Die Verwandelten - Thomas Brussig - E-Book

Die Verwandelten E-Book

Thomas Brussig

0,0

Beschreibung

Zwei junge Menschen verwandeln sich in Waschbären. Thomas Brussig macht daraus einen hoch komischen Gesellschaftsroman. Bräsenfelde ist ein Kaff in der Provinz, das man sich ungefähr so vorstellen muss, wie es heißt. Und dennoch begibt sich dort Aufregendes, Weltbewegendes: In der Waschanlage einer Tankstelle verwandeln sich Fibi und Aram, zwei übermütige Jugendliche in Waschbären. Was wie ein Witz anmutet, den niemand glauben kann, wird unabweisbare Realität, der man sich stellen muss. Keine kleine Zumutung für ihre Familien, die Mitschüler und vor allem für sich selbst. Hält dieser Blödsinn einer medizinischen Untersuchung stand? Beim Veterinär? Oder beim Kinderarzt? Was sagt der Genetiker? Wie steht es um die juristischen Implikationen? Menschenrechte? Kinderrechte? Tierrechte? Geht das wieder weg? Und wenn nicht, lässt sich das Wunder touristisch nutzen, finanziell? Auf jeden Fall muss das ganze medial groß aufgezogen werden. Bald reisen Reporterteams aus aller Welt an, Stars und Sternchen kommen in die von Fibi moderierte tägliche Show, um sich von einem Waschbären befragen zu lassen. Aber was wird aus Fibi und Aram? Thomas Brussig entwickelt aus einer phantastischen, aberwitzigen Ausgangssituation einen spannenden Roman, der mit großer Souveränität über unsere moderne Gegenwart erzählt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 417

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALT

I.

Sandra Rösch fällt vom Stuhl

II.

Tag Eins: Fibi

Tag Zwei: Hilmar Hüveland

Tag Drei: Thomas Diederich

Tag Vier: Aram

Tag Fünf: Sören Putensen

Tag Sechs: Lydia Stein

Tag Sieben: Marleen Pawloweit

Tag Acht: Hagen Ahlert

Tag Neun: Heidi Walissa

Tag Zehn: Wiebke Hüveland

III.

18. Mai 2024: Doug Winter

August 2023 bis 26. September 2026: Fibi, Aram, Bräsenfelde und der Rest der Welt

Shaima

Für Ambra

I

Sandra Rösch fällt vom Stuhl

Sandra Rösch wusste, dass nur aus einem einzigen Grund ihr Drucker unaufgefordert loslegt, nämlich wenn ein Fax kommt, und die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass außer Anwälten niemand mehr Faxe verschickt. Tatsächlich war auch dieses Fax, das zur schönsten Bürozeit, nämlich am Dienstagvormittag um 10 : 18 Uhr einging, von einem ihr unbekannten Anwalt, der die Herausgabe der Videoaufzeichnung einer Überwachungskamera in der Waschanlage einer bestimmten Araltankstelle »begehrt«. Über dieses Anwaltssprech konnte sich Sandra Rösch immer wieder beömmeln; zu »Begehren« hatte sie andere Assoziationen, aber ganz andere.

Zwanzig Minuten später saß Sandra Rösch mit einem frisch gebrühten Kaffee vor ihrem Monitor und loggte sich in die doppelt passwortgeschützte Datenbank ein. Mal sehen, worum es dem Anwalt ging. Die besagte Tankstelle lag in Mecklenburg, am Ortseingang einer Gemeinde namens Seenot. Vermutlich hatte irgendein Depp bei der Ausfahrt den Torrahmen gerammt und wollte Aral haftbar machen. Oder es hatte einen Auffahrunfall in der Waschanlage gegeben. Aral war mit über tausendzweihundert Überwachungsanlagen Sandra Röschs größter Kunde, und nie gab sie Material heraus. Schon gar nicht, wenn absehbar war, dass da jemand Aral ans Bein pinkeln wollte.

Den Anwalt interessierte eine vierzigminütige Zeitspanne am Sonntagnachmittag, von 16 : 30 bis 17 : 10 Uhr. Die ersten Minuten geschah gar nichts. Mecklenburg eben. Tote Hose auch in den Waschanlagen. Sandra Rösch ließ sich schlückchenweise den Kaffee schmecken, und als der zu erkalten begann, vergewisserte sie sich, ob sie wirklich das sieht, was dieser Anwalt wollte: Die Aufzeichnung war vom Sonntag, dem 13. August, und vom selben Datum war im Fax die Rede. Sie scrollte vor, und um 16 : 59 Uhr kam endlich Bewegung ins Bild. Zwei Jugendliche, ein Junge und ein Mädchen, stellten sich mit ihren Fahrrädern in die Waschanlage, und Sandra Rösch bedauerte, dass der Kaffee ausgetrunken war, wo es unterhaltsam zu werden versprach. Sich in eine Waschanlage zu stellen. Nur Jugendliche machen solchen Blödsinn. Es war absehbar, worauf es hinausläuft: Die rotierende Bürste wird das Fahrrad gegen das Mädchen schleudern, und ihr Vater hat den Rechtsanwalt eingeschaltet, um Schadenersatz wegen eines Knöchelbruchs zu fordern.

Sandra Rösch verstand nur allzu gut, warum Videoüberwachungen outgesourct wurden: Das, was sie gerade sah – zwei Jugendliche in einer Waschanlage –, war ein Kandidat für eine typische YouTube-Lachnummer. Weswegen eine Videoüberwachung für den Betreiber auch immer ein Risiko war, nämlich wenn die Gezeigten auf Schadenersatz wegen der Verletzung des Rechtes am eigenen Bild klagten. Um sich niemals mit Schadenersatzforderungen wegen geleakter Lachnummern herumschlagen zu müssen, machen große Firmen wie Aral entsprechende Verträge mit kleinen Firmen wie der Argus. Und Sandra Rösch wiederum verstand genug von IT-Sicherheit, um Hacker fernzuhalten. Sie hatte mal den Satz aufgeschnappt, dass man erst um die Brisanz seines Materials wisse, wenn es gehackt ist, und weil ihr das einleuchtete, schützte sie die Aufnahmen der Waschanlagen-Überwachung, als ginge es um das Atomprogramm von Nordkorea.

Tatsächlich rissen die Reinigungsbürsten die Fahrräder um, aber die beiden Jugendlichen blieben tapfer stehen und ließen jeden Waschgang über sich ergehen. Um 17 : 06 Uhr allerdings, also vier Minuten vor dem Ende des fraglichen Materials, fiel Sandra Rösch vom Stuhl. Sie fiel nicht wirklich vom Stuhl, aber sie sah etwas, das ihr das Gefühl gab, vom Stuhl zu fallen. Es konnte sich nur um eine Halluzination handeln. Ihr schoss durch den Kopf, dass es nun doch einem Hacker gelungen war, ihre Datenbank zu hacken und ihre Inhalte nach Belieben zu manipulieren.

Um ihr das zu beweisen, hatte dieser Hacker eine echt abgefahrene Idee: Da, wo eben noch die beiden Jugendlichen standen, saßen jetzt zwei Waschbären.

II

TAG EINSFibi

Auf einer Skala von eins bis zehn bekam Aram eine Sieben. An guten Tagen eine Acht, und mehr als acht vergab Fibi nicht. Ed Sheeran oder Henning May waren eine Neun oder Zehn, aber aus ihrem Umfeld kam niemand auf mehr als acht. An schlechten Tagen war Aram immer noch ne Fünf, und sogar als er Dennis Kröger anrempelte, woraufhin ein halber Becher Cola auf Fibis Klamotten landete und Aram nur lachte, war er noch vier. Jeder andere wäre für so was bei zwei oder eins. Aram lachte sie nicht aus, sondern er lachte, weil er das rabiat nicht gewollt hatte. Sein Lachen war eins von der Sorte: Mensch, Fibi, Coladusche, willst du da nicht drüber lachen? Komm, ich lach schon mal, dann fällts dir leichter. Sie lachte zwar nicht, aber schlechter als vier konnte sie ihm nun auch nicht mehr geben.

Weil er das rabiat nicht gewollt hatte. Fibi merkte, dass sie schon anfing zu denken, wie Aram redete. Rabiat kam in jedem zweiten Satz vor, zumindest bei ihren Lifehack-Videos. Rabiat gebrauchte er rabiat oft. Ließ sich ja auch rabiat gut verwenden. Manchmal sagte er auch Ich krieg n Eisprung! oder nur Eisprung!, wenn er geplättet war. Diese Wendung benutzte Fibi nicht. Könnte missverstanden werden.

