Was wir nicht kommen sahen - Katharina Seck - E-Book

Was wir nicht kommen sahen E-Book

Katharina Seck

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Beschreibung

Was tun, wenn die Tochter sich aus dem Leben verabschiedet?

An einem ganz normalen Abend verabschiedet sich die 18-jährige Ada von ihrer Familie und beendet ihr Leben durch den Sprung von einer Brücke. Ihre Eltern Jenny und Dominik bleiben fassungslos zurück. Während Dominik sich vor seiner Trauer in Arbeit flüchtet, beginnt Jenny verzweifelt nach Antworten auf die Frage nach dem Warum zu suchen. Im Internet stößt sie auf eine Spur aus digitaler Gewalt, die sich gegen Ada richtete und der auch Jenny bald nicht mehr entrinnen kann.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungHinweisADAJENNYJENNYADAJENNYADADIE ANONYMITÄTJENNYADAJENNYADAJENNYADADIE ANONYMITÄTJENNYADAJENNYDIE ANONYMITÄTADAJENNYADAJENNYADAJENNYADADIE ANONYMITÄTJENNYADADIE ANONYMITÄTJENNYADADIE ANONYMITÄTJENNYADAADADIE ANONYMITÄTJENNYJENNYJENNYDIE ANONYMITÄTContent-NoteNachwortDanksagung

Über dieses Buch

Was tun, wenn die Tochter sich aus dem Leben verabschiedet? An einem ganz normalen Abend verabschiedet sich die 18-jährige Ada von ihrer Familie und beendet ihr Leben durch den Sprung von einer Brücke. Ihre Eltern Jenny und Dominik bleiben fassungslos zurück. Während Dominik sich vor seiner Trauer in Arbeit flüchtet, beginnt Jenny verzweifelt nach Antworten auf die Frage nach dem Warum zu suchen. Im Internet stößt sie auf eine Spur aus digitaler Gewalt, die sich gegen Ada richtete und der auch Jenny bald nicht mehr entrinnen kann.

Über die Autorin

Katharina Seck wurde 1987 im Westerwald geboren, wo sie noch heute lebt und als Autorin arbeitet. In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich mit ihren liebsten Menschen und Tieren, einem beachtlichen Stapel ungelesener Bücher sowie politischem Aktivismus. Mehr Infos zur Autorin finden sich auf katharinaseck.de oder ihrem Instagram-Kanal.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Copyright © 2024 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Angela Kuepper, München

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

Umschlagmotiv: © shapranova/Shutterstock; Elina Li/Shutterstock

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-6117-8

luebbe.de

lesejury.de

In Erinnerung analle Opfer von Mobbing und (digitaler) Gewalt.Unvergessen, was man euch angetan hat.Unvergessen, was sich nicht wiederholen darf.

Liebe Lesende,

dieser Roman enthält einige Themen, die für manche belastend sein könnten. Da uns am Herzen liegt, dass ihr ein gutes Leseerlebnis habt, findet ihr am Ende des Romans eine ausführliche Content-Note. Wenn ihr mit diesen Themen struggelt, lest dieses Buch bitte nur, wenn ihr euch bereit dafür fühlt und mögliche Anlaufstellen erreichbar sind.

Katharina und das Team von Lübbe

ADA

Draußen ist es längst dunkel, als Ada ihren Schreibtisch verlässt und aufs Bett fällt. Sie ist müde, ihr Kopf voller zäher Gedanken. Wie Kaugummi fühlt sich alles an, klebrig und matschig. Sie kann sich nicht konzentrieren. Nicht auf das Buch auf dem Nachttisch, nicht auf die Serie auf dem Tablet neben ihr. Ihre Aufmerksamkeitsspanne ist zu kurz. Alles, was mehr als zehn Minuten kostet, fühlt sich bleischwer an, anstrengend. Selbst die Schulstunden. Fünfundvierzig Minuten Konzentrationsfolter.

Das Einzige, was geht, ist irgendein Scheiß am Smartphone. Es ist immer derselbe Ablauf. Entsperren, WhatsApp, Instagram, TikTok, Twitter (sie bringt es nicht über sich, die Plattform nun »X« zu nennen), Mails checken. Selbst, wenn sie das vor fünf Minuten erst getan hat. Selbst, wenn da gar nichts Neues ist. Aber da könnte ja was sein. Irgendwas Spannendes in diesem virtuellen Schlund.

Neben Ada stapeln sich Schulbücher auf dem Bett. Lektüre für den Deutsch-Leistungskurs und das Latein-Wörterbuch für eine Übersetzung, ein Buch, so schwer wie der Stein in ihrer Brust. So viel Arbeit liegt da für das Wochenende, dabei kann Ada sich nicht fokussieren. Sie kann nur auf ihr Handy starren.

Kim: wann kommst du?

Ada: gleich. muss noch die übersetzung fertig machen, kein bock.

Dabei will sie eigentlich gar nicht übersetzen. Und zu Kim will sie auch nicht gehen. Sie weiß nicht, ob sie es heute ertragen kann, dass ihre beste Freundin immer zu aufgedreht, immer ein bisschen zu laut ist. Und Ada ist immer etwas zu wenig von allem, so fühlt es sich jedenfalls an. Die letzten Monate haben aus der ganzen, der vollkommenen Ada eine Kopie gemacht. Eine, die noch funktioniert, so nach außen hin, aber mehr auch nicht. Alles, was darüber hinausgeht, ist ein Tauziehen. Ein Ringen um jeden Kraftakt. Ihr Akku ist schon lange auf Energiesparmodus. Und eigentlich weiß Kim das. Eigentlich weiß ihre beste Freundin, dass Ada sich am liebsten einigeln will.

Ada hebt den Kopf und sieht rüber in die Ecke des Zimmers, in der ihre Gaming-Area aufgebaut ist. Ein weißer Schreibtisch, ein gewaltiger Stuhl, der sich wie ein Kokon angefühlt hat, und bunte LED-Lichter, die gemeinsam mit ihrem PC-Gehäuse und der Tastatur leuchten. Mikrofon, Kopfhörer, zwei Monitore, wie es sich für ein ordentliches Equipment gehört. Da hat alles angefangen, ihre Existenz im Internet, und da ist alles außer Kontrolle geraten. Wie kann ein Ort Himmel und Hölle zugleich sein?, fragt sich Ada. Wie kann man von so vielen Menschen umgeben und zugleich so einsam sein, als wäre man allein in einer Wüste ausgesetzt worden?

Beide Monitore sind noch an. Auf der einen Seite ist Twitch offen, auf der anderen ihr Startbrowser mit der Google-Suchseite. Ada ist ein Mensch, der immer irgendwas suchen muss. Rezensionen zu Hardware für ihren Gaming-PC sucht sie am meisten. Aber auch technische Tricks für ihren Stream oder die Eigenarten seltener Tiere oder News aus der Szene, in der sie steckt. Ankündigungen von neuen Games, die sie spielen kann, so was eben. Jeden Scheiß kann man auf Google suchen, nur wie man sein Leben wieder auf die Reihe kriegt, das steht da nirgends. Auf ihrem Handy sind unzählige Benachrichtigungen. Eine Flut, die nicht enden will.

Plötzlich hat Ada das Gefühl, der Raum zöge sich um sie zusammen. Wie eine Kette um ihren Brustkorb. Einmal drumherum und dann zu, sodass sie nicht atmen kann. Sie muss raus, bevor das Zimmer implodiert und sie mit ihm. Draußen ist alles besser. Da ist sie frei, da kann sie nach Luft ringen. Die Nacht inhalieren. Die Dunkelheit draußen kann mit ihrer eigenen verschmelzen, Verbündete zu Verbündete.

Das Summen des PCs wird leiser. Es ist dämmrig, seit die LED-Leisten nicht mehr flackern. Sie sind mit den Monitoren und dem Rest des Computers in den Ruhemodus gewechselt. Da ist keine Farbe mehr, nicht im Raum und auch nicht in Adas Gedanken. Sie springt auf und schnappt sich ihren Rucksack. Der Rucksack ist ihr Alibi. Er untermauert ihr Hey, ich bin dann mal weg, rüber zu Kim, bis morgen, das sie ihren Eltern zuruft, die im Wohnzimmer auf der Couch sitzen und eine Serie schauen. Sie können ja nicht ahnen, dass im Rucksack gar nichts drin ist außer dem Kram, den man unausgepackt durch ein ganzes Schuljahr schleppt.

