Die Vermesserin der Worte - Katharina Seck - E-Book

Die Vermesserin der Worte E-Book

Katharina Seck

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wenn die Liebe zu Geschichten ein Licht im Dunkeln ist Ida ist eine Autorin ohne Worte. Ihr Kopf ist so leer wie die weißen Blätter Papier auf ihrem Schreibtisch. Aus der Not heraus nimmt sie einen Haushaltsjob an und lebt fortan bei der älteren Dame Ottilie, die ungern spricht und mit jedem Tag ohne Worte und Silben ein wenig mehr zu verblassen scheint. In dem heruntergekommenen Herrenhaus findet Ida bald unter dicken Schichten aus Staub, Moder und Vergangenheit unzählige Schätze aus Papier und Erinnerungen; Erinnerungen eines Lebens in Glanz, der nach und nach abblättert. Bald erkennt Ida, dass Ottilies Faden zur Gegenwart zu reißen droht – und Ida Worte finden muss, um Ottilies Verblassen zu verhindern. Im Schein des Kaminfeuers beginnt Ida eine Geschichte zu erzählen, die nicht nur Ottilies alte Wunden zu heilen vermag, sondern auch Ida eine Antwort auf ihre drängendste Frage liefert – jene nach dem Gewicht der Worte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 317

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Originalausgabe © 2024 HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von FAVORITBÜRO, München Coverabbildung von David Paire / Arcangel, pear.art / Shutterstock E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783749906666www.harpercollins.de

Widmung

FÜR SARAH

und all das, was wir gemeinsam durchgestanden haben und noch durchstehen werden.

sowie

FÜR FRANZI

und all das, was wir gemeinsam erschaffen haben und noch erschaffen werden.

Was verloren gegangen war

Eines Morgens wachte Ida auf und fragte sich, wer man eigentlich war, wenn sich das, was man am besten konnte, aus dem eigenen Körper geschält hatte und über Nacht klammheimlich verschwunden war. Wenn man bereits beim ersten Blinzeln gegen das fahle Sonnenlicht spürte, dass man am Vortag noch mehr gewesen war, und heute, heute war die eigene Seele um einige Nanogramm leichter – nämlich um das Gewicht der Worte, die gestern noch fest in den eigenen Knochen gesessen hatten und jetzt nur noch eine Erinnerung waren.

Als ob man Worte mit einer Waage wiegen könnte, dachte sie. Deine Gedankengänge werden langsam seltsam, Ida Hermann.

Dennoch ließ die Idee sie nicht los. Sie hatte mal gelesen, dass der Körper kaum merklich leichter wurde, wenn man starb, weil er in dem Augenblick von der Seele getrennt wurde, und diese Seele, die war dann ja auch messbar.

Wieso sollte das mit Worten und Fantasie anders sein?

Sie verbrachte also einige Tage damit, herauszufinden, ob sie nun tatsächlich leichter war, stieg auf die uralte Waage in ihrem Bad und schrieb das Ergebnis in einem ihrer unzähligen Notizbücher nieder. Nicht, dass diese Zahlen wirklich eine Antwort für sie bereithielten, denn das mit dem Gewichtsvergleich war so eine Sache, bei der Faktoren eine Rolle spielten, die sie nicht beeinflussen konnte.

Nur eines wusste Ida ganz sicher: Vom 1. Januar an brachte sie kein Wort mehr zu Papier, ganz so, als hätte das Universum sich dazu entschlossen, dass Neujahr eine gute Zeit war, um ihr Leben einmal komplett auf den Kopf zu stellen.

Denn exakt das geschah seit nun vier Monaten auch. In ihrem Kopf herrschte eine seltsame Leere, ihr Ausdrucksvermögen verflüchtigte sich, und ihr Herz bröckelte mit jedem leeren Blatt und jedem verschwundenen Wort ein wenig mehr vor sich hin.

Aber leichter, hatte Ida trotz allem das Gefühl, war sie nicht wirklich geworden.

Eine Annonce und ihr ganz eigener Duft

Die Leere in ihrem Kopf und die in ihrem Kühlschrank bewegten sich seit Wochen in etwa auf demselben Niveau. Eigentlich musste Ida dringend einkaufen und zumindest Letzteren auffüllen. Doch es gab da noch eine dritte Sache auf ihrer Liste schwindender Dinge: ihr Konto.

Ida war mit ihren gerade mal neunundzwanzig Jahren nicht sonderlich wohlhabend, im Gegenteil. Sie begnügte sich mit einer winzigen Einzimmerwohnung in einem grauen, aus der Zeit gefallenen Wohnkomplex mit fast einhundert Parteien, die sich untereinander nicht kannten und auch nicht kennen wollten. Aber obwohl um sie herum nur Plattenbauten, leere Innenhöfe mit Wäschespinnen, heruntergekommene Kinderspielgeräte und von Unkraut überzogene Gehwegplatten dem Zahn der Zeit trotzten, fühlte sie sich in ihrem überschaubaren Reich wohl. Lange war es ausreichend genug gewesen, um sie und die Worte, die sie mit sich herumtrug, zu beherbergen. Ida hatte jede Ecke ihrer vier Wände mit Büchern zugepflastert: Sie stapelten sich in dem einzigen Regal, auf dem runden Couchtisch voller Astmaserungen, neben dem selten genutzten Fernseher und unter einem hohen Drachenbaum. Ein paar lagen auf dem weichen senfgelben Zweisitzer, doch die allermeisten – nämlich die ungelesenen, unangetasteten – ruhten wie stille Gefährten auf der Bettkante und warteten darauf, zerblättert, zerlesen und zerträumt zu werden.

Überhaupt war in den letzten Jahren vor der schicksalhaften Silvesternacht alles erträglich gewesen, solange sie nur in ihre Fantasie und das, was sie niederschrieb, eingehüllt war: Es war aushaltbar gewesen, dass es manchmal Monate gegeben hatte, in denen sie weniger aß, weil ein Buchhonorar auf sich warten ließ, oder dass die Nachbarschaft über ihr jede Nacht zeterte und sich stritt. Dann machte sie einfach die Nacht zum Tag und setzte sich mit Kopfhörern und ihrem Notizbuch auf das gepolsterte, mit einer schmalen Metalllampe ausgestattete Sitzfenster; der einzige Luxus, den ihre Baracke, wie sie ihre Wohnung liebevoll nannte, zu bieten hatte. Sie schrieb vor, was sich mit der Hand besser auf Papier zaubern ließ als mit mechanisch klappernden Tasten, und wenn sie ehrlich war, klang jedes geschriebene Wort in der Dunkelheit ein bisschen schöner, ein bisschen anmutiger, ein bisschen heldenhafter als im grellen Licht des Tages.

