Die Wachenden - Lea Giegerich - E-Book

Die Wachenden E-Book

Lea Giegerich

0,0
5,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eigentlich ist Lilos Leben perfekt: In weniger als einem Jahr wird sie ihren Schulabschluss in der Tasche haben, im Nachbarhaus zieht gerade ein süßer Kerl ein, und sie ist ein Dreamer – was ihr ermöglicht, nachts bewusst all das zu erleben, was für andere nur Wunschdenken bleibt. Doch die Welt der Träume wird von einem unbekannten Virus bedroht, der Dreamer nach Dreamer infiziert und Lilos Freund Doc in einen völlig anderen Menschen verwandelt. Trotz aller Warnungen machen sich Lilo und ihr bester Freund Tim auf den Weg, um Doc zu retten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
Danksagung

Lea Giegerich

 

Die Wachenden

 

 

 

 

 

Die Wachenden

 

 

© 2024 VAJONA Verlag GmbH

Originalausgabe bei VAJONA Verlag GmbH

 

 

Lektorat: Katharina Platz

Korrektorat: Lara Späth und Vera Schaub

Umschlaggestaltung: VAJONA Verlag GmbH unter

Verwendung von Motiven von 123rf

Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz

 

VAJONA Verlag GmbH

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

 

Für alle, die an ihren Träumen festhalten.

 

 

 

 

 

Träume können dich heilen, erfüllen und beflügeln.

Aber wenn du nie gelernt hast, mit ihnen umzugehen, können sie dich auch süchtig machen.

1. Kapitel

»Täglich sechs ungelöste Vermisstenfälle in Deutschland!«, schreit mir das Titelblatt der Zeitung förmlich entgegen, als ich langsam die Stufen hinaufsteige, während ich den Teasertext überfliege. Obwohl siebenundneunzig Prozent der Vermisstenfälle innerhalb eines Jahres aufgeklärt werden, bleiben drei Prozent offen. Wie grauenvoll! Aber wo soll die Polizei anfangen, wenn es keine Anhaltspunkte gibt oder die Personen überhaupt nicht gefunden werden wollen?

Ich schüttle den Kopf, um die negativen Gedanken loszuwerden. Genau aus diesem Grund lese ich nicht gerne Zeitung – nur blöd, dass meine Mutter in der Presse arbeitet.

Ich öffne die Tür und schlüpfe aus meinen Schuhen. Es riecht nach Pizza. Ein voller Briefkasten und gelieferte Pizza können eigentlich nur eines bedeuten: Mum hat das Haus und vermutlich sogar das Bett heute noch nicht verlassen. Normalerweise geht sie, bevor ich überhaupt aufstehe, schon zur Arbeit und kommt erst abends zwischen sechs und sieben Uhr zurück – je nach dem, wann sie sich losreißen kann. Sie ist Reporterin bei der Stadtzeitung. Früher hat sie angeblich mal investigativ gearbeitet, hat monatelang an einer Geschichte geschrieben, doch seit ich da bin, beschäftigt sie sich nur noch mit leichterer Kost – wie sie sagt.

»Bin wieder da!«, rufe ich und betrete unsere winzige Küche. Als ich Mum sehe, ziehe ich verwundert die Augenbrauen in die Höhe. Anstatt Stoffhose und Bluse trägt sie eine Jogginghose und ihren viel zu großen Kuschelpulli. Die beiden Kleidungsstücke waren wahrscheinlich so tief in ihrem Schrank vergraben gewesen, dass sie Narnia einen Besuch abgestattet haben muss.

Mum interpretiert meine Reaktion jedoch anders. »Ich will heute nichts über die Emissionen von geliefertem Essen hören«, krächzt sie, bevor sie von einem Hustenanfall überwältigt wird.

Ja, normalerweise hätte ich rumgenörgelt und sie darauf hingewiesen, dass wir den Klimawandel so niemals aufhalten können. Aber ich weiß auch, dass Mums Jogginghose ein Symbol dafür ist, dass es ihr nicht gut geht, also verkneife ich mir jeglichen Kommentar. »Hier, deine Zeitung.«

»Danke dir, Lilo.« Als sie das Titelblatt der Stadtzeitung überfliegt, runzelt sie die Stirn. »Es geht also weiter bergab. Sie haben nicht einmal einen aktuellen Bezug hergestellt«, flüstert sie und legt die Zeitung missbilligend neben ihren Pizzakarton.