Für den Bruchteil einer Sekunde wünscht Ada sich aber, ihre Eltern würden was ahnen. Würden nicht wie festgeklebt auf dem Sofa sitzen und denken, alles wäre cool. Wie paradox, sie könnte auch einfach den Mund aufmachen und reden. Aber Adas Lippen sind versiegelt. Da sitzen so viele Stimmen in ihrem Kopf, die ihr sagen, dass sie nicht reden darf, auf gar keinen Fall. Dass sie diesen beiden Menschen, die Ada abgöttisch lieben, bloß nicht zur Last fallen darf. Ada weiß nicht, warum sie das nicht kann: ihnen gegenüber auspacken. Schwäche zeigen und mit ihr die Hässlichkeit der letzten Monate. Sie hat irgendwie das Gefühl, dass sie da allein durchmuss.

Ich bin stark, sagt sie sich, seit die Welle sich angebahnt hat.

Ich bin stark, sagt sie sich, seit die Welle sie überrollt.

Aber so stark dann doch nicht.

Sie gibt sich einen Ruck und winkt noch einmal. Ihre Eltern sehen das nicht mehr, deren Blicke hängen gebannt am Fernseher. Schaut doch hin, will sie schreien, aber das geht nicht. Die Versiegelung ist noch da.

Adas Hand fühlt sich an wie aus Bronze gegossen, schwer und klobig. Dann verlässt sie ihr Zuhause. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, umarmt die kühle Nacht Ada und ihre geschundene Seele. Gut gemacht, flüstert die Nacht samtweich, ein Lob für das Schweigen gegenüber ihren Eltern.

Und Ada reckt sich. Drückt den Rücken durch, als wäre da ein unsichtbarer Feind, dem sie Stärke demonstrieren muss. Du kriegst mich nicht, will sie ihm sagen, und ihre Worte klingen wie eine Lüge in ihren Ohren. Und ein unsichtbarer Feind ist da auch, die ganze Zeit, seit Monaten. Er hat sie mit einem Seziermesser zersetzt, Stück für Stück und sich bis zu ihrem blanken Herzen vorgearbeitet.

Jetzt kann Ada nicht mehr, und während die Nacht verlockend wispert, weiß sie ganz plötzlich, wohin sie gehen will.

JENNY

Jenny rennt. Es ist früh. Noch kühl. Und dämmrig, nur langsam verzieht sich die Dunkelheit aus der Wohnsiedlung. Sie joggt an den Reihenhäusern vorbei und kontrolliert ihren Puls. Er ist schnell, zu schnell. Sie macht langsamer, gönnt sich eine Verschnaufpause, indem sie in einen strammen Schritt wechselt und nicht mehr über die Straße jagt. Ein Blick über die Schulter zurück, ein gewohnter, ein universeller Blick, den alle Frauen – ob jung oder schon in ihrem Alter – kennen und mit dem sie sich absichert, dass ihr niemand folgt. Dann sieht Jenny rüber zu den Häusern. Durch die Fenster. Hier und da sind die Leute schon wach und haben bereits die Lichter angeschaltet. Sie lassen die Sicht nach drinnen zu. Wie ein Kameraschwenk, unvermittelt und plötzlich und nur für Sekunden andauernd. Ein Standbild einer fremden Familie, eines fremden Küchentischs, um den herum sie versammelt sind, Mutter, Vater, Kinder oder Mütter und Kinder oder Väter und Kinder oder nur Paare ohne Kinder oder alte Menschen, die vielleicht Kinder haben, aber sie längst an die Welt verloren haben.

Hoffentlich haben diese Leute hinter den Fenstern ein schönes Leben, denkt Jenny. So wie sie. So wie ihre kleine Familie, in der es nur Ada, Dominik und sie gibt. Ada, ihre einzige Tochter, die sich nach außen abgeklärt zeigt, die, weil jetzt mit achtzehn Jahren einfach diese Zeit ist, erwachsen sein will und alles besser weiß, aber die trotzdem den Tisch deckt, den Müll rausbringt und ihr Zimmer aufräumt. Das Gröbste haben wir überstanden, hofft Jenny, während die Schritte ihrer Turnschuhe unter ihr knirschen. Herbstblätter zerbrechen unter ihrem Gewicht.

Und da ist Dominik, mit dem sie seit der Schulzeit zusammen ist, der kein Macho-Arschloch, sondern einer der wenigen Männer ist, die sich nicht nach Feierabend auf die Couch schmeißen und keinen Handschlag tun. Der anpackt und die Arbeit sieht, die er und sie alle hinterlassen. Der in seinem eigenen Haus nicht nur hilft, sondern sich als der Teil, der er eben ist, erkennt und den sie nicht wie ein zweites Kind auf die anfallende Arbeit stoßen muss.

Sie weiß, dass es vielen Frauen anders geht. Sieht es im Kreis ihrer Freundinnen. Sieht die Erschöpfung, die sich in Wäschekörben, in Einkaufstaschen und in Lunchboxen verbirgt. Sieht es hinter den Glasscheiben dieser fremden Häuser.

Jenny ist froh, dass ihr Leben anders aussieht, und gleichzeitig hat sie ein schlechtes Gewissen. Sie hat Glück gehabt. Sie ist nicht über die Jahre völlig zerrieben worden zwischen Muttersein und Job, und sie hat es geschafft, nicht vollkommen zu beidem, Mutter und Konditorin, zu verschmelzen, sondern sich ein Stück Ich zu behalten. Sie ist hier. Sie kann laufen, rennen, sich verausgaben, sich vorantreiben, sich in diesen kostbaren Momenten frei und jung fühlen.

Der Wind raschelt in den alten Eichen, als sie in ihre Straße einbiegt. Sie ist nur noch einhundert Meter von ihrem Haus entfernt, das sich perfekt in den Rest der Siedlung einfügt. Unscheinbar klebt ihre Hausseite an einer anderen. Sie teilen sich mit Familie Hauptmann ein Zweifamilienhaus, für jeden eine Hälfte, was manchmal anstrengend ist. Holger Hauptmann ist penibel. Hält sich an alle nachbarschaftlichen Regeln, egal, ob sie sinnvoll sind oder nicht, ob sie verbindlich oder nur ungeschrieben sind, und das verlangt er auch von anderen. Manchmal lautstark, manchmal mit wortlosen, anklagenden Blicken. Seine Frau Anna hat schon längst aufgegeben und lässt ihn gewähren. Früher hat sie ihn bremsen wollen, gegen ihn aufbegehrt, erst mit der Stimme, dann mit ihrer Mimik. Jetzt ist da nichts mehr, nur noch Resignation. Er hat sie kleingemacht mit dem akkurat gemähten Rasen, dem getrimmten Garten, der fast grau ist, weil da keine einzige Blume überleben darf, weil da kein Platz ist für ihre eigenen Gestaltungswünsche. Mit klassischen Rollenbildern, in die er sie gezwängt hat. Mit der Zeitung, die er beim Essen liest, während sie alles auftischt, was ihm schmeckt. Sie sind beide schon in Rente. Er könnte mit anpacken. Die Zeit hätte er. Aber er ist einer dieser Männer, die glauben, dass ein paar Jahrzehnte Job mehr wert sind als Care-Arbeit. Er denkt, dass er es sich verdient hat, bedient zu werden, auch wenn er es nicht laut ausspricht. Er klammert sich an überholte Rollenbilder, die sein Leben bequem machen.

Jenny klingelt an der Haustür. Dominik ist zu Hause, und er ist wach. Sie sieht, dass Licht in der Küche brennt, und verzichtet darauf, den Schlüssel aus ihrer engen Hosentasche zu fummeln. Sie hat heute nur den Schlüssel mitgenommen, kein Handy. Jedes Gramm Gewicht, das nicht mitjoggen muss, hat sie sich leichter fühlen lassen, und schneller und graziler. Sie fühlt sich besser jetzt. Ihre Muskeln sind aufgeheizt, die Sehnen gestreckt. Jenny ist unbezwingbar.

Dominik öffnet die Tür, und sie schlüpft hinein, an ihm und dem Geruch nach Schlaf und den vertrauten Parfümresten, die ihm anhaften, vorbei. Er sieht müde aus, obwohl Wochenende ist. Er sieht oft müde aus, egal, wie lange er schläft.

»Du hättest ausschlafen können«, sagt sie.

»Ich weiß«, sagt er zerstreut. Aus der Küche schlägt ihr ein brutzelndes Geräusch entgegen. Vermutlich Rührei, Dominiks Lieblingsfrühstück.

Jenny hebt fragend eine Augenbraue. Sie sind eingespielt genug, um keine Worte zu benötigen. Nach über zwanzig Jahren Ehe ist das so. Es ist gut und erleichternd und spart Arbeit und Worte, aber ist auch gefährlich. Wenn man jede Gesichtsregung an dem anderen kennt und zu deuten vermag, gibt es nichts Neues mehr an ihm zu entdecken.

Das ist der Punkt, an dem oft alles zerbricht.

»Ich konnte nicht. Die Kanzlei …« Er muss nicht weiterreden, er sieht wohl ihre Missbilligung an dem Zucken um ihre Mundwinkel.