Die Nacht und die Kunst, ein gemeinsames Hoch, ein reißender Abgrund, sobald der Morgen graute.

Doch mittlerweile beschäftigte Ida sich mehr mit Zahlen als mit Worten, denn bereits zur Mitte des Monats ging ihr Kontostand bedenklich zur Neige – ein Problem, das sie nicht weiter stur ignorieren konnte. Nein, es rief lautstark nach Beachtung. Sie jonglierte Rechnungen, setzte Prioritäten, überlegte, worauf sie am ehesten verzichten konnte, während jeder Tag ein wenig mehr Druck auf ihren schmalen Schultern hinterließ.

Ein Läuten riss sie aus der Starre, in der Ida auf dem alten Teppich vor dem Couchtisch gekauert und zwei Mahnungen betrachtet hatte, die schon vor vier Wochen, also Ende März, eingetrudelt waren. Ihr Blick glitt unweigerlich zu der immer ein bisschen zu laut tickenden Wanduhr – ein Erbstück irgendeines Familienmitglieds, das seinen Krempel aussortiert hatte.

Ida rappelte sich vom Boden auf. Elf Uhr. Nein, falsch. Vier Minuten nach elf. Normalerweise war Theobald bekannt für seine Pünktlichkeit. Seine Route war exakt so kalkuliert, dass er immer um elf Uhr eines jeden Morgens in der Rosa-Luxemburg-Straße 236b klingelte. Es war ein seltsames Ritual, das sie beide sich da in den letzten drei Jahren angeeignet hatten, musste Ida zugeben, als sie zur Tür huschte. Es hatte sich über die Monate eingeschlichen und war eine Art Zweckgemeinschaft zur gegenseitigen Gesellschaft in Zeiten der Einsamkeit, denn traurigerweise war es heute kein angesehener Beruf mehr, Post auszutragen. Früher hatte man das Eintreffen der Post immer mit einem Gefühl der Aufregung verbunden, mit dem nervösen Hoffen auf den Brief einer geliebten Person oder einer Brieffreundschaft. Doch in Zeiten der digitalen Welt brachten die Mitarbeitenden der Post nur noch lästige Dinge: Rechnungen, Bürokratisches, Amtsschreiben, Werbung für dies und jenes, das man unbedingt kaufen sollte. Vielleicht übersahen die Leute die Menschen in den gelben Autos oder den heruntergekommenen Vans von Subunternehmen deshalb: weil sie eh nichts Schönes mehr zu bringen hatten.

Bei Theobald war das nicht anders. Mit jedem Jahr, in dem er seinem Beruf nachging, schien er ein bisschen mehr zu verblassen, als würden die Blicke der Leute einfach durch ihn hindurchwandern. Sogar in seinem Aussehen machte sich das bemerkbar. Das Haar war lichter geworden, die Farbe seiner Dienstkleidung ausgeblichen und die Iriden seiner müden Augen milchig. Wenn das so weiterging, war bis zu seiner Rente in wenigen Jahren nicht mehr viel von ihm übrig.

Ida riss die Tür auf. »Du bist spät dran«, begrüßte sie ihn.

Auf Theobalds Arm stapelte sich so viel Post, dass sein eingefallenes Gesicht fast gänzlich dahinter verschwand. Wie immer reihte er die Päckchen im Hausflur nebeneinander auf, sorgsam nach den zu empfangenden Personen sortiert. Im Haus war es mittlerweile eine unausgesprochene Tatsache, dass man Ida zwar kaum jemals zu Gesicht bekam, weil sie sich meistens in ihrer Baracke verschanzte, sie aber jeden Morgen für jene die Pakete entgegennahm oder zumindest in den Flur stellen ließ, die auf der Arbeit, auf der Suche nach Pfandflaschen oder sich selbst und somit nicht anzutreffen waren.

Theobald hatte außerdem noch etwas anderes dabei: eine Umhängetasche mit drei Büchern, die er ihr nun überreichte. Seine Ausbeute vom Flohmarkt. Dort trieb er sich an seinen freien Tagen gern herum, und Ida dachte manchmal, dass es Menschen, die mehr und mehr aus der Zeit fielen, möglicherweise an Orte zog, an denen sie sich mit Gegenständen umgeben konnten, mit denen die meisten anderen auch nichts mehr anzufangen wussten.

Sie hatten also alle etwas davon: Die Bewohnenden der Rosa-Luxemburg-Straße 236b bekamen ihre Pakete, Ida Bücher und etwas Gesellschaft, und Theobald wurde am Tag wenigstens von einer einzigen Person wirklich gesehen. Denn zu mehr reichte die streng getaktete Route des Postboten nicht aus. An manchen Tagen, wenn die Zeit es zuließ, erzählte er ihr noch, wie er zufällig mitbekommen hatte, dass in der Rosa-Luxemburg-Straße 236a – eigentlich nur ein Spiegelbild von Idas Gebäudekomplex – mal wieder eine alte Dame nach tagelangem, unbemerktem Dahinsiechen leblos von der sich Zugang verschaffenden Polizei aufgefunden worden war. Das beschäftigte Theobald oft tagelang. Vielleicht, weil er ebenfalls allein in einem solchen Häusergiganten lebte, in dem man nur allzu leicht in Vergessenheit geraten konnte. Man fiel nie auf, selbst dann nicht, wenn man starb.

Sobald er die Abgabe aller Sendungen in seinem kleinen tragbaren Computer verzeichnet hatte, tippte sich Theobald gegen die schwarz-gelbe Kappe, unter der er sein schütteres Haar verbarg.

