen einbrachten, erhielt er nie einen kanonischen Status als Literat. Allzu oft stießen seine Texte im unsicheren Gelände ZWISCHEN REALISMUS UND MODERNE auf Widerstand. Seine literarische Handschrift, die Zeitgenossen wie Adalbert Stifter oder Ferdinand Kürnberger durchaus schon erkannt haben, zeigt sich am schönsten in Pichlers HOCHGEBIRGSGESCHICHTEN UND REISEBILDERN. Pichlers Blick auf die Geschichte wie auch auf die Landschaft ist nie bloß ein Blick von außen oder oben. Überall entdeckt er Sehenswürdigkeiten, die in keinem Prospekt auszumachen sind, überall hat er ein Auge für die geologischen Formationen, die Pflanzenwelt, die Kunstschätze, überall stößt er auf alte oder moderne Fundstücke und auf Menschen, die sein Interesse wecken und ihn bedrängen, Betrachtungen über Gott und die Welt und über seine Zeit anzustellen, mit anderen Worten: UNAUFHÖRLICH ZU ERZÄHLEN.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 470

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Johann Holzner / Lenka Schindlerová / Anton Unterkircher (Hg.)

Die verlorenen Seelen von Malcesine

Adolf Pichler (1819–1900)

Edition Brenner-Forum

Herausgegeben von Sieglinde Klettenhammer und Ulrike Tanzer

Band 14

Wissenschaftlicher Beirat:

Prof. Dr. Katherine Arens (University of Texas, Austin, USA)

Prof. Dr. Jacques Lajarrige (Université de Toulouse II – Centre de Recherches et d’Études Germaniques, FRA)

Prof. Dr. Joanna Jabłkowska (Univ. Łódź, POL)

Prof. Dr. Alois Pichler (Univ. Bergen – Wittgenstein Archives, NOR)

Dr. Clemens Ruthner (Trinity College Dublin, IRL)

Johann Holzner / Lenka Schindlerová / Anton Unterkircher (Hg.)

Die verlorenen Seelen von Malcesine

Adolf Pichler (1819–1900)

Werke und Materialien

 

 

© 2019by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: [email protected]

Internet: www.studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilmoder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oderunter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7065-6004-7

Buchgestaltung nach Entwürfen vonhimmel. Studio für Design und Kommunikation, Innsbruck / Scheffau – www.himmel.co.at

Satz: Barbara Halder

Umschlag: Studienverlag/Georg Toll

Umschlagbild: Adolf Pichler, 1858

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlungoder direkt unter www.studienverlag.at

Inhalt

Johann Holzner: Adolf Pichler (1819–1900). Geologe, Literaturkritiker, Schriftsteller

Texte von Adolf Pichler

Allerlei aus Italien

Am Garda

Wanderungen in den nordtirolischen Kalkalpen. Nach Vils

Innsbruck. Ein deutsches Städtebild

Ein Brautpaar

Der Flüchtling

Aus „Zu meiner Zeit“. Schattenbilder aus der Vergangenheit (1892)

Franz Grillparzer und Joseph Streiter

Fra Serafico

Über Adolf Pichler

Zeitgenössische Stimmen über Adolf Pichler

Anton Unterkircher: Zensuriert und politisch verfolgt?

Sigurd Paul Scheichl: „Mehr Gras als Blumen“. Adolf Pichler als Kritiker der Tiroler Literatur

Jennifer Moritz: Der Nachlass Adolf Pichlers im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar

Editorische Notiz

Adolf Pichler (1819–1900)Geologe, Literaturkritiker, Schriftsteller

von Johann Holzner

Adolf Pichler ist am 4. September 1819 in Erl bei Kufstein zur Welt gekommen (im selben Jahr wie Gottfried Keller und Theodor Fontane). Sein Vater war Zöllner, die Mutter Tochter eines Bauernknechts. Aufgewachsen in verschiedenen Grenzstationen (da der Vater immer wieder versetzt wurde), u.a. in Scharnitz oder auch in Vils, lernte Pichler früh neben Wildhütern und Förstern und Holzfällern auch Außenseiter kennen, Schmuggler, Wilderer, Sonderlinge, Einsiedler … und nach diesen Erfahrungen zeitlebens allen Ordnungshütern mit Misstrauen zu begegnen.

Verdächtig war ihm immer auch der Lektüre-Kanon seiner Zeit. Wenig verwunderlich: Für seine eigenen literarischen Arbeiten fand sich zwar alleweil ein Verlagshaus, wenigstens eine Zeitung oder eine Zeitschrift, und zwar im gesamten deutschsprachigen Raum – ein Durchbruch blieb ihm jedoch versagt. Im Übrigen auch nach seinem Tod, obgleich seine Gesammelten Werke in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts in einer repräsentativen Ausgabe1 erschienen, in siebzehn Bänden, und dem Verleger Georg Müller in München, der sich zu seiner Zeit mit bibliophilen Klassikerausgaben ohne weiteres neben Kollegen wie Samuel Fischer oder Eugen Diederichs behaupten konnte, doch auch etliche wohlwollende Besprechungen einbrachten.

Adolf Pichler, 1858, Brenner-Archiv, Nl. Pichler, Sign. 4/3.1

Die diversen, manchmal radikalen Kanon-Revisionen im 20. Jahrhundert, die so manchen scheinbar längst kodifizierten Bestand (darunter z.B. auch die Novellen und Dramen von Paul Heyse, der als erster deutscher Autor den Nobelpreis für Literatur gewonnen hatte) gnadenlos über Bord warfen und durch früher zurückgedrängte Literaturwerke ersetzten,2 brachten für seine Position nichts Neues: Pichler erhielt nie einen kanonischen Status. In der Anthologie Österreichische Erzählungen des 19. Jahrhunderts, die Alois Brandstetter 1986 bei Residenz herausbrachte3 und die später auch in verschiedenen Buchgemeinschaften nachgedruckt werden sollte, wird Pichler nicht einmal mehr erwähnt; dabei sind in dieser Sammlung keineswegs nur die Berühmten anzutreffen, Franz Grillparzer, Charles Sealsfield, Adalbert Stifter, Ferdinand Kürnberger, Marie von Ebner-Eschenbach, Ferdinand von Saar, Ludwig Anzengruber und Peter Rosegger, sondern durchaus auch Autoren aus der zweiten Reihe wie Moritz Hartmann, Robert Hamerling, Karl Emil Franzos oder Jakob Julius David. Das Werk Pichlers ist sogar aus dem Gesichtskreis der Fachleute verschwunden.

Deutsche Novelle : Welscher Salat

Da er nie kanonisiert und also auch nie in einer mittlerweile schon schwer zu öffnenden Rubrik der Literaturgeschichte eingeschlossen war, kann man sich mit seinem Werk neu beschäftigen, ohne jene Hürden überspringen zu müssen, die den Zugang zu etablierten Autorinnen und Autoren nicht selten doch erschweren wenn nicht womöglich ganz verstellen: Zur Einführung wären besonders Pichlers Hochgebirgsgeschichten zu empfehlen oder etwa auch seine Skizze Reisebilder aus Italien (aus dem Nachlass),4 die schon sehr viel von der unverwechselbaren Eigenart dieses Schriftstellers verrät:

März in Innsbruck. Es ist bitterkalt. Der Ich-Erzähler – man ist geneigt zu sagen: der Autor – hat eben nichts zu tun und entschließt sich deshalb, mit seiner Tochter nach Italien zu reisen, dem Frühling entgegen. Zunächst einmal gerät er allerdings in den tiefsten Winter. Am Brenner und auch noch im Eisacktal erwarten ihn nämlich Eis und Schnee. Aber mittlerweile beschäftigen ihn viel mehr als die aktuellen Temperaturen schon seine Erinnerungen an die Geschichte der Region. Er denkt an die Aufstände in Tirol in der Napoleonischen Ära, an General François-Joseph Lefebvre, den Herzog von Danzig, den Befehlshaber der Bayerischen Armee, wie auch an das Mädchen von Spinges, Katharina Lanz, die einstmals verehrte Jeanne d’Arc Tirols, die „vergessen und unbeachtet“ 1854 im Pfarrhaus von Andratz verstorben ist; aus dem Gedächtnis, nicht ganz korrekt zitiert er die Verse Nikolaus Lenaus: „Verschwunden ist der alte Geist // Von achtzehnhundert neun.“ (GW X, 289).5 Vom Frühling nach wie vor keine Spur. Nur in den Journalen ist davon die Rede: Südtirol wirbt um Kurgäste. – In Trient, so versichert der Erzähler, empfiehlt es sich für jeden Wanderer auszusteigen und einzukehren; und dann mit einem Omnibus weiter zu fahren zum Gardasee. In Torbole macht er endlich länger Halt. Auf der Veranda des Wirtes Bertolini genießt er wie immer den Blick über den ganzen See, wird diesmal aber dabei von einem Touristen, einem „Philister mit weißer Krawatte“ (GW X, 291), es ist offensichtlich ein Deutscher, gestört. Nach diesem und jenem ausgefragt und darüber schon arg verstimmt, beginnt er zu erzählen, dass sich die Balken biegen: Er berichtet von steilen, oft überhängenden Felsen und von Gämsenjägern, von den blutigen Kämpfen zwischen den Fischern und den Finanzwächtern an der österreichisch-italienischen Grenze, von Tabakballen und Spiritusfässern und von anderem mehr … und weil inzwischen auch ein Fräulein an einem Nebentisch längst zuhört, ohne Zweifel „eine der sechshundert deutschen Schriftstellerinnen“ (GW X, 293), präsentiert er schließlich auch die traurige Geschichte des jungen Giuseppe, der wie einstmals Leander in den Hellespont allnächtlich in den Gardasee gesprungen sei, um heimlich seine Geliebte zu treffen; jedes Mal, ergänzt er, um seine längst schon höchst-aufgeregten Zuhörer/innen zu beruhigen, „wird ihn wohl das Mädchen abgetrocknet und erwärmt haben“ (GW X, 294). Die Schriftstellerin ist darob empört. Derartiges dürfe man deutschen Leserinnen jedenfalls nicht bieten. Pichler eröffnet ihr daraufhin sogleich eine alternative Version: „Nun, so schreiben Sie: Man habe auf der alten Burg der Scaligeri ein verrostetes Panzerhemd ausgegraben und in diesem sei er zu seiner Hero geschwommen.“ Und nachdem er die Geschichte des Giuseppe bis zu ihrem / seinem bitteren Ende erzählt hat, gibt er der Kollegin noch einen kostenlosen Wink mit auf den Heimweg nach Deutschland: „Wenn Sie etwas dichten, bleiben Sie ja in den Grenzen des Realismus […].“ (GW X, 294f.). Seine Tochter aber, kein Wunder, schämt sich. „Papa, wie kannst du denn so schwalbeln“ (GW X, 296).