»Roger hat versprochen, nicht mehr am Wochenende anzurufen. Und du hast versprochen, nicht ranzugehen.« Jenny wirft den Schlüssel ein bisschen zu fest auf die Kommode im Flur und zieht die Turnschuhe aus.

Dominik zuckt mit den Schultern. Sein welliges braunes Haar fällt ihm in die Stirn. Jenny will hineingreifen, lässt es aber sein. Wenn Steiner Rechtsanwälte in ihrem Haus gegenwärtig sind, macht es keinen Sinn, zu Dominik durchdringen zu wollen. Diese Kanzlei verwandelt ihren Mann in eine andere Version seiner selbst, die distanziert und abgeklärt ist. Als würde er seinen Anzug überstreifen, nur unsichtbar, und mit ihm diese Schicht aus Kälte, die er braucht, um seinen Job gut zu machen.

»Roger verspricht viel, wenn der Tag lang ist. Lass uns lieber frühstücken, statt über ihn nachzudenken.«

»Klar. Ich springe noch eben unter die Dusche.«

Der Schweiß klebt ihr auf der Haut, und wenn sie ihn nicht schnell genug abwäscht, lässt er sie sich nicht mehr frei und unbezwingbar fühlen, sondern dreckig und stinkend. So weit will sie es nicht kommen lassen, dann sind der Erfolg und das Glücksgefühl dahin.

Sie geht nach oben, schnappt sich ein paar Klamotten aus dem Schrank. Jeans, ein grauer Wollpullover, Unterwäsche, auch grau. So ist das manchmal über die Jahre, wenn man älter wird, Kinder hat, im Alltag versinkt. Man fühlt sich grau, als würde die Zeit nicht nur das Leben, sondern auch die Farben aus einem heraussaugen. Sogar wenn man die knalligsten Klamotten trägt, tut sie das. Nur, dass sie sich dann auch noch verkleidet fühlt.

Rasch duscht sie, während durch die angelehnte Badezimmertür der Geruch des Rühreis strömt. Dazwischen mischt sich jener von gemahlenen Kaffeebohnen. Die Wände des Hauses sind so dünn, dass nicht nur Laute und Worte, sondern auch Gerüche durch jede Ritze dringen. Manchmal sogar die der Familie Hauptmann, die ihren ganz eigenen haben, wie es das jedes Haus und jede Wohnung mit seinen Bewohnenden eben hat. Dann kriechen Holgers strenges Aftershave und der Duft von frisch gedruckter Zeitung, aus der er seiner Frau vorliest und alles infrage stellt, was da steht, zu ihnen ins Haus. Vielleicht ist nicht einmal das Kreuzworträtsel vor seinem Zweifel sicher, rätselt Jenny manchmal bissig. In den Jahren der Corona-Pandemie ist Holger zum ersten Mal überhaupt in seinem Leben mit den Regeln in Konflikt geraten. Er hat sich einsammeln lassen von den Rattenfängern der Verschwörungstheorie, und irgendwann hat er zwar eine vermeintliche Sinnhaftigkeit in dem mit einem exakten Maß versehenen Rasen gefunden, der jeden Tag von einem Mähroboter bearbeitet wird, nicht aber in der Einhaltung von Maßnahmen, die zum Schutz von Risikogruppen dienen.

Seitdem meiden Dominik und Jenny ihre Nachbarn noch mehr als vorher. Nur die Gerüche lassen sich eben nicht abschütteln. Die sitzen hartnäckig in den Wänden fest.

Sie geht an einer verschlossenen Tür vorbei. Einem Impuls folgend, bleibt sie stehen und berührt kurz die Klinke. Drückt sie herunter, ohne dabei die Tür zu öffnen. Sie tut einfach nur so und stellt sich vor, wie Ada auf der anderen Seite läge und sauer wäre, weil Jenny sie zum Frühstück weckt.

Aber heute liegt Ada nicht auf der anderen Seite, und sie ist auch nicht sauer. Sie ist gestern zu ihrer besten Freundin Kim gegangen und hat dort übernachtet. Ada ist mittlerweile oft bei Kim, mehr als früher, wenn sie nicht gerade vor dem PC hockt und streamt. Und obwohl Jenny weiß, dass sie das zulassen, dass sie loslassen muss, fällt es ihr schwer. Vielleicht rennt sie deswegen so, als wäre der Teufel hinter ihr her. Vielleicht rennt sie lieber dreimal um den Block, damit sie nicht zu Kims Haus rennt und Ada mit nach Hause schleift. Nicht, weil sie ihrer Tochter nicht vertraut, aber Jenny vertraut der Welt nicht.

Am liebsten würde sie Ada manchmal in Watte packen. Denn im Gegensatz zu Holger stellt Jenny nicht alles infrage, was die Medien erzählen. Stellt nicht Pandemien, Klimakrisen und Erderwärmungen infrage, nicht all die Prozesse, die die Zukunft ihrer Tochter gefährden könnten. Nur sich selbst viel zu oft, dass sie früher nicht über solche Dinge nachgedacht hat, obwohl sie auch damals schon Platz in den Medien hatten. Früher, bevor sie ein Kind in diese Welt setzte, die nicht viel für Kinder übrighat. Die deren Zukunft und Lebensraum und die Luft zum Atmen zerstört.

Jenny weiß, dass sie Ada nicht davor beschützen kann. Aber trotzdem ist der Drang da. Der Drang ist so tief verwurzelt, dass sie ihn wohl nie loswird. Ihm nie davonrennen kann.

Sie geht nach unten. Dominik hat den Frühstückstisch gedeckt. Kaffee, aufgebackene Brötchen, Marmelade und ein weich gekochtes Ei für sie. Alles genau so, wie sie es mag, schon immer.

Mit den Gedanken ist er noch bei Roger, das sieht sie ihm an der Nasenspitze an. Aber er gibt sich Mühe, es nicht zu deutlich raushängen zu lassen. Keine Arbeit am Wochenende, das ist eine der wenigen Regeln, an der sie wirklich eisern festhalten. Diese Regel ist das Fundament ihrer Familie. Und es hat in all den Jahren, in denen Dominik in der Kanzlei arbeitet, schon oft genug gebebt.

Jenny trinkt einen Schluck Kaffee, und bevor er ihren Magen überhaupt erreicht hat, fühlt sie sich unruhig. Als hätte sie bereits fünf Tassen intus und als würde das Koffein ihr Herz zum Rasen und ihre Hände zum Zittern bringen.

Sie ist so unruhig, als wäre sie noch nicht gelaufen, noch nicht dem Wind nachgejagt. Es ist nur ihr Innerstes, das aufgewühlt ist, denn ihr Körper ist ganz schwer und weich, ein Körper nach dem Sport, nach getaner Arbeit. Diese Schwere müsste sich auf ihre Gedanken übertragen. Sie müsste das Frühstück mit ihrem Mann genießen, die Zweisamkeit, das Alleinsein. Aber sie kann nicht. Da ist etwas in ihr, das sich windet und dreht, das sich einen Weg hinausfressen will, durch ihre Atemwege und ihr Herz. Und sie kriegt dieses Etwas nicht zu fassen.

»Jenny?«

Dominiks Stimme ist wie ein Anker. Als Allererstes hat sie sich in seine Stimme verliebt, damals, vor so vielen Jahren. Und diese Jahre haben dem Charme seiner Stimme nichts anhaben können, sie haben sie nur noch mehr reifen lassen. Sie ist dunkel und rauchig und hat trotzdem etwas Weiches. Sie kann bestimmend sein und stark, sie hat diese Ich-mach-das-schon-Note an sich, und zugleich kann er ihr im Dunkel der Nacht etwas zuflüstern, das ihr Herz zum Splittern bringt. Er hat so eine Stimme, der man alles abnimmt und alles anvertraut.

Vielleicht ist er deswegen als Anwalt so erfolgreich. Er kann den Leuten Wahrheiten entlocken, die sie eigentlich gar nicht preisgeben wollen.

»Sorry, ich war in Gedanken«, sagt sie und stochert mit dem Löffel in der Marmelade herum, ohne sich etwas auf die Brötchenhälfte zu häufen. Er hat Heidelbeermarmelade geöffnet. Das ist die Sorte, die sie am wenigsten mag. Aber irgendwie hat sie ihm das noch nie gesagt, in zwanzig Jahren Ehe nicht.

»Und wo genau?«

An der verschlossenen Tür, denkt Jenny, spricht es aber nicht aus. Und bei dieser Unruhe, und das spricht sie erst recht nicht aus. Stattdessen schmiert sie sich Marmelade aufs Brötchen und beißt dann rein.

»Ich habe überlegt, was ich nachher noch einkaufen muss«, lügt sie zwischen zwei Bissen.

