Die verwandelte Zeit - Rüdiger Woog - E-Book

Die verwandelte Zeit E-Book

Rüdiger Woog

4,9

Beschreibung

Riedenburg an Heiligabend 1125. Als sich die Waldbauernjungen Luz und Tile auf eine Aventiure an der Teufelsmauer begeben, ahnen sie nicht, wie sehr diese Nacht ihr Leben verändern wird. Noch bevor der nächste Tag anbricht, reiten sie auf einem Schlachtross einem Schicksal entgegen, das eng mit den Großen ihrer Zeit verwoben ist. Die Welt, in die sie hineinwirbeln, ist bevölkert von skrupellosen Landesherren, dekadenten Klerikern, Säulenheiligen und Weisen aus dem Morgenland. Vor allem aber ist es eine Welt voll Poesie, Mythen und Sehnsüchten, denn es ist die Welt der verwandelten Zeit, in deren Mittelpunkt der letzte Burggraf von Riedenburg steht.

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Leseprobe eBook Ausgabe 2015
© 2015 ISEGRIM VERLAG
in der Spielberg Verlag GmbH, Regensburg
Originalausgabe erschien 2006 im Spielberg Verlag
Umschlaggestaltung: James Beckett, Ingolstadt
Umschlagfoto: © Codex Manesse: Universitätsbibliothek Heidelberg,
Erschaffung der Gestirne: Universitätsbibliothek Augsburg
Alle Rechte vorbehalten
Rüdiger Woog

Inhaltsverzeichnis

Captatio benevolentiae

I. Teil

1. Christnacht

2. Der Baum im Burghof

3. Ein kaltes Grab

4. Die Herrin von Hexenagger

5. Der Weg zweigt sich

6. Outremer

II. Teil

1. Die Macht der Worte

2. Eine Entdeckung

3. Kaspar, Melchior und Balthasar

4. Mechthild

5. Cheleheim

6. Śárkara

7. Adam

8. Der Konstanzer

9. Regensburg brennt

10. Burggraf

11. Verwaist

III. Teil

1. Leben auf der Rosenburg

2. Ein Legionär

3. Der in diesem Tal wandert

4. Das Blut Christi

IV. Teil

1. Regensburg und die Welt

2. Die Schergen des Bischofs

3. Commentarii diurni abbae philippi

4. Die Altmühl und das Meer

Captatio benevolentiae

Geneigter Leser,

wie soll es mir möglich sein, dir, der du in einer fernen Zeit lebst, etwas über mich und die meinige zu berichten, was sich deiner aufmerksamen Betrachtung als würdig erweisen könnte? Du, der du mein Leben und meine Zeit gleichsam von außen betrachtest, bist mir mit deinem Wissen über die Erdscheibe und die Wesen, die darauf wandeln, weit überlegen.

Dennoch, gelehrter Leser, mögest du mir erlauben, dass ich dir meine Geschichte aus meiner bescheidenen Perspektive, oder vielmehr aus einer Perspektive, die die meine gewesen sein könnte, erzähle.

Vielleicht hast du, obwohl du vermutlich Besseres gewöhnt bist, einige meiner Verse gelesen, sofern sie nicht wie so vieles, was einst war, für immer verloren sind.

Zweifellos hat sich das Gesicht der Frau Welt auf ihrem langen Wege zu dir vielfach verändert; und so ersuche ich dich: Gestatte mir, dir meinen Lebensweg nicht auf jene Weise zu beschreiben, wie er womöglich in deinen Geschichtsbüchern niedergeschrieben ist; mir liegt nichts daran, für dich das historische Geflecht des Nestes zu entknüpfen, in das ich gebettet ward, das mag deine Aufgabe und die deiner Zeitgenossen sein. Wie ich schon sagte, übersteigt deine Kenntnis die meinige ohnehin.

Ich will, mit deiner Hilfe, geneigter Leser, die Linien meines Lebens aufs Neue zeichnen. Ziehst du es jedoch vor, den Runenlesern gleich – wie ich noch einige, die insgeheim an verlassenen Orten die alte Kunst des Runendeutens beherrschten, kannte – herauszufinden, wer genau weshalb und wo mit wem zusammentraf und auf welche Weise er den Tod fand, so behalte dieses Wissen getrost für dich. Ich aber will es vergessen, um mich besser an den Mann erinnern zu können, der ich vielleicht gewesen sein mag.

Vermutlich war mein Name, unbekannter Leser, Otto oder Heinrich. Die Wahrscheinlichkeit ist recht hoch, denn viele Männer meiner Sippe und meiner Zeit trugen diese Namen.

Damit du aber beim Studium der hoffentlich noch existierenden Ahnentafeln unter dem Namengewirr meines Hauses – möge es zu deiner Zeit noch bestehen – nicht verzweifelst, will ich den Namen Reinald annehmen.

Ich, Reinald, hatte auch einen Halbbruder, der, du ahnst es schon, in der Namenstradition der Ottos und Heinrichs keine Ausnahme machte. Albrecht, so wollen wir ihn hier nennen, war aus der ersten Ehe unseres Vaters, des Grafen von Regensburg, dem wir der Gerechtigkeit halber seinen guten Namen Heinrich lassen, hervorgegangen. Von unseren Müttern weiß ich nichts zu erzählen. Albrechts Mutter starb vor meiner Geburt und meine Mutter auf Grund derselben. Ob ich mich an ihre Namen erinnere? Wie könnte ich, da ich sie niemals kannte. Vielleicht hieß die eine Bertha und, wenn ich mich etwas besinne, fände ich Mathilde einen schönen Namen für die Frau, die mir das Leben schenkte und das ihre dabei ließ.