Adolf Pichler: Ein Ausflug nach Italien, 1876, Nl. Pichler, Brenner-Archiv, Sign. 4/1.2.1

Er kann auch ganz anders, wie die Fortsetzung dieser Geschichte zeigt. Was immer ihm auf der Reise in den Süden unterkommt, wird von da an nicht mehr weiter langatmig ausgeführt, sondern flüchtig hingeworfen, kreuz und quer durcheinander, in einem kaum mehr gebändigten Assoziationsstrom, der sich um keine Ordnung oder gar Einbettung kümmert. In Verona, Venedig, Florenz, Ferrara, schließlich auch im etruskischen Pompeji, in Marzabotto, im Tal des Reno, überall entdeckt er Sehenswürdigkeiten, die in keinem Prospekt auszumachen sind, überall hat er ein Auge für die geologischen Formationen, die Pflanzenwelt, die Kunstschätze, überall stößt er auf alte oder auch moderne Fundstücke, namentlich aber auf Menschen, die sein Interesse wecken und ihn bedrängen, Betrachtungen über Gott und die Welt anzustellen, mit anderen Worten: zu erzählen. Im Folgenden seien nur einige wenige signifikante Beispiele für diese permanenten Aus- und Abschweifungen angeführt. Beispiele, die nichts anderes als die Lust des Erzählers bezeugen, Dingen und Verhältnissen nachzugehen, die so noch nie in Beziehung zueinander betrachtet worden sind.

In Welschtirol, bemerkt Pichler beispielsweise, ganz en passant, tragen die Bauern auch am Sonntag die gleiche Kleidung wie unter der Woche, obwohl sie keinen Augenblick daran denken auf ihre Äcker hinauszugehen. In Deutschtirol dagegen machen die Bauern, wie Pichler das jedenfalls deutet, „Gott und dem himmlischen Hofe die Aufwartung, sie wollen auch einmal in diese Gesellschaft eintreten und daher anständig vor ihr erscheinen“:

Sechs Tage leisten sie knechtische Arbeit, am siebenten erheben sie die Stirne, und der Sonntag ist nicht bloß deswegen der Tag des Herrn, weil er Gott gehört, sondern auch weil er sie zu Herren macht. Darum ist der Sonntag heilig und er soll es bleiben. (GW X, 300)

Über Pichlers früh-erwachte Sympathie für die deutschnationale Bewegung und seine kritische Einstellung zum Katholizismus wird später noch zu reden sein. Aus dem eben angesprochenen Vergleich zwischen den Welsch- und den Deutschtirolern ist indessen in dieser Hinsicht schlüssig nichts abzuleiten; Ableitungen dieser Art hat Pichler gleichwohl schon zu seinen Lebzeiten immer wieder zu hören oder zu sehen bekommen und regelmäßig energisch zurückgewiesen. – Hier sei vorerst nur angemerkt, dass Pichler über kein anderes Land so sehr und so häufig schwärmt wie über Italien, wobei er die Landschaften, die Kunst und die Literatur, nicht zuletzt jedoch auch den Lebensstil und den Habitus der Menschen im Gemeinwesen besonders herausstellt; gelegentlich übrigens auch in dieser Skizze:

Eigentlich sollte man jeden deutschen Schulmann, ehe ihn das Amt festleimt, auf ein Jahr nach Italien schicken, damit er die Freie des Blickes gewinne, die für einen Erzieher notwendig ist und sich unsere Kinder auf den schmalen Bänken nicht den Verstand blind büffeln. Ein Feldzug tät es zwar auch, den kann man sich aber nicht alle Jahre bestellen. Nun will ich aufhören zu brummen; es ist mir nur eine Fliege in den Wein gefallen. (GW X, 299)

Scheinbar nachlässig, aber hellsichtig zugleich streift Pichler wie im Vorübergehen soziale und politische Grundprobleme der Zeit: Strategien im Hinblick auf die Zukunft der Pädagogik gehören ebenso dazu wie Spekulationen über die in allen Gesellschaftsschichten so beliebten Schulen der Geistlichen, über die Rolle der Jesuiten, der Bettelorden und der Freimaurer in Italien oder auch über die weltgeschichtlichen Aufgaben der Deutschen. Er grübelt gerade einmal kurz über die Unsitte, historische Plätze ohne Not umzutaufen, und schon im nächsten Moment horcht er auf das Gezwitscher der ersten Schwalbe, die den Frühling verheißt, ihm „wahrlich die liebste Zukunftsmusik“:

Du verkündest das schönste Sozialistenprogramm: ohne Marksteine ist dir und allen Vögeln der weiteste Raum gemeinsam; die Nahrung fliegt dir fast in den Schnabel, Politik und Religion haben dich nie beschäftigt und auch in den schwarz-gelben Pfählen ist dein Lied zensurfrei, denn kein Staatsanwalt vermag es nur zu denken, obschon es gar schlimme Dinge verkündigt […]. (GW X, 306)

Es ist, das zeigt sich auch in dieser Passage, die Literatur, die ihn am meisten fesselt. Während ihn etwa im Bereich der Kunst vor allem Glanz- und Höhepunkte interessieren (ausdrücklich erwähnt er Tizian und Tintoretto), verfolgt er auf dem Gebiet der Literatur (jedenfalls soweit sie ihm zugänglich sind) auch alle neueren Entwicklungen, gerade auch die jüngsten, wenngleich nach seiner Einschätzung der Roman I Promessi Sposi (1827) von Alessandro Manzoni bereits den Gipfelpunkt der Literaturszene seines Jahrhunderts darstellt. Dass ihn nun in Italien die politische Poesie der Italia redenta ganz besonders beschäftigt, ist verständlich; hat er doch noch 1848 als Hauptmann einer Tiroler Freiwilligenkompanie selbst an der italienischen Front (mit-)gekämpft. Umso mehr aber ist es erstaunlich und also bemerkenswert, dass er einem (inzwischen schon beinahe vergessenen) Schriftsteller wie Antonio Gazzoletti, der lange Zeit in Triest als Advokat gewirkt und eigentlich nur nebenbei sich mit Poesie befasst hat, dem Verfasser eines in seiner Zeit populären patriotischen Gedichts: Qual’ è la patria dell’ Italiano? (Was ist des Italieners Vaterland?), ein schönes Denkmal setzt; „sein vorzüglichstes Werk ist wohl La grotta d’Adelberga, welche er in phantasievoller Weise mit Undinen bevölkert. Er starb 1866. Eine Auswahl seiner besten Stücke erschien bei Le Monnier in Florenz.“ (GW X, 302)

Politische Poesie, Tendenzlyrik ist in seinem Verständnis kein „garstig Lied“, aber kurzlebig, zeitgebunden. Er lässt sie gelten, ohne zu verhehlen, dass er Fixsterne wie Dante und Goethe, die allem Anschein nach unverrückbar am Sternenhimmel der Literatur stehen und die er denn auch am häufigsten zitiert, weit höher schätzt.

Jede Periode hat ihre Tonart: Moll oder Dur im Adagio oder Presto; ihr Instrument: die Geige, die Trompete oder auch den Dudelsack genau wie jede Jahreszeit ihre Art von Blüten und Früchten. Es fragt sich nur, ob die Schriftsteller dieser Zeit nur das Signal blasen und den Marsch aufspielen, in dessen Taktschritt sie hinter ihnen herzieht, oder ob ihr Haupt höher reicht, so daß sie auch etwas von den ewigen Harmonien der Sterne vernehmen, welche ober unserem vergänglichen Frühling und Herbst im Weltenraum hinrauschen. Die einen heißen Herwegh, die anderen – Byron. (GW X, 303)

Über den Zusammenhang zwischen der italienischen Poesie und der politischen Geschichte des Landes im 19. Jahrhundert hat sich Pichler auch andernorts – explizit in etlichen Beiträgen zur Literaturgeschichte und Literaturkritik, und dort viel ausführlicher geäußert.6 Neben Manzoni, Giacomo Leopardi und Giuseppe Giusti überblickt er dabei durchaus auch die Massenware der Epoche, darunter die „Flut der langatmigen versi sciolti“ (GW XI, 255). Aber seine Hauptintention bleibt es immer, die Glückskarfunkel unter den literarischen Neuerscheinungen zu entdecken;

da bemerken wir plötzlich unter gleichgültigen Gestalten einen Mann in der Tracht des Bauern der Maremna [!]; gelehnt an den Steinblock einer etruskischen Zyklopenmauer, entlockt er mit nachlässigem Griff einer griechischen Leier hie und da einen Ton; plötzlich ballt er die Faust, die Stirne umwölkt sich und aus den bärtigen Lippen wettert ein sehr moderner Fluch – nicht mehr gegen die Tedeschi, sondern gegen das verlotterte Geschlecht, das zwischen den Ruinen antiker Größe krabbelt und drapiert mit dem Purpur alter Zäsaren pose macht. (GW XI, 255f.)