»Ich kann das auch machen. Du hasst es, samstags einzukaufen«, sagt Dominik nüchtern und schiebt ihr Milch zu. Sie hat tatsächlich an ihrem Kaffee genippt, ohne zu merken, dass er noch schwarz ist.

Er hat recht. Sie hasst Einkaufen. Vor allem am Wochenende, wenn sich die Menschenmassen durch die Regale schieben. Sie mag generell nicht, wenn sich viele Menschen bündeln. Vielleicht ist sie deswegen Konditorin geworden. In diesem Job ist sie viel allein. Sie kann kreativ sein und sich immer wieder neu erfinden, ist aber eben meistens für sich.

»Gut«, stimmt sie zu. Die paar Schlucke Kaffee und die zwei Bissen Marmeladenbrötchen liegen ihr im Magen wie ein Klumpen aus Blei. »Ada kommt heute wieder, richtig? Oder bleibt sie noch eine Nacht bei Kim?«

»Sie hat versprochen, nachher wieder hier aufzukreuzen.« Dominik verzieht den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Das heißt nicht, dass sie nicht bis dahin dreimal anruft und fünfzig WhatsApp-Nachrichten schickt, um uns zu überreden, dass sie nicht doch noch eine Nacht bleiben kann.«

Nicht, dass Ada das nicht dürfte, sie ist volljährig. Aber sie drei versuchen es trotzdem mit Respekt miteinander. Mit Reden und Zuhören. Und mit Ritualen. Einen Filmabend in der Woche, das ist ihr Deal. Und der funktioniert ganz gut.

Jenny hat noch gar nicht auf ihr Handy geschaut, also holt sie es und deaktiviert die Bildschirmsperre. Zwei neue Nachrichten, eine von ihrer Schwester Karla, eine von ihrer besten Freundin. Die Nachrichten sind belanglos.

»Tja«, sagt sie trocken. »Bisher keine Nachricht. Vielleicht ist der samstägliche Filmabend doch beliebter, als wir dachten.«

Dominiks Augenbraue hebt sich. »Ada hat sich für heute Addams Family ausgesucht. Ich bin mir nicht sicher, ob wir nicht lieber hoffen sollen, dass sie bei Kim bleibt.«

»Kommen da keine nostalgischen Gefühle in dir auf?«, neckt sie ihn.

»Nicht wirklich.« Er lächelt sie an, und Rogers unsichtbare Anwesenheit verflüchtigt sich langsam.

Es klingelt. Jenny hält inne und wirft einen automatischen Blick auf die Uhr. 8.15 Uhr ist es, zu früh also für den Postboten, zu früh auch für Ada, die am Wochenende bis zehn, elf Uhr schläft und sicher gestern Abend mit Kim bis spät in die Nacht wach oder unterwegs war.

»Ist das jemand aus der Kanzlei?«, fragte sie eine Spur zu scharf. Dominik ist durch ihre indirekte Anschuldigung verletzt, das kann sie sehen, als er den Kopf schüttelt. Und es tut ihr auch sofort leid, schließlich könnte da jeder an der Tür sein. Möglicherweise ist es sogar Holger, der erbost ist, weil sie es gewagt hat, am Wochenende vor acht Uhr zu duschen. Er fühlt sich oft durch das Wasserrauschen in den Rohren gestört, die durch diese eine gemeinsame Wand laufen.

Jenny kommt ihrem Mann zuvor, als sie sich erhebt und zur Haustür geht. Die Unruhe in ihr klopft nun lauter, fast ein wenig gehässig: Ich hab’s doch gesagt, flüstert sie ihr zu, aber du wolltest ja nicht hören. Ich hab doch gesagt, dass da was in der Luft liegt.

Sie legt die Hand an die Klinke, wie eben noch oben, an Adas Zimmertür. Und es ist, als würde sie ein Stromschlag durchfahren.

Manchmal weiß man Sekundenbruchteile zuvor schon, dass dann, wenn man das nächste Mal einatmet, wenn man das nächste Mal blinzelt, wenn man das nächste Mal einen Laut von sich gibt, alles anders sein wird. Man weiß, dass der nächste Augenblick die eigene Welt zerstören wird.

Und man hält am Jetzt fest. Man krallt sich an den Moment, in dem man gerade noch steckt, und umklammert ihn mit aller Gewalt, während der nächste wie ein zerstörerischer Asteroid auf einen zurast.

Genauso fühlt es sich an, als Jenny die Tür öffnet. Vor ihr stehen zwei Polizeibeamte in Uniform, ein Mann und eine Frau. Hinter ihnen eine weitere Frau, aber in Zivilkleidung. Eine Seelsorgerin, schießt es Jenny durch den Kopf. Sie weiß, was es bedeutet, wenn Polizeibeamte vor der eigenen Haustür auftauchen, und sie will den Moment davor, das Eben mit aller Gewalt zurückholen.

Noch ist nichts ausgesprochen.

Noch ist ihr Leben ein eingetrampelter Pfad, der in eine Richtung verläuft, der nicht plötzlich abknickt oder eine Kehrtwende macht.

Noch ist die Welt unverändert.

Noch schwebt nur in der Luft, was ist, was sein könnte, aber es ist noch nicht wahr.

Sie will das Jetzt nicht verlieren.

Aber gegen das Rad der Zeit hat Jenny keine Chance, das läuft weiter und reißt ihr den Augenblick aus den Fingern.

»Sind Sie Jennifer Wagner?«, fragt die junge Polizistin. Wie oft hat sie wohl schon die Worte abgespult, die Jenny erwarten?

»Ja«, hört sie sich selbst wie aus der Ferne sagen. Für den Bruchteil einer Sekunde macht sich etwas Hässliches in ihr breit: Bitte lass es meinen Schwiegervater sein, der ist eh schon betagt, der hat sein Leben gelebt. In Überschallgeschwindigkeit geht sie in ihrem Kopf all die Personen durch, die sie zu opfern bereit wäre, um eine andere zu schützen.

Dominik taucht hinter ihr auf und legt ihr eine Hand auf die Schulter. Seine Berührung ist nun kein Anker, sondern nur ein zusätzliches Gewicht, das sie in den Erdboden drücken will.

»Was ist hier los?«, will er wissen, und am liebsten hätte Jenny geschrien und ihn weggestoßen. Er hat diese Frage gestellt, und jetzt wird die Polizeibeamtin antworten.

Jetzt ist der Asteroid da,

und er schlägt ein.

JENNY

Der Alltag verwandelt uns in eine Maschine, denkt Jenny. Man funktioniert, jeder Handgriff sitzt, präzise bis zur Vollkommenheit optimiert, jede Bewegung ist eine einstudierte Choreografie. Aber er treibt auch die Emotionen aus einem raus, lässt einen gleichgültig werden. Und dann ist es manchmal so, dass man plötzlich hochzuckt und blinzelt und des Augenblicks gewahr wird und sich fragt: Habe ich die Wohnung abgeschlossen? Den Herd ausgeschaltet? Wie sah die Straße eigentlich aus, über die ich eben noch mit dem Auto gefahren bin? Waren da Bäume hinter der Leitplanke? Oder: Habe ich meiner Tochter gesagt, dass ich sie liebe, bevor sie sich das Leben genommen hat? Welchen Pullover hat sie getragen, als sie zur Tür hinausgegangen ist, mit diesem feinen Lächeln auf den Lippen, von dem Jenny jetzt weiß, dass es sie in Sicherheit wiegen sollte. Dass es nicht echt war.

Der Alltag lässt einen Details vergessen. Details, von denen man denkt, sie wären unwichtig, die der Verstand in irgendeine verstaubte Ecke stopft wie zu eng gewordene Jeanshosen in die unterste Schublade: Brauche ich nicht. Kann weg. Unwichtig.

Details, die, in einen Schlund gesogen, unumkehrbar und verschüttet sind und die es hinter Jennys Schläfe vor Anstrengung pochen lassen, weil sie so sehr nach ihnen greifen will und sie doch nicht zu fassen bekommt. Sie sieht das Lächeln nicht mehr. Weiß nicht, was sie gesagt hat, ehe Ada aus dem Haus verschwunden ist. War es etwas Nettes? Ein Ich hab dich lieb? Oder etwas Belangloses, eine Bitte, etwas aus dem Kiosk mitzubringen, der auf dem Weg von Kim zu ihnen liegt?

Die einzige Frage, die beantwortet ist, ist die nach der Farbe des Pullovers. Dunkelrot und oversized war er, etwas ausgeblichen, weil Ada ihn geliebt und oft getragen hat.

Jetzt mischen sich verschiedene Schmutztöne in den Stoff, den sie und Dominik zusammen mit Adas anderen Dingen in einer knisternden Plastiktüte von der Polizei überreicht bekommen haben. Möglicherweise sind da auch noch Blutreste drin, die der Fluss nicht rausgewaschen hat. Auf Wasser schlägt man auf wie auf Beton, wenn man von hoch genug springt. Das hat Jenny vorher nicht gewusst, und am liebsten hätte sie es auch nie erfahren.