Das mit den Lifehack-Videos war Fibis Idee. Sie war bei YouTube mal in dieser Lifehack-Ecke kleben geblieben. Dein Schnürsenkel ist gerissen? Kein Ersatz? Zieh ihn raus und fädele ihn neu ein, aber lass die unteren Ösen frei – und schon passt der Schnürsenkel wieder. Mann, vier Millionen Leute klickten das!

Aram war der Einzige, der mitmachte. Der Einzige, der überhaupt begriff, worum es ging. Pina sagte nur: »Und was soll das bringen?« und guckte, als hätte Fibi eine Einladung zum Krötenlecken überbracht. Cleo war genau so eine Schlaftablette. »Ich versteh den Witz nicht!«, sagte sie, und weil es Fibi sinnlos fand, einen Witz zu erklären, war Cleos Chance auf vier Millionen Klicks dahin. Selbst Shaima, die Syrerin, über die Fibi wusste, dass sie sich mal für eine AG Bildbearbeitung eingetragen hatte, als Einzige, weshalb die AG dann auch ausfiel, gab ihr einen Korb: »Muss meiner Familie helfen.« Aram sagte gleich: »Nehm ich volley. Morgen?«

Am nächsten Tag hatten sie im Lidl den ersten Lifehack gedreht. Aram machte die Stimme aus dem Hintergrund, gab den scheißklugen Kommentator.

Du kennst das. Du hast rabiat viel eingekauft. Deine Tüte reißt gleich.

Aram filmte Fibi beim Packen hinter der Kasse. Als die Einkaufstüte knallvoll war, hob Fibi die Tüte an, bemerkte ihr Gewicht und schaute in die Kamera. Ihr Blick ein Hilfeschrei.

Die Lösung ist rabiat einfach, sagt die Stimme von Aram. Du musst untergreifen.

Fibi hebt die Tüte vor ihren Körper, fasst sie mit einem Arm unter und verlässt strahlend den Supermarkt.

Das war als »Mecklenburgische Lifehacks I« auf YouTube zu sehen, noch am gleichen Tag. Volley.

Nach vier Tagen hatten sie dafür zweihundertsiebzehn Klicks. Aram errechnete, dass sie in ungefähr zweihundert Jahren die Viermillionengrenze knacken. Also wurde die Reihe in »Rabiate Lifehacks« umbenannt, was die Klickzahlen binnen einer Woche rabiat hochtrieb: Vier Millionen Klicks waren nun schon nach siebzig Jahren zu erwarten.

Der nächste Lifehack ging ums Ungestörtsein. Du kennst das. Du bist in deinem Zimmer und willst auf keinen Fall erwischt werden.

Nun musste der Film was Entsprechendes zeigen. Aram wollte Kiffen zeigen, hatte aber kein Zigarettenpapier, keinen Tabak, kein Gras. Fibi hatte die Idee, dass man sich ja auch beim Rumknutschen und Rummachen nicht erwischen lassen will.

»Wir knutschen rum, und ich soll das gleichzeitig filmen?«, fragte Aram. Fibi hatte mal gehört, dass Männer – demzufolge auch Jungs – schon seit der Steinzeit behindert waren und nicht mehrere Dinge gleichzeitig tun können. Dafür gabs sogar einen Fachbegriff, allerdings hatte Fibi den vergessen. Aber rumzuknutschen und das gleichzeitig zu filmen war Aram schon rein wissenschaftlich unmöglich. Also ließen sie es. Dafür fand Fibi etwas Papier, mit dem sich etwas Jointähnliches bauen ließ. Aram filmte, wie sich Fibi den Joint gerade anzünden wollte, dann aber jemanden kommen hörte (der Film zeigt Aram von hinten, der entschlossen Stufen emporstapft). Fibi machte das Feuerzeug rasch aus, ließ es mit dem Joint unauffällig verschwinden, und als die Tür aufging, lächelte sie scheinheilig.

Die Lösung ist rabiat einfach – schließ dein Zimmer ab! Und nun …

Der Film zeigt eine Hand, die an der Türklinke rüttelt und gegen die Tür schlägt.

… brauchst du nur noch eine rabiate Ausrede.

Fibi sitzt entspannt rauchend auf ihrem Bett und ruft: »Ich bastle gerade dein Geburtstagsgeschenk, das soll ne Überraschung sein!«

Mit diesem Lifehack kamen sie binnen drei Wochen auf eine fünfstellige Klickzahl, was bedeutete, dass sie jetzt nur zehn Jahre für vier Millionen brauchen werden. Worauf Aram sagte:

»Mach was mit Drogen, und die Klicks gehen rabiat durch die Decke.«

So einer war Aram.

Aram war bestimmt bei der Achtundachtzig; er hatte in drei Tagen sein Probetraining. Die Achtundachtzig war in der Schweinezucht, die schon vor Jahrzehnten stillgelegt, aber nie abgerissen worden war; irgendjemand hatte inzwischen eine Achtundachtzig an die Betonplatten gesprayt, an denen früher die Silage abgekippt wurde. Vor den Betonplatten war eine ebene Hoffläche, und Aram schoss auf die Achtundachtzig, das heißt, jede Acht stellte mit ihrem oberen und unteren Kreis zwei Zielscheiben dar, und so hatte er vier Zielscheiben, die er aus etwa zwanzig Metern, oben rechts beginnend und entgegen dem Uhrzeigersinn, zu treffen versuchte, und zwar mit Karacho. Ein Treffer zählte nur, wenn der Ball von der Wand in hohem Bogen zurückflog; was den Boden berührte, kam nicht in die Wertung.

Als Aram vor drei Jahren das erste Mal an der Achtundachtzig trainierte, brauchte er für zwanzig Treffer über zwei Stunden. Inzwischen kam er, wenn Arams Vater sagte, »Aram, gehste noch für hundert Dinger an die Achtundachtzig«, keine Stunde später zurück.

Dass Aram an der Achtundachtzig war, konnte Fibi von Weitem hören. Der Ball an den Betonplatten ergab jedes Mal einen dumpfen Klatsch. Fibi wusste, dass sie Aram nicht von seinem Pensum abhalten konnte, sondern zuschauen musste, bis er fertig war. Er hatte den Klicker, der vom Aussehen an ein Zahlenschloss erinnerte und der bei jedem Draufdrücken klickte. Damit zählte er seine Treffer.

Aram spielte in Turnschuhen, halblangen Tarnfarben-Cargohosen und mit freiem Oberkörper. Sein T-Shirt hing überm Fahrradsattel.

»Klicker?«, fragte Fibi.

»Fünfundachtzig«, sagte Aram, ballerte den Ball an die Wand, in den oberen Kreis der hinteren Acht – und es klickte wieder.

»Bis wohin machste?«, fragte Fibi.

»Bis hundert«, sagte Aram.

Das war ja mal ne gute Nachricht. In nicht mal zehn Minuten ist er fertig.

Arams Acht hatte zuletzt gewackelt. Weil er glaubte, die hohen Klickzahlen seien dem Joint zu verdanken, wollte er nur noch Lifehacks machen, die irgendwie mit Drogen zu tun hatten. »Rabiat volley.« Fibi sah das nicht so eng. Aber bei ihrem nächsten Lifehack, bei dem es um einen kippelnden Tisch gehen sollte (wogegen gefaltetes Papier hilft), meuterte Aram, weil das »rabiat drogenfrei« und deshalb langweilig ist. »Wenn was rabiat drogenfrei ist, dann bist du das«, hatte Fibi erwidert, und das stimmte sogar, denn Aram hielt wegen seiner angepeilten Profikarriere seinen Körper in einem naturbelassenen, absolut giftfreien Zustand. Als in der Mannschaft erste Komasaufberichte kursierten, erklärte Aram, dass er keinen Alkohol trinkt, weswegen ihn ein Spielervater fragte, ob er Moslem sei. Hier in der Gegend hieß man Nick, Dennis, Justus, Markus oder René, da klang Aram wie die Abkürzung von arabischer Mann. Aram, der gerade von einer Berlin-Klassenfahrt zurück war, sagte angeblich dem Spielervater rabiat Ghettodeutsch: »Seh isch aus wie einer, der sein Arsch in Richtung Mekka hält?«

War möglich, dass die Geschichte stimmte, denn Aram war wirklich schlagfertig. Als Fibi seinen Namen noch nicht kannte, hatte er auf dem Schulhof eine Coladose in Richtung Papierkorb gekickt, und nur weil Fibi den Kopf einzog, wurde sie nicht getroffen. Die Geographielehrerin, Frau Tinkervild, hatte das gesehen und gesagt: »Ich bin entsetzt!« Worauf Aram erwiderte: »Ich bin Aram.« Seitdem wusste Fibi, wie er heißt.

