Der letzte Gig - Rüdiger Woog - E-Book

Der letzte Gig E-Book

Rüdiger Woog

4,8

Beschreibung

Juli 1984: Der Rockmusiker Mike Engl steht kurz vor dem Durchbruch, als er nach einem Openair-Konzert spurlos verschwindet. Fünfundzwanzig Jahre später werden in einem Weiher bei Kelheim menschliche Knochenreste entdeckt. Rüdiger Woog legt mit seinem neuen Krimi um den beliebten Hauptkommissar Leo Dietz einen ebenso spannenden wie nachdenklichen Roman vor, der intensiv aufzeigt, wie Täter und Opfer ein ganzes Leben lang von den Dämonen der Vergangenheit eingeholt werden.

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Leseprobe eBook Ausgabe 2014
©2010 SPIELBERG VERLAG, Regensburg
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Zueignung

Im Oktober 2008 besuchte ich in Norddeutschland einen lieben Menschen, der einen runden Geburtstag beging. Leider ist er altersdement und schien von seiner Geburtstagsfeier nur Bruchstücke wahrzunehmen. Das machte mich natürlich sehr traurig; zuerst wegen des traurigen Schicksals eines hochintelligenten und liebenswürdigen Menschen, dann aber auch, weil eben solche Schicksale an die bittere Vergänglichkeit aller Dinge erinnern. Doch dann passierte etwas Außergewöhnliches – vielleicht ist das in solchen Situationen ganz normal – mir erschien es jedenfalls außergewöhnlich: In dem Maße, in dem dieser Mann seine Erinnerung verlor, schien sich die meine zu vertiefen und zu festigen. Als ob ich mit meinem eigenen Gedächtnis aushelfen wollte, konnte ich mich an verschiedene gemeinsame Erlebnisse erinnern, die ich nun so lange festhalten möchte, wie mir möglich ist. Alles fließt, sagt Aristoteles, und so tröstet mich die Vorstellung ein wenig, dass das intensive Vergessen dieses Menschen meine intensive Erinnerung gefördert hat.
Als kleinen Dank für diese schönen Erinnerungen widme ich
dir, lieber Gernot, und allen, die dein Schicksal teilen, dieses Buch.
Gebannt vom Augenblick
Stehst du in kindlicher Verzückung.
Hebst zögerlich die Hand und willst ihn berühren,
Den einen Moment, der deine Tage so schnell flüchtet,
Doch ehe deine Finger das lichte Glück ergreifen,
Schwebt es davon, leichtfüßig und anmutig wie ein tanzendes Mädchen.
Was dir bleibt ist die Erinnerung
Und das bittere Wissen um dein Verharren