Der Dichter der Maremma, von dem Pichler so begeistert spricht und dann wiederholt auch Proben (in eigenen Übertragungen) liefert, ist Giosuè Carducci (der viel später, 1906, den Nobelpreis für Literatur erhalten sollte). Doch die Charakteristik, die Pichler gibt, ist wohl auch zugleich ein verkapptes Selbstporträt.

Zurück noch einmal zu seiner Skizze Reisebilder aus Italien. Über all den Aus- und Abschweifungen findet sich dort (auf einer Metaebene eingezogen) auch eine kleine Anleitung zur angemessenen Lektüre. Anders als in den traditionellen Reisebildern und Erzählungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die so genannte identifikatorische Lektüre für Pichler schon keine Option mehr; die Leser/innen sollen doch, notiert er (oder auch sein Erzähler), seine Auslassungen „nach Belieben deuten oder mißdeuten […]; wie ich mich dazu stelle, ist ganz gleichgültig.“ (GW X, 319) Es versteht sich wohl, dass Pichler letzteres nicht ganz ernst meint. Andererseits, mit der Dichterin aus Torbole hat er nichts mehr gemein, will er auch nichts zu schaffen haben. Sie schreibt, so vermutet er, für die Gartenlaube (GW X, 296), am ehesten eine Novelle … inspiriert von Heyses Falkentheorie und von seinen Beiträgen zum Deutschen Novellenschatz. Pichler bezeichnet dagegen am Ende seine Skizze selbst als „welschen Salat“7 (GW X, 329) – mit einem Begriff, der nichts Minderwertiges markiert; im Gegenteil, in Mähren hat man zu seiner Zeit diesen Salat nur am Heiligen Abend aufgetischt, zu gebackenem Karpfen.

Er hatte zeitlebens hart zu kämpfen; unumstritten war Adolf Pichler nie. Aber nach seinem Tod (am 15. November 1900) erschienen im In- und Ausland zahllose Gedenkartikel, die ihn als zentrale Figur des intellektuellen Lebens in Tirol (zwischen 1848 und 1900) würdigten, wenig später, ab 1905, folgten die schon erwähnten Gesammelten Werke, und 1909 wurde schließlich das von Edmund Klotz entworfene Adolf-Pichler-Denkmal in Innsbruck enthüllt, eine überlebensgroße Bronzestatue, die den Gelehrten in einem groben Berganzug vorstellt (in der rechten Hand hält er seinen Geologenhammer). 1928 erschien noch einmal eine weitere Auswahl, eine zweibändige Reclam-Ausgabe seiner Werke.8 – In Innsbruck kennt jedes Kind den Adolf-Pichler-Platz9 oder auch das an diesen Platz angrenzende so genannte Adolf-Pichler-Gymnasium, ein Realgymnasium mit mathematisch-naturwissenschaftlichem Schwerpunkt. – Die Reisebilder aus Italien aber wären der denkbar beste Einstieg in das Werk dieses Geologen, Literaturkritikers und Schriftstellers.

Das Adolf-Pichler-Denkmal in Innsbruck, Aufnahme 1909?, Brenner-Archiv, Nl. Lederer, Sign. 21/1.207

Ein liberaler Universalgelehrter

Für prominente Zeitgenossen, Kollegen wie Ferdinand Kürnberger oder Peter Rosegger, auch für jüngere Autoren, die ihn noch erlebt hatten, wie Franz Kranewitter und Karl Schönherr, war Pichler eine einsame Institution: ein redegewandter, temperamentvoller Schriftsteller und Universalgelehrter, der in einem ausgeprägt katholisch-konservativen Milieu sich von niemandem das Denken nehmen ließ, auch nicht von jenen Parteien, denen er (wenigstens zeitweise) nahestand, schon gar nicht von den Liberalen. „Liberal, aber nicht mit den Liberalen“,10 notierte Pichler in seinem Tagebuch bereits 1863. Was die Zeitgenossen (sofern sie nicht in der langen Reihe seiner Widersacher standen) und auch Pichlers Schüler noch ungeheuer beeindruckt und fasziniert hatte, sein eminentes Wissen in den verschiedensten Fachbereichen (von der Medizin über die Naturwissenschaften bis hin zur Philosophie und Literatur), das galt den Nachgeborenen offensichtlich nicht mehr viel; und seine literarischen Arbeiten waren, im Kontext der Moderne um 1900 betrachtet, doch unverkennbar Zeugnisse des soeben vergangenen Jahrhunderts.

So blieb denn auch die erste (umfangreiche) Pichler-Biographie, eine (methodisch in den Spuren von Wilhelm Scherer und Erich Schmidt konzipierte) Arbeit des Innsbrucker Germanisten Joseph Eduard Wackernell, die nach dessen Tod von dem Historiker und Bibliothekar Anton Dörrer abgeschlossen wurde (1925),11 über Jahrzehnte zugleich schon die letzte; sie ist allerdings nach wie vor lesenswert, wenngleich manche Daten mittlerweile zu korrigieren wären und viele Werturteile sich längst erledigt haben.

Was die Neue Freie Presse kurz vor seinem Tod angekündigt hatte, man sollte und werde einmal Pichler „in die erste Reihe der deutschen Dichter stellen, die seit Goethes Tode hervorgetreten sind“,12 empfanden Wackernell und Dörrer immer noch als Auftrag. Also zeichneten sie minutiös alle Stationen nach, die Pichler „befähigten, den stärksten Lebensstürmen sieghaften Widerstand zu leisten, sich vom mittellosen Gymnasiasten zum Juristen, zum Doktor der Medizin, zum Gymnasiallehrer, zum Universitätsprofessor emporzuarbeiten und sich darüber hinaus ein seltenes Maß von Wissen und Können zu erringen.“13 – Pichler hatte tatsächlich ein Jus-Studium begonnen und das Medizin-Studium abgeschlossen. Aber seine Vorliebe galt der Geschichte, vornehmlich der Geschichte der Kunst und Literatur. Im Selbststudium beschäftigte er sich mit den Literaturen der Griechen und Römer, die er ebenso in der Originalsprache lesen konnte wie die italienische, die französische und die englische Literatur, er befasste sich mit der Geschichte der deutschen Literatur seit dem Mittelalter, besonders gern mit aktuellen Neuerscheinungen, und er verfasste schließlich selbst literarische Texte, Texte in allen Genres: Dramatische Dichtungen, Gedichte, Epigramme, Erzählungen, Novellen, Tagebücher, Essays.

Die Mönche von Garda

Über die Dramen und die Gedichte Pichlers (Liebesgedichte, Festgedichte, Hymnen etc.), die sich formal nie aus den Fesseln der zeitgenössischen Konventionen lösen, hat die Literaturgeschichte den Stab schon lang gebrochen. Sie bekunden, was dem Autor (einmal) wichtig gewesen ist, sind somit allenfalls als historische oder biographische Dokumente von Interesse. Aber in den diversen Pichler-Ausgaben wird derartigen Texten lange noch der breiteste Raum gewidmet, übrigens auch in der Monographie von Wackernell/Dörrer. – Mit komplexen, mehrdeutigen, zum Nachoder Umdenken anregenden poetischen Gebilden haben diese Texte nichts gemein. In der politischen Lyrik Pichlers ist bezeichnenderweise überhaupt nur eine einzige Farbenkombination dominant: schwarz-rot-gold.

Anders verhält es sich indessen mit der Prosa, vor allem mit den Wanderbildern und diversen Erzählungen, die zwar noch an die Tradition der im 19. Jahrhundert so beliebten Dorfgeschichten anknüpfen oder wenigstens passagenweise daran erinnern, aber hin und hin deren Grenzen sprengen. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass Pichler sich gegen alle Bemühungen verwahrt hat, seine Erzählungen zu den Dorfgeschichten zu rechnen.14 Es sind vielmehr oftmals Hochgebirgsgeschichten und durchgehend Volksgeschichten.

Es sind das Geschichten, die nicht nur auf ganz andere Landschaften verweisen als die populären Dorfgeschichten der Epoche – von Joseph Hubers Isidor, Bauer zu Ried über Erzählungen von Johann Peter Hebel und Berthold Auerbach bis hin zu Uli der Knecht von Jeremias Gotthelf. In Pichlers Geschichten fehlt nämlich weithin jedes didaktische Konzept. Der Dichter, ein Text, den Pichler in die letzte Sammlung seiner Elegien und Epigramme eingereiht hat,15 beginnt programmatisch mit den Versen: „Frei von Leidenschaft und niedriger Gier sei der Dichter, / Daß kein schnödes Gelüst trübe den lauteren Blick“ (GW XVII, 39); und ein Epigramm, im selben Band veröffentlicht, antwortet auf die einschlägige Kritik, dass er in seinen Texten oft allzu große Interpretationsspielräume offen lasse:

„Wir begreifen dich nicht.“ – Hab’ ich denn dieses verlangt je

Laßt zur Linken mich stehn, wandelt vorüber ihr rechts.

