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Juli 1984: Der Rockmusiker Mike Engl steht kurz vor dem Durchbruch, als er nach einem Openair-Konzert spurlos verschwindet. Fünfundzwanzig Jahre später werden in einem Weiher bei Kelheim menschliche Knochenreste entdeckt. Rüdiger Woog legt mit seinem neuen Krimi um den beliebten Hauptkommissar Leo Dietz einen ebenso spannenden wie nachdenklichen Roman vor, der intensiv aufzeigt, wie Täter und Opfer ein ganzes Leben lang von den Dämonen der Vergangenheit eingeholt werden.
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Seitenzahl: 244
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Abendzeitung
AUS BAYERN 28.07.1995
Regensburg (mf).
Zehn Jahre nach dem mysteriösen Verschwinden des damals einundzwanzigjährigen Michael Engl, genannt Mike, aus dem niederbayerischen Kelheim fehlt nach wie vor jede Spur des Vermissten. Das letzte Mal wurde Engl am späten Abend des 28. Juli 1984 zugleich von mehreren hundert Konzertbesuchern bei einer Openair-Veranstaltung in Kelheim gesehen, wo er mit seiner Hardrockband The Rebound auftrat. Bis heute ist nicht geklärt, ob der junge, beliebte Mann einem Verbrechen zum Opfer fiel oder von sich aus untergetaucht ist. Schon wenige Wochen nach dem Rockkonzert im Sommer 1984 kursierten bereits die ersten, zum großen Teil hanebüchenen Gerüchte. Zum Beispiel habe der Musiker bei einigen seiner Bandmitglieder hohe Spielschulden gehabt, die er nicht habe zurückzahlen können. Daraufhin habe er auf einem Frachtschiff mit Kurs auf Übersee angeheuert – scheinbar hatte Engl immer wieder betont, dass er eines Tages in die USA auswandern wollte. Aber den Nachforschungen bei der US-amerikanischen Einwanderungsbehörde zufolge hat Michael Engl niemals – auf legale Weise – amerikanischen Boden betreten. Ebenso erwies sich ein angeblicher Eintritt in die Fremdenlegion als unwahr. Genauso unhaltbar war die Mutmaßung über einen großen Lottogewinn. »Michael hat niemals Lotto gespielt.«, äußerte Angelika Engl, die verwitwete Mutter Michaels, gegenüber der Presse. »Und selbst wenn er irgendwie zu viel Geld gekommen wäre, hätte er sich nicht einfach so damit aus dem Staub gemacht.«
Weshalb die Kriminalpolizei erst nach mehr als einem Monat eine Großfahndung herausgab, stellte Angehörige, Freunde und Öffentlichkeit vor ein Rätsel, das seitens der Regensburger Einsatzleitung nur ansatzweise erklärt wurde. Der damals verantwortliche ermittelnde Beamte war der sich mittlerweile im Ruhestand befindende Hauptkommissar Jörg Forster. Unser Redakteur Hans Staudter, der seit 1984 den Fall verfolgt und in der Abendzeitung darüber berichtet, hat mit dem inzwischen 70-Jährigen in seiner Regensburger Wohnung gesprochen.
Herr Forster, tagtäglich werden Menschen vermisst. Das ist traurige Realität. Was macht den Fall Engl so spektakulär?
Nun, spektakulär würde ich das nicht nennen. Aber einige Aspekte sind doch außergewöhnlich, was diesen Fall von anderen abhebt. Nehmen Sie zum Beispiel die Umstände des Verschwindens: Ein regional bekannter Musiker löst sich in der Nacht nach einem Rockkonzert förmlich in Luft auf. Niemand, absolut niemand, nicht seine Freundin, nicht seine Bandmitglieder und auch nicht seine Mutter wussten das Geringste über seinen Verbleib. Auch sonst wollte ihn niemand gesehen haben – wir haben damals im großen Umkreis Tankstellen, Diskotheken und andere Nachtlokale aufgesucht. Kein Mensch konnte sich an das Gesicht erinnern, das in jenen Tagen in allen Regionalzeitungen zu sehen war. Sogar im Fernsehen wurde ein Ausschnitt des Konzerts gebracht. Diesen Ausschnitt haben wir dann auch an überregionale Fernsehsender geschickt – wir erhielten keine einzige ernstzunehmende Reaktion.
Sie sagten, es gebe mehrere außergewöhnliche Aspekte.
Ja, das stimmt. Sie haben Recht damit, dass Leute tagtäglich verschwinden. Aber meist handelt es sich dabei um ältere, senile oder verwirrte Personen, was natürlich auf den jungen Engl nicht zutrifft. Und irgendwelche Schlepperbanden interessieren sich nicht für einundzwanzigjährige Männer.
Und dann ist da natürlich noch die Sache mit dem Plattenvertrag. Die Bandmitglieder versicherten uns, dass sich ein renommiertes deutsches Label sehr für die Band interessierte und der Vertrag schon unterschriftsfertig auf dem Tisch lag. Die Plattenfirma konnte uns das ebenfalls bestätigen.
Da wäre es natürlich nicht sinnvoll, auszuwandern, so kurz vor dem Durchbruch. Gehen Sie also von einem Verbrechen aus?
Ich persönlich habe das immer vermutet. Nur gibt es, wie Sie wissen, ohne Leiche kein Verbrechen. Also haben wir alles ausgeschöpft, was wir neben der Fahndung an Suchmöglichkeiten hatten: verschiedene Hubschraubereinsätze rund um Kelheim, Bodensuchtruppen, Leichenhunde, Taucher und Wärmebildkameras. Das Ergebnis kennen Sie ja.
Noch eine letzte Frage: Warum hat es fast einen Monat gedauert, bis die Ermittlungen richtig ins Laufen kamen?
So kann man das nicht sagen. Wir haben von Anfang an intensiv ermittelt und uns dabei auf die Region Kelheim konzentriert. Auch im Nachhinein bin ich der festen Überzeugung – und die Ergebnisse der Großfahndung stützen diese Überzeugung –, dass dies die richtige Entscheidung war. Denn was immer in der Nacht vom 28. auf den 29. Juli 1984 passiert ist, hat in oder bei Kelheim stattgefunden.
Angelika Engl lebt indes nunmehr in ständiger Unruhe und Zerrissenheit. »Oft wünsche ich mir einfach nur Klarheit und einen Ort, wo ich wenigstens sein Grab besuchen und für ihn beten kann. Und dann kommt wieder die Hoffnung: Manchmal wache ich nachts auf und meine, die Wohnungstür leise quietschen zu hören. Dann stehe ich auf, mache das Licht an und niemand ist da.«
Elisabeth faltete den Artikel wieder zusammen und legte ihn behutsam wie einen leblosen Schmetterling in das Fotoalbum zurück. Sie schreckte ein wenig auf, aber nicht so heftig, dass er es wahrnahm, als Martin sie von hinten berührte. Seine großen Hände waren wie immer warm, selbst durch die schwarze Leinenbluse hindurch, und lagen schwer und beschützend auf ihren schmalen Schultern.
»Komm«, sagte Martin, während er sich seine schwarze Krawatte hochschob, »es ist Zeit. Wir müssen gehen.«