»Ah, fast hätte ich es vergessen! Ich habe dir noch etwas mitgebracht. Hab’ ich am Sonntag auf dem Markt gesehen. An so einer Aushängetafel. Fand irgendwie, dass es zu dir passt.«

Neugierig sah Ida zu, wie er mit seiner Hand in die Hosentasche griff und umständlich einen zerknitterten Zettel hervorholte. Er reichte ihn Ida in einer feierlich anmutenden Geste, und es hätte sie nicht gewundert, wenn er sich anschließend verbeugt hätte. Sein Verhalten wirkte manchmal, als wäre es einem älteren Jahrhundert entsprungen, was wohl auch der Grund dafür war, dass dieser piepende Computer, den er ungelenk von einer Hand in die andere wandern ließ, immer wie ein Fremdkörper wirkte.

»Was ist das?«, fragte Ida, die den Zettel schon auseinanderfaltete. Das lange fuchsrote Haar war ihr dabei wie ein seidener Vorhang ins Gesicht gefallen.

»Du suchst doch einen Job«, sagte Theobald mit einem nervösen Unterton in der Stimme. Die Route und sein Arbeitgeber, der mit GPS genau trackte, wann er sich wo befand, saßen ihm im Nacken. Die einsame Autorin und der einsame Postbote hatten ausgetauscht, was sie einander zu geben hatten, jetzt musste er weiter und abends in seine leere Wohnung, um vielleicht weiter über den unbemerkten Tod von Frau Hedwig Müller zu grübeln.

»Ich habe einen Job«, widersprach Ida halbherzig. Seit sie sich einmal verplappert hatte, wusste Theobald, dass sie seit vier Monaten nur vorgab, zu schreiben.

»Ich weiß«, sagte ihr Gegenüber freundlich. »Aber vielleicht hast du so viel Platz im Kopf und in deinem Leben, dass du einen zweiten gebrauchen kannst. Die Fantasie und die Hände können ja gleichzeitig arbeiten, würde ich annehmen.« Diesmal deutete er wirklich eine Verbeugung an, ein richtiger Abschied nun, und huschte über die Treppe vom ersten Obergeschoss nach unten zum Ausgang. Noch bevor Ida sich hatte umdrehen können, schnappte im Treppenhaus die uralte Haustür mit einem Krachen zu.

Ida zog sich in ihre Wohnung zurück, ohne Post, weil alle Rechnungen für den Monat bereits da waren, und ohne aufmunternde, unterstützende Briefe oder inspirierende Urlaubspostkarten, weil ihre Familie ohnehin wenig davon hielt, dass sie nichts Richtiges gelernt hatte, sondern den ganzen Tag Löcher in die Luft starrte. Deswegen war sie vor vielen Jahren überhaupt erst ausgezogen, sobald sie genug Geld zusammengekratzt hatte. Weil man sie dazu hatte zwingen wollen, etwas Anständiges zu lernen, eine Ausbildung zu machen, aber bloß nichts mit Literatur zu studieren. Das hatte ihr Vater ihr nie verziehen, vor allem nicht, als er ihr fürs vermeintliche Nichtstun noch Unterhalt hatte zahlen müssen. Ihre Mutter hätte sie vielleicht verstanden, aber die war damals schon tot gewesen und hatte ihr nicht mehr beim Träumen helfen können.

Doch nun war Ida mit dieser zerknüllten Annonce ausgestattet. Zum Bruttoinlandsprodukt trug sie jedenfalls nicht bei, hatte ihr Vater mal schnaubend gesagt, und jeder Einwand, dass Bücher und Musik und Kunst aber doch den Menschen überhaupt erst einen Grund gaben, sich morgens aus dem Bett zu quälen, um wiederum selbst etwas zum Bruttoinlandsprodukt beizutragen, hatte er unwirsch abgewunken. Lange hatte sie nicht verstanden, was er meinte, und den Begriff erst einmal recherchieren müssen.

Gut, dass nicht alle Menschen so waren wie ihr Vater, wagte sie manchmal zu denken, sonst würde sie selbst genauso sehr verblassen wie Theobald.

Vielleicht hatte Ida in den letzten vier Monaten auch deshalb lieber gehungert oder fast jeden Tag Nudeln mit Ketchup gegessen, als jemanden um Hilfe zu bitten, bis sie irgendwann hoffentlich ihren Weg zu den Worten zurückgefunden, bis sie das Labyrinth aus Leere und Angst in ihrem Kopf durchquert hatte.

Aber wie lange würde das noch gut gehen?

Ida setzte sich an den wackeligen Esstisch, der nur für zwei Personen Platz bot und ebenso wie ihr Bett, ihr ausgesessenes Sofa und das Sitzkissen am Boden als Arbeitsplatz diente, und schob den aufgeklappten Laptop ein Stück weit zurück. Nicht, dass er derzeit wirklich einen Nutzen hatte, vielmehr war er ein unpassend wirkendes Stück Dekoration, das man in der Wohnung einer Autorin vermutete, wenn man nicht ahnte, dass sie das Schreiben verlernt hatte.

Sie zog das Stück Papier auseinander. Ein ungewöhnlicher Geruch stieg von dem Inserat auf. Eine Prise Staub, ein wenig Lavendel, ein Spritzer teures Parfum, dazwischen etwas Undefinierbares. Ida brauchte einen Moment, bis sie verstand, dass sie diese namenlose Nuance kannte: Es war der Geruch eines Ortes, der viele Bücher vereinte. Unzählige Seiten, manche vergilbt, andere druckfrisch, einige noch in neue Folie eingeschweißt, und ihnen allen haftete an, dass sie bereits durch wenige oder viele Hände gewandert waren.

Die Annonce roch nach einer Bibliothek oder einer Buchhandlung voller antiker Ausgaben und Neuerscheinungen, und vielleicht war das – und nur das – der Grund, warum Ida sich traute, die Worte zu lesen, die in ungelenker, fast harscher, abweisender Handschrift auf dem zerfurchten Papier vermerkt waren.