(GW XVII, 262)

Pichler teilt in vielem die Positionen der Deutschnationalen (die zu seiner Zeit im parlamentarischen Spektrum links stehen). Wenn sein Werk im 20. Jahrhundert mehr und mehr verschwindet, ist dieser Prozess, obgleich es dafür ein ganzes Bündel von Gründen geben mag, in erster Linie wohl doch mit seinen politischen Ansichten in Zusammenhang zu sehen. Genauer gesagt: mit seiner Weigerung, festverankerte, dogmatische Standpunkte und Weltanschauungen zu akzeptieren. Die Konservativen, die Liberalen, die Sozialisten, die Deutschnationalen, sie alle müssen hin und wieder zur Kenntnis nehmen, dass er ihnen (aus ihrer Perspektive) in den Rücken fällt.

Lange Zeit gibt ihm die Philosophie Hegels eine Art Richtschnur. Doch bald nach dem Studium schon empfindet Pichler jedes Theoriegebäude als Korsett; er setzt sich mit dem einen oder anderen wohl auseinander, aber er wehrt sich vehement, sich einschnüren oder einwickeln zu lassen. Unterm Stichwort Hegel (es befindet sich in der Sammlung Geisterstimmen – nicht in der Version Hans Magnus Enzensbergers,16 sondern im letzten Band der Gesammelten Werke Pichlers) formuliert er (ganz bezeichnend: gesprächsweise) seine diesbezügliche Überzeugung:

Hieltest du lang mich fest, wie einst den Widder der Dornbusch,

Haben Kunst und Natur endlich von dir mich befreit.

(GW XVII, 277)

An dieser Stelle ist auch von einer Geschichte zu berichten, die Pichler in sein Reisebild Zwischen Deutschland und Italien eingefügt hat:17 die Geschichte der Mönche von Garda. Ihr Kloster wurde, erzählt Pichler, von einem edlen Veroneser 1673 gegründet, aber im Verlauf des Italienfeldzugs Napoleon Bonapartes aufgelöst. „Der eiserne Besen Napoleons fegte die Mönche fort und zerstreute sie in die Welt, der sie entflohen waren.“ Ein Graf übernahm den kleinen Besitz. – Was sich später dort zugetragen hat, will Pichler gar nicht wissen. „Das möge die Phantasie eines deutschen Klassikers des Pfennigromanes schildern, wir überlassen ihm den Stoff ohne Anspruch auf Perzente.“ Stattdessen fährt Pichler fort (eine Überlegung an die andere anknüpfend, bis sie sich endlich überschlagen, wenn nicht sogar überkreuzen), die Sache habe doch auch

ihre ernste, sehr ernste Seite, sie streift sogar ins Gebiet des verruchten Sozialismus. Ohne Frage gehören die Besitztitel, welchen die Hierarchie ihre Güter verdankt und verdankte, zu den legitimsten und ältesten der Welt, und um so größer war der Rechtsbruch, der sie einfach kassierte. Fürsten und Regierungen, welche nicht wagten, das Eigentum der Privaten anzutasten, strichen das Erbe der Kirchen lachend ein […]. Ihr deutet mir entrüstet auf den trägen Müßiggang der Mönche, unsere Zeit fordere die Arbeit, die harte, trockene Arbeit. Wir wollen die Berechtigung dieses Vorwurfes nicht von Fall zu Fall untersuchen, sondern nur fragen, ob die zahllosen Faullenzer in den Kaffeehäusern und an den Spieltischen der Städte auch Mönche seien? – Muß denn jeder von der Wiege bis an den Sarg ein Rad in der ungeheuren rasselnden, prasselnden, schnurrenden, menschenverschlingenden Weltfabrik sein? (GW X, 264)

Pichlers Wanderbilder verweisen nicht nur auf Landschaften, auf Aspekte, die den Geologen interessieren, den Naturwissenschaftler, sondern sie verweisen immer auch auf die Menschen in diesen Landschaften, auf ihre Geschichte, ihre Kunst- und Literaturdenkmäler, auf die Geschichten, die von den Menschen erzählt werden, auf deren Märchen und Bräuche, deren Ängste und Hoffnungen, auf ihre Einstellungen zum Leben: Auf diese Einstellungen sich einzulassen, statt mit dem überlegenen Blick des Forschers sie nur darzustellen, dazu sieht sich Pichler verpflichtet. – In Rudolf Borchardts berühmter Anthologie Der Deutsche in der Landschaft, die zum ersten Mal 1927 erschienen ist,18 fehlt Pichler; seine diversen Reisebilder aus Italien (und keineswegs nur die eingangs zitierte Skizze) hätten neben Jakob Philipp Fallmerayers Fragmenten aus dem Orient durchaus einen Platz verdient. Pichlers Blick auf die Landschaft ist nie bloß ein Blick von außen oder oben.

Die Faszination des Inkommensurablen

In das Gardasee-Gebiet kehrt Pichler oft und oft zurück, „Land und Leute sind mir lieb geworden“.19 Allein, einen Besuch von Malcesine will er zunächst einmal nicht empfehlen, hat er doch „über die Männer von Malcesine wenig Gutes“ gehört, „sie seien streitsüchtig und täten ihre Händel wie die christlich-germanischen Altbayern gern mit dem Messer austragen“; unmittelbar daran anschließend ergänzt Pichler:

Aus Malcesine ist kein Held, kein Dichter, kein Künstler hervorgegangen, es bleibt also vor einem Denkmale bewahrt und das ist auch etwas, wenn nicht moderne Goethe-Narren in der Nische des Schlosses eine Marmorplatte einmauern lassen.

(GW VII, 224)

Inzwischen (das sei hier in Klammern eingeschaltet) erinnert längst schon eine Büste in der Burg der Scaliger an Goethes Aufenthalt in Malcesine. Aber das ist eine andere Geschichte. – Pichlers Geschichte ist noch nicht zu Ende. Vor der alten Burg geraten ihm die Gedanken durcheinander, er fühlt sich zurückgestoßen und zugleich doch auch hingezogen;

Malcesine, Postkarte, Brenner-Archiv, Nl. Fritz von Herzmanovsky-Orlando, Sign. 10-37-22

es ist hier nichts geschehen und die Einwohner haben nichts getan, was Erwähnung verdiente. Aber ist denn das eigentlich die Geschichte oder nur das Lattenwerk derselben? – Schlug nicht auch hier der volle innere Puls des Lebens, spiegelte nicht auch hier sein Gang in Tränen wider oder klang aus dem Jubel der Begeisterung? – Auch hier gab es menschliche Seelen als Stoff, ihnen die eherne Form aufzudrücken, und der Odem der Zeit wehte durch jede Brust. So möchte man die Geschichte solcher Orte schreiben, die keine Geschichte haben; vielleicht ist aber diese Geschichte wichtiger als die Geschichte, welche Klios Posaune in die Welt hinausbläst. (GW VII, 224f.)

Pichler hat nicht viel übrig für eine Geschichtsschreibung, die sich in Heldendichtung erschöpft; indem er, etliche Jahrzehnte vor Bertolt Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters (die erstmals 1936 in der Zeitschrift Das Wort in Moskau erscheinen sollten), sich entschieden dafür einsetzt, die Geschichte (auch) „von unten“ zu betrachten, knüpft er an einen Zeitgenossen an, mit dem er in jungen Jahren ganz persönlich noch Kontakt gehabt hat:

Diese Gedanken beschäftigten mich, als ich im milden Abendlichte durch die Olivenhaine schritt; ich erinnerte mich des unvergänglichen Adalbert Stifter, der über Naturereignisse weise und tiefsinnige Worte in ähnlichem Sinne ausgesprochen; ich gedachte seiner „Zwei Schwestern“. (GW VII, 225)

Das voluminöse Handbuch der deutschen Erzählung, das Karl Konrad Polheim 1981 herausgegeben hat, widmet Pichler (wie vielen anderen seiner Zeitgenossen auch) keinen gesonderten Eintrag. Aber Burkhard Bittrich bedauert in seinem Beitrag über Biedermeier und Realismus in Österreich immerhin, dass Pichlers „Schaffen unberücksichtigt bleiben“20 musste. Ausdrücklich nennt er die Sammlung Allerlei Geschichten aus Tirol (1867); die Sammlung Allerlei aus Italien (die zehn Reisebilder enthält) wäre in diesem Zusammenhang allerdings unbedingt ebenfalls anzuführen.

Mehr noch aber wäre herauszustellen, was Pichlers Erzählungen von anderen zeitgenössischen trennt, warum er immer wieder darauf beharrt, nicht als Autor von Dorfgeschichten charakterisiert zu werden (die einschlägigen Äußerungen sind Bittrich augenscheinlich entgangen). 1886 notiert Pichler im Tagebuch: „Meine ‚Erzählungen aus Tirol‘ sind keine Dorfs- sondern Volksgeschichten.“ (GW III, 230) Was ihn umtreibt und immer wieder neu anregt, seine ganz eigene Art von Geschichten zu schreiben, ist nämlich die Dimension des Inkommensurablen,21 die (aus seiner Sicht) weder von der Politik noch von den Naturwissenschaften angemessen zur Kenntnis genommen oder gar gewürdigt wird. „Die Natur ist metaphysisch, wo Du sie anschaust, aber messen und berechnen kannst Du das allerdings nicht.“ (GW III, 258) Angemessen darauf zu reagieren, so sieht das Pichler, das vermag nur die Literatur. Eine Literatur freilich, die das Niveau von Pfennigromanen oder auch Dorfgeschichten weit hinter sich lässt. – Die verlorenen Seelen von Malcesine behält Pichler zeitlebens im Kopf.

Naturwissenschaften : Literatur

Von daher versteht sich auch, dass Pichler, als er erstmals Chancen gesehen hat, an der Innsbrucker Universität eine Stelle zu übernehmen, auf Anhieb eine philologische Lehrkanzel jedem Lehrstuhl der diversen naturwissenschaftlichen Fächer vorgezogen hätte. Es sollte anders kommen. – Es kam vieles anders in seinem Leben, ganz anders als erwartet oder erhofft.