Auf mich wartet meine Lieblingspizza. Eine Margherita – Mum kennt mich wirklich gut. Ich lasse mich auf den einzigen freien Stuhl ihr gegenüber fallen. Ein Klappstuhl, der – nach dem Verenden des normalen Stuhls – schon seit fast drei Jahren die linke Seite unseres Tisches ziert. Eine Nachbarin wollte ihn loswerden und ich habe ihn aus dem Sperrmüll gefischt. Mum will schon lange ein neues Stuhlpaar kaufen, doch ich bin der Meinung, dass wir nichts wegwerfen sollten, was noch funktioniert. Und ich bin stolz darauf, dass sie mich die Diskussion immer mit einem schweren Seufzen und einem ›Du hast ja recht‹ gewinnen lässt.

»Wie war es in der Schule?«

»Na ja, die Sommerferien sind gerade erst vorbei und ich habe die Lehrer noch nie so motiviert gesehen«, meine ich schulterzuckend. »Ich habe das Gefühl, es gibt die ersten Stegreifaufgaben schon in den nächsten Wochen.«

»Wie schaut es mit deiner Projektarbeit aus? Hast du das Thema bekommen, das du wolltest?«

Grinsend nicke ich. »Japp. Ich werde ein Konzept erarbeiten, wie unsere Schule klimaneutral werden kann.«

»Stellst du es dann auch der Rektorin vor?«

Mir bleibt der Bissen Pizza im Hals stecken, sodass ich husten muss. »Vor der Rektorin? Nein, das ist doch nur eine Projektarbeit. Die gebe ich bei meiner Lehrerin ab.«

Meine Mutter schüttelt verständnislos den Kopf. »Aber dann ändert sich ja gar nichts.«

»Vielleicht gibt meine Lehrerin meine Arbeit ja weiter, wenn sie sie für gut genug hält«, weiche ich aus.

»Du könntest doch zumindest fragen, ob sie bei der Abschlusspräsentation dabei sein möchte.« Ihre Miene hellt sich auf. »Und wenn ich eure Direktorin im Anschluss interviewe und darüber einen Beitrag schreibe, können womöglich noch viel mehr Schulen von deiner Arbeit profitieren.«

»Ich bin kein Projekt, das du einfach so in einen Artikel quetschen kannst!«, beschwere ich mich und stehe auf. »Ich bin satt.«

»Du hast doch kaum etwas gegessen«, merkt Mum an, obwohl sie selbst kein ganzes Stück Pizza heruntergebracht hat.

»Vielleicht esse ich nachher noch etwas.« Ich klappe den Deckel des Kartons zu und räume ihn auf die Küchenplatte. »Tim schläft heute hier.«

»Schon wieder?«, rutscht es ihr heraus. »Läuft da etwas zwischen euch?«

Ich kenne Tim schon seit einer Ewigkeit. Als ich noch klein war, hatte sich mein Vater von Mum scheiden lassen und kurz darauf Tims Mutter kennengelernt. Martha bewarb sich in Aschaffenburg als Krankenschwester und so zogen sie und Tim in unsere Stadt. Tim ging mit mir zur Schule und wir beide wurden gewissermaßen zu Geschwistern. Doch Martha und Dad haben nie geheiratet – was wohl besser war, denn sieben Jahre später haben sie sich wieder getrennt. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass Tim bei mir übernachtet, denn die winzige Wohnung, in der er mit seiner Mutter lebt, bietet kaum Platz für beide. Wenn Tim bei mir schläft, benutzt Martha ausnahmsweise einmal nicht die Couch als Bett. Und das weiß Mum eigentlich auch … Also wende ich ihr gerade noch rechtzeitig den Rücken zu, damit sie nicht sieht, wie ich die Augen verdrehe.