Graue Nebelschwaden verschleiern mir den Blick auf meine Erinnerung. Und es fällt mir schwer, dir ein treues Zeugnis davon abzulegen, ob ich diesen oder jenen Menschen wirklich zu meinen Lebzeiten getroffen habe oder ob mir auf dem finsteren Weg durch die Zeit nicht Schimären den Kopf wirre redeten und ich mir einbilde, sie als Menschen aus Fleisch und Blut gekannt zu haben.

Anderen jedoch begegnete ich tatsächlich, obwohl in deinen Geschichtsbüchern vermutlich geschrieben steht, dass sie lange vor oder nach meiner Zeit gelebt haben.

Ich traf sie dennoch, wenn es mich als notwendig deuchte, sie dir, Leser ferner Zeiten, zum besseren Verständnis meiner Geschichte gleichsam als Vermittler zu senden.

Ich denke nicht, Leser einer neueren Welt – gebe Gott, dass sie friedvoller ist als meine – dass du noch Überreste meines schönen Hauses finden wirst. Doch falls dich deine Wanderschaft jemals dorthin führt, wo die Alcmona sich mit dem Danubius vereint, magst du in unweiter Nachbarschaft einen Ort finden, den man einst Rîtenburg nannte. Ein paar Fischerhütten und Bauernhäuser aus Holz, Lehm und Stroh schmiegten sich an einen Berg, der – sieh mir diesen Vergleich nach – wie von den Schenkeln einer Frau vom größeren Tal der Alcmona und dem kleineren der Schambach eingeschlossen wurde. Oh denk dir, mit Vorstellungskraft reich beschenkter Leser, das Ergötzen, wenn man von meiner Burg aus, die auf jenem Berg saß und zum Hauptteil aus purem Stein erbaut war, über die liebliche Landschaft mit ihren Wacholderhängen, Schafherden und Weinbergen blickte.

Und wenn es dich gut dünkt, erklimme meinen Berg und gedenke der Lieder, die ich dort gesungen.

Vielleicht wirst du dann erahnen, wer und was ich gewesen sein mag.

Sît sich hât verwandelt diu zît, des vil manic herze
ist vrô. taet ich selbe niht alsô, sô wurde ervaeret
mir der lîp, Der betwungen stât. noch ist mîn rât,
daz ich niuwe mînen sanc. ez ist leider alze lanc,

I. Teil

1. Christnacht

Tile wusste nicht, dass man den 24. Dezember anno 1125 schrieb. Er wusste nicht einmal, dass es überhaupt so etwas wie Zeitrechnung gab. Sein Vater hatte ihn allein aufgezogen, da seine Mutter bei der Geburt seines jüngeren Bruders Luz mangels einer Hebamme oder gar eines Baders, die man beide nicht bezahlen konnte, gestorben war und nur noch eine schwache Erinnerung an schönere und wärmere Tage in ihm hervorrief. Von ihm hatte er gelernt, dass man mit jedem Frühlingsanfang ein neues Jahr zählte. Soweit Tile sich erinnern konnte, hatte er das Erblühen und Sterben der Natur wohl schon mehr als ein gutes Dutzend Mal gesehen. Und da ihm sein Vater auch das Zählen beigebracht hatte – und zwar genau bis zwanzig, weil er selbst auch nicht weiter zählen konnte und mehr für den Alltag eines Bauern auch vollkommen unnütz sei – schätzte er sich auf vierzehn bis fünfzehn Jahre und Luz auf etwa zwölf oder dreizehn.

Tiles Vater arbeitete wie alle anderen Männer und Frauen im Dorf als Pachtbauer für den Ritter Gottfried von Prunn, dessen ansehnliche Burg sich auf einem schroffen Felsen über dem unteren Alcmonatal, oder wie es die Einheimischen nannten, Altmühltal erhob; einen halben Tagesmarsch von Cheleheim, das sich vor einem knappen Jahrzehnt die Wittelsbacher zu ihrem Stammsitz erkoren hatten, und nicht ganz so weit von dem Fleckchen Rîtenburg entfernt.

Etwa eine Meile donauaufwärts von Cheleheim, direkt am so genannten Donaudurchbruch, wo die Donau mit Macht durch die schwäbisch-fränkische Alb bricht und sich mit der lieblichen Altmühl vereint, befand sich ein Benediktinerkloster, zu dem Gottfried ein überaus gutes Verhältnis pflegte. Er und der Abt waren schon seit vielen Jahren befreundet und so war es zwischen beiden Herrschaftsbereichen niemals zu Uneinigkeiten oder gar Streitigkeiten gekommen, zumindest nicht, seit Gottfried der Burgherr zu Prunn und Theophilus der Abt von Weltenburg waren.

Nicht ganz so entspannt wie zu Theophilus oder dem Burggrafen Otto, der als Vertreter seines Bruders Heinrich von Regensburg auf Rosenburg über Rîtenburg residierte, waren die Beziehungen zu dem alten, verbitterten Fredgar von Hexenagger, dessen Burg sich nicht mehr als einen Ausritt von Rîtenburg gen Süden im verträumten Schambachtal befand.