Haushaltskraft für großes Anwesen im Grünen gesucht – Kost und Logis sowie kleiner Lohn gegen Aufräum-, Reinigungs- und leichte Gartenarbeiten. Keine besonderen Fähigkeiten notwendig. Interessierte melden sich bitte zwischen10und18Uhr unter folgender Nummer: …

In etwas kleinerer Schrift war neben dem Datum der Anzeige noch eine Adresse – die Arbeitsstätte vermutlich – angegeben. Ida zog den Laptop wieder zu sich, froh, ihre Fingerkuppen endlich mal wieder in einer sinnvollen Tätigkeit über die Tasten fliegen zu lassen, und gab den Ort bei Google Maps ein. Er befand sich etwa fünfunddreißig Kilometer außerhalb der Stadt in einem abgelegenen Zweihundert-Seelen-Dorf, das nicht einmal einen eigenen Discounter vorzuweisen hatte. Immerhin gab es einen winzigen Bahnhof, stellte Ida fest. Es sollte also möglich sein, von ihrer Heimatstadt dorthin zu gelangen und am Wochenende zu ihrer Baracke zurückzukehren, falls sie erst einmal an der neuen Arbeitsstätte bleiben sollte.

»Aber wenn ich da anrufe und nach der Stelle frage, gebe ich mein eigenes Versagen zu«, erklärte sie dem surrenden Laptop traurig.

Als Antwort begann die Akkuanzeige ihres treuen Schreibbegleiters zu blinken. Offensichtlich war er innerlich genauso erschöpft wie sie selbst angesichts der Untätigkeit, die sie beide gemeinsam in der Wohnung eingepfercht hatte.

»Vielleicht tut es uns gut, mal rauszukommen«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Und es könnte auch meiner Inspiration helfen.«

Ja, es konnte sogar sein, dass ihr die Worte entschlüpft und zu einem anderen Ort vorausgeeilt waren, damit Ida sich auf den Weg machte, um sie dort zu finden, irgendwo zwischen hochgewachsenen, windschiefen Gräsern, abgelegenem Gemäuer und den Lippen fremder Menschen.

War es nicht möglich, dass Ida in der Behaglichkeit, aber eben auch in der Isolation ihrer Baracke alle Geschichten auserzählt hatte? War es nicht möglich, dass sie es sich zu bequem gemacht hatte, umgeben von Büchern und unzähligen fiktiven Charakteren, die sie in ihren vier Wänden hielten, weil hier alles war, was sie zum Atmen, zum Leben und zum Lieben brauchte, heimlich wissend, dass aber noch mehr nötig war, um Geschichten aus sich selbst zu schöpfen, nämlich die Welt da draußen, den Wind und das unbekannte Abenteuer?

Schließlich war es die Tatsache, dass ihre derzeit einzigen Gesprächspartner ein Laptop und ein Briefträger waren, die sie nach ihrem Telefon greifen ließ, das neben dem Esstisch auf dem Fensterbrett lag und niemals läutete.

Sie wählte die Nummer, die seltsamerweise in einer anderen Schrift aufgeschrieben worden war als der Rest der Anzeige, und hatte das Gefühl, noch nie etwas Mutigeres in ihrem Leben getan zu haben.

Die Reise zu einem papiernen Anwesen

Am Bahnsteig pulsierte das Leben in all seiner Gewalt. Drängende Leiber, das Rattern und Zischen der Züge, gehetzte, müde, fröhliche, unglückliche Gesichter, manche zerfurcht vom Alter oder von schweigsamen Dämonen, andere noch glühend von der Hoffnung auf ein Leben, das vor ihnen lag. Schatten an Schatten auf dem grauen Betonboden folgten einander, eilig hinter sich hergezogene Gepäckstücke und Koffer auf dem Fuß.

Ida drückte ihre Reisetasche mit einer Anspannung an sich, als fürchtete sie, dass man sie ihr im nächsten Augenblick entreißen könnte. Es war nichts von Wert drin. Jedenfalls nicht, wenn man es von materieller Seite aus betrachtete: Ihre Kleidung war secondhand, und ihr Laptop hatte schon fast vier Jahre auf dem Buckel. Dennoch hielt Letzterer all ihre Werke, alle angefangenen Manuskripte, alle losen Gedankenfragmente auf seiner schnarchend langsamen Festplatte zusammen, die sie aus ihren handschriftlichen Vermerken übertragen hatte. Wobei sie auch diese mitgeschleppt hatte. Wenn sie schon die vertrauten Häuserfassaden und Dachspitzen hinter sich ließ, um sich in die Ferne aufzumachen, so waren diese Notizbücher ihr Halt; die Stützpfeiler des Mutes, den sie zusammengekratzt hatte.

Idas Hand zitterte – ihr Herz auch ein bisschen, aber das konnte man von außen ja nicht sehen –, als der Zug einfuhr, der sie aus der Stadt rausbringen würde, die sie seit Jahren nicht einmal für einen Besuch in die Heimat verlassen hatte. Irgendwie war sie in ihrem neuen Zuhause versackt, war mit ihm zusammengewachsen, vielleicht weil sie so tief in ihren Geschichten gesteckt hatte, die für sie Reise genug gewesen waren, wenn auch nur im Kopf.

Mit einem ruckelnden Quietschen sprang die Tür auf. Unzählige Menschen strömten erst hinaus, dann wieder hinein, und Ida ließ sich in den Strom fallen und von ihm ins Innere des Zuges ziehen. Sie hatte online einen Sitzplatz reserviert und kämpfte sich durch die Reihen der nächsten beiden Abteile, ehe sie ihn endlich gefunden hatte. Noch hatte sie die Ecke mit dem kleinen Tisch für sich, aber sie wusste, dass das nicht lange so bleiben würde. Dafür kannte sie den öffentlichen Nahverkehr gut genug von Bus und Straßenbahn, wenn sie einkaufen oder andere Erledigungen von ihrer To-do-Liste abhaken musste.

Die Reisetasche quetschte sie zwischen das Fenster und sich selbst, damit sie diese im Notfall mit ihrem Körper vor Diebstahl schützen konnte, selbst wenn sie während der einstündigen Zugfahrt, während der sie Halt an fast einem Dutzend kleineren Bahnhöfen machen würde, einnicken sollte.

Mutig, sagte sie sich immer wieder selbst. Du bist mutig.

Auch wenn ihr beim Gedanken an das Telefonat jedes Mal das Herz in die Hose rutschen wollte. War sie wirklich mutig gewesen, oder hatte sie nur zu viel Angst gehabt, ein zweites Mal anzurufen und die Stelle wieder abzusagen? Die Grenze zwischen Mut und Angst schien so sehr zu verschwimmen, dass sie sich fühlte, als wäre sie in einen Ozean getaucht und könnte das Dunkel am Grund und das Licht der Oberfläche in dem trüben Wasser nicht mehr voneinander unterscheiden.