»Nein, da läuft gar nichts! Weder jetzt noch in Zukunft. Nerv mich nicht jedes Mal damit, wenn er vorbeikommt!«

»Ist ja schon gut!« Sie steht kurz davor, zu niesen und angelt sich daher ein neues Päckchen Taschentücher.

Ich nutze meine Chance. »Bin Hausaufgaben machen!«, rufe ich ihr über die Schulter hinweg zu und verschwinde in meinem Zimmer. Selbst hier drin riecht es nach Pizza, weshalb ich kurz das Fenster öffne. Ich kann direkt in die Wohnung auf der anderen Straßenseite blicken. Die Wohnung, die seit knapp zwei Monaten leer steht, ist nun hell erleuchtet und ein dunkelhaariger Kerl, vielleicht zwei Jahre älter als ich, sieht mich direkt an. Ich lächle ihm freundlich zu. Er erwidert es unsicher, bevor er sich wegdreht und mit zwei anderen Personen den Raum verlässt.

Vielleicht ist es nur eine Wohnungsbesichtigung, vielleicht aber auch schon die Schlüsselübergabe. Ich würde mich auf jeden Fall freuen, wenn wieder mehr junge Leute in der Nachbarschaft wohnen. Ohne weiter darüber nachzudenken, schalte ich den alten Rechner an, den meine Mutter mir irgendwann einmal von der Arbeit mitgebracht und somit vor der Verschrottung gerettet hat. Er röhrt ganz schön, aber er ist voll funktionsfähig. Ich schalte Spotify an und schreibe ein paar Sätze aus dem Internet für Englisch ab.

Irgendwann zwischen sieben und acht – ich starre gerade Löcher in mein Heft – klingelt es. Ich warte darauf, dass Mum die Tür öffnet, doch es läutet bereits ein zweites Mal, ohne dass sich jemand in der Drei-Zimmer-Wohnung bewegt. Schwerfällig strecke ich mich, bevor ich zur Tür trabe.

Gerade als ich den Türöffner getätigt und die Wohnungstür geöffnet habe, läuft Tim auch schon vollgepackt mit Isomatte und Schlafsack an mir vorbei in mein Zimmer.

»Hey«, sage ich etwas verdattert, während ich immer noch ins Treppenhaus hinausstarre.

»Kommst du auch?«, ruft Tim aus dem Nachbarraum. Ich werfe die Tür scheppernd ins Schloss. Tim hat seine Isomatte bereits vor meinem Bett ausgebreitet und sieht mich erwartungsvoll an.

»Fühl dich wie zu Hause«, fordere ich ihn kopfschüttelnd auf.

»Danke. Mache ich schon.« Sein Grinsen reicht von einem Ohr zum anderen. Es ist sein typisches, schelmisches Grinsen, das in verschiedenen Ausprägungen quasi immer auf seinem Gesicht zu sehen ist. Nur wenn es um Biologie geht, verschwindet auch das leichteste Lächeln und Tim wird so miesepetrig, dass ich es kaum in einem Raum mit ihm aushalte.

»Wie kommst du so schnell die Treppe hoch?« Ich lasse mich auf das Bett fallen und beobachte meinen Freund, wie er sich häuslich einrichtet. Seine schwarzen Haare stehen in alle Richtungen ab. Er trägt ein schmuddeliges schwarzes T-Shirt und eine ausgewaschene Jeans. Nichts deutet darauf hin, dass er sich heute irgendwann einmal über sein Äußeres Gedanken gemacht hat. Tatsächlich besitzt er überwiegend abgetragene Sachen. Die wenigen guten Kleidungsstücke trägt er nur zu besonderen Events – dann wirft er sich aber von Kopf bis Fuß ordentlich in Schale und ist plötzlich wie ein anderer Mensch.

»Herr Gassner hat mich rein gelassen. Mann, habe ich einen Kohldampf. Habt ihr was zu essen da?«

Typisch Tim. »Klar, Mum hat heute Pizza bestellt. Ich habe fast nichts gegessen.«

»Ein Hungerstreik, nur weil deine Mutter es gewagt hat, Essen zu bestellen? Du wirst ja immer kreativer«, feixt er.