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

Epilog

1. Kapitel

Es ist ziemlich kühl für den späten September. Der Fahrtwind fegt von allen Seiten über die hochgestellten, mit Schals zusammengehaltenen Krägen und zerzaust die Haare der beiden Cabriofahrer – seine braun, schulterlang und strubbelig, ihre glatt und honigblond. Im diffusen Herbstlicht scheint der Sportwagen über der schmalen Waldstraße zu schweben. Elisabeth hat ihre Handschuhe ausgezogen, sich bei Michael, der von allen nur Mike genannt wird, untergehakt und streicht mit den Fingerspitzen über die warme, glatte Oberfläche seiner Antiklederjacke. Sie lacht unentwegt und lässt ihren ausgestreckten Arm vom Wind tragen, wobei sie immer wieder die Hand öffnet und schließt, als wolle sie damit die Gräser, Wiesen und Bäume erst behutsam streicheln und dann festhalten, um so den Augenblick für immer einzufangen. Das Kassettendeck – CD-Player gibt es noch nicht – spielt Musik ab: Es ist Mikes Musik …
Welches Lied war es doch gleich? Elisabeth konnte sich nicht mehr entsinnen. Die Erinnerung schoss mit dem feuerroten Cabrio – und mit Mike – davon. Immer wenn sie an ihn dachte, taten sich in ihrem Gedächtnis dieselben Bilder auf: Mike auf der Bühne, hinter dem Mikrofon, mit durchgeschwitztem T-Shirt oder schwarzweiß kariertem Baumfällerhemd, oder in ölverschmiertem Overall, am Unterboden seines Cabrios herumschweißend, in seinem Zimmer unter dem Dach, wo er im Schneidersitz, die Gitarre auf dem Schoß, den Bleistift zwischen den Zähnen, Songs schrieb; wenn er morgens in seinem kindischen Superman-T-Shirt vor lauter Müdigkeit kaum aus den Augen sehen konnte; Mike an der Hand auf dem zugefrorenen Badeweiher beim Schlittschuhlaufen oder eben jene Autofahrt von Regensburg über Sinzing nach Kelheim. Sie hatten damals in Regensburg bei ihren Eltern übernachtet und waren unterwegs zu Mikes Mutter, die sie zum Essen eingeladen hatte. Eigentlich war das fast jedes Wochenende so, selbst wenn Mike einen Gig oder Elisabeth eine Klausur hatte. Dennoch war dies die glücklichste aller Erinnerungen, obwohl, oder vielleicht gerade weil an jenem Septembertag gar nichts Außergewöhnliches vorgefallen war.
Elisabeth musste unweigerlich kichern, als sie das bunte Fotoalbum aufschlug und die verrückten Aufnahmen betrachtete, die sie, Mike, Wolf, die anderen Jungs der Band und Bettine, ja auch Bettine, mit Elisabeths Polaroidkamera – ihrem ersten Fotoapparat – gemacht hatten. Die letzten eingeklebten Bilder waren von dem Openair-Konzert auf dem Michelsberg vor der Kelheimer Befreiungshalle, das war das letzte Konzert der Band; dann kam der leicht vergilbte Zeitungsartikel. Er war zweimal gefaltet, wodurch sich die Druckerschwärze einiger Lettern abgerieben hatte. Aber Elisabeth kannte den Artikel auswendig. Über die Jahre hinweg hatte sie ihn immer wieder gelesen und studiert. Sie hatte gehofft, irgendwo zwischen den Zeilen eine Spur zu entdecken, irgendetwas, vielleicht nur einen winzigen Denkanstoß, zu finden, das den Journalisten und der Polizei entgangen war. Doch sooft sie den Text, dessen unveränderte Beständigkeit sie als gnadenlos und hämisch empfand, auch durchgegangen war, war sie niemals fündig geworden. Wie vor einer körperlichen Anstrengung atmete sie tief ein und wieder aus. Dann entfaltete sie das dünne Blatt.
Mike strahlte ihr mit solch einer Lebensfreude entgegen, dass sie unweigerlich schluchzen musste, sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen wischte und die Hände an ihrem schwarzen Rock abstreifte. Ein weiteres hoffnungsloses Mal fing sie an zu lesen.

Abendzeitung

AUS BAYERN 28.07.1995

Regensburg (mf).

Zehn Jahre nach dem mysteriösen Verschwinden des damals einundzwanzigjährigen Michael Engl, genannt Mike, aus dem niederbayerischen Kelheim fehlt nach wie vor jede Spur des Vermissten. Das letzte Mal wurde Engl am späten Abend des 28. Juli 1984 zugleich von mehreren hundert Konzertbesuchern bei einer Openair-Veranstaltung in Kelheim gesehen, wo er mit seiner Hardrockband The Rebound auftrat. Bis heute ist nicht geklärt, ob der junge, beliebte Mann einem Verbrechen zum Opfer fiel oder von sich aus untergetaucht ist. Schon wenige Wochen nach dem Rockkonzert im Sommer 1984 kursierten bereits die ersten, zum großen Teil hanebüchenen Gerüchte. Zum Beispiel habe der Musiker bei einigen seiner Bandmitglieder hohe Spielschulden gehabt, die er nicht habe zurückzahlen können. Daraufhin habe er auf einem Frachtschiff mit Kurs auf Übersee angeheuert – scheinbar hatte Engl immer wieder betont, dass er eines Tages in die USA auswandern wollte. Aber den Nachforschungen bei der US-amerikanischen Einwanderungsbehörde zufolge hat Michael Engl niemals – auf legale Weise – amerikanischen Boden betreten. Ebenso erwies sich ein angeblicher Eintritt in die Fremdenlegion als unwahr. Genauso unhaltbar war die Mutmaßung über einen großen Lottogewinn. »Michael hat niemals Lotto gespielt.«, äußerte Angelika Engl, die verwitwete Mutter Michaels, gegenüber der Presse. »Und selbst wenn er irgendwie zu viel Geld gekommen wäre, hätte er sich nicht einfach so damit aus dem Staub gemacht.«

Weshalb die Kriminalpolizei erst nach mehr als einem Monat eine Großfahndung herausgab, stellte Angehörige, Freunde und Öffentlichkeit vor ein Rätsel, das seitens der Regensburger Einsatzleitung nur ansatzweise erklärt wurde. Der damals verantwortliche ermittelnde Beamte war der sich mittlerweile im Ruhestand befindende Hauptkommissar Jörg Forster. Unser Redakteur Hans Staudter, der seit 1984 den Fall verfolgt und in der Abendzeitung darüber berichtet, hat mit dem inzwischen 70-Jährigen in seiner Regensburger Wohnung gesprochen.

