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Weder Dornen noch die Liebe können diese unbeugsame Heldin brechen ... Die Dunkeldorn-Chroniken beginnen!
Alle vier Jahre erblüht eine Pflanze, die so schrecklich ist wie schön: der Dunkeldorn. Aus seinem schwarzen Blütenstaub gewinnen Magier die Essenz ihrer Zauberkraft. Doch die Pflanze zu berühren ist tödlich. Das erfährt die junge Opal am eigenen Leib: Ein schreckliches Unglück nimmt ihr fast das Leben und verschlägt sie an eine düstere Universität, wo sie von einem Strudel aus Geheimnissen erfasst wird. Warum hat der Blütenstaub Opal nicht getötet? Was sind die Magier bereit für ihre Kräfte zu opfern? Und welches Interesse hat der berüchtigte wie attraktive Dornenprinz höchstpersönlich an ihr – einer einfachen Plantagenarbeiterin? Irgendwo zwischen den schwarzen Blütenblättern liegt die Antwort darauf, was an jenem Unglückstag wirklich geschah, an dem Opal alles verlor …
Die Dunkeldorn-Chroniken:
1. Blüten aus Nacht
2. Ranken aus Asche
3. Knospen aus Finsternis
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Seitenzahl: 458
Buch
Alle vier Jahre erblüht eine Pflanze, die so schrecklich ist wie schön: der Dunkeldorn. Aus seinem schwarzen Blütenstaub gewinnen die Dunkeldornmagier die Essenz ihrer Zauberkraft – doch die Pflanze zu berühren ist tödlich. Das erfährt die junge Opal am eigenen Leib: Ein schreckliches Unglück nimmt ihr fast das Leben und verschlägt sie an die berüchtigte Universität von Tensia, wo sie von einem Strudel aus Geheimnissen erfasst wird. Warum hat der Blütenstaub Opal nicht getötet? Was sind die Magier bereit für ihre Kräfte zu opfern? Und welches Interesse hat der berüchtigte Dornenprinz höchstpersönlich an ihr – einer einfachen Plantagenarbeiterin? Irgendwo zwischen den schwarzen Blütenblättern liegt die Antwort darauf, was an jenem Unglückstag wirklich geschah, an dem Opal alles verlor …
Autorin
Katharina Seck wurde 1987 in Hachenburg geboren und wuchs in dieser mittelalterlichen Kleinstadt im Westerwald auf. Dort arbeitete sie viele Jahre in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit und Personalwesen, ehe sie sich gänzlich dem Schreiben widmete. In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich mit Menschen, Natur, Politik und Kultur sowie der Bewältigung des Stapels der ungelesenen Bücher. Besondere Inspiration findet sie am Meer, in den heimischen Wäldern und beim Genuss phantastischer Literatur.
Weitere Informationen unter: www.katharinasec.de
Die Dunkeldorn-Chroniken von Seraph-Gewinnerin Katharina Seck:
1. Blüten aus Nacht
2. Ranken aus Asche
3. Knospen aus Finsternis
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KATHARINASECK
BLÜTENAUSNACHT
Roman
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Copyright der Originalausgabe © 2022 by Katharina Seck
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Angela Kuepper
Umschlaggestaltung: Anke Koopmann | Designomicon
Umschlagmotive: Shutterstock.com (Mia Stendal; IuChi; Studiotan)
BL · Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN978-3-6412-8350-6V004
www.blanvalet.de
Für einen Augenblick nurhaben wir beide den Regen gefunden,bevor ich die Welt in Flammen setzte.
Karte
Prolog
Die Menschen in Tensia, vor allem jene, die schon viele Jahre auf dem Buckel hatten, sagten, eines Tages würde jemand kommen, der sie alle vereinen würde: das einfache Volk und die Edlen, die Armen und die Reichen, die Kranken und die Gesunden, die Arbeiter und die Mächtigen, die Sterblichen und die Unsterblichen. Geboren mit adeligem Blut und zugleich mit Dunkeldornmagie gesegnet, würde er kommen, sie alle unter seinem Banner zu sammeln und in ein leuchtendes Zeitalter zu führen.
Und wenn er da sein würde, erzählten Großmütter und Großväter ihren Enkeln, dann wäre er der hellste und zugleich dunkelste Stern über Tensia.
Sie sagten, man würde ihn den Königsgleichen nennen.
1 Aschewind aus Norden
Es war die einhundertzehnte Blütezeit des Dunkeldorns, der alle vier Jahre schwarz und kraftvoll und tödlich erblühte, und sie war dieses Jahr besonders unerbittlich – was jede Generation über die jeweilige Blütezeit zu sagen pflegte, denn sie alle waren eine Tortur.
Die Sonne brannte gnadenlos herab. Der Griff des metallenen Wassereimers schnitt schmerzhaft in meine Hand, als ich ihn über das Feld schleppte. Ich hielt mich möglichst gerade, weil das Gewicht zweier zusätzlicher Eimer, die an einem Holzgestell auf meinen Schultern befestigt waren, mich niederzudrücken drohte. Auf der riesigen Fläche der Dunkeldornplantage, die größer als unser Dorf war, befanden sich nur zwei funktionierende Brunnen, sodass es Dutzende Frauen brauchte, die Felder zu bewässern, bevor die Sonne unterging.
Ich spürte, wie sich aufmerksame Blicke in meinen Rücken bohrten und jeden Schritt überwachten, den ich tat. Die Vorarbeiter schwangen während der Blütezeit durchaus auch mal die Peitsche, wenn sie glaubten, dass wir trödelten oder außerhalb unserer streng festgelegten Ruhezeit pausierten. Ich schickte mich an, schneller zu gehen, ohne dabei Wasser überschwappen zu lassen. Mein Gang war über die Jahre – sechs waren es nun fast auf den Tag genau, die ich hier arbeitete – sicher geworden. Jeder Tropfen war lebenswichtig, zwar mehr für die Pflanzen als für uns, aber lebenswichtig. Je weiter fortgeschritten der Sommer war, desto mehr Brunnen trockneten in Tensia aus, sodass wir behutsam mit den Vorräten umgehen mussten, damit die Dunkeldornen ohne verheerende Verluste geerntet werden konnten.
In Block 21, dem ich zugeteilt war, hielt ich schnaufend inne. Der Schweiß tropfte mir in die Augen, obwohl die stärkste Mittagshitze bereits vorbei war. Ich wischte mir mit dem Ärmel über das Gesicht und ging dann auf Julian zu, welcher in der Wasserkette die letzte Station in meinem Bereich war. Dort oben in der Kabine der mechanischen Sprinkleranlage war er für die gleichmäßige Verteilung des Wassers in diesem Abschnitt zuständig, damit jede Pflanze genügend getränkt wurde. Die Anlage war fest installiert und über ein paar Stufen erreichbar; von seinem Sitz aus konnte er sie in alle Richtungen steuern, um das Wasser aus dem Tank, den ich befüllen sollte, auf dem Feld zu verteilen.
»Nummer fünfzehn also«, sagte er, als er mir eilig ein paar Meter entgegenkam, um mir den schweren Eimer in meiner Hand abzunehmen und mir dann mit den anderen beiden zu helfen.
»Kannst du noch, Opal?« Auch wenn seine Stimme fast nüchtern klang, war der Blick seiner dunkelbraunen Augen besorgt und die Falte zwischen seinen dichten Brauen steil. Das wellige dunkle Haar klebte ihm nass in Stirn und Nacken. Auch sein langärmliges Hemd, das seine hellbraune Haut vor der Sonne verbarg, war durchgeschwitzt, aber nicht so sehr wie meins, das mir am Körper klebte, vor allem dort, wo die Gurte auf den Stoff drückten. Zum Wassertragen wurden in der Regel nur Frauen eingesetzt, weil sie zäher waren als Männer und lang andauernde Arbeiten besser durchhielten. Dafür war die Arbeit auf der Sprinkleranlage mit viel Körperkraft verbunden, denn sie musste mit mechanischen Getrieben in Gang gehalten werden.
»Alles gut«, versicherte ich. Tatsächlich war ich durstig. Wasser gab es nur zu jeder vollen Stunde, wenn wir fünf Minuten Pause machen durften. Dann mussten wir Läuferinnen uns am Zelt des Vorarbeiters, von dem es in jedem Block eines gab, versammeln und konnten unsere Feldflaschen, die an unseren Hüften baumelten, bis zur Hälfte auffüllen lassen.