Nachdem Fibi den Klicker noch einige Male gehört hatte, verstaute Aram den Ball in einem Fass, wo er nicht gleich gefunden wird, sollte sich mal jemand hierher verirren. Mit seinem Training war er durch.

»Was geht?«, fragte er.

»Wegen dem Lifehack mit dem Tisch«, sagte Fibi. »Ich hab n T-Shirt bestellt, mit nem großen Cannabisblatt drauf.«

Aram starrte sie an. Schwer zu sagen, ob er das jetzt gut oder bescheuert fand.

»Du siehst doch als Allererstes immer ein Bild aus dem Filmchen«, sagte Fibi. »Und wenn man mich sieht, mit nem Cannabis-T-Shirt …«

»Ich krieg n Eisprung!«, sagte Aram. »Nehmen wir volley!«

»Geht nicht«, sagte Fibi. »Das T-Shirt kommt erst am Freitag. Oder hast du so eins?«

Er machte eine Armbewegung, als ob er Konfetti in die Luft schmeißt. Sollte wohl Nein heißen. Typisch Aram. Immer die Stadionshow. Nie unplugged.

»Und jetzt?«, fragte er und radelte langsam los.

»Weiß nicht«, sagte Fibi und radelte hinterher.

Einer der Gründe, weshalb Aram eine Sieben, aber eigentlich eine Acht war: Aram hatte Ideen. Zwar waren sie oft Gulli. Aber immer noch besser als keine Idee.

»Wir können ja zur Sechsundneunzig«, sagte er, was schon mal klang wie der Auftakt zu einer Gulli-Idee. »Wenn ein Auto kommt, stellen wir uns auf die Straße, und wenn Bremsen quietschen – rabiater Hechtsprung.«

Die Stelle, an die Aram dachte, war echt fies. Fibis Vater hatte dort fast einen Radfahrer überfahren, und zehn Minuten später stand sie, Hand in Hand mit Aram, an dieser Stelle, und sie fand, hier ist ja gar nichts los, aber das war schon okay so, denn je länger kein Auto kam, desto länger hielt sie Arams Hand, oder er ihre, und dann sah sie ihm in die Augen, und dann fand sie, jetzt soll mal ein Auto kommen, sonst wird das hier noch liebesfilmpeinlich, denn auch Aram schaute ihr in die Augen.

Fibi riss sich von seiner Hand los, als sie von Weitem ein Auto hörte, und lief auf die Straße, doch als das Auto hupte, ließ sie sich fallen, kullerte in den Straßengraben und lachte. Aram stand noch auf der Straße, die Augen fest geschlossen, und er hielt sich sogar die Ohren zu. Das Auto – eine schwarze Riesenkiste – hupte und blinkte mit der Lichthupe, was völliger Blödsinn war, denn Aram hatte seine Augen ja zu. Aber der Fahrer dachte gar nicht daran, auf die Bremse zu gehen. »Aram!«, schrie Fibi – und im letzten Moment hechtete Aram in den Straßengraben. Auch er lachte, und als die schwarze Riesenkiste vorbeifuhr, sah er, dass der Fahrer zum Handy griff.

»Haste gesehen!«, rief Aram. »Der ruft jetzt die Hotline an, und dann geht ne Eilmeldung raus, ›Vorsicht an alle Autofahrer, rabiat geistesgestörte Jugendliche auf der Sechsundneunzig!‹ Wir kommen ins Radio!«

»Als geistesgestörte Jugendliche, na toll!«, sagte Fibi.

Sie machte noch ein paar Mutproben mit Aram, die sie mit dem Handy aufnahm, und als es langweilig wurde, kletterten sie auf einen Berg von Strohballen und schauten in den Himmel. Hier war auch das beste Internet; eines der Windräder hatte eine Sendeanlage. Fibi postete das Hechtsprung-Video auf Facebook.

»Ich werd sowieso berühmt«, sagte Aram, was Fibi ihm glaubte. Aram hatte sich binnen eines Jahres in Englisch von einer Vier auf eine glatte Zwei verbessert, nachdem er erfahren hatte, dass alle Profis nach England wollen. Aram nahm seine Fußballerzukunft sehr ernst.

»Mein Vadder will mich auch berühmt machen. Voll peinlich. Ich soll – das Wort macht schon Aua – Apfelkönigin werden. Mit Dorffest, und ner richtigen Wahl.«

Fibis Vater war Bürgermeister.

»Apfelkönigin? Das hört sich nach rabiat krankem Scheiß an«, sagte Aram. »Wofür soll n das gut sein?«

»Irgend so n Tourismusding.«

»Rabiat gestört, dein Vadder. Wenn er Touristen will, müssen in fünf Jahren überall goldene Täfelchen hängen. ›In diesem Haus wurde Aram Stein geboren‹ – ›Auf diesem Fußballplatz gelang Aram Stein der erste Hattrick‹ – ›An dieser Stelle übte Aram Stein seine berühmten Seitfallzieher‹ …«

»Was istn ein Seitfallzieher?«, fragte Fibi. »Klingt wie Schuhanzieher, nur wie einer, der von der Seite reinfällt …«

»Quatsch! Seitfallzieher geht so: Der Ball kommt halbhoch rein …« Aram, der auf dem Rücken lag, streckte das linke Bein in die Höhe. »… und mit ner Drehung …«

Als Aram die Drehung vollführt hatte, war er mehr auf als neben Fibi gerollt. Und das war wieder spannend, sogar noch mehr als das An-den-Händen-Halten vorhin auf der Straße.

»Auf diesem Strohballen«, sagte Aram schließlich, »brachte Aram Stein einen seiner Küsse an.«

»Du bist eklig!«, rief Fibi. »Und peinlich! Küsse bringt man nicht an. Außerdem sind in fünf Jahren die Strohballen weg!«

»Und ich sowieso.«

Fibi war wütend. Aram und seine Wortwahl: »Küsse anbringen«. Wie konnte er nur!

»Küsse gehen so!«

Fibi wusste selbst nicht, was sie tat, aber sie musste schon seit Wochen, immer wenn sie Arams Lippen sah, an Weingummi denken, und vielleicht sind die ja auch so süß, und das mit der Küsserei muss man ja irgendwann mal hinter sich bringen oder zumindest damit anfangen, und da es sowieso um Mutproben ging … Sie fasste mit beiden Händen sein Gesicht, eine Spur zu heftig, sie hielt ihn fest und drückte ihren Mund auf seinen, und das war irgendwie wow, weil er sich nicht wehrte und weil Fibi mit einem Mal merkte, dass beim Küssen noch ganz andere Körperregionen beteiligt sind; es war ja der Wahnsinn, was durch einen Kuss in Gang kam. Fibi merkte während des Kusses außerdem, dass auch für Aram das alles neu war. Aber das war okay. Er musste sich ja nicht mit allen Dingen auskennen. Am Ende war der Kuss sogar richtig schön. Könnte man bei nächster Gelegenheit noch mal machen.

»Weißt du, was ne richtige Mutprobe ist?«, sagte Fibi. »Als Waschbär auf die Straße zu laufen. Niemand bremst für einen Waschbären.«

»Willste im Waschbärenkostüm auf die Straße rennen?«, fragte Aram. »Das Ding ist irgendwie an deinen Pfoten festgewachsen, wa?«

Er meinte das Smartphone von Fibi. Sie tippte schon wieder etwas ein, und als er danach griff, zog sie es weg. Er muss ja nicht wissen, wie viele Fotos sie von ihm hat. Erst recht nicht nach dem Kuss.