Ein alter Mann war nach dem vierten oder fünften Klingeln drangegangen. Harold Bäcker, mit dem Namen hatte er sich gemeldet, und zwar in einer Stimmlage, die noch schroffer gewesen war als die Schrift auf der Annonce. Er hatte sich als Kontaktperson herausgestellt, die Haushaltskraft suchte er jedoch für jemand anderen: die Besitzerin der Handschrift. Für eine alte Dame, die in einem viel zu großen Haus lebte und nicht mehr Herrin der Lage war. Ein bisschen seltsam sei sie, hatte er gebrummt, und ein bisschen schweigsam, aber das sei ja nichts Schlechtes. Beim Arbeiten seine Ruhe haben, den Luxus hatte man bei vielen Jobs nicht mehr.

Ida hatte ihm etwas über sich erzählt und ein paar harmlose Fakten genannt: ihr Alter, woher sie kam, dass sie Germanistik und Kunstgeschichte studiert hatte und nach wenigen Jahren in einer Lokalzeitung nun als Autorin arbeitete.

Natürlich hatte sie das viermonatige Versagen nicht erwähnt, und die Tatsache, dass sie Bücher liebte, schien den zunächst skeptisch wirkenden Mann überzeugt zu haben.

Ach, hatte er gesagt, das träfe sich gut, denn die alte Dame wäre ihrerseits eine große Bücherliebhaberin. Sie würden sich sicher ausgezeichnet verstehen, hatte er mit leisem Zweifel hinzugefügt. Das Zögern, das seine Worte begleitet hatte, wurde beinahe vom Knistern und Knacken der Leitung übertüncht. Ida wurde das Gefühl nicht los, dass es bei der Sache ein Aber gab, etwas Unausgesprochenes, doch im nächsten Moment hatte er schon losgelegt: wie hoch ihr Gehalt sein würde, wo sie hinkommen solle, ob sie nicht morgen schon anreisen könne und wo sie ihn finden würde. So viel Erleichterung hatte in seinen Worten mitgetropft, dass Ida sich fragte, ob sie hier reingelegt worden war. War er vielleicht froh, die Angelegenheit an sie abgeben zu können, ohne es zu sagen? Als er sich verabschiedete, war die Erleichterung allerdings erneuter Schroffheit gewichen.

Nicht dran denken, immerhin brauchst du das Geld, sagte sie sich entschieden und zog den Reißverschluss an der Vorderseite ihrer Reisetasche auf, wo sie in einem Extrafach ein halbes Dutzend Bücher verstaut hatte – eine Mischung ihrer liebsten Geschichten und noch ungelesener. Bei ihrem Lesetempo nicht gerade viel, aber genug, um eine Weile über die Runden zu kommen. Sie zog ein besonders zerfleddertes Exemplar heraus: Die unendliche Geschichte. Wann immer sie innerlich angespannt war, reichten ihr Bastian, Fuchur und die Kindliche Kaiserin die einladende Hand in eine ganz eigene Welt, die einen alles andere vergessen ließ. Das Buch hatte sie schon geliebt, als sie selbst kaum älter als Bastian gewesen war.

Doch heute wirkte der Trick, mit dem sie sich selbst überlisten wollte, nur halb. Ein Teil von ihr blieb immer noch auf der Hut, blickte stets mit einem Auge in den Gang oder aus dem Fenster, wo Häuser – erst heruntergekommene Komplexe wie in der Rosa-Luxemburg-Straße, dann edle Villen mit schicken antiken Rundbögen und gestutzten Buchsbäumchen –, Bahnhöfe und Menschen an ihr vorbeirasten. Aber dann, nach einigen Stationen, lichteten sich die Siedlungen und wichen etwas anderem: Natur. So viel Natur. Unbedeckter Himmel. Zerfaserte Wolken. Bäume, an denen zartgrüne Blätter sprossen, das Keimen des Frühlings, leises Wachstum, das Erwachen aus dem Winterschlaf.

Je mehr Raum die Weite von Bahnhof zu Bahnhof einnahm, desto enger schnürte sich die Angst wie ein unsichtbarer Faden um Idas Kehle.

Und dann, kurz bevor sie ankam, nur noch einen Halt von ihrem Ziel entfernt, fiel ihr Blick auf die Uhr im Waggon.

Viertel vor elf.

Sie zuckte zusammen, als ihr ein Versäumnis in den Sinn kam. Unachtsamerweise hatte sie vergessen, Theobald Bescheid zu geben, dass sie heute nicht zu Hause sein würde, und morgen und die nächsten Tage auch nicht.

Hoffentlich, dachte sie traurig, war er bei ihrer Rückkehr unter seiner blassgelben Kleidung nicht gänzlich unsichtbar geworden.

Als Ida hastig aus dem Abteil schlitterte und fast über die Kante des Zuges gestolpert wäre, hatte sie das Gefühl, durch den verzauberten Schrank aus Narnia in eine andere Welt gefallen zu sein.

Mit ihr stiegen nur zwei ältere Damen aus, die zugleich je einen Regenschirm und einen Hut gegen die warme Sonne trugen. Sie kam sich vor, als wäre sie in Oz gelandet und als könnte das Wetter jede Sekunde umschlagen und sie mit einem Sturm außer Landes tragen.

Tatsächlich wirkte der Bahnhof so alt und verlassen, dass Ida sich einen Moment lang fragte, ob das Bahnpersonal sich nicht vertan hatte. Das hier war doch kein richtiger Ort, nicht einmal ihr Heimatkaff war so abgelegen gewesen. Doch ehe sie sich entscheiden konnte, wieder einzusteigen, um einfach weiterzufahren und irgendwo umzukehren, zurück in den sicheren Hafen, in ihre Baracke mit dem tröstlichen Gewicht ihrer Bücherstapel auf der Bettdecke, schlossen sich die Türen, und der Zug setzte sich ratternd wieder in Bewegung.

Chance verpasst, dachte sie und kickte resigniert einen kleinen Stein auf dem löchrigen Asphalt weg. Sie folgte den beiden älteren Damen in gebührendem Abstand um die mit Efeu berankte Mauer. Außer einer angemalten Bank und einem winzigen, unbesetzten Kassenhäuschen gab es hier nichts. Nicht, dass man heute, in Zeiten, in denen alles manchmal recht, manchmal schlecht digital funktionierte, noch ein Kassenhäuschen brauchte.