Julian hielt mir seine Flasche hin, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand hinsah. »Hier. Trink. Du siehst grauenhaft aus.«
»So sehe ich immer aus, falls dir das noch nicht aufgefallen ist«, erwiderte ich grinsend. Dann schüttelte ich den Kopf. Jemandem Wasser anzubieten war hier in Elver und in den anderen Dörfern, die Felder bewirtschafteten, eine große Geste. »Behalt es für dich. Gleich ist Pause, dann bekomme ich ohnehin frisches Wasser.«
Frisches Wasser … eher pisswarme, trübe Plörre, die einmal gefiltert, aber vermutlich nicht abgekocht wurde, wie wir es zu Hause taten. Doch wir hatten keine Wahl. Wir mussten nehmen, was wir kriegen konnten, sonst würden wir keinen einzigen Tag auf der Plantage überleben.
»Wie du meinst.« Er kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich zu stur war, um mich überreden zu lassen. Immerhin arbeiteten wir seit sechs Jahren zusammen auf den Feldern. Diese Ernte war für uns beide die erste, an der wir selbst von Anfang an mit dabei waren, unser erster vollständiger Zyklus. Wir hatten die Dunkeldornen rings um uns herum seit vier Jahren gemeinsam wachsen sehen. Zu Beginn waren wir zusammen auf dem Boden herumgekrochen und hatten die Samen mit Handschuhen eingegraben, weil sie mit so viel Umsicht behandelt werden mussten, dass sie nur per Hand ausgesät werden durften. Innerhalb weniger Monate waren die Triebe aus dem Boden geschossen, schlimmer und schneller als Unkraut, und seitdem hatten wir die dunklen, mysteriösen Pflanzen mit dem süßlichen Duft bei Wind und Wetter am Leben erhalten müssen, denn die Blütenköpfe öffneten sich immer erst nach vier Jahren, um den wertvollen Nektar freizugeben, der dann unter Einsatz unseres Lebens geerntet wurde. Die dunkle Pflanze war, obwohl sie noch nicht fertig ausgereift war, bereits wunderschön anzusehen. Ihre Gestalt erinnerte entfernt an schwarze Orchideen, und doch war sie noch gewaltiger und anmutiger zugleich, wenn sich ihre Blütenblätter erst einmal öffneten.
Julian packte den Eimer fester und kippte den Inhalt in den großen Behälter der Sprinkleranlage.
Neben uns arbeitete ein Junge aus Thiwa, einem Nachbarort. Er war gerade erst fünfzehn Jahre alt geworden, also knapp sechs Jahre jünger als ich und damit alt genug, als Feldarbeiter eingezogen zu werden. Seine behandschuhten Finger gruben Erde um, wo bereits die ersten wenigen Pflanzen geerntet worden waren. Man sah ihm an, dass er noch unerfahren war. Die Lappen, die er sich um Füße und Beine gewickelt hatte, um sie vor dem schwarzen Blütenstaub zu schützen, wiesen Lücken auf, unter denen seine Haut heute Abend feuerrot sein würde. Er war zu arm, um sich festes Schuhwerk leisten zu können.
»He«, rief ich ihm zu und deutete auf seine Füße. »Bedeck dich richtig.«
Der Junge – er hieß Jim, wenn ich mich recht erinnerte – blickte fragend an sich herunter, bis er verstand, was ich meinte. Dann zuckte er mit den Schultern und machte mit seiner Arbeit weiter, als hätte er mich nicht gehört. Von hinten bellte sofort ein Befehl über das Feld. Der Vorarbeiter hatte mitbekommen, dass wir in unserer eigentlichen Arbeit innegehalten hatten. Ich presste die Lippen aufeinander.
Lass es, Opal. Du hast mit dem Jungen nichts am Hut. Ist nicht deine Sache, wenn er die einfachsten Regeln nicht befolgt. Du hast ihn darauf hingewiesen, mehr kannst du nicht tun.
Julian hatte die übrigen Eimer in den Tank geleert und kehrte zu mir zurück. Obwohl ich ihn nicht darum gebeten hatte, half er mir, sie an der Vorrichtung an meinen Schultern zu befestigen, ehe er mir den dritten in die Hand drückte. Mit dem Kinn deutete er zur untergehenden Sonne.
»Ein letztes Mal. Dann kannst du dir den Bauch vollschlagen. Deine Nan hat sicher schon …«
Ich bemerkte es aus den Augenwinkeln, den Schatten, der aus der Reihe fiel, der diesen einen Schritt zu weit gegangen war.
Jim.
Mein Herzschlag kam kurz aus dem Takt. Wenn man täglich mit dieser lebensbedrohlichen Pflanze arbeitete, vergaß man manchmal, wie gefährlich ein einziger Fehltritt war, wie schnell ein zu starker Windhauch uns entstellen oder schwer verletzen konnte. Und auch Jim musste seine naive Nachlässigkeit nun bitter bezahlen: Er war von dem schmalen Pfad zwischen den Ernteabschnitten abgekommen und mit dem linken Fuß in die Plantage getreten. Sein Schrei ging mir durch Mark und Bein. Ich konnte förmlich zusehen, wie sich sein Bein dort, wo der Dunkeldorn seine bloße Haut berührte, dunkelrot verfärbte, als wäre er versehentlich ins Kaminfeuer gefallen.
In Situationen wie diesen musste man schnell handeln. Jim war leichenblass, und ich wusste, dass sein verletztes Bein jeden Augenblick nachgeben und er kopfüber in die Plantage stürzen würde. Und dann … wäre er verloren. Das würde er nicht überleben.
Ich ließ den Eimer in meiner Hand zu Boden fallen und wollte den Gurt von meinen Schultern abschütteln, um loszurennen. Aber eine leise Stimme in meinem Kopf sagte mir, dass ich niemals schnell genug bei Jim sein würde, niemals.
Julian rannte schon an mir vorbei. Er hatte die Situation sofort erfasst, und im Gegensatz zu mir hielt ihn keine Ausrüstung zurück. Gerade als Jim bedenklich ins Wanken geriet, hatte er ihn erreicht und am Arm zu fassen bekommen. Mit brachialer Gewalt riss er ihn fort von den tödlichen Pflanzen. Von mehreren Seiten rannten Feldarbeiter herbei. Einige Läuferinnen waren mit ihren Eimern stehen geblieben und beobachteten das Geschehen gequält, die Finger fest um ihre Eimer gekrallt. Auch wir durften helfen, wenn sich Männer und Frauen und Kinder verletzten. Aber wenn wir dabei etwas von dem kostbaren Wasser verschütteten, zog uns der Vorarbeiter das vom Lohn ab. Es war eine grausame Rechnung.
Julian half Jim, sich auf den sandigen Boden zu setzen. Der Junge hatte jede Fassung verloren. Tränen liefen über seine staubigen Wangen, und er schluchzte ungehemmt. Julian redete leise auf ihn ein. Ich stand zu weit entfernt, um zu verstehen, was er zu dem Jungen sagte, aber seine Miene war sanft und mitfühlend, während er vorsichtig die unsauber verschnürten Leinenwickel von der verletzten Haut löste. Ich hatte bereits viele Verletzungen gesehen, trotzdem schnürte sich meine Kehle zu, als ich die tatsächlichen Ausmaße an Jims Bein zu Gesicht bekam. Vom Knöchel bis zur Mitte des Unterschenkels zogen sich rote Striemen über die Haut, die bereits voller Blasen war. An manchen Stellen hatte sich der Blütenstaub so tief in das Fleisch gefressen, dass nicht mehr viel bis zum Knochen gefehlt hätte. Es sah schlimm aus. Ich hoffte, dass jemand aus dem Lazarett das Bein vor einer Infektion retten konnte.
Zwei Soldaten waren gekommen und hoben den Jungen hoch. Jim fing wieder an zu weinen und wollte sich an Julian festklammern, aber der wurde an seinen Platz zurückbeordert.
Jims leises Wimmern und Schluchzen begleitete auch meinen Weg, den ich wiederaufgenommen hatte. Die Soldaten gingen sicher nicht zimperlich mit ihm um, obwohl ihm jede Bewegung furchtbar wehtun musste. Ihnen waren unsere Schmerzen egal, wir waren nur wertvoll, solange wir fähig waren, unsere Arbeit zu verrichten.
Ein schriller Pfiff tönte über das Feld, und ich atmete erleichtert auf.
Pause.