Pichler war ein guter Schüler. 1832 kam er in das Akademische Gymnasium in Innsbruck, 1840 nahm er an der Tiroler Universität das Jus-Studium auf. Weit mehr hätte ihn zwar die Medizin interessiert, aber in Innsbruck gab es noch keine einschlägige Fakultät, und in eine andere Stadt auszuweichen konnte er sich zunächst einmal finanziell nicht leisten. Er wich indessen nicht ungern auf andere Disziplinen aus; am meisten beeindruckten ihn dabei die Vorlesungen des Professors der Klassischen Philologie und Ästhetik Alois Flir (der 1840/41 auch Dekan der Philosophischen Fakultät und 1842/43 Rektor der Universität Innsbruck werden sollte). 1842 konnte er endlich seine Studien in Wien fortsetzen, 1848 wurde er zum Doktor der Medizin promoviert.

Dass junge Menschen „weder nach rechts noch nach links ausrissen“ (WD 7), konnte er schon in der Schulzeit wie auch später nie verstehen.

In der Märzerhebung des Jahres 1848, die auch von Innsbrucker Professoren (auch von Flir) mit Sympathie aufgenommen wurde,22 schlug sich Pichler, der eine „große, gewaltige Zeit“ (WD 28) heranrücken sah, sofort auf die Seite der Studenten; und als sich die Italiener gegen die österreichische Herrschaft in der Lombardei erhoben, schlossen sich die Tiroler Studenten in Wien zu einer Freiwilligenkompanie zusammen, sie wählten Pichler zu ihrem Hauptmann und zogen nach Storo, um „an der südwestlichen Grenze unseres Vaterlandes […] für dasselbe alles zu thun und zu opfern, wie es unsere Väter thaten.“23 – Pichlers Erinnerungen an dieses Sturmjahr, „Tage voll begeisterter Hoffnung und idealen Aufschwunges“,24 sind im zweiten Band seiner autobiographischen Werke festgehalten.

Im November 1848 erhielt Pichler erstmals eine Supplentur für Naturgeschichte an der Universität Innsbruck. Ab 1851 aber unterrichtet er am Obergymnasium in Innsbruck Naturgeschichte und Deutsch. Als das Ministerium für Kultus und Unterricht im selben Jahr den Lehrkörper der philosophischen Fakultät aufforderte, „dasjenige Individuum, welches er für eine Lehrkanzel der deutschen Sprache und Literatur geeignet erachte, namentlich zu bezeichnen“, nannten die Professoren einstimmig den Gymnasiallehrer und Schriftsteller Pichler, obwohl ihnen, wie sie einräumten, nicht unbekannt war, dass der Kandidat durch seinen Aufenthalt in Wien 1848 sowie durch bestimmte „Phrasen“ in seinen Arbeiten „zu manchem Verdachte Anlaß gegeben haben mochte“.25 Den Lehrstuhl, der schließlich erst 1859 errichtet wurde, erhielt indessen der Sprachforscher, Literarhistoriker, Dichter und Märchensammler Ignaz Vinzenz Zingerle, der anders als sein Konkurrent aus einem katholischen Haus kam, im übrigen aber auf den Gebieten der Literaturwissenschaft und der Volkskunde weit mehr vorzuweisen hatte als Pichler.26 – Das Verhältnis der beiden Kollegen blieb von da an recht kontinuierlich leicht-frostig.

Schreiben des Lehrkörpers der philosophischen Fakultät vom 8.6.1851, Universitätsarchiv Innsbruck, Akt Adolf Pichler

Pichler wurde, mit einiger Verspätung, 1867 auf den (scheinbar weniger brisanten) Lehrstuhl für Mineralogie und Geologie berufen. „Ein Wendepunkt in meinem Leben.“ (GW III, 90)

Schon als junger Gymnasiallehrer hatte Pichler die mineralogischen und geologischen Sammlungen an seiner Schule auf- und ausgebaut. Seine Beiträge zur Geognosie der Kalkalpen wurden jedoch nicht nur in Tirol wahrgenommen: 1857 würdigte Franz von Hauer, der Direktor der Wiener Geologischen Reichsanstalt, nach einem Besuch in Tirol nicht nur die von Pichler gesammelten und dem Museum Ferdinandeum zur Verfügung gestellten „Petrefacten“, mehrere Tausend Stück, die offenbar ein neues Licht über das geologische Alter der tirolischen Kalkalpen warfen, er setzte darüber hinaus dazu, „die k.k. geologische Reichsanstalt“ sei Pichler „zu ganz besonderem Danke verpflichtet, da er uns nicht nur mit der liberalsten Bereitwilligkeit alle Ergebnisse seiner mühevollen und überaus genauen Detailuntersuchungen mittheilte, sondern überdies auch die Herren Geologen bei allen Ausflügen in der Umgebung von Innsbruck begleitete.“27 Auch der deutsche Kartograph Ferdinand von Richthofen, der Begründer der modernen Geomorphologie, bedankte sich in seiner Studie über Die Kalkalpen von Vorarlberg und Nord-Tirol (1859) für die „thätigste und erfolgreichste Unterstützung“, die Pichler ihm gewährt hätte, insbesondere durch seine „reiche Sammlung von Versteinerungen“.28 – In Tirol sollte noch lange namentlich Pichlers Beschreibung der berühmten Höttinger Breccie (vgl. WD 82) in Erinnerung bleiben.

Adolf Pichler als Geologe (1819–1900). Unter diesem Titel verfasste Robert Ritter von Srbik 1930 eine Gedenkschrift, in der er die Leistungen Pichlers zusammenfasste und gleichzeitig einer (bestimmt nicht allzu gestrengen) Nachprüfung unterzog. Srbiks Bilanz fiel insgesamt sehr positiv aus: „Nahezu ein halbes Jahrhundert hat Pichler an der geologischen Erforschung Tirols gearbeitet, unermüdlich einen großen Teil des Landes durchstreift, kritisch untersucht, beschrieben und dargestellt.“29 Pichler selbst, dem nach der Errichtung eines Extraordinariats für Mineralogie und Petrographie ab 1876/77 nur mehr die Lehrkanzel für Geologie überlassen war,30 zog im Sommer vor seiner Emeritierung (1890) hingegen einen anderen Schlussstrich:

Durch die Naturwissenschaften wurden alle Erscheinungen der Natur ihres persönlichen Charakters entkleidet, sie haben dadurch unleugbar an poetischem Wert verloren, wie alles, das sich wägen, zählen, messen läßt. (GW III, 28)

Schattenbilder aus der Vergangenheit

Als Hochschullehrer dürfte Pichler etliche Konsequenzen aus seinen leidvollen Erfahrungen der Studienzeit gezogen haben. „Die Universität sollte uns nur für die verschiedenen praktischen Berufsarten dressieren; man behandelte uns […] als halbwüchsige Knaben. Von einer akademischen Freiheit war keine Rede“ (GW I, 96), schreibt er in seinen Erinnerungen, die im Anschluss daran auch darüber sehr anschaulich Auskunft geben, wer im Schul- und Universitätsbereich das Sagen hatte:

Wir mußten am Sonntag in der alten Jesuitenkirche dem Hochamt beiwohnen, der Besuch der Kollegien, wenn man es so nennen will, war nach Stunde und Fach genau bestimmt und strenge überwacht. Die Lehrer riefen uns nach Belieben vor, gaben Noten und zuletzt entschied eine Schlußprüfung über unser Los. Freilich brauchten wir kein Kollegiengeld zu bezahlen. Die Schüler des Gymnasiums und dann der Universität stammten in der Mehrzahl aus Bauernstuben, sie zogen keine Wechsel, sondern frötteten sich mit Kosttagen und Monatsgeldern, die ihnen Bürger gaben, durch oder frondeten als Instruktoren. (GW I, 96)

Mit den Söhnen der Beamten und des Adels, die ebenfalls die Lehrveranstaltungen besuchten, hatten Bettelstudenten wie Pichler kaum Kontakt; mit den Lehrpersonen noch weniger.

Die Weltgeschichte leierte uns nach der bekannten österreichischen Schablone der hochwürdige Ingenuin Weber vor. Matt, geistlos, wie seine schwarzen Kanonenstiefel! Während seiner Stunde exzerpierte ich die Geschichte der Philosophie von Hegel und trieb allerlei Allotria. Einmal mußte ich bei ihm die Religionsprüfung machen. Ich studierte damals fleißig das Neue Testament. Als ich nun aus den Briefen des Apostels Paulus Stellen griechisch vorbrachte, lächelte er und ließ mich laufen. Wenn ich mich recht besinne, verscholl er als Dekan von Hall. (GW I, 100)

Das Jus-Studium diente in erster Linie dem Zweck, einmal „ein Brot im k.k. Staatsdienste“ zu verdienen. „Von Wissenschaft kein Dunst.“ (GW I, 103); Pichler fand demnach ausreichend Zeit, sich neben Hegel auch Schiller und später vor allem Goethe vorzunehmen, dann Voltaire, von den Italienern schließlich Tasso, Metastasio, Goldoni und Alfieri und andere mehr, darunter vorzugsweise zeitgenössische Autoren, deren Werke damals vor den Augen der Zensur zwar nicht standhalten konnten, aber z.B. in Trient immerhin „unter den Schulbänken von Hand zu Hand“ wanderten (GW I, 103). – Während Pichler nie müde wird, die führende Rolle der (katholischen) Kirche im Schul- und Universitätsleben unter Beschuss zu nehmen, weist er andererseits wiederholt darauf hin, dass er in schwierigen Phasen seiner Studienjahre nicht selten gerade von Geistlichen Unterstützung, Trost und Aufmunterung erfahren hat.