»Nein, sie wollte einen Artikel über meine Projektarbeit schreiben und da habe ich die Flucht ergriffen.« Trotzig verschränke ich meine Arme.

Er boxt mir freundschaftlich gegen den Oberarm. »Du wirst ja noch zu einer richtigen Berühmtheit.«

Ich strecke ihm die Zunge raus, woraufhin er lacht.

»Wo finde ich die Pizza?«

»Steht in der Küche.«

Tim springt auf und verlässt das Zimmer, während ich meinen Schulranzen für nächsten Montag packe. Als er wieder in der Tür erscheint, hält er die große Pappschachtel in der Hand und stopft sich ein Pizzastück nach dem anderen in den Mund.

»Ist deine Mutter nicht da?«, schmatzt er.

»Doch, aber sie ist im Bett, weil sie sich erkältet hat.« Mit einem Ruck ziehe ich den Reisverschluss meiner Schultasche zu.

»Gehen wir schlafen?«

Ich sehe auf meinen Wecker. Es ist zehn vor halb neun an einem Freitagabend. Alle normalen Jugendlichen hätten über Tims Kommentar gelacht, aber ich nicht, denn wir sind nicht normal. Wir sind Dreamer.

 

 

2. Kapitel

Der Schlaf greift nach mir, zieht mich in die Tiefe der Nacht und als ich blinzele, ist Tim verschwunden. Genau wie mein Zimmer. Ich liege nicht länger auf meinem schmalen Bett, sondern auf einer riesigen weichen Matratze mit unzähligen weißen und pastellfarbenen Federkissen. Es ist alles so hell und weich, dass ich mich wie auf einer Wolke fühle. Aber es ist keine Wolke, obwohl ich mir auch das herbeiträumen könnte.

Ein leichter Windstoß weht über mein Gesicht. Er wirbelt die dünnen Schleier auf, die an allen Seiten des Himmelbettes angebracht sind. Ich bin in meiner Traumwelt. Die Welt, in die sich alle Menschen nachts zurückziehen, nur dass die meisten Leute ihre Traumwelt nicht frei gestalten können. Das ist der erste Unterschied zwischen den normalen Menschen und uns Dreamern.

Ich befinde mich in einer kleinen Kathedrale und die Buntglasfenster werfen ihre Farben auf die Holzdielen.

Barfuß gehe ich zu einem kniehohen Tisch in der Mitte des Raumes und lasse mich auf einem Kissen nieder. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, als ich in die mit Berliner gefüllte Schüssel greife.

Da klopft es an der Tür, durch die ich meine Traumwelt verlassen kann. Man muss nicht einmal ein Dreamer sein, um seine Traumwelt verlassen zu können, doch die anderen Menschen tun das nur unbewusst.

»Komm rein«, fordere ich meinen Gast auf. Ich hätte mich nicht einmal umdrehen müssen, um zu wissen, wer mein Besucher ist. Es ist, als würde er in einem überfüllten Bus direkt neben mir stehen. Ich spüre seine Nähe, seine Wärme, atme den mir vertrauten Geruch ein … Wäre es nicht Tim, wäre es mir ziemlich unangenehm, denn ich spüre seine Anwesenheit, unabhängig davon, wie weit ich mich innerhalb meiner Traumwelt von der Verbindungstür entferne. Entfernungen spielen hier keine Rolle. In einem Moment bin ich hier, im nächsten trennt mich ein ganzes Gebirge von den Traumwelten anderer Menschen. Alles, was hier drin geschieht, hängt nur von meiner Vorstellungskraft ab.

Ich schaue auf meine Armbanduhr, die mir die reale Zeit anzeigt. In der Realität ist es gerade halb neun und vor mir liegen gute zwölf fantastische Traumstunden.

»Boah, Berliner!« Tim kniet sich mir gegenüber an den Tisch und zieht die Schüssel zu sich heran. »Hab ich einen Hunger …«

»Kaum zu glauben, dass du eben fast eine ganze Pizza verschlungen hast«, meckere ich und ziehe die Schüssel wieder in die Tischmitte, bevor er sie allein leer isst. Tim trägt dasselbe T-Shirt wie in der realen Welt, doch seine Hose hat er gegen eine Badehose getauscht.