Überall erhoben sich gebückte, am Boden kniende Gestalten, die Erde umgruben oder einzelne Pflanzen ernteten, andere stellten die Eimer für einen Moment ab. Ich folgte dem schmalen Pfad aus Erde und Steinen zwischen Block 21 und 22 und bewegte mich auf das Zelt des Vorarbeiters zu, der mithilfe zweier anderer grobschlächtiger Aufpasser die Wasserflaschen der herangeeilten Feldarbeiter auffüllte. Ich reihte mich hinter zwei älteren Frauen ein, die gedämpft miteinander sprachen. Sie waren beide fast vollständig in helles Leinen vermummt, trotzdem konnte ich durch den einst weißen Stoff die Verletzungen an Armen und Beinen erahnen, die sie sich über die Jahrzehnte zugezogen hatten. Die Haut dort war dunkel, verschorft und voller Narben. Ich senkte den Blick und wartete, bis wir vorrücken konnten. Das Prozedere ging zügig voran, und nach nur wenigen Augenblicken hielt ich dem Vorarbeiter meine geöffnete Flasche hin. Die letzte Ration vor Feierabend bestand lediglich aus wenigen Schlucken, da die Vorarbeiter der Ansicht waren, dass wir wegen der nachlassenden Temperaturen am Abend nicht mehr so viel Wasser benötigten und uns später aus dem dörfischen Brunnen bedienen konnten. Dabei ignorierten sie völlig, dass unsere Brunnen nur noch wenig Wasser hergaben. Die Dunkeldornen zogen so viel Grundwasser aus der gesamten Region, dass für uns kaum etwas übrig blieb.
Gierig trank ich das meiste der lauwarmen Pissbrühe aus, bevor ich mich wieder auf den Weg zum Brunnen machte, der zwischen Block 5 und 6 angesiedelt war. Wenn ich stramm marschierte, schaffte ich zu jeder vollen Stunde drei Wasserladungen. Wie es die Regeln vorsahen, hielt ich den Blick nach vorne gerichtet und achtete hauptsächlich darauf, auf dem Feldweg nicht mit anderen Läuferinnen zusammenzustoßen. Ein falsch gesetzter Schritt konnte tödlich enden.
In Höhe von Block 13 hob ich das Kinn. Eine Zeltwand des dortigen Vorarbeiters wurde angehoben, und eine zierliche Frau trat ins abendliche Sonnenlicht. Eine Dienerin folgte ihr auf dem Fuß und hielt einen Schirm über ihr Haupt, der sie vor den Sonnenstrahlen schützen sollte. Ich konnte ihr nur für den Bruchteil eines Atemzugs ins Gesicht sehen, ehe sie sich abwandte und der Schirm sie vor meinen Blicken verbarg. Das helle Haar war unter der braunen Kapuze der Robe verborgen, mit der sie ihre Gestalt trotz der Hitze verhüllte. Ihre Haut war so weiß wie kostbarer Marmor, als wäre sie niemals zuvor von der Sonne berührt worden.
Sie war eine Dornenformerin. Eine Herrscherin über diese wertvolle Pflanze. Mit der ihr geschenkten Macht konnte sie eingreifen, wo wir versagten oder wo das Wetter zu unbarmherzig wurde. Die Dornenformer hatten die Gabe, die Dunkeldornen wachsen und gedeihen zu lassen, und manche von ihnen waren sogar stark genug, sie zur Blüte zu bringen. Da dieser Sommer besonders heiß und trocken war, war sie nicht die erste Dornenformerin, die wir in Elver zu Gesicht bekamen. Sie wurden von der Hauptstadt aufs Land geschafft; viele von ihnen waren so jung, dass sie vermutlich frisch von der Universität in Florentia kamen, auf der sie die Kunst des Dornenformens studierten.
Am liebsten hätte ich auf den Boden gespuckt. Ich sah die Ehrfurcht im Gesicht des alten, strengen Vorarbeiters, als er die Dornenformerin zum nächsten Feld geleitete, zu dem die Läuferinnen nicht schnell genug Wasser herbeitrugen, um das Vertrocknen der Pflanzen aufhalten zu können. Die Hitze ließ das Wasser verdampfen, bevor es an den Wurzeln ankommen konnte. Zudem hatten die Samenleger damals zu viele Pflanzen auf diesem Block gesät. Der Vorarbeiter blieb mit der Dienerin am Rande der unzähligen Blütenreihen stehen, während die Dornenformerin über den mit schwarzem Blütenstaub bedeckten Erdboden glitt, nein beinahe schwebte, als könnte er ihr nichts anhaben. Und das konnte er auch nicht. Die Dornenformer waren immun gegen die Schäden durch die Pflanze, die sich mit ihrem Blütenstaub in uns einbrannte, unsere Haut verätzte und unsere Lunge zerstörte. Sie konnten mit bloßen Füßen über die Ebene gehen, und die Dunkeldornen würden ihnen nichts anhaben. Es war beneidenswert.
Ich zwang mich weiterzumachen, aber der Gesichtsausdruck des Vorarbeiters ging mir nicht aus dem Kopf und lähmte meine Beine. Diese Ehrfurcht. Diese Bewunderung. Er betete die Dornenformerin förmlich an, wie es viele im Land taten. Sie und ihresgleichen hüteten das Herzstück Tensias, diese wunderschöne, mörderische schwarze Pflanze.
Aber der wahre Dreck, den die Arbeit mit den Dunkeldornen mit sich brachte, klebte an meinen Händen. An Julians Händen. An den Händen der alten, vernarbten Frauen und an jenen von Sinah, meiner kleinen Schwester, die in Block 43 arbeitete, weil ihre jungen Beine noch weitere Strecken zurücklegen konnten. Doch die Blicke des Vorarbeiters, die uns trafen, waren gnadenlos. Ehrfurcht gab es darin keine. Unsere Arbeit schien wertlos und das Opfer, das wir tagein, tagaus brachten, auch.
Die Dornenformerin war in der Mitte des abgesteckten Felds, das wie alle anderen auch über winzige, parallel angelegte Trampelpfade verfügte, stehen geblieben. Sie hatte ihre Kapuze abgenommen, und ihr hellblondes, fast weißes Haar wehte im leisen Sommerwind. Sie kniete nun auf dem Boden, der von dunkelroten Fäden durchzogene Saum ihres Umhangs war kaum von der Erde zu unterscheiden. Sie streckte die Finger aus und hielt ihre geöffneten Handflächen dicht über die Blüten, die halb vertrocknet die Köpfe hängen ließen. Nicht nur ich stockte in meiner Arbeit, auch viele andere Männer und Frauen waren erstarrt, als sie die Dornenformerin bei ihrem Tun beobachteten.
Es war eine sanfte Magie, die sie da wirkte. Es gab kein Feuer und kein Licht, keine Blitze und keinen Lärm, nur Warten und Atemlosigkeit, und plötzlich, nachdem die Zeit zu verharren schien, war ein Unterschied zu vorher auszumachen. Die Blüten richteten sich auf, reckten ihre Blätter, bekamen Glanz, als wären Sturm und Regen über sie hinweggefegt. Feiner Staub flirrte in der Luft, wo er auf die Sonnenstrahlen traf. Die Dornenformerin tat binnen weniger Momente, wofür wir Monate brauchten.
Gäbe es doch viel mehr von ihnen, dann bräuchten wir uns nicht abzurackern, dachte ich und riss den Blick von der Dornenformerin los, die mit hochgezogener Kapuze zum Zelt zurückkehrte und all die Menschen ignorierte, die sie voller Staunen betrachteten. Bevor der Vorarbeiter seine Männer auf uns hetzen konnte, setzten wir uns alle wieder in Bewegung, sobald der magische Augenblick gebrochen war.
Bald war ich am Brunnen angekommen und füllte meine drei Eimer nacheinander auf. Ein weiterer Aufpasser war hier stationiert, der streng darauf achtete, dass die Läuferinnen nicht selbst einen Schluck vom Brunnenwasser nahmen, das nicht für sie bestimmt war. Ich ließ mir von Leah, einer Nachbarsfrau, die auf dem Block arbeitete, dem auch meine Mutter zugeteilt war, dabei helfen, die fast randvollen Eimer auf meinen Schultern festzubinden, ehe ich mich auf den Rückweg machte. Der letzte Marsch war an jedem Tag dieselbe grausame Folter. Das Gewicht, das wir trugen, fühlte sich so schwer an, als beförderten wir zwei Riesen auf dem eigenen Rücken. Der Griff des dritten Eimers hatte bereits tiefe Schürfwunden in meine Hände gegraben, obwohl ich die Seiten immer wieder wechselte. Ein wenig Blütenstaub hatte sich durch die sorgsam verbundenen Wickel meiner Füße gestohlen und ließ meine Sohlen in den Sandalen bei jedem Schritt schmerzen. Ich konnte es kaum erwarten, Julians Gesicht vor mir auftauchen zu sehen. Seine rettenden schwieligen Hände, die mir die Last von den Schultern nahmen.