Solche Erfahrungen, gesammelt in den Schul- und Studienjahren, in Innsbruck und später auch in Wien, sollten Pichler zeitlebens davon abhalten, mit Blick auf gesellschaftliche Modernisierungsschübe literarische Schwarz-Weiß-Zeichnungen anzufertigen. In diesem Zusammenhang ist ein Ereignis bemerkenswert, das ansonsten ohne weiteres übergangen werden könnte: die Gründung des „Vereins der Nibelungen“ (1841). In dieser Gesellschaft, die sich Woche für Woche im Rittersaal des Schlosses Büchsenhausen traf (und wohl darin einig wusste, dass es galt, außerhalb des Machtbereichs der Kirche Inseln einzurichten, auf denen die gewohnten Beschränkungen der Meinungsfreiheit nicht länger gelten sollten), wurde (auf Anregung Pichlers) über den „Wert des Studiums der altdeutschen Literatur für das Erwachen des Vaterlandsgefühles“ diskutiert, m.a.W. (weniger pathetisch formuliert) ultramontanes durch deutschnationales Denken abgelöst; „Musik und Deklamation“, notiert Pichler später, „erheiterten die Abende und immer mehr Teilnehmer schlossen sich an.“ Die Polizei war informiert, wollte offenbar (wie Pichler berichtet) schon „zuschlagen“, doch:

Dies verhinderte der vielgelästerte Graf Brandis [Clemens von Brandis], Statthalter von Tirol. Mag man über die Richtung dieses Mannes, eines entschiedenen Hochtorys und Jesuitenfreundes, denken wie es beliebt, so muß man doch zugeben, daß er Sinn für geistiges Leben besaß, den er vorzüglich durch Unterstützung talentvoller Jünglinge bewies, und für das Land, zu dessen ältestem Adel ihn sein Stammbaum gesellte, ein warmes Herz hatte. (GW I, 109)

Im Rückblick auf derartige Schattenbilder aus der Vergangenheit kommt Pichler auf eine Einsicht zurück, die seit seiner Studienzeit zentrale Leitidee für sein politisches Verhalten (wie auch für sein Auftreten an der Universität) bleiben sollte: „Lieber ein Aristokrat von Charakter, als ein Bureaukrat, der in allen Farben spielt, nach oben kriecht und nach unten tritt […]. Man vergesse nie, daß jeder, der eine bestimmte Richtung vertritt, wenn wir auch diese Richtung von unserem Standpunkte aus bekämpfen, vor Gott und Menschen Achtung fordern darf.“ (GW I, 109f.) Der „Verein der Nibelungen“, in dem Pichler zum ersten Mal ein Referat aus dem Gebiet der Germanistik gehalten hatte, sollte sich binnen kurzem selbst auflösen (WD 11); denn 1842 nahm Pichler das Studium der Medizin in Wien auf. Aber Clemens von Brandis, Tirols letzter Gouverneur der Vormärz-Ära, der 1848 sein Amt niederlegen musste, erhielt in Pichlers autobiographischen Schriften als Förderer von Kunst und Wissenschaft einen Ehrenplatz.

Nach der Revolution des Jahres 1848 und nach der Umgestaltung der österreichischen Universitäts- und Bildungslandschaft durch die Hochschulreform des Ministers Leo Graf Thun-Hohenstein, der das Bildungsideal Wilhelm von Humboldts im gesamten Raum der Habsburger Monarchie umzusetzen versuchte,31 waren (zumindest auf dem Papier) die bis dahin gültigen Reglementierungen des Unterrichts, die Pichler immer schon maßlos geärgert hatten, endlich außer Kraft gesetzt, dagegen Lehr- und Lernfreiheit gesichert. Im Zuge der Neuverortung der österreichischen Universitäten zwischen Staat und Kirche fiel allerdings der Innsbrucker Hochschule nach wie vor eine Rolle zu, die nicht den Beifall der doch eher liberal gesinnten Professorenmehrheit finden konnte: Die Universität sollte ein Bollwerk der katholischen Mission bleiben. Julius von Ficker (1826 geb. in Paderborn, 1851 in Bonn habilitiert), einer der bedeutendsten Diplomatiker des Jahrhunderts, der seit 1852 in Innsbruck Allgemeine Geschichte lehrte,32 war in dieser Hinsicht Thuns erster Vertrauensmann in Tirol. Die Wiedererrichtung der Katholisch-Theologischen Fakultät 1857 und ihre Überantwortung an den Jesuitenorden33 sowie etliche andere Entwicklungen mehr34 sollten den Kulturkampf in Tirol (ab 1860) neu entfachen.

Der „moderne Katholizismus“, der „die Zügel der Zentralisation“ immer mehr noch anzog und das früher vielzitierte Wort In necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus caritas beinah in Vergessenheit geraten ließ, war Pichlers Sache nicht.35 Er hielt sich dennoch in den einschlägigen Senatsdebatten gern zurück. Diskussionen über die offizielle Beteiligung der Universität an der Fronleichnamsprozession in Innsbruck und über ähnlich-strapaziöse Tagesordnungspunkte gaben ihm allenfalls noch Anlass zu ironischen Bemerkungen im privaten Kreis,36 von seinen eigenen „Irrfahrten“37 konnten sie ihn jedoch nicht abhalten. Seine Studenten lud er hingegen immer wieder ein, ihn auf diesen Fahrten zu begleiten. – Die Erzählung Im Rosengarten aus der Sammlung Kreuz und quer, die Pichler seinen Schülern Alois Brandl und Joseph Wackernell gewidmet hat, beginnt mit dieser Einleitung:

Geognosie läßt sich nicht leicht am Büchertische studieren; ihr Gegenstand ist der Bau der weiten Erdoberfläche mit ihren Höhen und Tiefen; sie führt uns in das Freie und befreit so den Geist vom Staub grauer Theorie, indem sie ihn unmittelbar größere Gegenstände zu beobachten zwingt. Daher wandere ich nach den Vorträgen des Winters fast in jedem Frühling, jedem Sommer mit meinen Schülern ins Gebirge durch das ganze Land Tirol, das so recht eine Sammlung der prachtvollsten Schaustücke bietet, deren Bedeutung zu entziffern freilich nicht immer gelingt. Aber auch das hat seinen Reiz, und die Betrachtung vorläufiger Grenzen menschlichen Erkennens leiht uns manchmal den Fittich, über diese Grenzen wegzusetzen, verleitet aber auch manchen zu Ikarusflügen der Phantasie, die in ihrer Art mit den Erfindungen der tollsten Romane wetteifern. (GW VII, 159)

Man darf wohl davon ausgehen, dass seine Schüler nicht geflunkert haben, wenn sie Pichler später unisono als einen höchst-anregenden Lehrer bezeichneten.

Religionsstörer

„Man weiß in Tirol dafür zu sorgen,daß die Bäume nicht über das Kirchendach wachsen.“(GW III, 77)

Pichler wirkt nicht selten verbittert, erweckt den Eindruck, am liebsten würde er die Feder umgehend mit dem Schwert vertauschen. Das hat hin und wieder wohl auch mit Niederlagen zu tun, die er in seinem privaten und beruflichen Leben erlitten hat, weit mehr noch aber hat es ganz bestimmt zu tun mit Ereignissen und Entwicklungen, die zu seiner Zeit Tirol insgesamt erschüttert und vor allem die liberal denkenden Intellektuellen schwer getroffen haben.

Das erste dieser Ereignisse war die Ausweisung der Zillertaler „Inklinanten“. 1837 wurden Hunderte Personen, die sich für die Augsburger Konfession entschieden hatten, als „Religionsstörer“ aus dem Zillertal verjagt; die meisten von ihnen flohen nach Schlesien. Ein anderes, mit dem ersten Ereignis nicht unmittelbar verknüpft, war die Rückberufung der Jesuiten nach Innsbruck. 1839 übernahmen sie das adelige Konvikt „Theresianum“ und das Gymnasium. Die bald darauf vom Landtag genehmigte Grundsteinlegung des Jesuitenkollegiums galt vielen und keineswegs nur den Gegnern der Jesuiten als Antwort des wieder erstarkten Ultramontanismus auf den Bau des Ferdinandeums, des neuen Innsbrucker Museums, das als Mittelpunkt aller fortschrittlichen künstlerischen Bestrebungen und Bewegungen intendiert war.38 Mit dem Ende des Neoabsolutismus und dem Beginn des parlamentarischen Lebens 1860/61 sah das katholische Lager schließlich ein weiteres Mal die Glaubenseinheit und auch die politische Eigenständigkeit Tirols bedroht; der daraufhin einsetzende Kulturkampf sollte sich über dreißig Jahre hinziehen.

Hermann von Gilm (1812–1864), der (weit über Tirol hinaus) bekannteste Lyriker des Landes, der ebenso wie Pichler Das Leben Jesu von David Friedrich Strauß (wenigstens eine Zeitlang) auf seinem Schreibtisch ganz obenauf vor sich hatte,39 war nicht nur von den führenden Repräsentanten der Vormärz-Dichtung, namentlich von Heinrich Heine, stark beeindruckt, als er seine Jesuitenlieder schrieb, er war in erster Linie auch empört über die Art und Weise, wie in Tirol das gesellschaftliche Leben und nicht zuletzt Kunst und Literatur gefesselt wurden. Das populärste seiner Gedichte, Der Jesuit, wurde in unzähligen Abschriften in Innsbruck, in ganz Tirol in Umlauf gebracht,40 allein die ersten beiden Strophen dürften viele Leser/innen ebenso für immer im Kopf behalten haben wie sein Gedicht Allerseelen (das später durch die Vertonung von Richard Strauss41 eine wundersame Berühmtheit erlangen sollte):

Pichler, Gilm, Senn, Zeichnung, Brenner-Archiv, Nl. Arthur von Wallpach, Sign. 27-17

Es geht ein finstres Wesen um,

Das nennt sich Jesuit;

Es redet nicht, ist still und stumm,

Und schleichend ist sein Tritt.