»Das waren nur fünf Stücke. Außerdem werde ich nachts weder satt noch dick!«

»Du weißt nie, welche mit Senf gefüllt sind«, flüstere ich hinterlistig und sehe zu, wie Tim den Berliner, dessen Füllung sich in diesem Moment in Senf verwandelt, ausspuckt.

»Du Idiot!«, krächzt er.

Genüsslich greife ich in die Schüssel. »Guten Appetit.«

Tim streicht sich mit dem Finger über die Zunge. »Daf bekommft du tsurück!«

Ich grinse bloß.

»Was machen wir heute?«

Früher haben wir oft Ritter gespielt oder sind auf Drachen durch unsere Traumwelten geflogen. Aber aus diesem Alter sind wir schon lange raus.

Tim ist immer noch damit beschäftigt, seine Zunge von dem Senf zu reinigen. »Wollen wia mal wieda Doc befuchen?«

Mein Vater hat uns vor fast zehn Jahren eines Nachts Doc vorgestellt. Doc ist heute um die siebzig Jahre alt, war im echten Leben mal Arzt und führt in seiner Traumwelt immer irgendwelche verrückten Experimente durch, bei denen wir ihm früher häufig assistierten. Inzwischen ist er für Tim und mich zu einer Art Opa geworden und Tim erhält von ihm regelmäßig Nachhilfestunden in Biologie – dem einzigen Fach, das er nicht ohne zu lernen versteht.

»Ich war ewig nicht mehr bei ihm. Bestimmt vermisst er uns schon«, gebe ich zu.

»Bringen wia ihm Bealiner mit?«, schlägt Tim nuschelnd vor, denn er streckt immer noch seine Zunge raus, um dem Senfgeschmack zu entgehen. »Und kannft du mia mal bitte ein Glaf Waffer geben?«, beschwert er sich. Augenblicklich erscheint vor ihm ein großes Glas Orangensaft. Wahrscheinlich wird das den Senfgeschmack besser überdecken.

In der Traumwelt eines anderen Menschen kann man bloß sich selbst verändern – nichts anderes. Hier, in diesem Haus bin ich die Erschafferin. Ich kann es Frühling werden oder schneien lassen, kann aus dem weiten Feld eine Großstadt zaubern oder Personen erscheinen lassen, die entweder Abbilder echter Menschen sind oder überhaupt nicht existieren – natürlich spüre ich deren Präsenz dann nicht so wie bei Tim. Wenn ich Tim besuche, bin ich seinen Ideen ausgeliefert und muss vielleicht selbst Senf essen.

»Lass uns gehen!«, rufe ich.

Die Schüssel mit den restlichen Berliner verwandelt sich in eine Papiertüte. Ich packe die Griffe und springe voller Vorfreude auf. Während ich zur Tür laufe, legt sich wie aus dem Nichts ein gefütterter Mantel über meine Schultern. Vom Hals bis zu den Füßen werde ich dick eingepackt. Ich trage auf einmal einen Rollkragenpullover, einen Mantel, eine Jeans, rosa Flauschsocken über normalen blauen Socken und gefütterte Stiefel. Als letztes plumpst eine Mütze aus Kunstfell auf meinen Kopf.

Ich liebe diese Traumwelt! Ich muss mich noch nicht einmal selbst anziehen. Alles, was ich mir auch nur vorstellen kann, bekomme ich. Und am nächsten Morgen kann ich mich sogar noch daran erinnern.

Wir verlassen mein Reich. Hastig ziehe ich die Tür hinter mir zu und verriegele das Schloss. Zwar habe ich noch nie von Einbrechern gehört – aber sicher ist sicher.

So weit das Auge reicht, strahlt die Sonne hinab auf eine unberührte Schneedecke und lässt sie in allen Regenbogenfarben glitzern. Als ich Tim ansehe, muss ich grinsen. Überall liegt Schnee und er steckt lässig seine Hände in die Badehosentaschen. Aber er friert nicht, denn für ihn ist hier kein Winter.