Die Muskeln meiner Arme zitterten, als ich Block 21 nach einer gefühlten Ewigkeit erreicht hatte. Julian hastete mir nun ein ganzes Stück weit entgegen, doch eigentlich war es ihm nicht erlaubt, seinen Platz zu verlassen. Die Wasserzufuhr durfte bis zum Einbruch der Dunkelheit nur für das Nachfüllen der Tanks unterbrochen werden. Er riskierte eine Maßregelung, und ich konnte ihm nur mit einem lang gezogenen Schnauben danken, weil mein Atem schnell und abgehackt ging. Meine Hände waren so verkrampft, dass es etwas dauerte, bis ich die Finger öffnen und ihm den Griff des Eimers überlassen konnte. Langsam begann das Blut wieder in meinen tauben Fingerkuppen zu zirkulieren. Dann entfernten wir auch die Eimer auf meinen Schultern und trugen sie zur Anlage. Als ich die Gurte von meinem Rücken löste, spürte ich, dass sie meine Haut aufgescheuert hatten. Sie fühlte sich heiß und wund an.
Bevor Julian das Wasser zur Anlage trug, schenkte er mir ein kurzes Lächeln. Wenn er lächelte, konnte ich für einen Augenblick vergessen, wie hart unsere Arbeit war, wie hoch der Tribut, den die Dunkeldornen Elver und uns allen abverlangten. Sein Lächeln war in den vergangenen Jahren ein wenig wie eine Heimat geworden. Eine Heimat, die uns Dürre und Peitschen und Hitze nicht nehmen konnten.
»Siehst du, geschafft. Ein letztes Mal ist vorbei.«
Ich erwiderte das Lächeln, trotz Erschöpfung und Schmerzen, und nickte. Es bedurfte keiner weiteren Erklärung nach all den Jahren, die wir nun schon miteinander arbeiteten, von Frühjahr bis Herbst, bis die Sämlinge und Jährlinge über den Winter mit wärmenden Planen eingedeckt wurden, um gegen Frost und Eis zu bestehen. Wir kannten die Körpersprache des anderen genauso gut wie unsere eigene. Wir kannten unsere Grenzen und sogar, was dahinter war. Man konnte nicht jeden Tag bis an seine Grenze gehen, ohne die eigenen Abgründe vor dem anderen zu offenbaren.
Julian hob die Hand zum Abschied, berührte meine vom Tragen geschundene Haut nicht. Er würde noch bleiben müssen, bis die Sonne vollständig untergegangen und meine letzte Wasserfuhre aufgebraucht war. Ich drehte mich um, weg von ihm und hin zu meinem Weg nach Hause, das irgendwo hinter den sandigen Hügeln lag und darauf wartete, mich für die Nacht vergessen zu lassen, welche Strapazen uns am nächsten Tag wieder erwarten würden.
Ein letztes Mal.
Das sagten wir jeden Abend zueinander, und es waren die schönsten Worte des Tages, so zehrend er auch gewesen sein mochte.
2 Heimat ist nicht, wo du bist, sondern mit wem
Das Häuschen, in dem ich mit meiner Familie lebte, war etwa eine Viertelstunde Fußmarsch von den Dunkeldornfeldern entfernt. Elver war eines der ältesten Erntedörfer, in denen die zuständigen Arbeiter wohnten. Den einzigen Schutz vor dem aufsteigenden Blütenstaub bot ein kleiner, runder Hügel, über den der Weg zum Dorf führte. Deswegen waren zumindest die Gebäude in Elver dicht gezimmert und mit Rollläden und Fensterschutz versehen, damit im Falle eines ungünstigen Windes kein ätzender Blütenstaub durch die Ritzen dringen konnte.
Elver selbst bestand aus etwa zwei Dutzend Häusern, die in zwei Reihen parallel in einer lang gezogenen, häufig von Wagen benutzten Straße angesiedelt waren. Die meisten Orte, in deren Nähe Dunkeldornen angebaut wurden, waren auf diese Weise errichtet, um mit möglichst guten Transportwegen dienen zu können. Ein paar hohe Bäume an den Rändern der Straße spendeten in der drückenden Mittagszeit Schatten.
Ich war nicht die Einzige, die auf dem Heimweg war. Manche gingen in Gruppen, die meisten aber allein nach Hause, weil man nach so einem langen Tag keine Muße mehr hatte, mit den anderen Dorfbewohnern über Nichtigkeiten zu schwatzen. Auch ich marschierte ohne Umschweife auf unser Haus zu. Ein niedriger Zaun trennte es von der Straße und den benachbarten Gebäuden. Das Fenster des Hauptraums, das zur Straße hinausging, war geöffnet, und ich nahm den Geruch wahr, der daraus strömte.
Müde stieß ich die Tür zu unserem Häuschen auf und trat den Dreck meiner Sohlen an dem Ableger ab, sorgsam darauf bedacht, den giftigen Staub nicht mit hineinzuschleppen. Die trockenen Holzdielen knarrten unter meinen Sandalen, als ich durch den Türrahmen schritt. Sofort zog ich sie aus und stellte sie auf eine Matte neben der Haustür, nachdem ich den Dreck mit einer Bürste nach draußen befördert hatte.
Die beständige Hitze der letzten Monate setzte nicht nur unser aller Gesundheit zu, sondern auch den schäbigen Gebäuden der Siedlung, die aus Kostengründen kaum instand gehalten werden konnten. Da so viele Häuser aus Holz gebaut waren, herrschte allgemeine Vorsicht beim Umgang mit Feuer.
Sinah und meine Mutter Jamila waren nicht da, vermutlich schufteten sie noch draußen unter der Aufsicht der Aufseher auf den Feldern. Aber meine Großmutter stand bereits am Herd und bereitete ein karges Abendessen aus den Resten des Vortages zu. Sie war zu alt und ihr Körper zu gebrechlich für die harte Feldarbeit, weswegen sie im Lazarett eingeteilt war und nach Hause gehen durfte, wenn ihre Arbeit getan war. Das Feuer im Ofen prasselte heiß und stach in meinen gequälten Knochen. Ich fühlte mich innerlich so erhitzt, dass ich mich nach Abkühlung sehnte, doch stattdessen musste das Wasser für die abendliche Reinigung und zum Trinken abgekocht werden. Das Abkochen war hier lebenswichtig, damit man das Gift der Dunkeldornen, das in den Boden bis hinab zum Grundwasser sickern konnte, nicht in sich aufnahm.
»Hallo, Nan«, begrüßte ich meine Großmutter. Ich ging zu ihr und umarmte sie.
Sie legte den Lappen, den sie in der Hand hielt, zur Seite und tätschelte meinen Arm.
»Guten Abend, mein Herz. Hattest du einen schönen Tag?« Sie lächelte und schwang die Kelle, mit der sie den Eintopf umrührte, damit er nicht anbrannte. Trotz ihres schlohweißen Haars und ihres von der vielen Arbeit gebeugten Rückens war sie unerschütterlich. Ich hatte sie nie ohne dieses leise Lächeln auf den Lippen gesehen, und wenn es doch Zeiten ohne selbiges gegeben hatte, dann hatte sie sie immer gut vor mir verborgen.
»Der Tag ist nie so schön wie die Nacht«, gab ich zurück. Das war unser kleines Ritual, eine Anspielung darauf, dass wir nach Sonnenuntergang nicht mehr wie die Verrückten schufteten, sondern der Müdigkeit trotzten, um noch ein paar Augenblicke oder manchmal auch Stunden miteinander zu teilen. Da draußen waren wir Sklavinnen und mussten uns dem Zwang der Vorarbeiter beugen, aber hier drin, in diesem winzigen Häuschen, das mein Vater uns nach seiner Flucht vor der Feldarbeit hinterlassen hatte, konnten wir einfach zusammen sein. Wir konnten wir selbst sein.
Ich nahm vier Teller und Becher von einem Wandregal und stellte sie auf den Tisch, Löffel legte ich daneben. Sinah brachte nach der Arbeit immer Wasser aus dem Dorfbrunnen mit, das wir für den nächsten Morgen abkochten.
»Wie war es heute im Lazarett?«, fragte ich, als ich neben Nan stand und einen Blick in den Kessel riskierte. Mein Magen knurrte vernehmlich und fühlte sich flau an. Wir waren es gewohnt, ständig Hunger zu haben und hungrig zu arbeiten. Die letzte Mahlzeit, die ich zu mir genommen hatte, war das Frühstück lange vor Sonnenaufgang gewesen und hatte aus etwas gebackenem Brot und Hartkäse bestanden. Außerdem hatten wir von der Nachbarin gestern einen Krug Ziegenmilch im Tausch für ein Stück Seife bekommen, die Nan gesiedet hatte. Die Seife war in Elver und den umliegenden Dörfern begehrt. Nan hatte das Rezept aus ihrer weit entfernten Heimat, den Dahlischen Inseln, mitgebracht und reicherte sie mit Kamillenblüten an, die Verbrennungen durch die Sonne und den Blütenstaub der Dunkeldornen auf der Haut linderten und Entzündungen vorbeugten. Abends schrubbten wir uns damit den Staub von der Haut, die rot und verglüht war, wo die Kleidung nicht ausreichend Schutz geboten hatte.