Es trägt ein langes Trau’rgewand

Und kurzgeschornes Haar

Und bringt die Nacht zurück ins Land,

Wo schon die Dämm’rung war.

Auch Pichler bestätigt hin und hin in seinen Tagebüchern, dass ihm in vielen Phasen nur eine Zuschauer-Rolle geblieben sei.

Die Ereignisse, die mein Land betrafen, im Zusammenhang darzustellen fühle ich mich kaum berufen. Zwar habe ich den Gang derselben beobachtet wie der Meteorolog das Wetterglas, jedoch in meiner Stellung ohne Einfluß nirgends mitgewirkt und bei der eigentümlichen Lage der Dinge nie gewünscht, Hand anzulegen. Zur Ohnmacht verurteilt sein, wo sich Kraft und Fähigkeit des Wirkens regt, ist bitter genug […]. (GW III, 1) Zur Zeit von Bach [Alexander Freiherr von Bach, 1852–1859 neben dem Kaiser der mächtigste Politiker in Österreich] war ich unter strenger Aufsicht; es kam vor, daß mich, wenn ich auf der Eisenbahn in den Waggon steigen wollte, ein Polizeikommissär anhielt und fragte: wohin ich reise? Auch schwarze Spione belauschten jeden Atemzug von mir; ich verdanke es nur dem edlen Direktor Sibinger, wenn ich nicht entlassen wurde, wie das Gerücht öfters verkündete. Er stand für mich ein, ohne daß ich es wußte; zu Wien hatte er mich vor dem Minister Thun zu verteidigen, weil ich die Messe nicht besuche. Er sagte, man könne das nicht beweisen […]. (GW III, 3)

In der Vorstellung, dass die Ultramontanen im Einklang mit der Tiroler Landespolitik das Christentum verraten hätten, waren sich Gilm und Pichler einig (wie sonst selten). In einem Brief an seine Schwester Caton vom 7.11.1849 blickt Gilm zurück42 –

Wenn in meiner Erziehung nicht gar so plump zuwerke gegangen worden wäre, wenn die Abgeschmacktheit nicht gar so nackt hingestellt worden wäre, ich hätte wohl nicht so früh – ein halbes Kind – den ganzen Katholizismus über Bord geworfen. Ich bin zwar froh, so früh damit fertig geworden zu sein, aber es braucht einen eigenen Gott im Herzen, ohne Religion, so ohne Leuchte der Vernunft herumzutappen. Die Poesie hat mich über diese gefährliche Kluft hinausgetragen, und wo ich seither angelangt bin, da ist das Land der Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, das wahre Land Christi. […] Aber was die Menschen dazu gemacht haben, ist pure Alfanzerei.

Pichler wiederum bedauert in einem Brief an Alois Brandl vom 20.2.1884 ausdrücklich, dass „das Christentum der Wissenschaft nicht mehr Stand hält“: „Wär es nicht gut“, fragt er sich (und seinen Schüler), „wenn unserem modernen Fortschritt mit Syphilis, Schnaps und Tabak die altväterliche Hölle ein bißchen an die Sohlen brännte? Die Bestie in der Menschenbrust läßt sich kaum durch das eiserne Gesetz, eher durch die Religion bändigen […].“43 Der Vorwurf, er sei antireligiös, traf ihn zu Unrecht.

Die Angst vor der Berührung mit den Fremden

Von Fontane hat Pichler so gut wie nichts gelesen, obwohl Brandl seinen Lehrer auf den Autor der Wanderungen durch die Mark Brandenburg nachdrücklich aufmerksam gemacht hatte.44 Er hätte sich indessen vermutlich gleich alle Berliner Romane seines preußischen Kollegen schicken lassen, wenn ihm nur beispielsweise einmal Frau Jenny Treibel untergekommen wäre. Den im Schutz der schrecklichsten Phrasen-Vorhänge veranstalteten Tanz der Bourgeoisie um das Goldene Kalb45 hat er nämlich genauso unerträglich gefunden wie Fontane, eher noch hin und wieder mit schärferen Ausfällen getadelt, und nichts hat ihn mehr erzürnt, mehr zur Polemik gegen seine Zeitgenossen herausgefordert als unverbindliches Geschwätz, Klatsch. Derartiges jedoch zitiert er andererseits gar nicht ungern, um es bloßzustellen, ganz ähnlich wie Fontane.

Monologe, Briefe, vor allem aber Dialoge spielen in Pichlers autobiographischen Schriften und in seinen Wanderbüchern eine wichtige Rolle. Dabei geht es keineswegs immer darum, Positionen wegzuschieben, die der sonst omnipräsente Erzähler nicht ohne weiteres teilen kann und will. Er lässt auch die Figuren, mit denen er zu tun hat, ab und an gerne selber sprechen, um auf diese Weise eine polyperspektivische Berichterstattung zu etablieren: als Plädoyer, Ambivalenzen und Widersprüche geduldig auszuhalten, wo alles andere zuverlässig nur Engstirnigkeit und Intoleranz nach sich ziehen würde. – Wo immer er jedoch auf hartnäckige Borniertheit stößt, dort lässt er sich notorisch dazu hinreißen, unmissverständlich Deutsch zu reden.

Die folgende Passage – sie stammt aus dem 1. Band der Wanderungen, der in der Ausgabe der Gesammelten Werke zahlreiche Auflagen erlebt hat,46 und vermittelt Pichlers Reaktion auf Ressentiments gegenüber allem und allen „Fremden“, Animositäten und Vorurteile, wie sie in Tirol (aus seiner Sicht) seit dem Aufschwung diverser Modernisierungswellen gang und gäbe sind – bedarf deshalb auch keines weiteren Kommentars.

Viele glauben, die alte Kraft und Tugend sei auf den neu gebauten Straßen über die Grenze geflohen und der Rest davon werde auf der Eisenbahn mit Dampf nachfliegen. Diese scheinen zu vergessen, daß Tirol schon seit Jahrtausenden die große Völker- und Kriegsstraße zwischen Deutschland und Italien ist und daher die Berührung mit den Fremden schon längst gewirkt hat. Dem Transithandel und dem Verkehr verdankten die Ortschaften an der Hauptstraße, wo jetzt die Fuhrleute und Wirte mit dem ledernen, von Talern strotzenden Leibgurt allmählich seltener werden, ihre Physiognomie; nur dadurch konnte sich in Bozen jene phäakische Üppigkeit entfalten, die fast sprichwörtlich geworden. – Aber die Flut der Touristen, die sich über den noch unentweihten Boden der Seitentäler ergießt und nicht bloß Forellen und Gemsbraten vertilgt, sondern auch Zucht und Sitte angreift! – Diese Sommervögel streifen nur durch gewisse Gegenden, deren patriarchalische Zustände schon lange, ehe Bädeker und Murray Reisehandbücher schrieben, zur Mythe geworden sind, wie vielleicht mancher, der Zillertal besuchte, bestätigen kann. Will man für den angeblichen Umschlag des Volkscharakters einen Grund suchen, warum bezeichnet man nicht das Militärwesen? […] Die Kaiserjäger rekrutieren sich in Tirol, das Regiment ist sprachlich gemischt, indem Deutsche und Welsche ihren Anteil stellen; die Bataillone desselben liegen durch den ganzen weiten Staat zerstreut; Beurlaubte und Ausgediente reden bei ihrer Rückkunft nicht bloß eine Sprache mehr, sie haben in Quartieren und auf Märschen auch noch anderes gelernt, vielleicht manches, was besser unterblieben wäre. Man kann von Nachteilen reden, immerhin; aber man lasse den überwiegenden Nutzen nicht außer acht. Der Einfluß fremden Geldes, auswärtiger Kenntnisse auf die strebende und unentwickelte Industrie dürfte nicht zu verachten sein, abgesehen davon, daß der Verkehr mit vielerlei Menschen auch noch eine treffliche Schule des Lebens ist. (GW VIII, 80f.)

In einer Zeit (diese Anmerkung sei anstelle eines Kommentars hier doch genehmigt), in der Begriffe wie ‚multikulturell‘ und ‚interkulturell‘ noch nicht geläufig sind und insbesondere die konservativ-katholischen Kreise die Grenzen des Landes gemeinhin als Schutzwälle empfinden, weist Pichler bereits unverblümt darauf hin, dass der vielerorts befürchtete Prozess der Vermischung des Eigenen mit dem Fremden (auch in Tirol) tatsächlich längst eingesetzt hat und nachgerade, wenn schon nicht bedingungslos zu begrüßen, so doch mit Augenmaß zu diagnostizieren wäre.

Die Zotteltanne

Die eben zitierten Betrachtungen stellte Pichler nach einer Tour zum Solstein an. – Von seinen zahllosen und oft weiten Bergwanderungen kam er nicht selten in einer durchaus ramponierten Montur zurück. Die konservativen Tiroler Stimmen, aber genauso seine Freunde bezeichneten ihn deshalb gerne als „Zotteltanne“ (WD 1, 65 und 108); und noch Mitte der 1850er Jahre musste einer von ihnen, der Arzt und Politiker Norbert Pfretzschner, Pichler aus den Händen eines Gendarmen befreien, der ihn schon als Landstreicher aufgegriffen hatte (WD 13).