Hinter dem Bahnhofsgebäude offenbarten sich endlose Rapsfelder, so gelb – wenn auch weniger knallig – wie ihr Zweisitzer, den sie bei diesem Anblick schmerzlich vermisste. Wie gern würde sie seinen weichen, ausgeleierten Stoff jetzt unter den Fingern spüren. Sich kurz in die vertraute Behaglichkeit, in ihr Sicherheitsnetz aus Gewohnheiten zurückträumen. Aber so funktionierte Mut nicht.

Zwischen den Feldern verlief eine gut ausgebaute Straße, gesäumt von hohen Eichen, die dem Weg eine heimelige Höhle aus Zweigen und Blattwerk boten. Gerade noch in Sichtweite war das Ortsschild, dessen Schrift Ida zwar nicht lesen, aber erahnen konnte, da sie den Namen wusste: Waldbruch.

Das Dorf lag genauso abgeschlagen auf der Landkarte, wie sein Name vermuten ließ. Ein einsames Fleckchen Erde, irgendwann klammheimlich aus Wäldern und Gräben und herb duftendem Boden entwachsen.

Ida hängte sich die Reisetasche über die Schulter, dann machte sie sich auf zum Ortskern, den sie dank Google Maps ganz genau im Kopf hatte. Sie war die Route bereits in ihrer Vorstellung entlanggeschritten, um sich auf das Abenteuer in der Fremde vorzubereiten. Und nun folgte sie der Baumallee, eng an der weißen Fahrbahnrandmarkierung entlang, wie die beiden schwatzenden Damen vor ihr es taten. Hatte Ida Angst gehabt, dass jede Menge Autos an ihr vorbeirasen und sie über den Haufen fahren könnten, so musste sie sich darum keine Sorgen machen. Während sie die etwa vierhundert Meter entlangstapfte, ließ sich kein einziger Wagen blicken.

Unterwegs zückte sie ihr Smartphone. Sie prüfte ihren Akkustand und das Netz. Letzteres war katastrophal, aber sie entschied, dass das ein Vorteil war. Möglicherweise würden sich die Worte eher zu einer Rückkehr überreden lassen, wenn um sie herum mehr Stille herrschte: eine Stille ohne Menschen, ohne Social Media, Nachrichten oder Eilmeldungen, die einem doch nur immer und immer wieder das Herz herausreißen wollten.

Ida rief ihre Notizen-App auf und sich darüber Harold Bäckers Adresse ins Gedächtnis. Der mürrische Mann, in dessen Leitung es immer dann geknackst hatte, wenn sie zwischen den Zeilen etwas Unangenehmes vermutet hatte, war ihre erste Station auf dem Weg zu ihrer neuen Arbeitsstätte. Er würde ihr einen Schlüssel überreichen und sie dann zum Haus führen. Dort würde ihre eigentliche Arbeitgeberin ihr alles erklären, damit wollte er aber nichts zu tun haben, hatte Harold Bäcker am Telefon schnippisch gesagt. Er selbst würde keinen Schritt über die Schwelle treten, denn wen die Hausherrin in ihrem Anwesen haben wollte … nun, da war sie eigen.

Noch einige Schritte unter den Schatten des grünenden Blättergeflechts entlang, und dann war Ida auch schon in Waldbruch. Im ersten Augenblick dachte sie, um fünfzig, sechzig Jahre in die Vergangenheit zurückgereist zu sein. Ein schrumpeliges Haus reihte sich an das nächste, ohne dass es eine erkennbare Ordnung zu geben schien. Von vielen hatte der Zahn der Zeit Teile des Putzes und die Intensität der Farbe abgenagt. Die Straßen folgten keinem Muster, sondern bogen sich in Kurven umeinander, endeten teilweise in Sackgassen. Die Dächer waren schief und glänzten an manchen Stellen noch dunkelgrau von einem vorangegangenen Regenschauer, von dem der Himmel nichts mehr erahnen ließ. Im Kern des Dorfes gab es einen überschaubaren Platz, bestehend aus krummem Kopfsteinpflaster, Unkraut in den Steinfugen und einem alten Brunnen, der offenbar nicht mehr in Betrieb war. Dahinter war eine Gemeindehalle angesiedelt, wie man sie in Ortschaften wie diesen vermutete.

Während ihres Marschs durch das Dörfchen und die feinen Regenpfützen hatte Ida jedoch eine Sache nicht ausfindig machen können: das angeblich so imposante Anwesen, in dem sie künftig für Ordnung sorgen sollte.

Ida folgte dem Lauf der Hauptstraße und bog schließlich in die Weserstraße ein. Harold Bäcker wohnte in einem winzigen Backsteinhaus. Akkurat gemähter Rasen, ein gefegter Weg aus Steinen passend zum warmrötlichen Ton des kleinen Bungalows, tönerne Zwerge mit Zipfelmützen, die im ganzen Bereich rings um das Haus verteilt standen. Aus dem Briefkasten lugte eine zusammengerollte Tageszeitung, die Ida kurz entschlossen herauszupfte und mit zum Eingang trug. Es konnte nie schaden, mit etwas Vertrautem vor einer fremden Tür aufzuschlagen.

Sie betätigte den Klingelknopf und wartete. Schwere Schritte schlurften von der anderen Seite auf sie zu, abgedämpft durch das massive Material und das gläserne Guckfenster, hinter dem für den Bruchteil einer Sekunde ein verwaschenes Gesicht erschien.

Als die Tür langsam aufschwang, füllte ein alter Mann, gebeugt von vielen Jahrzehnten, eine unübersehbare Bitterkeit in die hängenden Mundwinkel eingebrannt, den Rahmen aus. Das Haar war grau, erstaunlich voll und lockig. Er trug ein Karohemd unter einer Lederweste, aus der er just in diesem Moment einen Schlüsselbund herauszog.

»Ida, richtig?«, fragte er statt einer Begrüßung. »Sie sind pünktlich, das ist gut, das schätzt die Madame.«

»Die Madame?«, fragte Ida und streckte ihm die Zeitung entgegen, die er mürrisch annahm.