»Wie immer. Es war belebend viel los. Aber zum Glück gab es keine ernsthaften Verletzungen. Und keine Toten in dieser Woche«, entgegnete Nan ruhig, während ihr Blick konzentriert auf den Eintopf gerichtet war.
»Das ist gut.« Ich war froh, dass Jim nicht lebensbedrohlich verletzt war.
Der Geruch von Pökelfleisch stieg mir in die Nase, und ich spürte, wie mir das Wasser im Mund zusammenlief. Hoffentlich kam der Rest meiner Familie bald, sonst konnte ich für nichts garantieren.
»Ich bete, dass die Blüte sich endlich entfaltet und die Erntezeit bald vorüber ist«, sagte Nan dann. »Die Arzneivorräte gehen zur Neige. Ich habe den Vorarbeitern schon vor einigen Wochen gesagt, dass die Medikamente nicht ausreichen würden, obwohl wir noch lange nicht am Ende der Ernte sind, aber sie wollten nicht auf mich hören.«
Ich lehnte mich gegen den Türrahmen, durch den man von der Wohnstube in das winzige Bad gelangte, in dem sich ein Tisch mit Waschschüssel und eine kleine Wanne sowie eine Wäscheleine befanden. Von der Stube aus führte eine Treppe ins Obergeschoss. Dort gab es zwei Schlafzimmer, eines teilten sich Sinah und ich, das andere Nan und meine Mutter, ihre Schwiegertochter.
Ich runzelte die Stirn. »Die werden aber aufgefüllt, oder? Ich meine, wie sollen wir denn arbeiten, wenn unsere Verletzungen nicht versorgt werden können? Die Plackerei ist ohnehin schon schrecklich.«
Nan strich sich eine graue Haarsträhne zurück, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte. »Ich zitiere, was der Kommandant heute Morgen gesagt hat: ›Dann sollen die Leute eben besser aufpassen, wohin sie treten.‹«
Wut machte sich in mir breit, und ich stieß ein abfälliges Zischen aus. »So was lässt sich leicht sagen, wenn man im Schatten eines Zeltes sitzt und nur hin und wieder die Peitsche schwingt.«
Nan warf einen raschen Blick nach draußen, um sich zu vergewissern, dass gerade niemand an dem geöffneten Fenster vorbeilief. Dann legte sie mir die Hand auf die Wange.
»Sag das nicht zu laut, Liebes. Eine Dornenformerin ist im Dorf, also sind auch mehr Soldaten in der Nähe. Die hören so etwas nicht gern.« Ihre Finger waren so dünn, dass es mir das Herz brach. Sie brauchte mehr Nahrung, mehr Wasser, mehr Ruhe, von allem mehr. Und nichts davon würde ich ihr geben können, egal wie viel ich schuftete. Wir bekamen zwar in den Monaten, in denen wir uns um das Wachstum der Dunkeldornen kümmerten, einen Hungerlohn ausgezahlt, aber der reichte kaum, um besser zu leben als die gesetzlosen Feldsklaven, denen es noch schlechter als uns erging. Die meisten von ihnen arbeiteten sich draußen zu Tode. Von unserem Lohn wurden außerdem das Wasser, das wir auf den Feldern bekamen, und die Behandlung im Lazarett abgezogen. Viele ließen ihre Wunden daher gar nicht erst versorgen, auch wenn sie im schlimmsten Fall eiterten und bleibende Schäden anrichteten. Weiterhin mussten wir von den mageren Löhnen noch Geld abzweigen, um in den Wintermonaten, wenn die Dunkeldornen unter wärmenden Planen selbst eine Art Winterschlaf hielten, zu überleben. In jener Zeit gab es kaum Verwendung für uns, wir durften aber auch keinen anderen Berufen nachgehen, damit wir unsere Körper für die Feldarbeit schonten.
In mir regte sich ein Hoffnungsschimmer, als mir der heutige Besuch der Dornenformerin in den Sinn kam. »Vielleicht kann die Dornenformerin veranlassen, dass uns Arznei geschickt wird.«
Doch Nan verneinte. »Dornenformer scheren sich nicht um die Angelegenheiten einfacher Feldarbeiter. Wenn ihre Arbeit getan ist, wird sie weiterziehen, ohne sich um die Zustände hier zu kümmern. An der Universität bringen sie den jungen Leuten bei, dass dies unsere naturgegebene Aufgabe ist, die wir schicksalsergeben zu erfüllen haben. Unser Geschick interessiert sie nicht.«
Nans Worte ließen mich unbefriedigt zurück. Alles in mir schrie angesichts der Ungerechtigkeit. Wir leisteten so viel, bezahlten den Wohlstand Tensias mit unseren Körpern und erhielten dafür nicht einmal Arznei?
»Was werdet ihr tun, wenn die Medikamente aus sind?«, fragte ich bang. Allein in meinem Block hatten heute zwei von den zehn Läuferinnen, die wir waren, nach Dienstschluss das Lazarett aufsuchen müssen, weil sie die Füße ein Haarbreit neben dem Weg aufgesetzt hatten.
Nans Blick war klar. Nur ein zarter Zug um ihren Mund verriet die Bitterkeit, die sie aufwühlen musste. »Hoffen, Opal. Hoffen, dass Gebete und das bisschen Naturheilkunde ausreichen.«
Ich biss mir auf die Zunge, um nicht laut zu werden. Nan konnte nichts dafür. Ich wollte sie nicht noch mehr aufregen. Es war offensichtlich, dass es ihr naheging, bald nicht mehr ausreichend helfen zu können. Helfen war ihre Bestimmung.
Zum Glück hörte ich in diesem Augenblick Stimmen vor der Haustür, und kaum einen Atemzug später kam meine Mutter durch die Tür. Sie hatte Sinah im Schlepptau, und beide trugen Krüge auf den Armen.
Meine Schwester sah nicht weniger erschöpft aus als ich, aber dennoch strahlte sie bis über beide Ohren. Sie polterte in die Stube, warf die Schuhe zur Seite und stellte den Krug auf den gedeckten Tisch.
»Seht mal, was wir von Margret bekommen haben.«
Ich lugte in das Innere des Kruges und entdeckte eine dunkle Flüssigkeit, die dicklicher war als Wasser. »Was ist das? Wein?«
Sinah neigte den Kopf. Die aschblonden Locken, die fast genauso aussahen wie meine, aber zu kurz für einen Zopf waren, flogen ihr dabei um die Schläfen.
»Honigwein! Den können wir uns zum Abendessen gönnen.« Sie wandte sich an Nan. »Ist das nicht großartig?«
Nan lächelte gütig. »Es passt zwar nicht zum Abendessen, aber wen kümmert das schon?«
Meine besonnene Mutter stellte den anderen Krug mit Brunnenwasser neben dem Herd ab und gab mir zur Begrüßung einen Kuss auf die Stirn. Sie war der Ruhepol in dieser Familie, nicht so ungezügelt wie die jugendliche Sinah und nicht so aufsässig wie ich manchmal. Nachdem mein Vater abgehauen war und uns mit dem heruntergewirtschafteten Haus, aber ohne finanzielle Mittel zurückgelassen hatte, hatten Nan, die sich für das Verhalten ihres verschwundenen Sohnes noch heute schämte, und sie uns irgendwie durchgefüttert. Ohne Hilfe, ohne Unterstützung, sondern aus verdammter eigener Kraft. Dafür mit vielen Opfern, dachte ich, während ich meine Großmutter verstohlen betrachtete, die sogar ihre Heimat für uns verlassen hatte.
Der Eintopf war mittlerweile fertig. Sinah und ich setzten uns auf unsere Stühle, während meine Mutter die Teller von Nan füllen ließ und vor uns hinstellte. Mein Magen knurrte erneut, und ich konnte es kaum erwarten, die Mahlzeit hinunterzuschlingen. Schließlich hatten auch meine Mutter und Nan ihre gewohnten Plätze eingenommen, und ich fiel über meine Portion her wie ein hungriger Wolf über seine Beute. Einige Zeit sagte niemand etwas, und nur das Klackern des Bestecks auf den Tellern war zu hören. Erst nach dem Essen schenkte Jamila beinahe feierlich den Honigwein in unsere Becher ein, da unsere gesättigten Mägen diesen jetzt besser vertrugen.