Eine Woche ist es her, seit sie Ada beerdigt haben. Zweieinhalb Wochen, seit die Polizei vor ihrer Tür stand. Jenny hat die Gesichter der Beamten schon längst vergessen. In ihrer Erinnerung sind sie verschwommen. Jennys Verstand kann nicht Gesichter und die Aussage, die sie getroffen haben, gleichzeitig verarbeiten. Vielleicht können Leute mit großem Verstand so etwas. Leute wie Einstein oder Marie Curie, aber Jenny ist nur Konditorin, sie kann das nicht. Sie hat genug damit zu tun, diese eine Wahrheit zu verarbeiten. Daneben kann sie kaum Kaffee kochen oder einen Fuß vor den anderen setzen. Am liebsten würde sie sich einfach irgendwohin legen und ihren Körper auf Sparflamme herunterfahren, aber so ist der menschliche Organismus nicht gebaut. Einen dreimonatigen Winterschlaf, um mit dem Tod eines geliebten Menschen klarzukommen, hat er leider nicht im Angebot.

Jenny rennt auch nicht mehr. Sie schleicht. Von einem Zimmer zum nächsten, ins Bad, in die Küche. Durch den Flur, wo ihre schwarzen Mäntel von der Beerdigung noch an der Garderobe hängen. Sie bleibt stehen und berührt den kratzigen Stoff von Dominiks Mantel. Der Stoff gibt ihr mehr Nähe als die tatsächliche Anwesenheit ihres Mannes. Heute ist der erste Tag, an dem er wieder in der Kanzlei arbeitet. Und sein Fehlen fällt nicht einmal auf. Selbst als er die letzten zweieinhalb Wochen mit ihr im Haus gewesen ist, ist er nicht da gewesen. Er hat seinen Schmerz zu einem Klumpen geformt und ihn in sich vergraben. Als wäre er nicht da, wenn man nicht über ihn spricht.

Jenny hätte nie gedacht, dass Dominik so ist, wenn er trauert. Sie haben schon viel zusammen erlebt und durchgemacht, aber ein gemeinsames Kind zu verlieren, das ist eine ganz neue Ebene. Das zeigt Seiten an einem Menschen, die man nicht erwartet hat und die man nie hat sehen wollen.

Der schwarze Mantel unter ihren Fingerspitzen weckt Erinnerungen an die Beerdigung. Auch die sind unscharf, als hätte sich ein Filter über Jennys Augen gelegt, der genau unterscheidet zwischen wichtig und unwichtig. Wichtig: die Urne. Die Blumen in Adas Lieblingsfarben. Adas beste Freundin Kim in der ersten Reihe, die versucht, die Tränen wegzublinzeln, als müsste sie Ada selbst jetzt noch ihre trotzige Stärke demonstrieren. Unwichtig: die Trauerkarten, die den Briefkasten füllen, mit den immer gleichen Floskeln. Oder die Menschenmassen vor der Friedhofshalle. Nicht zu wissen, wer da ist, weil er wirklich trauern und ihnen beistehen will, und wer nur, um Zuschauender eines Kammerspiels zu sein.

Unklare Kategorie: Schiefe Blicke, in denen sich Mitleid und Verachtung abwechseln. Sie sind die Eltern, die es versaut haben. Jenny kann die Gedanken hinter den Stirnen der Menschen förmlich hören: Da muss doch hinter verschlossenen Türen irgendwas vorgefallen sein, kein Kind bringt sich einfach so um. Was für Eltern sind das, dass sie nicht merken, wenn es der eigenen Tochter so beschissen geht?

Jenny lässt den Stoff los. Sie muss weitergehen, auch wenn sie nicht weiß, wie und wohin, aber bloß nicht stehen bleiben, sonst holt die Trauer sie wieder ein. Sie sitzt in jeder Ecke wie ein lauerndes Tier, um zuzuschnappen, wenn Jenny nicht damit rechnet. Und jedes Mal, wenn sie Jenny erwischt, geht etwas in ihr zugrunde, ein Stück Herz oder ein Stück Knochengerüst, das sie zusammenhält.

Am meisten hat Jenny Angst, dass sie auch ihre Erinnerung zerreißt, den Klang von Adas Stimme, ihr Lachen, das Funkeln in ihren grünen Augen, die Art, wie sie sich bewegt, wie sie sich davonstehlen will, um Kim vor dem Haus zu treffen. Das alles will Jenny konservieren. Sie will es für die Ewigkeit aufbereiten. Aber sie weiß, dass das nicht geht und dass die Zeit irgendwann all das zernagen wird. Da ist die Zeit grausam. Sie kennt keine Gnade.

Jenny kämpft sich in die Küche. Dominik hat Kaffee für sie übrig gelassen. In der Filtermaschine brütet die braune Flüssigkeit vor sich hin. Sie hat zuletzt auf der Beerdigung Kaffee getrunken. Er ist viel zu stark gewesen und hat sie innerlich aufgeputscht, sodass die Trauer wie Feuer durch ihre Adern gerauscht ist. Sie ist geistig hellwach gewesen, ihr Körper dagegen ein bleischwerer Klotz aus Zement, der sie gefangen gehalten hat. Seitdem kann sie keinen Kaffee mehr trinken. Er wirkt wie ein Brennglas auf die düsteren Gedanken und macht jedes Detail unerträglich.

Sie schaltet die Kaffeemaschine aus und schüttet den Rest aus der Kanne in die Spüle. Dann wäscht sie den gläsernen Behälter aus, während sie aus den Augenwinkeln den Papierstapel auf dem Esstisch wahrnimmt, der da schon seit Tagen liegt.

Wer hätte gedacht, dass Sterben so viel Bürokratie erfordert?, überlegt Jenny. Da liegen Urkunden und ein Polizeibericht und Rechnungen. So viele Rechnungen, weil Sterben auch teuer ist. Gebühren fürs Standesamt, für das Grab, für den Bestatter, für Blumen und den Beerdigungskaffee im engsten Kreis. Dominik hat versprochen, sich um all das zu kümmern und die Rechnungen zu bezahlen, aber offenbar hat er noch nicht die Kraft gefunden. Das Geld zu überweisen hat was Endgültiges. Als hätten sie sich damit abgefunden, dass Ada tot ist, wenn sie den Betrag für die Urne überweisen, in der man ihre Überreste in die Erde unter einer Eiche befördert hat.

Wie paradox, schießt es Jenny durch den Kopf, dass ein Papierstapel den Tod näher an die eigenen Grenzen heranbringt als der Anblick einer Urne. Wenn ein Standesamt beglaubigt, dass der Mensch, den man vor achtzehn Jahren in die Welt gepresst hat, aus selbiger wieder verschwunden ist, fühlt es sich realer an als die Vorstellung, dass dieser Mensch Platz in so einem kleinen Behältnis haben soll. Alles, was Ada ausgemacht, was sie geliebt und gehasst hat, ihre Stärken und ihre Schwächen, ihre Angewohnheiten, das kann doch unmöglich da reinpassen.

Bei dieser Vorstellung sammeln sich Tränen in Jennys Augen. In ihr krampft sich alles zusammen. Sie will nicht wieder weinen. Kann nicht wieder weinen. Am Anfang sind Tränen gut. Sie lassen die Emotionen raus, mit denen man sonst explodieren würde, sie kanalisieren etwas, das man nicht in Worte fassen kann, und machen es für andere sichtbar. Dieser Mensch trauert, sagen sie, dieser Mensch spürt Verlust.

Aber irgendwann wird Weinen anstrengend. Es laugt aus, als würde man durch eine Saftpresse geschleudert und alle Flüssigkeit aus einem herausgesogen. Es knockt einen aus, bis man sich wieder gefangen und den Rotz abgewischt hat.

Jenny muss raus aus der Küche, weg von der Bürokratie. Sie geht stattdessen hoch. Sie will sich ins Bett legen und an die Decke starren, bis ihr irgendwann die Augen zufallen. Der Schlaf ist die einzige Option, die ihr Linderung verschafft. So nahe an die körperliche Sparflamme heran, wie es nur geht.

Oben läuft sie an Adas Zimmertür vorbei. Unzählige Male ist sie seit dem Tod ihrer Tochter an dieser Tür vorbeigelaufen, auf und ab, morgens, abends, nachts. Nicht einmal hat sie sich hineingetraut. Die Polizei ist in dem Zimmer gewesen, hat nach Hinweisen gesucht und nichts gefunden. Sie haben Jenny und Dominik auch befragt. Haben Sie etwas bemerkt? Hat es Anzeichen gegeben? Bei jedem Nein hat Jenny sich gehasst.