»Hier stehts!«, sagte Fibi. Sie hatte eingetippt: Wie verwandle ich mich in einen Waschbären und las laut vor: »Um dich in einen Waschbären zu verwandeln, musst du gleichzeitig fünf beliebige, aber verschiedene Beerensorten zu dir nehmen. Egal, ob du essbare Beeren wie Himbeeren, Blaubeeren, Brombeeren, Johannisbeeren, Erdbeeren nimmst oder ungenießbare Beeren wie Vogelbeeren. Es spielt auch keine Rolle, ob die Beeren schon reif sind. Wichtig: Die Beeren müssen innerhalb der letzten zwei Stunden gepflückt worden sein. Deinen Fünf-Beeren-Mix musst du in Bärlauchblätter einrollen und essen …«

»Bärlauch?«, unterbrach Aram. »Das ist doch im Frühjahr. Wie soll das mit Beeren gehen? Rabiat ahnungslos, der Typ!«

»Ersetzen wir«, sagte Fibi und las weiter. »… und dann – und zwar wiederum innerhalb einer Zwei-Stunden-Frist – durch eine Autowaschanlage laufen. Bei korrekter Anwendung wirst du die Waschanlage als Waschbär verlassen.«

»Ich krieg n Eisprung, durch ne Waschanlage!«, sagte Aram. »Wollte ich schon immer!«

Kurz darauf hatten sie ein paar rote und schwarze Johannisbeeren, einige Brombeeren und unreife Holunderbeeren. Es fehlte noch eine Sorte.

»Kannst du dich noch an diesen Tobias erinnern?«, fragte Fibi.

»Der mit dem rabiaten Sprachfehler, weil er was vom Pürierstab geleckt hat, ohne vorher den Stecker zu ziehen?«

Fibi musste lachen. Tobias war schon lange weg – aber die Geschichte mit dem Pürierstab hielt sich. »Ich glaube nicht, dass es stimmt. Der hatte mal Stachelbeeren mit«, sagte Fibi.

»Willst du damit sagen, dass er Stachelbeermarmelade vom Pürierstab geleckt hat?«, fragte Aram, und Fibi musste schon wieder lachen. So langsam kam er für ne Neun in Frage. Mit Aram könnte sie Ewigkeiten zusammen sein!

»Ich weiß, wo der gewohnt hat, und vielleicht gibt’s in seinem Garten ja noch die Stachelbeersträucher«, sagte sie.

Sie radelten zu dem Grundstück, das von Unkraut überwuchert war. Nur ein paar Wege waren noch frei. Das »zu verkaufen«-Schild an der Hauswand war so alt, dass Fibi sich nicht vorstellen konnte, dass die Telefonnummer noch aktuell war.

Aram schaffte es mit ein paar Handgriffen, das Eingangstürlein zu öffnen. Die Stachelbeersträucher mickerten im Schatten vor sich hin. Ein paar Beeren hingen an den Zweigen, und somit waren die fünf Sorten beisammen. Fibi wickelte die Beeren in ein Sauerampferblatt, rollte alles zwischen ihren Handflächen wie einen Tischtennisball – und ließ das Ganze in ihrem Mund verschwinden. Kaum kaute sie, rief sie: »Bäh!«

Sie war drauf und dran, es wieder auszuspucken, aber dann überwand sie sich, und als sie es geschafft hatte, stöhnte sie, mehr wie ein Tier denn wie ein Mensch. Ein Speichelfaden hing an ihrer Lippe.

Aram lachte. »Siehst aus wie n Opfa!«

»Jetzt du«, sagte Fibi.

Auch Aram rollte Beeren und Blatt zwischen den Händen zu einem Ball, und die Show, die er bieten wollte, war, das Ganze völlig ungerührt zu essen. Easy und locker. Im Dschungelcamp wurden ganz andere Sachen aufgetischt, und die schafften das auch. Der Trick war, nicht mit »Iiehh, ist das eklig!« in so eine Prüfung reinzugehen, sondern zu handeln wie ein Stürmer vor dem Tor. Wenn der anfängt zu denken, isses zu spät. Doch der kleine Ball war zu groß, um ihn gleich zu schlucken, und die pelzigen, faserigen Blätter ließen sich nur schwer zerkauen. Aram schmeckte alle Noten von sauer und bitter. Der Brei blieb viel zu lange im Mund, und dann merkte er, wie sich von ganz allein sein Gesicht verzog, vor Ekel. Mein scheiß Gesicht macht rabiat, was es will, dachte Aram. Nur weil Fibi ihrs schon runtergeschluckt hatte, spuckte er seins nicht einfach aus. Als es endlich unten war, sagte er: »Und jetzt …« Da meldete sich ein Brechreiz.

Fibi lächelte. »Schmeckts nicht?«

Der Brechreiz ließ sich niederkämpfen. »Jetzt zur Waschanlage, wollt ich sagen.«

Fibi kannte die Waschanlage der Araltankstelle in Seenot und wusste, was sie dort erwartete: Erst werden sie ganz leicht eingesprüht. Eigentlich nur eingenebelt. Dann werden sie mit Seifenschaum bekleckert und mit großen Drehbürsten, die aus Fäden bestehen, welche sich durch die Fliehkraft in Tausende kleine Peitschen verwandeln, von oben und von der Seite gepiesackt, um schließlich mit Wasser abgespült und durch einen mordsmäßigen Wind getrocknet zu werden. Insgesamt eine Sache von fünf Minuten.

»Wenn das mein Vadder wüsste«, sagte Aram, als sie von Weitem die Tankstelle sahen. »Drei Tage vor dem Probetraining, und ich dusche mit Gift.«

Fibi hatte sich schon gewundert; nachdem Aram wochenlang von nichts anderem als von seinem Probetraining beim Haesfau gesprochen hatte, war das Probetraining heute noch nicht Thema gewesen.

»Was passiert eigentlich nach dem Probetraining?«, fragte Fibi, was wegen der Küsserei vorhin belanglos klingen sollte. »Wie gehts dann mit dir weiter?«

»Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte Aram. »Entweder sie sagen: Jahrhunderttalent und blablabla, du bleibst gleich hier. – In dem Fall sieht man mich hier erst wieder, wenn die scheiß Schlaglöcher weg sind. Kannste deinem Vadder ausrichten. Mit nem Lamborghini über diese Straßen? Musst du nicht haben. – Vielleicht sagen sie auch: Junge, das war rabiat messimäßig, aber wir haben kein Bett frei im Internat und müssen erst Opfa für Besenkammer finden. Dann bin ich hier auf Abruf. – Diese beiden Möglichkeiten gibts. – Eigentlich gibts noch ne dritte, nämlich dass die Ahnung haben wie Gulli und so was sagen wie …«

Aram versuchte, sich eine besonders bescheuerte Einschätzung vorzustellen, aber ihm fiel keine ein. Sie waren ohnehin angekommen. Die Waschanlage war frei. Fibi hatte – im Gegensatz zu Aram – ein paar Euro dabei, also ging sie in den Verkaufsraum. »Eine Autowäsche bitte.«

»Welche?« Die Kassiererin raspelte einen Text runter, als ob sie ihn zwanzig Mal am Tag aufsagt. »Grundwäsche, Schaumwäsche, Hochglanzpflege mit Heißwachs, Komfortwäsche – da ist ne Unterbodenwäsche dabei – oder Premiumwäsche mit Nano-Versiegelung? Die ist gerade im Angebot, für zwölf Euro anstatt vierzehn neunundneunzig.«

Grundwäsche klang langweilig, Schaumwäsche könnte speedy werden, Heißwachs klang nach Schmerzen und Haarentfernung, Komfort war was für Rentner, und die Premiumwäsche war zu teuer.

»Schaumwäsche.«

Fibi bezahlte sechsneunundneunzig. Wenn es nicht funktioniert, dachte sie beim Hinausgehen, schenke ich den Code meinem Vater zum Geburtstag.

Fibi und Aram schoben die Fahrräder in die Spuren, die für die linken und rechten Reifen vorgesehen waren, und nachdem sie die Fahrräder hin- und herrangiert hatten, leuchtete eine grüne Lampe mit einem gereckten Daumen. Fibi lief schnell aus der Halle, gab den Code ein und drückte START. Das Rolltor senkte sich. Fibi lief zurück in die Halle, ergriff Arams Hand und fand es sehr aufregend. In einer Waschanlage zu stehen, das hätte sie sich niemals vorstellen können. Sie hatte auch von niemandem gehört, der so etwas mal gemacht hatte. War es vielleicht ein bisschen gefährlich? War es schmerzhaft? Es war auf jeden Fall vollkommen irre.