»Habt ihr gesehen, dass heute eine Dornenformerin im Lager war?«, unterbrach meine Schwester die gelöste Stille.
»Ich glaube kaum, dass irgendjemand das nicht gesehen hat. Die machen jedes Mal ein kleines Spektakel daraus«, murmelte ich. Meine Stimme klang abwertend und verärgert, obwohl ich zugeben musste, dass ich innerlich doch auch ein wenig von der Ehrfurcht verspürte, die ich im Gesicht des Vorarbeiters und vieler anderer Menschen erkannt hatte. Und dieses Gefühl ärgerte mich noch mehr.
Sinah beachtete meinen Einwand nicht. Ihre Miene war verträumt.
»Wie es wohl sein muss, eine Dornenformerin zu sein? Irgendwo in einem riesigen Palast zu wohnen und …«
Nan unterbrach sie mahnend. »Sie wohnen nicht in einem Palast. Sie studieren ihre Gabe an der Universität, um ihren Beitrag zu leisten, so wie wir es tun.«
Sinahs Gesichtsausdruck zufolge war das für sie fast dasselbe. Aber da sie meinen Blick auffing, ging sie nicht näher auf das Thema ein. Sie wusste, dass ich ihre Schwärmereien für die Dornenformer nicht teilte, im Gegenteil. Ich verachtete deren ausschweifenden Lebensstil.
Aber auch ich hielt den Mund und ließ ihr ihre Träumereien. Jeder brauchte am Ende etwas, um sich durch den Tag zu stehlen, und wer war ich, darüber zu urteilen?
Stattdessen stießen wir mit dem dunklen, golden schimmernden Met an, der ein so seltenes Geschenk war, dass wir ihn um jeden Preis genießen mussten. Mit der köstlichen Note auf der Zunge fühlten wir uns wie vier Königinnen, die es für einen Abend in die Unterkunft von armen Leuten verschlagen hatte. Wir dachten nicht weiter an die Dornenformerin und an die Arznei, die bald aufgebraucht war. Wir dachten nicht an die Wunden auf unseren Körpern und in unseren Seelen. Der Honigwein machte den Schmerz und die bleiernen Knochen vergessen und löste etwas, das tief in uns verborgen war:
Es war Glück. Unbeschwertes, pures Glück.
Wir saßen da, zu viert um diesen alten, wackeligen Tisch versammelt, und ich war unbändig stolz. Ich war stolz auf meine Familie. Diese starke, unbeugsame Gemeinschaft aus gezeichneten Frauen, die sich in dieser oftmals grausamen Welt behaupten mussten, sie war mein Licht in der Nacht. Sie hatte mehrere Blütezeiten und Verlust und Feigheit überlebt. Sie war so stark, dass sie mich durch ein Leben voller Entbehrungen und Peinigungen tragen würde.
Zusammen konnten wir alles überstehen.
3 Die schwarze Wolke
Es war der vermutlich heißeste Tag bislang in diesem Sommer. Die Sonne hatte den Zenit noch nicht einmal erreicht und schien trotzdem so intensiv, dass ich das Gefühl hatte zu zerfließen. Meine Wasserportion war bereits aufgebraucht, obwohl die nächste Pause in weiter Ferne lag. Jeder Schritt war eine nicht enden wollende Qual.
Die sechzig Blöcke glichen einem Ameisenhaufen. Fast einhundert Männer und Frauen aus den umliegenden Dörfern eilten geordnet über die zahlreichen Wege. Ein langer Zaun war um die gesamte Plantage gespannt, der nur die Pflanzen und nicht die Menschen schützte, denn durch den grobmaschigen Draht konnte der Blütenstaub problemlos entweichen. Die Zelte der Vorarbeiter ergänzten das Bild der Trostlosigkeit. Die Gegend war nach so vielen Jahrzehnten des Dunkeldornanbaus eine sandige, öde Ebene mit vereinzelten blattlosen Bäumen und struppigen Sträuchern. Wenn die Dunkeldornen in wenigen Wochen vollständig geerntet wären und wir die Felder für das nächste Jahr umpflügten, düngten und aufbereiteten, würde sich auch die Natur ein wenig erholen. Es war kein Geheimnis, dass die Dunkeldornen alle Nährstoffe der Umgebung aus dem Erdboden zogen und man in einem weiteren Umkreis nichts anderes anbauen konnte. Wir waren darauf angewiesen, dass ausreichend Nahrung aus den überschaubaren Teilen von Tensia, in denen Getreide und Gemüse gediehen, sowie aus den Nachbarländern eingeführt und zu uns gebracht wurde.
Ich zählte meine Schritte, um mich von der übermächtigen Hitze abzulenken. Mittlerweile kannte ich jede Entfernung ganz genau. Ich wusste, wie viele Schritte ich vom Brunnen bis zur Sprinkleranlage und von dort bis zum Vorarbeiterzelt laufen musste. Ich war bereits auf meinem neunten Marsch für diesen Vormittag. Bei jedem Schritt auf dem erdigen Boden stob Staub auf, so trocken waren die Gehwege, für die kein Wasser verschwendet wurde. Wir mussten die Füße möglichst behutsam aufsetzen, um so wenig abgesetzten Blütenstaub wie nur möglich aufzuwirbeln, der auf keinen Fall in Mund, Nase oder Augen gelangen durfte. Dabei war der Höhepunkt der Ernte nicht einmal erreicht.
Ich hob das Kinn und blickte über die zahlreichen Blöcke. Die Dunkeldornen waren schon hüfthoch, aber bisher hatten sich nur wenige Blütenköpfe geöffnet und ihr schwarzes Juwel offenbart. Wir warteten darauf, dass sich auch die übrigen Blüten bald öffnen würden. Es konnte sich nur noch um Tage, höchstens wenige Wochen handeln, bis es so weit war, dass sie nach und nach alle erblühten.
Ich bog von dem mittigen Hauptweg nach rechts in den kleinen Pfad zwischen Block 20 und 21 ab, bis ich der nur zwei Fuß breiten, pflanzenlosen Spur zur Sprinkleranlage folgen konnte. Der Winkel der Anlage war so eingestellt, dass mich leichter Sprühregen traf. Ich schloss für einen Moment die Augen und genoss die prickelnd kühle Nässe auf Gesicht und Haar. Der Rest versickerte in der Leinenkleidung, die meinen Körper abdeckte.
»Kannst du bitte schneller gehen?«, sprach mich jemand von hinten an. Ertappt beschleunigte ich meine Schritte.
»Entschuldige«, rief ich über die Schulter und beeilte mich, die Anlage zu erreichen, da der Weg zu schmal war, um einander zu überholen.
Die Stimme gehörte zu einer schwarzhaarigen jungen Frau namens Caitlin. Sie war eine Entstäuberin in meinem Block und – wie es für Entstäuberinnen üblich war – klein und zierlich. Sie hatte bislang noch nicht viel zu tun gehabt. Aber offenbar hatten sich einige Pflanzen geöffnet, und ihre Aufgabe bestand darin, den wertvollen Nektar zu ernten und in einen Behälter aus Glas zu füllen. Diese Tätigkeit war eine der gefährlichsten auf den Feldern. Caitlin hatte unmittelbaren Kontakt zu den Dunkeldornen, und obwohl ihre Hände in engen Handschuhen steckten und sie mit filigranem Werkzeug aus Metall arbeitete, war sie der Pflanze so nahe, dass ein heftiger Windstoß, der plötzlich seine vorige Richtung änderte, ihr den tödlichen Blütenstaub direkt ins Gesicht wehen konnte.
»Kein Problem«, murmelte Caitlin, als sie sich an mir vorbeischob. Ihre Miene war hochkonzentriert und in sich gekehrt, sodass ich ihr nur schweigend nachblickte. Ich richtete ein Stoßgebet gen Himmel. Es war ein windiger Tag. Ich wünschte ihr, dass alles glattging und sie den Nektar ohne Zwischenfälle abernten konnte.
Der Nektar. Eine summende Neugier stellte sich ein, wann immer ich darüber nachdachte. Was wohl mit ihm geschah, wenn er in seinem Glasbehälter auf die Wagen gestapelt und nach Florentia gekarrt wurde?
Dunkeldornpulver …
Sie machten aus dem getrockneten Blütennektar Dornenpulver, das wusste ich. Und aus diesem Pulver konnte Dunkeldornmagie erschaffen werden.
Ich legte die letzten Meter zur Sprinkleranlage zurück. Julian kam mir aus der Steuerkabine entgegen. Ein bisschen neidisch blickte ich auf das Dach über der Anlage. Wenigstens konnte er im Halbschatten arbeiten und war der Dauerbestrahlung von oben nicht ungeschützt ausgesetzt.