Und das Zimmer hat sie nicht betreten. Jenny konnte das bislang nicht. Ein Teil von ihr ist sich immer noch sicher, dass Ada auf dem Bett liegen wird, wenn sie den Raum betritt. Oder dass sie mit angezogenen Beinen vor dem PC sitzt und eines ihrer Spiele zockt und dabei mit irgendwelchen Leuten quatscht, die Jenny nicht kennt. Aber sie weiß, dass auch diese Vorstellung irgendwann verschwimmen wird, das Bild wird Risse bekommen, unscharfe Kanten. Und Adas Geruch wird sich aus dem Zimmer verflüchtigen, vielleicht wird er rüber zu Holger und Anna wandern, und das könnte Jenny nicht ertragen.

Jeder Tag, den sie abwartet und hinauszögert, wird Adas Gegenwart verschwinden lassen.

Also drückt Jenny den Griff runter und stößt die Tür auf.

Ada liegt nicht auf dem Bett, und sie sitzt auch nicht vor dem PC. Sie ist kein Geist, keine übernatürliche Präsenz, die an der Wand lehnt, Jenny schief angrinst und sagt: Hey Mama, hast du echt gedacht, ich haue einfach so ab?

Ada ist nicht da, aber irgendwie ist sie es doch. Alles im Schlafzimmer ist genau so, wie sie es hinterlassen hat. Das Bett ist nicht gemacht und die Decke zerwühlt. Der PC ist nicht aus, jedenfalls nicht ganz. Er blinkt im Ruhemodus. Wenn Jenny die Maus berühren würde, würde der schwarze Monitor aufleuchten, selbst jetzt, nach zwei Wochen. Über dem Gaming-Stuhl hängt ein zerknüllter schwarzer Hoodie mit dem Logo einer Firma, die Hardware vertreibt. Jenny hat nie genau zugehört, wenn Ada von ihrem Hobby erzählt hat, und jetzt bereut sie es. Jetzt wäre sie glücklich, wenn sie stundenlangen Monologen über Grafikkarten oder Mikrofone lauschen dürfte. Ja, jetzt sehnt sie sich nach den Dingen, für die sie sich nie interessiert hat. Hinter dem Schreibtisch steht ein weißes Regal, ebenfalls mit Lichterketten dekoriert und vollgestopft mit Büchern und Figuren, von denen Jenny nur ein paar aus den Marvel-Filmen kennt, die sie alle drei zusammen geschaut haben.

Ada ist nicht da, aber irgendwie ist sie es doch. Jenny schnappt sich den Hoodie und presst ihn an sich, ehe sie mit dem weichen Stoff auf Adas Bett sinkt. Zwischen den Baumwollfasern hängen noch Reste vom Geruch ihrer Tochter.

Warum hat sie diesen Hoodie nicht in jener Nacht getragen?, fragt sich Jenny. Er ist doch viel wärmer als der dünne rote Pullover, in dem man ihre Tochter aus dem Fluss gefischt hat. Vielleicht hätte der Hoodie sie besser vor der Kälte geschützt. Vielleicht hätte er die Wucht des Aufpralls abmildern können.

Aber Jenny weiß, dass sie nur Ausreden sucht. Erklärungen. Alternative Universen, in denen sich das Geschehen anders abgespielt hat. In diesen alternativen Universen lässt sie Ada nicht bei Kim übernachten. Da weicht sie nicht von Adas Seite, da geht sie in der Vergangenheit zurück, bis zu dem Punkt, an dem Adas Leben gekippt ist, ohne dass sie selbst davon auch nur ahnt.

Tausend Leben spielt Jenny durch, aber nie findet sie den Punkt. Nie weiß sie, wann ihre Tochter beschlossen hat, von dieser beschissenen Brücke in den beschissenen Fluss zu springen, und weil sie das nicht weiß, kann Jenny die Geschichte nicht umschreiben, nicht einmal in ihren Tagträumen. Es bleibt immer nur diese eine hämmernde Frage.

Warum?

Warum?

Warum?

Sie sieht sich in Adas Zimmer um. Vielleicht ist da ja irgendwo irgendetwas, eine Spur, eine Erklärung, eine Notiz, eine Antwort. Jenny erhebt sich wieder, geht auf und ab und sucht auf dem Schreibtisch nach Hinweisen, der so ordentlich aufgeräumt ist, dass Jenny sich fragt, ob Ada das alles geplant und sie deswegen Ordnung hinterlassen hat. Ordnung als Abschiedsgeschenk für ihre Mutter.

Und während Jenny die Tischplatte inspiziert, fühlt sie sich schuldig, dass sie hier in Adas privaten Dingen herumwühlt. Sie will unbedingt etwas finden, das all die Fragen in ihrem Kopf beantwortet, aber sie will auch, dass alles so bleibt, wie es ist. Sie will nichts umstellen, nichts berühren, sie will, dass der Raum ein Ort der Zeitlosigkeit ist, an dem alles so einfriert, wie Ada es zurückgelassen hat.

Wieder kommen die Tränen. Dass Jenny überhaupt noch weinen kann nach all den Tränen, wundert sie selbst. Sie müsste längst leer sein, so fühlt sich innendrin ohnehin alles an.

Sie bricht ihre Suche ab und verkriecht sich wieder aufs Bett. Nimmt den Hoodie und drückt ihn an sich. Sie stellt sich vor, wie sich darunter Adas Knochen und Muskeln und Fasern manifestieren. Und ein schlagendes Herz. Ein Mund, der noch sprechen und lachen kann und der ihr sagt, wann Jenny versagt hat und wie sie noch mal dorthin zurückkehren kann, um alles in Ordnung zu bringen.

Jenny rückt weiter nach hinten, um sich mit dem Rücken gegen die Wand lehnen zu können. Ihr Körper ist schwer, als würde durch jede Öffnung Sand einfließen und sich an ihre Eingeweide schmiegen. Jeder Millimeter fühlt sich an, als wäre er prall gefüllt mit Lasten.

Dann drückt etwas Hartes, Kantiges gegen ihr Bein. Jenny zieht die Decke zur Seite. Ihre Augen weiten sich. Da liegt Adas Handy, das Dominik und sie verloren im Fluss geglaubt haben. Die Polizei hat ihnen nur Adas Kleidung gegeben, mehr haben sie nicht finden können. Der Fluss treibt alles mit sich fort, hat die Beamtin entschuldigend gesagt, da ist nichts zu machen.

Jenny tippt mit dem Zeigefinger auf das Display. Zu ihrer Überraschung leuchtet es auf. Sie hat erwartet, dass nach zwei Wochen der Akku leer sein müsste, aber als sie die Bedienleiste herunterzieht, sieht sie, dass Ada den Flugmodus eingeschaltet hat und so noch ein paar Prozent Akkuleistung übrig sind. Jennys Hände zittern, ihr Herz rast.

Sie schaltet den Flugmodus aus, und Adas Handy erwacht. In der Vorschau steht zuerst Kims Name auf dem Display. In Jennys Adern gefriert das Blut. Was, wenn das Smartphone sich nur mit Face-ID entsperren lässt? Oder mit einem Code, der aus keinem Geburtstag oder keiner Telefonnummer besteht?

Unzählige Nachrichten sind da auf der Startseite, die Jenny nicht entsperrt kriegt. Adas Geburtstag passt als Passwort nicht, ihr eigener und Dominiks auch nicht. Wie kann eine einzige Person so viele Nachrichten bekommen?

Ganz oben stehen am Ende immer noch Kims Nachrichten. Sie muss Ada auch noch nach ihrem Tod geschrieben haben. Und da ist wieder dieser Zwiespalt in Jenny. Das Drängen, herauszufinden, was geschehen ist. Die Seiten an Ada kennenzulernen, die sie vor Jenny und Dominik verborgen hat. Und da ist auch der Skrupel. Jenny will nicht herumschnüffeln, will nicht schauen, ob irgendwo im Zimmer das Passwort niedergekritzelt ist. Sie starrt das Display an, das in diesem Moment etwas dunkler wird. Bald würde es wieder ganz erlöschen und in den Ruhemodus wechseln.

Jenny tippt auf die glatte Oberfläche und denkt daran, dass zuletzt Ada diesen Gegenstand berührt hat. Wieder leuchten all die Benachrichtigungen auf, aber nun, da Jenny den grünen Balken mit Kims Nachricht erwischt hat, erscheint eine Vorschau ihrer letzten Nachricht.

hey du, ich wünschte, ich hätte dir noch sagen können, wie …

ADA

Kim ließ an diesem Juninachmittag nicht locker. Sie rief an, als Ada mit Hausaufgaben im Bett lag und sich auf einen ruhigen Abend freute. Aber da machte ihre beste Freundin nicht mit. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie die sturste Person, die Ada kannte. Dann gab sie nicht nach. Nicht einen Fingerbreit.