Er machte eine Geste, als würde er eine lästige Fliege verscheuchen. Die Zeitung ließ er achtlos in seinen Hausflur fallen. »Die Hausherrin. Die Herrin des papiernen Anwesens.«

»Das papierne Anwesen? Was für ein schöner Name.« Ida staunte. Die Information reichte aus, um ihr einen beachtlichen Batzen Angst von den Schultern zu nehmen.

»So nennen wir es hier in Waldbruch«, murmelte Harold und schnappte sich einen Regenschirm – was hatten hier alle damit, wenn doch weit und breit keine Wolke zu sehen war?

»Aber es wird wohl kaum aus Papier bestehen?«

Er winkte ab. »Von außen nicht. Aber im Inneren … Sie werden schon noch sehen.«

Die Neugier packte Ida. »Inwiefern denn?«

»Sagen wir so: Die Hausherrin hat eine Vorliebe für Bücher.« Ein Schatten huschte über Harolds Gesicht und setzte sich in seinen Furchen fest, während er den Regenschirm so fest umklammerte, dass seine Fingerknöchel weiß wurden. Ida würde sich hüten, weiter nachzuhaken.

Stattdessen folgte sie dem älteren Herren zur Straße zurück. Aus den Fenstern der Nachbarhäuser lugten Köpfe heraus, hier und da bewegten sich Vorhänge ein winziges Stück zur Seite. Nasen drückten sich gespannt gegen Glas. Irgendwie hatte Ida das Gefühl, einen unsichtbaren Test bestehen zu müssen.

»Wo befindet sich das papierne Anwesen denn?«, fragte sie, als sie schweigsam über den feuchten Asphalt spazierten. Die Spitze des Regenschirms folgte klackernd jedem ihrer Schritte auf der Straße.

»Da hinten, wo der Waldrand beginnt«, erklärte er und machte eine ausschweifende Bewegung mit dem Arm. »Etwas abgelegen, aber Sie sind noch nahe genug am Dorf dran, um auch ohne Auto zurechtzukommen. Wir haben einen kleinen Laden, in dem Sie das Nötigste einkaufen können. Und ansonsten fährt auch zweimal am Tag ein Bus, der Sie in den nächstgrößeren Ort bringt, wo es einen Supermarkt, eine Apotheke und so was gibt.«

»Und was ist das da?«, fragte Ida, die nur mit halbem Ohr zuhörte, weil etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein knallrotes Telefonhäuschen ohne Telefon, dafür aber vollgestopft mit Büchern. Die meisten so alt, dass die Blätter halb aus den Einbänden fielen.

»Ah, das ist unser Gabenschrank. Was wir nicht mehr lesen oder benötigen, wird dort reingestellt, falls es jemand anderes mehr gebrauchen kann. Müssen nicht unbedingt Bücher sein, aber dafür wird er hauptsächlich genutzt.«

»Wie schön«, stellte Ida fest. Der Gedanke, nicht einfach alles wegzuschmeißen, sondern an jemanden weiterzureichen, der es dringender brauchte, hatte etwas Tröstliches. Nicht jede Person hatte den Mumm, um Hilfe zu bitten. Und hier konnte man sich heimlich, still und leise etwas holen, ohne sich unwohl fühlen zu müssen. Vielleicht würde sie eines ihrer Bücher auch im Gabenschrank hinterlassen. Sie würde es ihm gönnen, mehr von der Welt zu sehen als nur ihre eigene Nasenspitze, die sich zwischen seinen Seiten vergrub.

Haus um Haus, Vorhang um Vorhang, schwere, regenfeuchte Luft, fast wie Morgentau, passierten sie, bis sie das Dorf auf der anderen Seite schon wieder verließen. Im Vergleich zur Stadt kam sich Ida in ihrem Körper irgendwie zu groß vor, als würde allein ihre Gestalt das winzige Dörfchen ausfüllen und ausdehnen. Mit einem Mal sehnte sie sich in den schützenden Mantel der städtischen Unsichtbarkeit zurück.

Sie bogen ab, und der feste Untergrund verwandelte sich in ein knirschendes Kiesbett. Die Straße vor ihnen war mehr ein Trampelpfad mit zwei ausgefahrenen Rillen, dünnen Steinchen und ärmlichen Gräsern in der Mitte des Weges. Umgeben wurde er von hohen Hecken. Je weiter sie gingen, desto mehr fühlte sich Ida, als hätte sie ein magisches Tor durchschritten, als wäre sie Alice, die versehentlich in den Kaninchenbau getreten und nun im Wunderland wieder aufgewacht war, mit dem magischen Kuchen im Magen, der sie selbst viel zu groß für diesen Ort gemacht hatte.

Bei Harold Bäcker hingegen geschah genau das Gegenteil: Mit jedem einzelnen Schritt, den sie gemeinsam in Richtung des papiernen Anwesens taten, schien der imposante Mann mehr in sich zusammenzuschrumpfen. Fast so, als würde er sich und seine Gestalt zusammenfalten, um möglichst nicht aufzufallen. Den Rücken gekrümmt, das Gewicht schwer auf den Regenschirm gestützt, als zöge der Schlüsselbund in seiner Hand Harold bleischwer nach unten, nicht mal mehr in der Lage, mit Ida ein stockendes Gespräch zu führen.

Aber dann, dann hatten sie das Ende einer sanften Kurve des unebenen Weges erreicht, und Ida stockte der Atem. Von jetzt auf gleich, fast wie von Zauberhand, tat sich vor ihr ein Gebäude auf. Nicht schwarz gemauert, düster und einschüchternd, wie sie es sich in ihren nächtlichen Sorgen ausgemalt hatte. Nein, es war vielmehr ein Haus – ein stattliches, zugegeben –, das aussah, als wären die geheimen Träume von einem eigenen Heim ein wenig ausgeartet, ein wenig außer Kontrolle geraten. Es war ein paar Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte, zu lange der Natur überlassen worden und kaum von seiner Umgebung zu unterscheiden.