Diese Zwischenwelt sieht für alle anders aus. Wo ich kleine Blockhütten im tiefen Schnee sehe, befinden sich in Tims Welt kleine Strandhütten auf weißem Südseesand. Aus diesem Grund tragen die meisten hier auch Badebekleidung oder eine Jeans mit T-Shirt.

Manchmal denke ich, dass ich wirklich die Einzige bin, die vom Winter so sehr verzaubert wird, dass ich ihn mir jede Nacht ansehen muss.

Ich liebe den Winter. Während in den letzten Monaten des Jahres alles verwelkt und langsam stirbt, verwandelt der Schnee diese graue Welt innerhalb weniger Stunden in ein Winter Wunderland.

»Was ist los?«, will ich wissen, als ich Tims sehnsüchtigen Blick über die Hütten und Schneeberge wandern sehe.

»Das Meer trägt heute flache Wellen. Wollen wir nachher noch schnorcheln gehen, Lil?«

»Ich denke, ich würde im Bikini erfrieren«, weiche ich aus, da Schwimmen nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung ist.

»Wie hältst du das nur aus? Ewiger Winter, die Kälte, das Frieren. Und dann noch langweilige, zugeschneite Dörfer …«

»Du siehst es doch gar nicht. Ich finde es wunder -«

»Ja, ja. Jedes Mal dieselbe Diskussion. Ich bleibe lieber an meinem Strand mit den paar Holzhütten, die nur Strohdächer brauchen, weil es sowieso nie regnet. Und jeden Tag kann ich im warmen Wasser schwimmen gehen.« Ein kleines Bisschen verlockend klingt es schon, aber ich zucke gleichgültig mit den Schultern. »Weicher, warmer, weißer Sand«, schwärmt Tim weiter, bückt sich und lässt einen Teil seines Traumbodens aus seiner Hand rieseln. Doch noch bevor der Sand den Boden berührt, verwandelt er sich wieder in Schneeflocken.

Ich bleibe vor Docs Tür stehen. »Ich muss zugeben, ein bisschen Flair hat es vielleicht.«

»Ich bitte dich, Lil! Ein bisschen? Das ist das Paradies auf Erden.«

»Aha«, meine ich und blicke mich misstrauisch um. »Bin ich etwa gerade an einem FKK-Strand?«

»Und das direkt vor meiner Haustür?«, fragt Doc gespielt entsetzt. Seine grauen Haare stehen in alle Richtungen ab und sein kariertes Hemd spannt über seinem Bauch. »Ich dachte mir doch, dass ich Stimmen gehört habe. Kommt rein, kommt rein!«

Doc schlurft leicht gebückt voran. Hastig räumt er einige Bücher und Messgeräte vom Sofa. »Eigentlich wusste ich, dass ihr heute kommt. Ich hätte schon früher aufräumen sollen …«

»Woher wusstest du das?«, fragt Tim und lässt die Tür zufallen. Dann stößt er wie so oft mit dem Kopf gegen eine der tief herabhängenden Lampen. Ihr Lichtschein wackelt von einer Wand zur nächsten und ich befürchte schon, dass sie herunterfallen könnte, doch Tim hält die Lampe fluchend fest.

»Im Durchschnitt kommt alle 7,83 Tage jemand von euch beiden vorbei. Da seit eurem letzten Besuch schon zwei Wochen vergangen sind, habe ich mit euch beiden gerechnet. Euer Durchschnitt liegt jetzt übrigens bei 7,9«, berichtet Doc und lässt einen seiner Hosenträger bedeutungsvoll schnalzen.

Obwohl mir sein Vorwurf nicht entgangen ist, muss ich grinsen. Doc ist einfach schrullig. Ich meine das überhaupt nicht im negativen Sinn. Er ist vielleicht etwas verrückt und seltsam, aber auch freundlich, aufgekratzt und genial.

»Tut mir leid, dass es hier so stickig ist. Ich öffne sofort ein Fenster.«

»Doc, du hast schon seit dem Experiment mit den Nachtfaltern keine Fenster mehr.« Ich erinnere mich noch genau daran, dass Doc Nachtfalter herstellen wollte, die sich nicht an falschen Lichtquellen orientieren. Er hat es schließlich auch geschafft, aber ob es in der Realität genauso einfach gewesen wäre, den Nachtfaltern diese Eigenschaft abzugewöhnen, bleibt fraglich.