»Ey, jetzt mach es mir nicht so schwer, dich zu überzeugen. Wir waren schon voll lange nicht mehr zusammen unterwegs«, sagte Kim am anderen Ende der Leitung.

»Du warst gestern hier«, erinnerte Ada sie, während sie sich ausstreckte. Auf ihrem Schoß lag Goethes Faust. Warum sie in der Schule seit Jahrzehnten die immer gleichen Bücher lasen, verstand sie nicht. Es gab so viel bessere Literatur, die wirklich einen Mehrwert für sie hätte. Wen interessierte heute schon, was für altertümliche Ansichten irgendwelche Männer von damals gehabt hatten? Viel zu selten lasen sie Literatur von Frauen, dabei gab es die, das hatte sie mal recherchiert. Die hatte der Kanon nur einfach ausradiert.

»Ich meine nicht nur wir beide. Sondern wirklich alle«, sagte Kim. »Das wäre doch voll schön.«

»Ich hab eigentlich keinen Bock.«

»Du hast nie Bock«, stichelte Kim weiter. Ada wusste, dass sie das nicht böse meinte. Kim war … ausdauernd. Sie ging einem so lange auf die Nerven, bis sie ihren Willen hatte. So war sie eben. Meistens war es nämlich so, dass gemeinsame Aktivitäten Ada dann doch Spaß machten, wenn sie sich einmal aufgerafft hatte.

Ada rollte mit den Augen, weil sie das natürlich nie zugeben würde. »Ich bin auch ziemlich beschäftigt mit Schule und Twitch. Der Streaming-Plan für diese Woche ist voll. Den kann ich nicht einfach canceln.«

Ada hatte vor einer Weile angefangen, auf der Video-Plattform einen eigenen Kanal aufzubauen. Dort sahen ihr im Livestream Leute dabei zu, wie sie PC-Spiele zockte. Dabei kommunizierten sie miteinander: Ada über Headset und Kamera, die Zuschauenden über die Chatfunktion, die Ada während des Spielens mitlesen konnte. So konnten sie sich über das Spiel oder eben Gott und die Welt austauschen.

»Es geht nur um einen Abend, Ada. Um einen fucking Abend. Lass mich nicht betteln.«

»Du bettelst doch schon.« Sie grinste, auch wenn Kim das nicht sehen konnte.

Ein gutmütiges Schnauben auf der anderen Seite. »Das ist mein Ernst. Ich fordere diesen Abend ein. Sozusagen im Namen aller. Das ist eine demokratische Entscheidung, und du kannst gar nichts dagegen machen. Die Mehrheit gewinnt.«

»Sag das mal meiner Community.«

»Du hast eine nette Community. Die Leute verstehen das, wenn du mal rauswillst. Die würden dich nicht dafür judgen.«

Nein, das würden sie wirklich nicht, stimmte Ada ihr im Stillen zu. Aber das musste sie Kim nicht auf die Nase binden. Jedes Rechtgeben ließ deren Ego nur noch weiterwachsen, und das war echt schon groß genug.

»Na gut«, gab Ada schließlich nach. »Einer demokratischen Abstimmung hab ich wohl nicht viel entgegenzusetzen.«

Aus der anderen Seite der Leitung ertönte ein Geräusch, das verdächtig nach einem Quietschen klang.

»Zwanzig Uhr erst mal bei mir?«, fragte Kim dann.

»Nee, ich komme später direkt zum Club. Eine kleine Streaming-Runde lege ich trotzdem vorher noch ein.«

»Das macht doch gar keinen Sinn«, fing Kim an, aber Ada schnitt ihr das Wort ab.

»Das nennt man einen Kompromiss, Sweetheart.«

»Okay«, sagte Kim. »Ich sag den anderen Bescheid, dass Vorglühen ausfällt.«

»Wir sind eh zu alt für Vorglühen.«

»Du wirst in ein paar Monaten neunzehn und klingst wie neunzig.«

»Im Herzen war ich schon immer neunzig«, merkte Ada trocken an, dann legte sie auf.

Es war wieder diese Jahreszeit, in der die Tage noch lang waren. Kies knirschte unter ihren Sneakersohlen. Als Ada durch die Straßen lief, war es gerade erst dunkel geworden. Die Straßenlaternen bildeten einen Weg, auf dem sich Helligkeit und Dunkelheit abwechselten. Der Lichtschein der einen Laterne reichte nie ganz bis zur nächsten. Die kurzen Zwischenräume ließen Spielraum für die Fantasie, dafür, was alles in den Schatten lauern konnte, vor allem für Frauen, für Kinder, für Schutzbedürftige. Ada hatte sich noch nie wohl damit gefühlt, nachts allein durch die Gassen zu ziehen, selbst in ihrer rebellischsten Phase nicht. Sie besaß nicht diese mutige, kratzbürstige Art, die Kim an den Tag legte. Ja, neben ihrer besten Freundin glaubte Ada oft, irgendwie unzulänglich zu sein. Viele kamen mit Kim nicht klar. Man war entweder für oder gegen sie, so sah Kim das eben. Aber wenn man einmal mit ihr befreundet war, wenn man einmal diesen Wall aus Trotz und metaphorischen Klauen überwunden hatte, gab es keine loyalere Freundin.

Ada sah ihre Clique bereits aus der Ferne. Sie konnte die Gruppe auch kaum übersehen, denn Kims türkisgefärbter Lockenschopf stach jedem sofort ins Auge. Ada fand, dass die Farbe Kims helle Haut noch blasser wirken ließ, als sie eigentlich war, aber da ließ Kim sich nicht reinreden. Die Haarfarbe war ein Ausdruck ihrer Seele, pflegte sie zu sagen, und jetzt fühlte sie sich eben nach Entspannung und dem strahlenden Himmel. Ada selbst fühlte sich beim Anblick dieses Farbtons eher gestresst als entspannt, aber es würde eh nicht lange dauern, da würde Kim eines Morgens mit lilafarbenen Haaren auftauchen.

»Hi«, sagte Ada und versank in Kims Umarmung. Neben ihrer besten Freundin standen Benni, Kims Freund, ein Schrank von einem Typen, ein Jahr älter als Ada und Kim, und Ibrar, Bennis bester Kumpel und ein Klassenkamerad. Die beiden legten gerade noch ihre mündlichen Abitur-Prüfungen ab und wollten dann zusammen studieren, Benni Bauwesen und Ibrar irgendwas, das Ada noch nicht erfragt hatte. Beide arbeiteten zusammen nebenberuflich in einem Fitnessstudio, was man ihnen zweifellos ansah. Vielleicht hatte Kim auch deswegen keine Angst vor den Laternenzwischenräumen, denn mit Benni an ihrer Seite war sie safe.

Die Letzte ihrer Clique war Angelique. Sie war erst im letzten Jahr zu ihnen gestoßen, weil sie in Kims Wohnblock eingezogen war und keinen Anschluss gefunden hatte. Kim hatte sich verantwortlich gefühlt. Außenseiterinnen müssen zusammenhalten, hatte sie gesagt und ja auch irgendwie recht gehabt. Angelique war noch introvertierter als Ada, aber eine Liebe verband sie miteinander: Sie lasen beide gern Bücher, bevorzugt weibliche Literatur.

»Wir haben uns den Arsch abgefroren«, sagte Ibrar mit einem vielsagenden Blick auf die Uhr.

»Ja, sorry. Ich hab die Zeit vergessen.«

»Kann ich verstehen, dass du die vergisst«, sagte er. »Ich hätte auch lieber einen Filmabend gemacht.« Er zwinkerte ihr zu.

»Stimmt gar nicht.« Kim hieb Ada den Ellenbogen in die Seite. »Glaubst du echt, ich hätte die Twitch-App nicht auf dem Handy?«

Ada rang sich ein zerknirschtes Lächeln ab. Manchmal konnte man eben nicht aus seiner Haut, und ihre Community, die Leute, die ihr und ihrem Kanal folgten und Ada mit Views, Likes und Abos unterstützten, war so was wie ihre zweite Haut, eine, die sie sich ausleihen konnte, wenn die eigene ziepte und zu eng war. Eine, in der sie sich angenommen fühlte, passend, echt.

Sie liebte ihre Community. Und sie liebte das Internet und Twitch dafür, dass sie ihr diese Community ermöglichten. Sie war auf diese Weise mit Menschen vernetzt worden, die sie sonst niemals hätte kennenlernen können. Wie hatten die Leute das nur geschafft, bevor es eine Internetflatrate gegeben hatte?

»Beschwer dich nicht. Immerhin habe ich euch am Ende doch noch dem wunderschönen Nachthimmel von Animal Crossing vorgezogen«, flüsterte sie Kim ins Ohr, als sie sich in der Warteschlange nach vorne schoben.

»Dabei muss ich gestehen, ich hätte dir noch stundenlang beim Angeln zusehen können«, gab Kim kichernd zurück.