Als das Rolltor mit einem sanften Rums zu Boden gegangen war, herrschte für einen Moment Stille. Fibi dachte daran, dass, egal was in ihrem Leben noch geschieht, sie sich immer daran erinnern wird, dass sie sich mal in eine Waschanlage gestellt hat, und das zu wissen fand sie rabiat großartig. Dann vernahm Fibi ein technisch klingendes Sirren, darauf ein Klacken – und wurde nass. Das Wasser war kalt, und sie musste lachen. Es war eine Art Sprinkler, der als ein gebogenes Rohr über sie hinwegfuhr, und sie wurde mehr eingenebelt als abgeduscht. Sie musste lachen, schallend lachen, weil sie es wirklich getan hatte. Auch Aram lachte.

»Schmeckste das?«, fragte Aram. Fibi hatte sich schon einen Wassertropfen von der Lippe geleckt.

»Voll giftig«, sagte sie.

Das gebogene Rohr fuhr vor und wieder zurück. Dann war für einen Augenblick Ruhe. Doch schon eine Sekunde später setzte sich der Bogen erneut in Bewegung, und diesmal kam Schaum heraus. Die Fahrräder traf es zuerst, und als Fibi und Aram unter den Bogen gerieten und eingeschäumt wurden, hielt Fibi krampfhaft Arams Hand. Augen, Mund und Nase, Kopf und Haare, der ganze Körper geriet unter eine Kanonade von Seifenschaum. Mit der freien Hand wischte sie den Schaum vom Gesicht. Für einen Moment sah sie Aram. Der stand mit gesenktem Kopf neben ihr, während der Schaum an ihm herunterkroch.

»Eh, wir hören jetzt nicht auf!«, sagte Fibi.

»Ham schließlich das volle Programm bezahlt«, sagte Aram.

Aram sprach aus einem Mund, der ein schwarzes Loch in einer Maske aus Schaum war, was eigentlich komisch aussah, aber trotzdem konnte Fibi nicht mehr lachen. Sie ahnte, dass es noch härter kommt.

Die nächste Runde begann mit Getöse, gefolgt von einem Scheppern. Es waren die Reinigungsbürsten, welche sich zu drehen begonnen hatten und die Fahrräder beiseiteschleuderten, als wären die nichts. Die Reinigungswalzen, die im Ruhezustand wie kranke Tannenbäume wirkten, waren nun, da sie sich drehten und näher kamen, unglaublich voluminös und bedrohlich. Es sind nur Fäden, sagte sich Fibi, doch allein der Lärm war so groß, dass sie kaum etwas tun konnte gegen ihre Angst. Als die Bürste sie traf, suchte sie Zuflucht bei Aram, warf sich Schutz suchend an seine Brust, die voller Seife war, so dass nur ihre Hinterseite der Walze ausgesetzt war. Doch kaum war die vorbeigezogen, wurde sie am Kopf getroffen. Richtig, da war ja noch die waagerechte Bürste, für Motorhaube, Frontscheibe, Dach. Auch Aram wurde von ihr getroffen, und weil er etwas größer war, duckte er sich und ging schließlich ganz in die Knie. Als die Walzen auf dem Rückweg waren, kauerten Fibi und Aram am Boden, und weil Fibi die Walzen jetzt kannte, fand sie die auch nicht mehr schlimm.

»Gehts noch bei dir?«, fragte Aram, als die Bürsten ruhten und für einen Augenblick Stille herrschte. Sie stellten sich wieder hin.

»Ich glaube …« Das Schlimmste liegt hinter uns, wollte Fibi sagen, doch ihre Worte wurden vom erneuten Lärm verschluckt. Es war Wasser, deutlich mehr Wasser als beim ersten Waschgang, und es kam mit Hochdruck. Ich blute!, dachte Fibi. Aber dann machte sie sich klar, dass es Quatsch ist. Ein Wasserstrahl kann sich vielleicht anfühlen wie ein Messerstich, aber er wird einen nicht wirklich verletzen.

Als der Metallbogen auf dem Rückweg war, wollte sich Fibi frontal in den Strahl stellen, aber das Wasser war so heftig, dass sie sich gleich wieder wegdrehte.

»Lange halte ich das nicht mehr aus«, sagte Fibi, als auch nach diesem Gang Ruhe eintrat.

»Fängt doch gerade an, Spaß zu machen«, sagte Aram.

Dann begann die Waschanlage zu zittern, und zugleich setzte ein leises Donnern ein, das sehr schnell lauter wurde, während sich das Zittern in ein Beben verwandelte. Fibi spürte Luft, einen Sturm wie noch nie. Der Wind drängte in die Nase, die Ohren, und als sie den Mund öffnete, schien die Luft in sie einzuschießen und ihr Hirn zerplatzen zu lassen. Ihr war, als ob der Luftsturm alles aus ihr herauspustet, sie leer macht wie eine Wohnung beim Auszug. Es war nicht unangenehm. Sie ließ Arams Hand los, weil sie sich frei und glücklich fühlte, und vollkommen durcheinandergebracht und wie neu geboren, und eigentlich fühlte sie sich wie alles auf einmal, und ganz bestimmt war die Waschanlage besser als alles, was sie je über Drogen gehört hatte, und ihr war klar, dass sie das wieder machen wird, nur um diesen unglaublichen Wind zu spüren. Ihr zuckte noch der Gedanke durch den Kopf, dass diese Aktion irgendwas mit Waschbären zu tun hatte …

Dann war es still.

Das Letzte, was Fibi wusste, war, dass sie zu Boden gegangen war, wie auch Aram. Ehe sie die Augen aufschlug, sagte sie: »Aram?« Ihre Stimme kam ihr fremd vor, sehr verändert. »Bist du hier?« Wieder mit dieser seltsamen Stimme. Der Wind hatte vermutlich die Stimmbänder gefleddert.

»Wo soll ich denn sonst sein«, sagte Aram, und auch seine Stimme klang fremd. Vielleicht hatten die Ohren durch den Wind etwas abgekriegt.

Sie hörte, wie sich das Rolltor in Bewegung setzte. Sie versuchte, aufzustehen, aber das ging irgendwie nicht.

»Fibi!«, sagte Aram, mit einer Stimme, die nicht nur fremd klang, sondern auch nach einer ganzen Portion Horror, so als hätte die Tankstellenfrau eine Hundertschaft Polizei in Kampfmontur mit Pittbulls gerufen. Fibi schlug die Augen auf – und sah neben sich nur einen Waschbären sowie ihre und seine Klamotten. Und die Fahrräder. Aber keinen Aram. »Aram?«, fragte sie. »Warum bist du ein Waschbär geworden?«

»Warum bist DU ein Waschbär geworden?«, fragte Aram. »Guck dich mal an!«

»Ach du Scheiße«, sagte Fibi. »So kannst du nicht zum Probetraining.«

»Scheißegal«, sagte Aram. »Waschbär sein ist rabiat cool.«

Sie hörten, wie sich ein Auto der Waschanlage näherte. »Wir müssen abhauen«, sagte Aram. »Zur Sechsundneunzig, mutprobenmäßig.«

Sie liefen schnell aus der Ausfahrt der Waschanlage. Die Fahrräder ließen sie liegen.

Aram lief voran, Fibi hinterher. Obwohl sie rannten, musste Fibi andauernd lachen. Es war so speedy, sich in einen Waschbären zu verwandeln, und zugleich war es schön, so durch die Landschaft zu laufen. Aram nahm Abkürzungen, kletterte hier über einen Gartenzaun, lief durch ein Maisfeld, dann durch ein Gestrüpp, durch das er ganz leicht einen Weg fand. »Eh, du hast schon voll die Instinkte drauf!«, rief Fibi.

»Du etwa nicht?«, rief Aram zurück.

Mit der Nase so dicht an der Erde erspürte Fibi plötzlich Gerüche, von denen sie nie etwas geahnt hatte: Moos und Moder, Holz und Blüten, Müll und Pisse. Der »feine Geruchssinn der Tiere«, aha, das war damit gemeint! Es war so überwältigend, dass sie andauernd lachen musste.

»Warum lachst du?«, fragte Aram.

»Na, riechst du das?«, fragte Fibi zurück.