Ich überreichte ihm den Eimer in meiner Hand, den er zur Anlage trug, ehe er zurückkam und mir mit den anderen beiden half. Wie auch am Vortag hielt Julian mir seine Feldflasche hin, und dieses Mal wehrte ich mich nicht dagegen. Dankbar trank ich ein paar Schlucke, wobei ich mich beherrschen musste, die Flasche nicht in gierigen Zügen zu leeren. Ich schraubte sie zu und gab sie Julian zurück, bevor der Vorarbeiter auf uns aufmerksam wurde.
»Danke. Das tat gut.«
Julians mitleidiger Blick blieb an meinem schweißdurchtränkten Hemd hängen. »Ich wünschte, ich könnte mehr tun. Aber außer Wasser kann ich dir nichts zur Linderung anbieten.«
Wärme durchströmte mich. Nicht diese sommerliche Hitze, die einen von innen und außen gleichermaßen auffraß, sondern eine andere, kribbelnde Wärme, die so angenehm war wie ein kühlender Wind. Wie ein lauer Wind, der dunkle Gedanken verscheuchte und einen süßen Geschmack nach Sommerblumen auf der Zunge hinterließ.
»Das tust du doch«, brach es aus mir heraus, ohne dass ich es beabsichtigt hatte. Ich atmete tief ein, was ein Fehler war. Die trockene, heiße Luft schmerzte in meiner Lunge. »Ich könnte mit jemandem zusammenarbeiten, der sein Wasser nicht mit mir teilt. Dem es egal ist, dass ich mir die Füße und die Gedanken wund laufe. Aber das tue ich nicht. Dein Mitgefühl bedeutet mir viel, Julian. Es zeigt, dass wir noch nicht so abgestumpft sind, dass uns alles und jeder egal wäre.«
Mit dem Anflug eines Lächelns schnallte Julian die ausgeleerten Eimer wieder an mir fest. Seine von der Nässe gekühlte Hand berührte dabei flüchtig meinen Nacken. »Mir ist ziemlich viel egal, Opal. Aber eben nicht alles. Nicht jeder.«
Ich drehte mich um und schaute ihn an. Obwohl wir uns jeden Tag sahen, obwohl ich mit ihm vielleicht genauso viel Zeit verbrachte wie mit meiner Familie oder mehr sogar, fiel mir erst jetzt, da ich ihn eingehender betrachtete, auf, wie abgekämpft auch er aussah. Seine markanten Gesichtszüge wirkten eingefallen, seine Haut war an vielen Stellen vernarbt und entzündet. Manchmal vergaß ich über meine eigenen Strapazen, dass seine Tätigkeit körperlich nicht minder anstrengend war als meine und dass er aufgrund seiner Position inmitten des Blocks dem Flirren des Blütenstaubs hilflos ausgesetzt war. Er durfte seinen Posten nicht verlassen. Entweder verletzte ihn das Gift der Pflanze oder die Peitsche der Aufseher.
»Bis gleich dann«, sagte er. »Pass auf dich auf.«
Ich zog eine Augenbraue hoch und wollte gerade in langen Schritten auf den eingetretenen Pfad zusteuern, als ein unterdrücktes Fluchen in meinem Rücken ertönte. Noch bevor ich herumgeschnellt war, ahnte ich, was passiert war, und ein rascher Blick bestätigte meine Befürchtung: Julian lag gekrümmt auf dem Boden, die Hände auf den Brustkorb gepresst. Ich warf die Gurte von meinem Rücken, wobei die – zum Glück leeren – Eimer mit einem metallenen Scheppern zu Boden fielen. Dann lief ich zu ihm.
Der Wind hatte gedreht. Eine heftige Böe hatte den Blütenstaub, der in den frisch erblühten Dunkeldornen aufgebrochen war, ein paar Meter weit in seine Richtung getragen. Auch Caitlin war bereits von zwei Feldarbeiterinnen umzingelt, die ihr halfen, sich aufzurichten. Selbst aus der Ferne konnte ich die Brandblasen auf ihren Händen und in ihrem Gesicht erkennen. Mir lief ein Schauder über den Rücken. Manchmal vergaß auch ich, wie gewaltig die Dunkeldornen waren. Wie mächtig. Wie zerstörerisch. Hoffentlich waren Caitlins Augen nicht betroffen und kein Staub in ihre Atemwege gelangt.
Ich ging neben Julian in die Knie, der noch immer leise Flüche ausstieß. Das war ein gutes Zeichen. Jemand, der fluchen konnte, war in der Regel nicht lebensgefährlich verletzt.
»Lass mich sehen«, sagte ich streng und zog seine Hände von der Stelle weg, die er verdeckte.
Dort, wo sein Hemd auseinanderklaffte, klebte eine feine schwarze Schicht. Die Haut darunter war rot und leicht angeschwollen.
»Komm, setz dich auf«, befahl ich. Wir alle waren auf solche Fälle vorbereitet. Ich griff nach seiner Feldflasche und schraubte sie auf. Dann zog ich sein Hemd ein Stück weiter auseinander.
»Lehn dich vor … Noch ein bisschen mehr.«
»Wenn du meine nackte Haut hättest sehen wollen, hättest du nur fragen müssen«, sagte Julian. Aber seine Stimme klang dabei so gequält, dass wir beide nicht lachen konnten.
Vorsichtig wusch ich mit dem Wasser den Blütenstaub weg, der noch auf seiner Haut lag, verfangen in den winzigen Härchen auf seiner Brust.
»Du musst ins Lazarett. Sofort. Da muss Salbe drauf, damit keine Entzündung entsteht.«
»Nicht nötig«, wehrte Julian ab. Sein Gesicht war blass, aber entschlossen. Er hatte drei kleine Geschwister zu Hause und konnte sich einen Besuch im Lazarett nicht leisten. Doch da hatte er nicht mit meiner Entschlossenheit gerechnet. Notfalls würde ich bezahlen.
»Wir gehen jetzt ins Lazarett«, sagte ich bestimmt und zerrte an seinem Arm. »Keine Widerrede.«
Ich half ihm, auf die Beine zu kommen. Er stand etwas wackelig, konnte aber ohne Hilfe gehen. Beinahe zeitgleich warfen wir einen Blick zurück zu Caitlin, zu der mittlerweile zwei weitere Helfer geeilt waren und die nun mit vereinten Kräften zum Lazarett getragen wurde. Ich war mir nicht sicher, ob die Aufpasser mich daran hindern würden, Julian zu begleiten, daher schob ich eine Hand unter seinen Ellenbogen, um ihn zu stützen und den Anschein zu erwecken, dass er Hilfe benötigte.
»Schaffst du den ganzen Weg?«, fragte ich ihn. Bis zum Lazarett war es ein ordentliches Stück. Es war extra außerhalb der Plantage errichtet worden, damit genügend Abstand zu den Dunkeldornen gewahrt werden konnte. Die weißen Zeltwände waren luftdicht verschlossen und leuchteten hinter dem Feld aus dunklen Pflanzen.
»Na klar«, antwortete er. Er klang etwas gedämpfter und schien den Schmerz unter Kontrolle zu haben. Ich lächelte aufmunternd. Bislang war ich von dem großen Glück gesegnet, mir noch keine ernsthafte Verletzung zugezogen zu haben, aber ich konnte erahnen, wie weh das tun musste.
Während wir gingen, erzählte ich Julian von dem Honigwein, den wir gestern getrunken hatten und der mich etwas beschwipst gemacht hatte. Ich wollte ihn ablenken. Von den Lieferengpässen der Medikamente im Lazarett hingegen sprach ich nicht. Das würde ihn nur beunruhigen. Hoffentlich gab es noch genügend Arznei, um ihn und auch Caitlin zu versorgen. Nicht auszudenken, welche Verletzungen sie vielleicht erlitten hatte.
Ich spürte einen leichten Druck an der Schulter. »Was?«
»Hast du mir zugehört?«, fragte Julian belustigt. Sein Blick ruhte wissend auf mir; ihm war bereits klar, dass ich mit meinen Gedanken abgeschweift war.
»Entschuldige …«
»Sieh mal, da vorn.« Mit einem leisen Schmerzenslaut wies er mit dem Arm zum Lazarett. »Was ist das für ein Aufruhr?«
Tatsächlich. Ich war so in Gedanken gewesen, dass ich nur auf meine Füße geachtet hatte, nicht aber auf unser Ziel. Das riesige Lazarett, in dem neben Nan fünf weitere ältere Frauen und eine Ärztin arbeiteten, war von ungewöhnlich vielen Feldarbeitern umringt, die in ungeordneten Reihen vor dem Eingang standen. Der wurde von drei bewaffneten Aufpassern bewacht, damit niemand auf die Idee kam, etwas zu stehlen. Diese Aufpasser waren gerade dabei, die Arbeiter zurück auf die Plantage zu schicken. Sie fuchtelten drohend mit den Gewehren, und die Leute wichen zurück, manche kapitulierend, andere noch lautstark protestierend. Offenbar hatte es mehrere Verletzte gegeben, die von ihren Kolleginnen zum Lazarett gebracht worden waren, denn in vielen Gesichtern stand die Sorge geschrieben.