Benni und Ibrar bildeten den Rahmen der kleinen Crew, als sie endlich am Eingang ihre Ausweise vorgezeigt hatten und reingelassen wurden. Musik begrüßte sie. Hämmernde Bässe, denen sich der Takt des eigenen Herzens anschloss, als wäre es froh, eine Weile die Verantwortung über den Rhythmus abgeben zu können. Einfach mal mit allen anderen im Einklang schlagen.

Was für ein Kontrast, dachte Ada, von der entspannten Theme-Musik ihres Lieblingsspiels hinein in den ohrenbetäubenden Lärm der Punkmusik. Vor ein paar Jahren waren sie oft hier gewesen. Sie und die anderen hatten Nächte durchgemacht, meistens heimlich ohne das Wissen ihrer Eltern, weil Benni sie irgendwie reingeschleust hatte, obwohl sie noch nicht volljährig gewesen waren.

Benni, Ibrar und Kim steuerten die Bar an, während Ada mit Angelique zurückblieb. Da war die Musik, die sie beide mit Leben füllte. Angelique griff nach Adas Hand und zog sie auf die Tanzfläche.

»Das hat mir gefehlt«, brüllte Angelique, und sie musste den Mund ganz dicht an Adas Ohr halten, damit sie einander überhaupt verstehen konnten.

»Das Tanzen?«, brüllte Ada zurück, noch ein bisschen steif, weil sie selbiges so lange nicht mehr gemacht hatte. Ihre Glieder mussten erst noch weich werden. Sich auflösen. Und ihr Kopf musste das auch, viel mehr sogar noch. Was der Körper ganz automatisch von allein tat, musste man beim Kopf nachhelfen. Grenzen fallen lassen, na los, entspann dich, lass los, lass dich gehen. Denk an nichts, nur an die Schwerelosigkeit.

Aber Ada und der Takt hatten so ihre Probleme miteinander. Sie und die Clubs hatten sich im letzten Jahr auseinandergelebt. Ada hatte sich neu orientiert und war haften geblieben: am Streaming, am Zocken, an allem, was sie früher schon gern getan hatte, aber eher im Verborgenen. Deswegen dauerte es, bis die Musik auf ihrer Haut vibrierte. Bis die Bässe ihre Muskeln lockerten. Bis sie die Augen schloss und das blitzende Licht über ihr zwischen ihren Wimpern flackerte.

Angelique und sie redeten nicht. Sie schrien sich nicht mehr an, weil bei der Lautstärke eh ganze Wörter verloren gegangen wären. Sie kommunizierten jetzt schweigend. Mit Fingern, die sich zwischendurch suchten und fanden und tasteten, ob die andere noch da war.

Irgendwann konnten sie einander dann loslassen. Wie beim Fahrradfahren war das, irgendwann erinnerte man sich. Da wich die Unsicherheit dem Gedächtnis, und man wusste wieder, was zu tun war. Konnte sich dem Rhythmus hingeben, der von den Zehenspitzen in den Haaransatz wanderte und alle Gedanken aussperrte.

Und dann war da eine andere Hand an ihrem Rücken. Ein nicht unangenehmes, aber fremdes Parfum in Adas Nase, das nicht zu Benni oder Ibrar gehörte, aber definitiv zu einem Mann.

»Hey«, hörte sie eine tiefe Stimme an ihrer anderen Seite, und Ada streckte die rechte Hand nach Angelique aus. Sie fand sie nicht, obwohl Ada mittlerweile die Augen geöffnet hatte. Aber die Dunkelheit auf der Tanzfläche hatte ihre Freundin, die noch keine richtige Freundin war, verschluckt. Sie war verschmolzen mit den anderen Leibern, war nicht mehr zu unterscheiden von den sich wiegenden Körpern. Irgendjemand musste sich zwischen sie gedrängt und sie voneinander getrennt haben. Vielleicht dieser Typ.

»Was?«, fragte Ada kühl. Sie hatte keinen Bock auf irgendwelche Männer. Sie war zum Tanzen da, für Spaß, für Zeit mit ihrer Clique. Weil sie Kim entgegenkommen wollte.

»Du kannst dich gut bewegen«, sagte der Kerl, an dem ihre Kälte einfach abprallte. Sein schwarzes Hemd war hochgekrempelt. Dunkelblondes Haar fiel ihm leicht zerzaust in die Stirn. Seine Augen konnte Ada trotz des Zwielichts erkennen. Sie waren eisblau und so durchdringend, als könnten sie jeden Gedanken in ihrem Kopf lesen. Ada wand sich innerlich.

»Ja schön«, sagte sie gedehnt, »und du kannst hoffentlich gut abhauen.«

Vielleicht verschluckte der Lärm ihre Antwort. Vielleicht ließ auch sein Ego sie ungehört versickern. Sein Lächeln vertiefte sich, und seine Hand blieb, wo sie war.

Im nächsten Augenblick hatte Ada sich umgedreht und die Hand weggeschoben. Um sie herum war kein Platz zum Zurückweichen oder zum Luftholen.

»Hey«, sagte er und hob abwehrend die Hände. »Ich bin doch ein Fan.«

Sie runzelte die Stirn. »Hä? Was redest du da?«

Das Eis in seinen Augen schimmerte. »Na, von deinem Stream. Ich hab dich abonniert. Ich bin’s, Patrick, du müsstest mich doch kennen.«

Nicknames fügten sich in Adas Kopf zusammen. Ihre Community war nicht groß. Etwa einhundert Menschen hatten sie abonniert und unterstützten sie damit finanziell, etwa das Zwanzigfache an Leuten folgte ihrem Kanal. Viele kannte sie, wusste ihren Nicks Profilbilder oder Persönlichkeitsmerkmale zuzuordnen. Aber viele waren auch unsichtbar. Eine anonyme Folge an Buchstaben und Zahlen und dahinter nichts als eine gesichtslose Masse.

»Ach ja?« Ada musste nicht mehr schreien. Gerade gab es einige Momente der Stille. Die Brücke von einem Song zum nächsten. Für einen Augenblick kämpften zwei Teile ihrer selbst gegeneinander: der, der freundlicher sein wollte, der überlegte, ob dieser Typ da vielleicht ein Abo dagelassen hatte und sie supportete. Und der andere Teil, der sich fragte, ob sie noch alle Latten am Zaun hatte. Wenn er bezahlte, dann für Content, und den bekam er. Für die Hand an ihrem Rücken, für die Nähe zueinander bezahlte er nicht, und sie war ihm gar nichts schuldig. Keine Frau in welcher Situation auch immer war das.

»Ja«, sagte er gedehnt. »Ich musste mir allerdings einen neuen Account zulegen. Meinen alten hast du blockiert.« Ein unmissverständlicher Vorwurf schwang in seiner Stimme mit.

Ada horchte auf. Sie blockierte online nicht einfach so. Da musste ihr schon jemand richtig unangenehm kommen und sich ganz schön danebenbenehmen.

In was für eine Scheiße bin ich hier eigentlich reingeraten?, fragte sich Ada still, und wie sie so dastand, in der Menschenmenge, die nun mit dem nächsten Song wieder zu tanzen begann, fühlte sie sich allein. All diese Leute waren nur einen Arm breit von ihr entfernt, aber das Dilemma bekam keiner mit. Sie hatte das Gefühl, dass es egal war, wohin sie sich drehte und wie sie sich wand, immer war der Typ da, immer war er irgendwo an ihr dran.

»Dann musst du mir einen verdammt guten Grund geliefert haben«, sagte sie mit zusammengekniffenen Augen. Ada mimte die Selbstbewusste, die Unverrückbare. Die, die nicht vor einem Typen zurückweichen würde. »Und jetzt verpiss dich. Meine Freunde kommen jeden Moment zurück.«

»Klingt cool.« Er senkte den Kopf zu ihr herunter. Sein Atem streifte ihre Wange. Nähe, um die Ada nicht gebeten hatte. »Dann lerne ich die endlich mal kennen. Dich kenne ich ja schon.«

Ada war kurz davor, ihm eine zu klatschen oder – noch besser – ordentlich zwischen die Beine zu treten. »Ich wiederhole mich ungern, aber du solltest dich wirklich langsam verpissen«, zischte sie und machte demonstrativ einen Schritt zurück. Es reicht jetzt, sagten ihr Körper und ihr Blick gleichermaßen.

Zentimeter nur, mehr Platz war da nicht für eine Flucht. Stattdessen begegneten ihr Blicke. Manche waren genervt, weil Ada und dieser Kerl Störenfriede im Rausch der anderen waren. Sie machten das Hoch kaputt. Andere starrten unschlüssig zu ihnen herüber. Sie konnten sie zwar nicht hören, aber ahnten vielleicht, dass da etwas schieflief.

Dann legte sich ein anderer Arm um Adas Schulter.