Gräser, Bäume und wilde Blumen wuchsen rings um das Gemäuer und ließen die Grenzen zwischen Garten und Wald verschwimmen. Ein morscher Zaun aus hüfthohen Pfählen gab sein Bestes, um das Chaos irgendwie zusammenzuhalten, wurde jedoch von noch mehr Grün überwuchert. Auch an den hellen Mauern hatten Efeu und anderes kletterndes Gewächs mit warmen, bunten Blüten nicht haltgemacht, sondern streckten sich bis zu den roten Dachziegeln hinauf. Einzig die Fenster und ihre Rollläden, deren Farbe abgeblättert war, waren noch frei und erlaubten durch mattes Glas die Sicht nach drinnen. Aus einem langen Schornstein stieg Rauch auf.

Harold war stehen geblieben. Obwohl er für sein Alter rüstig wirkte, ging sein Atem keuchend. Sein Blick war abgewandt, als würde er immer wieder von dem in grünes Blattwerk getauchten Anwesen abprallen, wenn er versuchte, es anzusehen.

»So, Ida, von hier aus müssen Sie alleine weiter«, erklärte er und drückte ihr den Schlüsselbund in die Hand. »Gehen Sie einfach rein, Frau Selig weiß, dass Sie kommen. Streng genommen reist hier alle paar Wochen eine neue Haushaltskraft an, und keine hält es sonderlich lange aus.«

Beunruhigend, fand Ida, aber sie versuchte, nicht weiter darüber nachzugrübeln.

»Woher weiß sie, dass ich heute anreise? Haben Sie mit ihr gesprochen?«, erkundigte sie sich stattdessen.

»Nein, nein, Frau Selig spricht nicht viel, und sie besitzt auch keinen modischen Schnickschnack wie Handys und so. Sie kommuniziert über dieses alte Ding.« Dabei zeigte er mit dem Finger auf einen Briefkasten, der am Ende des Weges vor dem Gartentor in die Erde gerammt war. »Ich habe ihr gestern eine Nachricht hinterlassen.«

Ida neigte neugierig den Kopf. »Ach so. Und darüber haben Sie auch die Annonce erhalten, nehme ich an? Ich habe mich schon gefragt, wie Sie miteinander korrespondieren, wenn …« Sie überlegte, wie sie wenn Sie sich offenbar nicht ausstehen können in höflichen Worten umschreiben konnte.

»Ja, genau. Zweimal in der Woche schauen ich oder andere Leute aus dem Dorf hier vorbei, um zu sehen, ob die Madame etwas für ihre edlen Hallen benötigt. Zuletzt hat sie ein Dutzend Anzeigen hinterlassen, die wir in den umliegenden Orten verteilt haben.« Seine Worte klangen ungewöhnlich scharf, durchtränkt von einem Schmerz, den Ida nicht recht bei der Wurzel packen konnte. »Aber jetzt ist das Ihre Aufgabe, und – verzeihen Sie mir die Ehrlichkeit – ich bin heilfroh darüber, jawohl.«

Bevor Ida nach dem Grund fragen konnte, hatte Harold Bäcker auf dem Absatz kehrtgemacht und flüchtete über den krummen Weg zum Dorf zurück – in einem Tempo, als hätte der Wind von hinten Fahrt aufgenommen und trüge ihn mit Leichtigkeit fort von dem Ort, der ihm ganz offensichtlich so viel Unbehagen verursachte.

Idas Hände waren derweil vor Nervosität schwitzig geworden. Während sie auf das Gartentor zusteuerte, zerrte sie die völlig verknitterte Annonce heraus, weil sie das Gefühl hatte, eine Legitimation zu brauchen, um das Grundstück hinter dem Gartenzaun betreten zu dürfen.

Was für ein Unsinn, dachte Ida, verärgert über sich selbst. Als säße hier eine Horde Kobolde und hielte Wache darüber, wer einen Fuß auf das wilde Stück Schönheit setzte.

Auf der anderen Seite allerdings: Man konnte ja nie wissen.

Das Tor quietschte und ruckelte, während sie es einen Spaltbreit öffnete und hindurchhuschte. Gras und Wetter hatten die Gehwegplatten, die zum Eingang des Anwesens führten, ebenfalls überwältigt. Ein breiter, überdachter Vorsprung, gestützt auf zwei altertümliche Säulen, erstreckte sich über die verzierte Tür. Eine kurze Treppe führte dorthin. Zwei kleine Wasserspeier säumten die zersprungenen Stufen.

Ida suchte vergeblich nach einer Klingel. Nicht einmal ein Namensschild hing sichtbar an der Tür. Nichts wies darauf hin, dass die Madame des Hauses Gesellschaft wohlgesonnen war. Oder dass sich hinter den milchigen Fenstern überhaupt Leben verbarg.

Harold Bäcker hatte gesagt, sie solle einfach aufschließen und reingehen, aber das fühlte sich nicht richtig an. Es war nicht ihr Haus. Nicht ihr Zuhause. Nicht ihr Rückzugsort. Vielmehr fühlte sich Ida wie ein Eindringling. Als würde sie durch einen unsichtbaren Schleier in einen Bereich vordringen, der Geheimnisse hütete, die nicht für sie bestimmt waren, verborgen zwischen Mauerritzen, unter Dachziegeln oder eingebuddelt unter Baumwurzeln in den Gartennischen.

Ida hob die Hand und schloss die Finger um den ringförmigen Türklopfer, auf dem sich bereits Rost abgesetzt hatte. Sie hielt den Atem an.

Na komm, eine Prise Mut noch, einmal noch Luft holen, einmal noch alles infrage stellen, das ganze Leben gleich mit, und dann …

Dann stieß sie den Eisenring kräftig gegen die Tür.

Wenn sie eine Uhr am Handgelenk getragen hätte, hätte Ida in diesem Moment ihre karge Baracke darauf verwettet, dass mit dem lauten, dumpfen Aufprall des Schlegels gegen die Tür die Zeit anhielt. Dass das Vogelzwitschern etwas leiser, der Wind etwas träger und das Surren der Insekten in der Luft etwas langsamer wurden. Als würde alles aus dem Takt geraten, weil Ida da war und etwas von der Welt jenseits dieses Grundstücks mitgebracht hatte.

Eine kleine Ewigkeit lang nur dieses Flirren der Zeit.

Ida glaubte, Schritte zu hören.

Ein Zwielicht hinter dem schmalen Fenster auf Kopfhöhe.

Ein verwischtes Gesicht und schlohweißes Haar, verzerrt von der Glasstruktur.