Herr Forster, tagtäglich werden Menschen vermisst. Das ist traurige Realität. Was macht den Fall Engl so spektakulär?

Nun, spektakulär würde ich das nicht nennen. Aber einige Aspekte sind doch außergewöhnlich, was diesen Fall von anderen abhebt. Nehmen Sie zum Beispiel die Umstände des Verschwindens: Ein regional bekannter Musiker löst sich in der Nacht nach einem Rockkonzert förmlich in Luft auf. Niemand, absolut niemand, nicht seine Freundin, nicht seine Bandmitglieder und auch nicht seine Mutter wussten das Geringste über seinen Verbleib. Auch sonst wollte ihn niemand gesehen haben – wir haben damals im großen Umkreis Tankstellen, Diskotheken und andere Nachtlokale aufgesucht. Kein Mensch konnte sich an das Gesicht erinnern, das in jenen Tagen in allen Regionalzeitungen zu sehen war. Sogar im Fernsehen wurde ein Ausschnitt des Konzerts gebracht. Diesen Ausschnitt haben wir dann auch an überregionale Fernsehsender geschickt – wir erhielten keine einzige ernstzunehmende Reaktion.

Sie sagten, es gebe mehrere außergewöhnliche Aspekte.

Ja, das stimmt. Sie haben Recht damit, dass Leute tagtäglich verschwinden. Aber meist handelt es sich dabei um ältere, senile oder verwirrte Personen, was natürlich auf den jungen Engl nicht zutrifft. Und irgendwelche Schlepperbanden interessieren sich nicht für einundzwanzigjährige Männer.

Und dann ist da natürlich noch die Sache mit dem Plattenvertrag. Die Bandmitglieder versicherten uns, dass sich ein renommiertes deutsches Label sehr für die Band interessierte und der Vertrag schon unterschriftsfertig auf dem Tisch lag. Die Plattenfirma konnte uns das ebenfalls bestätigen.

Da wäre es natürlich nicht sinnvoll, auszuwandern, so kurz vor dem Durchbruch. Gehen Sie also von einem Verbrechen aus?

Ich persönlich habe das immer vermutet. Nur gibt es, wie Sie wissen, ohne Leiche kein Verbrechen. Also haben wir alles ausgeschöpft, was wir neben der Fahndung an Suchmöglichkeiten hatten: verschiedene Hubschraubereinsätze rund um Kelheim, Bodensuchtruppen, Leichenhunde, Taucher und Wärmebildkameras. Das Ergebnis kennen Sie ja.

Noch eine letzte Frage: Warum hat es fast einen Monat gedauert, bis die Ermittlungen richtig ins Laufen kamen?

So kann man das nicht sagen. Wir haben von Anfang an intensiv ermittelt und uns dabei auf die Region Kelheim konzentriert. Auch im Nachhinein bin ich der festen Überzeugung – und die Ergebnisse der Großfahndung stützen diese Überzeugung –, dass dies die richtige Entscheidung war. Denn was immer in der Nacht vom 28. auf den 29. Juli 1984 passiert ist, hat in oder bei Kelheim stattgefunden.

Angelika Engl lebt indes nunmehr in ständiger Unruhe und Zerrissenheit. »Oft wünsche ich mir einfach nur Klarheit und einen Ort, wo ich wenigstens sein Grab besuchen und für ihn beten kann. Und dann kommt wieder die Hoffnung: Manchmal wache ich nachts auf und meine, die Wohnungstür leise quietschen zu hören. Dann stehe ich auf, mache das Licht an und niemand ist da.«

Elisabeth faltete den Artikel wieder zusammen und legte ihn behutsam wie einen leblosen Schmetterling in das Fotoalbum zurück. Sie schreckte ein wenig auf, aber nicht so heftig, dass er es wahrnahm, als Martin sie von hinten berührte. Seine großen Hände waren wie immer warm, selbst durch die schwarze Leinenbluse hindurch, und lagen schwer und beschützend auf ihren schmalen Schultern.

»Komm«, sagte Martin, während er sich seine schwarze Krawatte hochschob, »es ist Zeit. Wir müssen gehen.«