Ich packte Julians Arm, der mit zweifelnder Miene zum Stehen gekommen war, und zog ihn weiter, bis wir die anderen Leute passiert und den Eingang erreicht hatten. Das Lazarett war unter einer hageren Baumgruppe aufgeschlagen worden, sodass die Hitze nicht ganz so sengend war.
»Hier ist ein Verletzter«, erklärte ich einem der drei bulligen Männer, die uns daran hindern wollten einzutreten.
Er musterte mich abschätzend, ehe er Julians Verletzung unter die Lupe nahm und nickte. »In Ordnung, er darf rein. Du gehst zurück zur Arbeit.«
Ich wollte etwas entgegnen, doch Julian legte mir eine Hand auf den Arm. »Ich komme zurecht. Danke für die Wegbegleitung.«
»Spiel nicht den Helden und lass dich ja ordentlich verarzten.«
»Zu Befehl.« Endlich lächelte er so, dass es auch seine Augen erreichte. Mir wurde leichter ums Herz. Wenn er lächelte, dann ging es ihm gut genug, sich durchzuboxen. Und auch wenn ich ihn ungern allein zurückließ, wusste ich, dass er bei Nan und den anderen Mitarbeitern des Lazaretts in guten Händen war. Sie würden sich um ihn kümmern, und morgen wäre alles wieder beim Alten.
»Ein letztes Mal«, sagte ich.
»Ein letztes Mal«, murmelte er, bevor er durch die hochgehaltene Zeltwand ins steril riechende Innere des Lazaretts verschwand. Er warf noch einen letzten Blick zurück und schenkte mir ein breites Lächeln. Ich winkte ihm zu.
Die Aufpasser hatten in der Zwischenzeit für Ordnung gesorgt, und alle waren wieder zu ihrer Arbeit zurückgekehrt. Ich würde mich zunächst auf den Weg zum Vorarbeiter begeben und mit ihm das weitere Vorgehen besprechen. Ohne jemanden an der Sprinkleranlage konnten wir in unserem Block nicht weiterarbeiten. Wir benötigten einen Ersatz für Julian, damit all die Arbeit, die wir in unsere Dunkeldornen investiert hatten, nicht binnen weniger Stunden von der Sonne zerstört wurde.
Über meinem Kopf wurde es plötzlich dunkel. Ein Schemen zog über uns hinweg. Es sah aus, als würde eine Wolke oder ein riesiger Raubvogel die Sonne verdecken und uns für einen erholsamen Augenblick in Schatten tauchen.
Aber es war keine Wolke, die sich näherte. Ich registrierte die Schreie auf den Feldern, lange bevor ich wirklich verstand, was da passierte.
Die Blüte. Die Blüte war da. War da, aber nicht so, wie ich, wie wir alle sie kannten. Sie war riesig, gewaltig, gefährlich. Die Dunkeldornfelder standen sprichwörtlich in Flammen. Wie von Zauberhand hatten sich alle Blüten gleichzeitig in die Höhe gereckt und ihre Blätter geöffnet. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ein verstörender Anblick aus schwarzem Nebel und Blütenstaub ergoss sich vor mir und hing so dicht wie ein Heuschreckenschwarm in der Luft. Vor meinen Augen wurden die in Todesangst schreienden Feldarbeiter auf der Plantage von ihm eingehüllt, einer nach dem anderen. Der Nebel waberte und bewegte sich.
Auf mich zu.
Auf uns alle zu.
Panik wallte in mir auf. Ich taumelte ein paar Schritte zurück, wusste nicht, wohin ich mich wenden sollte. Ich wollte auf das Feld rennen, all den Menschen helfen, sie aus dem Nebel ziehen, aber eine brutale Stimme in meinem Kopf brüllte mir zu, dass es mein sicherer Tod wäre. Die markerschütternden Schreie auf den Feldern vor mir erstarben allmählich und verwandelten sich in eine gespenstische Stille, als der Nebel noch näher auf mich zukroch.
»Opal!«
Nans Stimme drang zu mir, so verzweifelt, wie ich sie noch nie zuvor gehört hatte. Mein Blick suchte sie. Sie kam in einem Menschenstrom aus dem Lazarett auf mich zugelaufen. Sie war nicht so schnell wie die anderen, die sie überholten und ängstlich überlegten, in welche Richtung sie fliehen sollten. Ihr Alter und ihre körperliche Verfassung erschwerten ihr die Flucht.
»Nan!«, schrie ich und wedelte mit den Armen.
Unsere Blicke begegneten sich.
Dann hatte der Blütenstaub auch uns erreicht, und wir wurden verschlungen.
Stille.
Das Schreien ebbte ab.
Der Tod hatte uns in Dunkelheit gehüllt.
4 Ausgelöscht
Schmerz.
So.
Viel.
Schmerz.
Er war in mir und kroch bis in den letzten Winkel meines Körpers. Er klebte an meiner Haut. Er war allgegenwärtig, fraß sich von Kopf bis Fuß und den gleichen Weg wieder zurück. Wie ein ständiger Begleiter harrte er an meiner Seite aus und machte die Zeit zu einem Gefüge aus messerscharfer Unendlichkeit. Manchmal, wenn der Schmerz für den Bruchteil eines Augenblicks, für einen einzigen Atemzug nur, gerade genug nachließ, dass meine Gedanken sich klärten, sah ich die Bilder vor meinem inneren Auge.
Ich sah die Menschen, die in einem schwarzen Wirbel aus Blütenstaub gefangen waren. Ich sah, wie ihre Körper zu Boden fielen, mitten ins Feld, umgeben von einem unsichtbaren Feind. Ich hörte, wie ihre Schreie abebbten. Wie es plötzlich still war.
Still.
Gespenstisch still.
Diese Augenblicke waren so furchtbar, dass ich mich zurück in den körperlichen Schmerz fallen ließ. Sosehr er meinen Körper schändete, bot er doch Vergessen an. Denn sogar in den tiefsten, fiebrigen Tiefen meines Verstandes wusste ich: Das konnte niemand überlebt haben.
Vielleicht nicht einmal ich selbst. Vielleicht war ich schon tot, und das hier war Jenseits.
Also ließ ich mich in die Dunkelheit fallen. Ich umarmte sie wie einen Freund und wartete gemeinsam mit ihm auf das Sterben, damit es mich vom Schmerz befreite und mir Frieden und Vergessen und vielleicht sogar ein Wiedersehen schenkte.
Aber so fühlte sich Sterben nicht an. Es war nicht friedlich, nicht gleitend, nicht hell und freundlich. Vielmehr rüttelte es mich durch und brannte und ziepte. Mir war heiß. Meine Gliedmaßen glühten.
Vielleicht war ich gar nicht tot. Aber konnte das sein? Das war unmöglich.
Meine Glieder fühlten sich bleischwer an, als würden sie von einem unerträglichen Gewicht niedergedrückt. Meine Gedanken waren zäh und ließen sich nicht fassen. Jedes Mal wenn ich glaubte, im Kopf klar zu werden, kehrte der Nebel zurück und füllte alles mit undurchdringbarer Watte.
Ruckeln. Da war ein Ruckeln. Etwas bewegte sich unter mir, bewegte mich. Schüttelte meinen verwundeten Körper und meinen ebenso verwundeten Geist. Und da war ein Flüstern, das manchmal bis zu meinen Gedanken vordringen konnte.
Bleib hier. Bleib in dieser Welt.
Ein Teil von mir begriff, dass ich kämpfen sollte. Aber ich war so müde. Ich wollte nur schlafen, ohne den Schmerz, ohne die Watte, ohne die Erinnerungen, die hier und da grell aufleuchteten.
Doch da war auch ein anderer Teil von mir, der aufsässige Teil, der kämpfen wollte. Der stärker als der Schmerz sein und ihn besiegen wollte.
Also tat ich irgendwann in dieser Ewigkeit das vielleicht Mutigste, was ich jemals getan hatte:
Ich schlug die Augen auf.
Mit dem Aufwachen kehrte die Erinnerung mit einem so heftigen Schlag zurück, dass es mich von den Füßen gerissen hätte, wenn ich nicht gelegen hätte. Außerdem war ich orientierungslos und alles um mich herum fremd.
Wo war ich?