»Klar«, sagte Aram. »Ist voll rabiat.«

Fibi fand es überhaupt nicht langweilig, durch die Gegend zu laufen. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass sie es überhaupt mal langweilig fand, hier zu sein. Dass die Erde mal weich, mal sumpfig, mal hart war und dass es durch jedes scheinbar noch so dichte Gebüsch einen einfachen Weg gab, das war irre.

Obwohl sie diese Strecke nicht kannte, spürte sie, dass Aram in die richtige Richtung lief. Einmal, als Aram stehen blieb, kletterte Fibi auf einen Baum. Sie war noch nie so leicht einen Baum hochgekommen. Es war einfacher als Treppensteigen.

»Guck mal«, sagte Fibi. »Kannst du das auch?«

Aram schnaubte verächtlich, sagte »Kindergarten!« und lief weiter. Als Fibi vom Baum herunterkletterte, verharrte sie in der Höhe, in der bis vor kurzem ihre Augen gewesen waren. Mit den Augen in ein Meter fünfzig Höhe sah man mehr, klares Ding. Aber dicht am Boden war es viel interessanter.

Sie erreichten die Stelle an der Sechsundneunzig, wo sie vorhin ihre Mutprobe hatten. Inzwischen war es dunkel geworden, wenn auch nicht tiefe Nacht.

»Wer länger stehen bleibt«, sagte Aram.

Um diese Zeit war auf der Sechsundneunzig weniger los als am Nachmittag. Fibi und Aram stellten sich nebeneinander auf die Straße und warteten. Fibi erinnerte sich, wie sie am Nachmittag Arams Hand ergriffen hatte, aber jetzt hatte sie keine Hände, doch instinktiv legte sie ihren Schwanz auf seinen, was in der Menschensprache eklig, schweinisch und skandalös klang. Aber so als Waschbär war das total in Ordnung. Der Schwanz war, so viel hatte sie in ihrer kurzen Waschbär-Zeit schon mitbekommen, ein ganz besonderes Organ, ein unvergleichliches. Es war eine Beleidigung für ihren und für jeden anderen Waschbärenschwanz, dass jeder verschrumpelte Pimmel mit dem gleichen Wort geadelt wurde. Das war ungefähr so, als ob man »Konzert« zu einer Tonleiter sagt oder »Kuchen« zu einer Tüte Mehl.

In der Ferne erschien ein Scheinwerferpaar. Ich renne erst weg, wenn ich was rieche, ist schließlich ne Mutprobe, sagte sich Fibi. Die Scheinwerfer kamen näher, der Motor wurde lauter – aber Fibi roch nichts. Der Lautstärke nach musste der Wagen nahe sein …

»Fibi!«, schrie Aram und huschte von der Straße. Fibi rannte ihm nach – und bemerkte erst da, wie knapp das war. Eine Zehntelsekunde später wäre sie überfahren worden.

»Bist du verrückt!«, sagte Aram, als sie sich im Straßengraben wiederfanden.

»Ich wollte warten, bis ich was rieche«, sagte Fibi. »Aber das war wohl ein geruchloses Auto.«

»Quatsch«, sagte Aram. »Du riechst nur, was schon da war. Du kannst nicht im Voraus riechen.«

Sie schwiegen einen Moment, und Fibi legte wieder ihren Schwanz auf seinen. Sie fand das beruhigend. Sie hätte ewig so sitzen können.

»Ein Glück, dass du nicht überfahren wurdest«, sagte Aram. »Ich weiß gar nicht, wie ich mich zurückverwandeln kann.«

»Ich weiß es auch nicht«, sagte Fibi.

»Ich krieg n Eisprung! Du weißt nicht, wie wir uns in Menschen zurückverwandeln können?«, fragte Aram.

»Nein!«, sagte Fibi, und sie ahnte, dass sie, wenn sie jetzt noch ein Mensch wäre, wohl angefangen hätte zu weinen. Es war ungewohnt und auch nicht schön, einem Gefühl keinen Ausdruck geben zu können, was eine abgegriffene, aber dennoch stimmige Redewendung war. Wobei ihr auch klar war, dass es im Moment größere Probleme gab als das, einem Gefühl nicht den gewohnten Ausdruck geben zu können. Zum Beispiel, aus der Waschbären-Nummer wieder rauszukommen.

»Aber du kannst uns doch nicht in Waschbären verwandeln, ohne dich vorher aufzuschlauen, wie wir zurückverwandelt werden«, sagte Aram.

»Wieso?«, fragte Fibi. »Hast du etwa daran gedacht?«

»Ich hab mich rabiat auf dich verlassen!«, sagte Aram. »Am Mittwoch ist das Probetraining! Bin ich da immer noch ein Waschbär?«

»Woher soll ich das wissen? Ich war noch nie Waschbär, ich kenne niemanden, der sich schon mal in einen Waschbären verwandelt hat, und ich hab auch nicht gehört, dass so was jemals vorgekommen ist. Wir sind … die Ersten.«

»Na glücklichen Herzwunsch!«, sagte Aram und versteckte sich in einem Gebüsch, weil sich eine Dreiergruppe auf Fahrrädern näherte.

»Das ist Shaima!«, sagte Fibi. »Shaima und ihre beiden Brüder!«

Sie lief auf die Fahrräder zu. »Shaima, halt mal an! Ich bins, Fibi.«

Shaima stoppte. »Fibi?«

»Ja, mir ist was total Peinliches passiert. Ich hab mich in einen Waschbären verwandelt. Aram auch, der sitzt da vorn und traut sich nicht raus.«

Auch Shaimas Brüder, elf und dreizehn, waren von ihren Rädern gestiegen und starrten Fibi an.

»Ist das hier passiert?«, fragte Shaima. »Darf man weiterfahren?«

»Wir waren in einer Autowäsche, aber egal«, sagte Fibi. »Oder nicht egal. Wir wissen nicht, wie wir uns zurückverwandeln können.«

»Nein!«, rief Shaima mitfühlend.

»Kannst du mal googeln?«

»Klar«, sagte Shaima und holte ihr Handy raus. »Was soll ich denn googeln?«

»›Zurückverwandlung von Waschbären in Menschen‹ oder so was«, sagte Fibi. Shaima diktierte diese Worte dem Sprachassistenten und sichtete die Ergebnisse. Die Brüder sprachen leise auf Arabisch, und Shaima sagte ihnen etwas, ebenfalls auf Arabisch, woraufhin sie schwiegen und weiter Fibi anschauten.

Shaima schüttelte den Kopf. »Hier steht immer nur, wie schädlich Waschbären sind. – Ich geh mal auf das arabische Google«, sagte sie, sprach ein paar unverständliche Worte und überflog, was ihr von der Suchmaschine angeboten wurde – und schüttelte erneut den Kopf. »Ich glaube, das geht gar nicht«, sagte sie. »Warum geht ihr nicht erst mal in die Autowäsche? Ich glaube, das würde ich an eurer Stelle tun.«

»Ja, vielleicht«, sagte Fibi, obwohl sie die Idee Gulli fand, wie aus dem Kindergarten. »Shaima, kannst du mir versprechen, dass du das für dich behältst?«

»Klar!«

»Auch deine Brüder.«

»Klar!« sagte Shaima und wandte sich an die beiden. »Habt ihr gehört?«

»Erzählt es niemandem!«, sagte Fibi.

»Klar«, sagte Shaima. »Kannst dich drauf verlassen.« Sie richtete die Pedale, um wieder loszufahren. »Können wir euch ein Stück mitnehmen?«

»Nee, lass mal«, sagte Fibi. »Wir kürzen ab, über die Felder.«

Es war dunkel, als Fibi nach Hause kam. Sie wusste, dass ihre Mutter »wegen der Tiere« sämtliche Fenster und Türen abends und nachts mit eiserner Konsequenz geschlossen hielt. Nur das Schlafzimmerfenster war offen, allerdings war dort ein Insektengitter eingesetzt. Aber erst mal bis dahin kommen.

Zunächst kletterte Fibi die Tanne hinter dem Haus hinauf. Wie selbstverständlich es war, Bäume hochzuklettern! Als hätte sie nie etwas anderes getan. Von einem Ast aus sprang sie aufs Dach und lief Richtung Giebel. Das Rappeln, das ihr Lauf verursachte, hatte Fibi schon manches Mal gehört, worauf ihr Vater dann immer etwas von einer Marderfalle sagte, die er aber niemals aufstellte. Als Fibi oberhalb des Schlafzimmerfensters war, ließ sie sich fallen. Sie landete auf dem Sims, rutschte aber ab und fiel auf den Hof. Als Mensch hätte sie eine solche Aktion nie gewagt, aber als Waschbär war das kein Problem. Sie hatte sich nicht wehgetan und auch keine Angst gehabt, als sie sich fallen ließ.