»Stimmt.« Doc schüttelt etwas verwirrt den Kopf. »Irgendwie habe ich mich so an die Dunkelheit gewöhnt, dass ich das vollkommen vergessen habe. Nun ja, ohne Fenster kann man wenigstens nicht beobachtet werden. Setzt euch, setzt euch!«

Tim lässt sich wie ein nasser Sack auf das Sofa fallen und ich klettere auf einen weißen Barhocker.

Doc kämpft sich durch das Zimmer. An Regalen entlang, um Bücherstapel herum, an Mikroskopen vorbei, bis hin zu einer Herdplatte, die ziemlich wackelig auf einer Liege steht. Von irgendwo zaubert Doc einen alten Teekessel herbei.

Ich starre angewidert in den Glaskasten vor mir, in dem unzählige Moskitos auf ihren Einsatz warten. An einer Stelle befindet sich eine Klappe in der Vitrine, sodass Doc in den Kasten hineingreifen kann. Glücklicherweise schließt sich ein feiner Netzhandschuh an das Loch an, sodass Doc den gesamten Kasten abtasten kann, ohne dass die Mücken hinausfliegen können. Ganz sanft klopfe ich gegen die Glaswand und schrecke entsetzt zurück. Tausend – nein: Millionen – Moskitos flattern plötzlich von ihren Ruheplätzen hoch.

»Wie ekelhaft!« Mein Magen kribbelt plötzlich und es breitet sich eine leichte Übelkeit in mir aus, sodass ich dem Kasten schnell den Rücken zudrehe. Tim grinst mich schief an.

»Versteckst du dich etwa vor den Mücken?«

Als ich an mir hinabblicke, hat sich mein Körper in Luft aufgelöst. Ich fühle mich noch und bin zu hören, doch ich blicke einfach durch mich hindurch auf die Fliesen. Das ist noch ein Unterschied zwischen normalen Menschen und uns Dreamern. Alle Dreamer besitzen eine Gabe, die wir auch in der realen Welt einsetzen können. Ich kann mich unsichtbar machen. Natürlich könnte sich Tim hier im Traum auch einfach in Luft auflösen, doch in der realen Welt bin ich die Einzige, die das kann. Seine Gabe ist aber auch ziemlich nützlich, denn er kann Wunden heilen. So ganz genau weiß er bestimmt selbst nicht, was er alles heilen kann, aber bisher konnte er noch jede Verletzung, die ich mir zugezogen habe, ungeschehen machen.

Tatsächlich sind nicht alle Gaben so spektakulär wie unsere. Doc hat uns zum Beispiel einmal verraten, dass er unglaublich schnell schreiben kann. Als ich es sah, war ich fasziniert – tauschen wollte ich trotzdem nicht.

»Wie sieht es eigentlich mit deinem Mückenstich-Mittel aus?«, frage ich. In meiner Magengrube breitet sich wieder das gewohnte Kribbeln aus, bevor es von einer kurzen Welle der Übelkeit abgelöst wird und ich wieder sichtbar bin.

»Prächtig. Hier funktioniert es wunderbar und ich teste es gerade noch in der realen Welt. Ich bin mir dieses Mal hundertprozentig sicher, dass es funktionieren wird«, erzählt er, während er einige Tassen hervorkramt und in einer alten Blechdose nach Teebeuteln sucht.

Der Teekessel pfeift und ich stehe auf, um ihn von der Herdplatte zu nehmen. Doc scheint heute etwas zerstreut zu sein, was ich nicht von ihm gewohnt bin. Er stellt mir die Tassen hin, behält aber die Teebeutel fest in der Hand, während er verschiedene Schubladen aufzieht, hineinblickt und sie wieder schließt.