Doch Pichler legte auch keinen Wert darauf, sich jenem (zu seiner Zeit noch / schon gültigen) sozialmoralischen Übereinkommen zu beugen, das man etliche Jahrzehnte später mit der Figur der Politischen Korrektheit zu fassen versuchen sollte. In seinen Stellungnahmen zu einzelnen Kollegen, zur „Emancipation der Frauen“ (GW III, 359), zur Rolle des Sozialismus und vor allem auch zur „Judenfrage“ (um hier nur diese Beispiele explizit zu erwähnen) ließ er häufig jene Toleranz und Sensibilität vermissen, die er sonst als Signum der Literatur (verknüpft mit dem Bestreben, um jeden Preis ihre Unverfügbarkeit zu wahren) hochhielt.

Adolf Pichler, Postkarte, 1899, Nl. Pichler, Sign. 4/3.1

Unter den Kollegen schätzte er diese am meisten, die wie er selber keine besondere Neigung zu politischen Kompromissen zeigten. Wackernell weiß zu berichten, „daß er mit Joseph Daum, welcher auf der äußersten Linken, und mit Joseph Greuter, der auf der äußersten Rechten stand, am liebsten verkehrte“ (WD 63); jener war Philologe (und blieb zeitlebens in der Gymnasialsphäre), dieser ein Priester, der als Abgeordneter im Landtag und im Reichsrat stets konsequent die Interessen der katholischen Kirche vertrat (und die liberale Schulgesetzgebung bekämpfte). „Mit Greuter stehe ich auf dem besten Fuße“, gestand Pichler dennoch in einem Brief an Emil Kuh (1876), „wir können uns über die Linie, die uns trennt, die Hand reichen, ohne den Versuch zu machen, einer den andern zu sich hinüberzuziehen.“ (WD 64; vgl. GW III, 53ff.) Ein anderer Kollege aus dem Gymnasium, der wie Greuter ebenfalls ein einflussreicher Parlamentarier werden sollte und Pichler politisch sehr viel näher stand, der Philosoph Tobias Wildauer, der seit 1858 auch als Professor an der Innsbrucker Universität wirkte und in dieser Funktion die „Akademische Festrede zu Friedrich von Schiller’s hundertjährigem Geburtstage 1859“ hielt,47 fand hingegen vor der „Zotteltanne“ keine Gnade: Pichler ärgert sich immer wieder maßlos darüber, dass Wildauer sowohl bei den Klerikalen wie bei den Liberalen seine Anhänger hat, aber vor allem auch am Hof in Wien; „Hofschwanzerei“, befindet Pichler (WD 65) im Rückblick, sei mehr oder weniger die einzige Stärke Wildauers gewesen, „zum selbständigen Philosophen fehlten ihm die Ideen“ (GW III, 29). – Was tatsächlich dieses Zerwürfnis unter den Kollegen ausgelöst und besiegelt hat, wird aus der Brandrede, die Pichler in seinen Erinnerungen dem Konkurrenten nachreicht (vgl. GW III, 24-29), weniger ersichtlich als aus dem Kommentar, der sich in der Monographie von Wackernell und Dörrer dazu findet (und mit ziemlicher Sicherheit auch die Zustimmung Pichlers gefunden hätte):

Fort und fort stieß […] Pichlers nationale Gesinnung auf die liberale Wildauers, welche dieser mit dem größeren Teil der damaligen österreichischen Parlamentarier teilte, die es verabsäumten, die deutsche Staatssprache festzulegen und die andern Belange der Deutschen in Österreich zu sichern, was damals noch, wo selbst Städte wie Prag über eine deutsche Mehrheit im Gemeinderat verfügten, leicht erreichbar gewesen wäre. Statt dessen ließen sie sich für das scheinbar harmlose, ja edle Regierungsschlagwort von der „Berücksichtigung der kleinen Nationen in Österreich“ gewinnen, bis es zu spät war, bis Juden und Fabrikanten in Prag, die früher das Deutschtum am lautesten im Munde geführt hatten, zu den Tschechen übergingen, andere Städte von ähnlichem Schicksal ereilt und die Deutschen des Habsburger Reiches mehr und mehr zum „Kulturdünger“ für die andern Nationen herabgedrückt wurden. (WD 65f.)

Über die „nationale“, das heißt: deutschnationale Gesinnung Pichlers, die er selbst x-fach betont und unterstrichen hat, dürften seine Kommilitonen und Kollegen oft genug den Kopf geschüttelt haben. Als einziger Innsbrucker Hochschulprofessor unterzeichnete Pichler die Bismarckadresse der Deutschnationalen Tirols von 1895 (WD 297); dass er sich mitunter sehr einsam fühlte, hatte er nicht zuletzt sich selber zuzuschreiben.

Nicht so ganz allein stand er mit seiner Position zur Frauenrechtsbewegung. – Pichler hat 1857 geheiratet; wie Wackernell bezeugt (WD 85), „ein junges, schönes und wohlhabendes Mädchen aus einem angesehenen Innsbrucker Kaufmannshause“: Josephine Groß (geb. 1839). Die Hochzeitsreise führte das Paar nach Bonn, wo Pichler anlässlich einer Naturforscherversammlung einen Vortrag über seine geognostische Karte von Tirol halten sollte. „Die Ehe war viele Jahre glücklich“, wurde später kolportiert (WD 86). In seinen Tagebüchern hat Pichler allerdings unübersehbar angedeutet, dass „es anders gekommen ist, als ich erwartete und wollte“ (GW III, 43); und seit Jahren schon hatte Pichler von seiner Frau getrennt gelebt, als sie 1892 starb (WD 250). Gleichviel, mit den Überlegungen, die er in den letzten Jahren seines Lebens, konfus festgeschnürt 1897, zum Generalthema „Emancipation“ zusammenstellte, um sie deren Drahtziehern (ganz signifikant wandte er sich damit nicht direkt an die Frauen) ins Stammbuch einzutragen, ordnete er sich dezidiert in die Riege der Konservativen ein, auch wenn er sich sonst doch längst daran gewöhnt hatte, diese eher aus größerer Distanz zu observieren.

Die Emancipation der Frauen? Wollt ihr sie gründlich durchführen, so hebt die Ehe auf und löst das Verhältnis, den Zusammenhang und Gegensatz der Geschlechter, wie ihn die Natur aufgestellt hat. Die Frage läßt sich manchesmal auf Überbildung der Frauen zurückführen, schwer wiegt dabei der Umstand, daß der harte Kampf um das Dasein den Mann zwingt für seine Einzelexistenz zu ringen und er sich daher immer seltener einen häuslichen Herd gründen und einer Frau eine angemessene Stellung gewähren kann. (GW III, 359)

Einzig in der Frage der Ehegesetzgebung grenzt sich Pichler mit derartigen Äußerungen noch von der katholisch-konservativen Propaganda der Kulturkampf-Ära ab, die er andrerseits zuhause, unter vier Augen, ohne Umschweife als Produkt männlicher: d.h. kaltherziger und rücksichtsloser Machenschaften in Grund und Boden redet:

Das marianische Innsbruck: Es ist statistisch nachgewiesen, daß unsere fromme Stadt neben dem verrufenen Budapest den höchsten Prozentsatz Syphilitischer in den Kasernen aufweist. […] Jüngst wurde ein ehrsamer Bürger zu 3 Monaten verdonnert, weil er ein Zimmer an eine Dirne gab, von dieser für den Tag 1 fl forderte, und als sie nicht zahlen konnte, ihre Sachen pfänden wollte. Hinter einem jüdischen Geldwucherer hier stehen drei sehr konservative katholische Herren und teilen mit ihm den schmutzigen Gewinn. Überall Schande und Heuchelei!48

Im Briefwechsel mit Brandl redet Pichler Klartext, gibt er schließlich auch unverblümt zu verstehen, wie er die historische Rolle des Sozialismus und die zu seiner Zeit im Bildungsbürgertum (wie an der Universität, unter den Professoren und unter den Studenten) grassierende Judenfeindschaft49 einschätzt.

Brandl, 1855 in Innsbruck geboren, hat zunächst in Innsbruck und Wien Germanistik und Klassische Philologie studiert, bald jedoch sich mehr und mehr der Anglistik zugewandt. Er erlebt eine steile Karriere; sie führt ihn über eine außerordentliche Professur an der Deutschen Universität in Prag schon 1888 als Ordinarius nach Göttingen, 1892 nach Straßburg und endlich nach Berlin. Zu seinem Lehrer Pichler aber hält er über alle diese Jahre eine enge freundschaftliche Verbindung aufrecht.50 – Die Briefe und Karten der beiden Gelehrten (immerhin knapp 500 Schriftstücke aus dem Zeitraum 1876–1900 sind erhalten geblieben) dokumentieren, dass sie 25 Jahre lang einander schreiben, was immer ihnen nahe geht. Sie schreiben über private Erfahrungen und Enttäuschungen, über Empfindungen und Sorgen, die sie gelegentlich selbst ihren Familienangehörigen vorenthalten, über die Verhältnisse, die Attraktionen und die Intrigen an ihren Universitäten, über das gesellschaftliche und kulturelle Leben, soweit sie es aus geringerer oder größerer Distanz mitverfolgen, schließlich auch über politische Zustände und Entwicklungen; vor allem aber erörtern sie in ihren Briefen unentwegt ihr Hauptgeschäft, die Literatur. Natur und Literatur: für beide sind das keineswegs Fluchträume, sondern Bereiche, aus denen sie Tag für Tag jene Energie schöpfen, die das gesellschaftliche Leben ihnen abverlangt.