Sie kletterte erneut auf die Tanne, sprang aufs Dach, lief rappelnd über die Ziegel und ließ sich ein zweites Mal vom Giebel fallen. Diesmal rutschte sie nicht vom Sims. Sie drückte die Pfoten gegen das Insektengitter und dessen Rahmen, aber das Insektengitter war stabil. Kein Billigscheiß, leider.

Fibi riß mit den Krallen ein Loch in das Gitter und schlüpfte durch. Und da hörte sie auch schon die Schritte ihrer Mutter. Fibi verkroch sich schnell unter das Bett, wo es so aufdringlich nach »zu Hause« roch, dass sie gern noch einige Momente gehabt hätte, um sich diesem Geruch eingehend zu widmen – doch da schaltete ihre Mutter schon das Licht an. Wenn sie das Loch im Fliegengitter sieht, dachte Fibi, kriegt sie nen Anfall, und alles ist zu spät.

»Mama«, sagte Fibi

»Fibi!«, sagte ihre Mutter. »Wie kannst du mich nur so erschrecken!«

»Tu mir einen Gefallen und schau jetzt nicht unters Bett.«

»Was ist mit deiner Stimme?«, fragte ihre Mutter. »Ne neue App? Klingt süß!«

»Setz dich mal aufs Bett, mit dem Gesicht zur Tür.«

Fibi sah dank der Füße, dass sich ihre Mutter wie gewünscht aufs Bett setzte. Hysterischer Anfall wegen zerrissenem Fliegengitter war abgewendet. Aber wie den hysterischen Anfall wegen Verwandlung der Tochter abwenden?

»Mama, du hast mich doch wirklich ganz doll lieb.«

»Natürlich, das weißt du doch.«

»Und hättest du mich auch lieb, wenn ich eine andere wäre?«

»Darüber habe ich mir, ehrlich gesagt, keine Gedanken gemacht. Wenn ich eine andere Tochter hätte, dann hätte ich die auch lieb, obwohl ich mir eigentlich nicht vorstellen kann, dass ich noch jemanden genauso lieb haben könnte wie dich.«

»Und wenn ich ein Waschbär wäre?«

»Komm, Fibi, ich bin zu müde, um darüber nachzudenken, wie es wäre, wenn du ein Waschbär wärst. – Diese Stimme geht mir übrigens ein bisschen auf die Nerven.«

»Das tut mir leid«, sagte Fibi. »Denn ich habe mich vorhin leider in einen Waschbären verwandelt, ganz aus Versehen.«

Schweigen. Fibi wusste, dass ihre Mutter für einen Augenblick darüber nachdachte, was es bedeutet, wenn sich Fibi in einen Waschbären verwandelt hätte. Auch wenn sie es aus Vernunftgründen für vollkommen ausgeschlossen hielt.

»Mama, ich bin wirklich ein Waschbär. Schau mal zum Fenster. So bin ich reingekommen.«

Ihre Mutter schrie auf.

»Fibi«, sagte ihre Mutter mit zittriger Stimme. »Du hattest deinen Spaß. Komm jetzt unterm Bett vor.«

Fibi kroch langsam heraus, allerdings nicht neben den Beinen ihrer Mutter, sondern auf der anderen Seite. Doch anhand der Geräusche erkannte ihre Mutter, wo Fibi war – und als sie sie erblickte, schlug sie die Hände vors Gesicht und schrie: »Hi! Hä! Wi!« Ihre Augen blickten voller Angst, Panik und Ekel auf Fibi, und dann rannte sie aus dem Zimmer.

Auf der Treppe begegnete sie Fibis Vater. »Was ist denn los?«, fragte der.

»Im Schlafzimmer ist ein Waschbär … Fibi!«, sagte Fibis Mutter. »Tu ihm nichts!«, rief sie noch, während sie die Treppen hinunter- und Fibis Vater sie hinauflief.

Fibi wusste, dass ihr Vater kurzen Prozess mit jeder Art von Viechzeug machte. Also schnell unters Bett. Und schon stand der Vater im Zimmer. Er verharrte, um sich ein Bild von der Lage zu machen.

»Papa, was Mama gesagt hat, stimmt. Ich bin Fibi, aber ich hab mich in nen Waschbären verwandelt.«

Ihr Vater, der sie noch nicht gesehen hatte, lachte. »Mann, Fibi! Da hast du Mama bannig erschreckt. Deine Stimme klingt schon mal gut nach Waschbär. Und nun zeig mal dein Kostüm!«

»Das ist kein Kostüm.«

»Okay, kein Kostüm. Dann zeig dich trotzdem, du kleiner frecher Waschbär!«

Fibi kam unter dem Bett hervor und schaute ihren Vater an. Dessen Miene vereiste.

»Ich hab dir doch gesagt, es ist kein Kostüm«, sagte Fibi.

»Wiebke!«, rief Fibis Vater, ohne den Blick von Fibi zu wenden. Kurz darauf war Fibis Mutter im Schlafzimmer, tränenüberströmt.

»Was ist n hier los?«, fragte Fibis Vater.

»Ich weiß es nicht«, sagte Fibis Mutter. »Ich bin ins Schlafzimmer gekommen und hörte Fibi, mit verstellter Stimme. Und dann sagte sie mir, sie hat sich in einen Waschbären verwandelt, und hat mich auf das Fenster aufmerksam gemacht. Und dann ist dieses Tier unterm Bett hervorgekrochen. Das ist doch nicht … das ist doch nicht unsere Fibi!«

»Also … Folgendes …« Fibis Vater versuchte, einen Überblick zu gewinnen. »Es ist wissenschaftlich unmöglich, dass sich Menschen in Tiere verwandeln. Außerdem können Tiere nicht sprechen. Daraus folgt: Das muss ein Traum sein. Aber Träume fühlen sich ganz anders an.«

»Ich hoffe ja auch, dass es ein Traum ist«, sagte Fibi. »Aber es ist keiner.«

»Zweite Möglichkeit: Ich bin verrückt geworden. Aber dann müsstet ihr mir ausreden, dass sie ein Waschbär ist. Oder?« Er schaute seine Frau an. Sie war hier die Expertin.

»Ich bin zu müde«, sagte Fibis Mutter und schniefte.

*

Aram hatte es sich in einer Astgabel bequem gemacht und beobachtete seine Eltern. Sein Vater saß am Küchentisch und reparierte den Staubsaugerroboter, den Aram auf dem Gewissen hatte. Er hatte ihn reinigen sollen, was er auch getan hatte, und zwar im Garten, wie es sich gehörte – doch anschließend brachte Aram das Gerät nicht ins Haus, und nach einem Regen gab es keinen Pieps mehr von sich. Arams Vater hatte den Vorgänger, der nach der idiotischen Idee von Arams Mutter, mit dem Roboter die Einfahrt zu reinigen, vom Dickschiff genannten Familien-Landrover überfahren worden war, nie weggeworfen, und so konnte er, wie schon so oft, zwei unbrauchbare Geräte in ein funktionierendes verwandeln; in der Disziplin »Dinge wieder zum Laufen bringen« war Arams Vater rabiat gut. Arams Mutter schaute fern, etwas von der Art »Die hundert dramatischsten TV-Momente«, und rief des Öfteren etwas in die Küche, um auch Arams Vater vor den Fernseher zu locken, aber das kam für ihn nicht in Frage.

Aram konnte sich nicht vorstellen, nach Hause zu kommen und zu sagen – ja, was? Er sagte ja auch sonst nichts, wenn er nach Hause kam, außer »Bin wieder da«. Sollte er sagen »Bin wieder da, nur anders«? Er hatte überhaupt keine Lust, mit seinen Eltern zu reden, ja, er sah überhaupt keinen Sinn darin. Es würde nichts ändern. Er hatte bereits vorhin, als er das Gespräch zwischen Fibi und Shaima verfolgte, eine Abneigung gegen das Reden verspürt: Fibi wollte was, Shaima konnte nicht helfen, und dann ging es nur darum, dass Shaima die Begegnung geheim hält. Diese ganze Unterhaltung hätte es nicht gebraucht; es war, bei Lichte betrachtet, Tussengeschnatter.

Aram merkte, wie sich in seinem Kopf eine große Veränderung vollzog, er fühlte sich wie ein Schiff, das sich auf die andere Seite legt. Er spürte, dass ihn reden Überwindung kosten wird, große Überwindung, und zugleich spürte er, dass er diese Überwindung nicht aufbringen wird. Vielleicht irgendwann. Aber ganz sicher nicht an diesem Abend.

Als die Fernsehsendung vorbei war, hatte sein Vater den Roboter wieder hingekriegt. Seine Eltern redeten miteinander, bestimmt ging es um »Wo Aram wieder bleibt«, »Probetraining«, »mal an Regeln gewöhnen«. Ein Handy wurde gezückt, ein Anruf versucht, irgendwann gingen seine Eltern nach oben, und um halb eins wurde im Schlafzimmer das Licht gelöscht.

TAG ZWEIHilmar Hüveland

Nachdem Fibi geschildert hatte, wie sie ein Waschbär geworden war, fluchte Hilmar »Google ist schuld! Und dieses Internet! Man müsste die alle verklagen!« und fuhr zur Tankstelle nach Seenot. Tatsächlich stand da Fibis Fahrrad. Auch das von Aram. In einem Müllcontainer waren Fibis Sachen, sogar ihr Handy. Das Display war allerdings schwarz und blieb es auch; Wasser tröpfelte heraus.

Schon auf der Heimfahrt versuchte er, Fibis Handy über den USB-Anschluss im Auto zu reanimieren – ohne Erfolg. Zu Hause nahm er das Netzteil, doch das Handy blieb tot.

Er schaute Fibi an, das heißt, er blickte den Waschbären an, der auf dem Fußboden saß. »Wir machen jetzt ne Nachtschicht«, sagte er, legte Fibi auf den Schreibtisch und drehte den Laptop so, dass sie alles sehen konnte, was sich auf dem Bildschirm abspielte.

Hilmar ließ die Tasten klacken. Zuerst suchte er nach der Seite mit den Instruktionen zur Waschbärenverwandlung. Es war ja der Wahnsinn, was für Anleitungen man im Internet fand. Wie man aus Baumarktartikeln Bomben baut, wie man eine Boeing 747 landet, wie man sich in einen Waschbären verwandelt. Warum sollte nicht irgendwo stehen, wie man einen Waschbären in einen Menschen zurückverwandelt?

Doch eine Seite mit Verwandlungsinstruktionen ließ sich nicht finden. Auf die Anfrage: Wie verwandle ich mich in einen Waschbären?, beziehungsweise Wie verwandelt man sich in einen Waschbären? kamen Anzeigen für Faschingskostüme und Waschbärenfallen. Man wurde mit Zeitungsartikeln verlinkt; die Wörter »verwandeln« und »Waschbären« ergaben im Zusammenspiel immer nur, dass Waschbären Grünanlagen oder Spielplätze »in ein Schlachtfeld verwandelt« hatten. »Wo ist Google, wenn man es braucht?«, rief Hilmar Hüveland mit einem lauten Seufzer.

In der Vergangenheit hatten ihn mancherlei Fragen auf die Seite Gutefrage.net geführt. Hilmar hatte eine gute Frage, also stellte er sie, wozu er sich registrieren musste und sich den Nutzernamen Waschbaerdaddy gab. Unter dem Thema »Rückverwandlung eines Waschbären in einen Menschen« postete er: »Mein Problem klingt ziemlich verrückt. Meine Tochter (16) hat sich vor ca. zwölf Stunden in einen Waschbären verwandelt; die Anleitung hatte sie aus dem Internet. Hat jemand eine Idee, wie sie sich zurückverwandeln kann?«

Dann noch ein Häkchen, um sofort informiert zu werden, wenn Antworten eingehen.

Um halb fünf fuhr Hilmar den Computer runter. Er war todmüde, und er schaute Fibi traurig an. »Mit der Apfelkönigin, das wird wohl nichts. Obwohl – ein sprechender Waschbär ist erst recht eine Touristenattraktion.«

Fibi wusste, dass ihr Vater manchmal schwachsinniges Zeug redet, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Hilmar Hüveland war mit Leib und Seele Bürgermeister. Er hatte nach der Geburt des Lütten vor sieben Jahren seine Stelle als Kältetechnik-Ingenieur aufgegeben und wurde freiberuflicher Gutachter für Erdwärmeheizungen. Die neue Technologie, die paradoxerweise auf Kältetechnik beruhte, boomte – und war zugleich noch nicht ausgereift, was zu Streitigkeiten in der Erdwärmeszene und einem Bedarf an gerichtlichen Gutachten führte. Die Familie beschwerte sich nie, er habe zu wenig Zeit, es ließ sich vernünftig leben (wozu auch Wiebkes Einkünfte als Kinder- und Jugendpsychologin beitrugen), und bei Gericht, wo man seine Verfügbarkeit, seinen Sachverstand und seine Verständlichkeit schätzte, gingen seine Rechnungen beanstandungslos durch. Hilmars Bürgerbüro war in einer ehemaligen Berufsschule in Bräsenfelde. Von da aus verwaltete Hilmar auch die Gemeinden Nockau, Mühlbach, Heinerloh und Kudorf. Das waren seine »fünf Kirschen auf dem Törtchen«. Doch nur von Bräsenfelde ließ sich sagen, dass es »florierte«. Die paar Menschen, die richtige Steuererklärungen abgaben, lebten fast alle in Bräsenfelde.

Er war seit achtzehn Jahren Bürgermeister, und er war ins Amt gekommen, als sich die Kräfteverhältnisse der Nachwendezeit zum vorläufig letzten Male justierten. Der ehemalige LPG-Vorsitzende Peter Möhlenmeier wurde 1991 zwar der Geschäftsführer der neuen »Q Agrargesellschaft mbH«, und er nahm die alte Rhetorik gleich mit. Aus »Was für die LPG gut ist, ist auch für das Dorf gut« wurde »Was für den Bauern gut ist, ist auch für das Dorf gut«. Im Sommer war es Usus, dass die LPG bei Trockenheit das knappe Oberflächengrundwasser (das aus etwa drei Metern, bei Trockenheit aus acht bis zehn Metern Tiefe kam) zur Bewässerung verwendete. Geschah dies, tröpfelte es nur noch aus den Wasserhähnen und Duschköpfen, und Waschmaschinen konnten wochenlang nicht arbeiten. Der Wassermangel wurde hingenommen, solange es der LPG nutzte. Doch inzwischen lagen die Dinge anders. Zwar argumentierte der amtierende Bürgermeister, ein Mann Möhlenmeiers, die Gemeinde sei über die Gewerbesteuer vom Erfolg der Q abhängig – aber den hundert arbeitslosen Ex-LPGlern war das Wohl des Landwirtschaftsbetriebes, der nicht mehr der ihre war, weniger wichtig als die Frage, ob Wasser aus ihrer Leitung kommt. Und Hilmar Hüveland hatte nicht nur ein Gespür für diesen Mentalitätswandel, er wurde zum Anführer des »Nockauer Wasseraufstandes« von 2003. In diesem besonders trockenen Sommer drang er in die Pumpstation ein und schloss ein Sperrventil. Von einem Moment zum nächsten bewässerte kein Oberflächengrundwasser mehr die Felder der Q. Binnen Minuten hatte Hilmar Hüveland, der alles über Pumpen wusste, die Anlage auf hoffnungslose Art manipuliert, und als Möhlenmeier eintraf, entspann sich eine Szene, die noch jahrelang sämtliche Augenzeugen zum Nachspielen animierte. So unterschiedlich die erinnerten Dialogfragmente auch waren, das Genre war immer dasselbe: ein Agitprop- und Revolutions-Einakter. Die Q musste sich ihr Wasser fortan mittels eigenen Brunnens aus sechzig Metern Tiefe holen, und Hilmar Hüveland war mit einem Schlag bekannt. Die Dorfbevölkerung erwartete von ihm, bei der nächsten Bürgermeisterwahl zu kandidieren. Er tat dies und gewann deutlich.

Sein neuestes Projekt war Tourismus. Tourismus war ein ganz alter Hut in der Region, doch Hilmar Hüveland wollte erst die Bühne betreten, wenn alle früheren Akteure dahingesunken waren.