»Doc, gibst du mir die Teebeutel?«

»Oh, ja natürlich.«

Ich nehme sie entgegen, überbrühe den Tee und setze mich zu Tim, während Doc immer noch seine Schränke durchwühlt. »Hat jemand von euch beiden zufällig einen Mückenstich?«

»Ich glaube, in der Stadt sind die Mücken ausgestorben. Ich hatte schon seit Jahren keinen Stich mehr.«

Als ich zu dem schwarzen, sich ständig bewegenden Mückenschwarm im Glaskasten blicke, bin ich froh, dass Mum an allen Fenstern Fliegengitter befestigt hat.

»Wie schade, dann wird mein Mittelchen wohl kaum ein Verkaufsschlager.« Doc holt die Teebeutel viel zu früh wieder heraus und drückt uns dann jeweils eine Tasse in die Hand. »Für Tim Himbeere und für dich Kirsche. Aber ich muss euch trotzdem meine Erfindung zeigen – ihr seid mir doch deswegen nicht böse? Manchmal denke ich, ich gehe anderen Leuten damit auf den Geist.«

»Solange ich dafür wieder Bio-Nachhilfestunden bekomme, sehe ich mir stundenlang deine Erfindungen an.«

»Sei doch nicht albern, Tim. Du kannst jederzeit zu mir kommen.« Doc kramt nun in einer Kiste, während wir ihn gespannt beobachten. Doch er findet nicht, wonach er sucht. Er dreht die Kiste auf den Kopf, sodass der komplette Inhalt auf den Boden fällt.

»So ein Mist! Das gibt es doch nicht. Wo habe ich es denn?«, flucht er. Dann durchsucht Doc die nächste Schachtel. Unablässig durchwühlt er seine Sachen, während er sich immer wieder an der kleinen, haarlosen Stelle am Hinterkopf kratzt. Tim und ich werfen uns verwirrte Blicke zu.

»Brauchst du Hilfe?«, frage ich schließlich.

»Ich habe die Creme in ein Döschen gefüllt, aber jetzt ist es weg. Schau mal bitte dort drüben, Lilo!«

Ich stehe auf und durchwühle eine große Pappkiste. Es sieht aus, als wäre Doc frisch hier eingezogen. Es stehen mehr Kisten als üblich herum und darin befinden sich neben Küchenutensilien Shampoo-Flaschen und Socken.

»Warum hast du hier so viel Zeug?«

»Ähm, gute Frage. Ich habe heute einige Dinge von meiner Wohnung in meine Praxis transportiert. Irgendwie müssen die Sachen dabei auch in meine Träume gelangt sein … Da ist es ja«, ruft Doc plötzlich. Mit leuchtenden Augen winkt er mich zurück zum Sofa. Ich rücke gespannt näher zu Tim, um das Cremedöschen betrachten zu können. Auf dem rosafarbenen Metall ist Winnie-Puuh abgebildet.

Während ich versuche, mir ein Kichern zu verkneifen, grinst Doc wie ein Honigkuchenpferd.

»Aber das ist doch Handcreme?«, fragt Tim mit hochgezogener Augenbraue.

»Na ja, ich habe es bisher nur für die Hände genommen, aber wenn du am Hintern einen Stich hast, hilft es bestimmt auch.« Doc dreht den Deckel ab. Die Creme ist nicht – wie ich erwartet habe – weiß, sondern lilafarben.

Misstrauisch sehe ich Doc an, der entschuldigend mit den Schultern zuckt. »Ich habe Lebensmittelfarbe benutzt, um sie etwas interessanter wirken zu lassen.«

»Lebensmittelfarbe?« Dreht Doc jetzt vollkommen durch?

»Ein bisschen zu viel vielleicht.«

»Das ist also die Anti-Stiche-Paste?« Tim nimmt die Dose in die Hand und hebt sie prüfend unter die Nase. Er verzieht das Gesicht. »Die stinkt ja abartig!«

»Tim, ich bitte dich. Das riecht nach Lavendel. Meine Frau liebte Lavendel. Und hör auf, meine Erfindungen zu benennen! Anti-Stiche-Paste gefällt mir nicht.«

Doc läuft zum Glaskasten hinüber und öffnet die Klappe. Angeekelt und gefesselt zugleich starre ich zu ihm hinüber, während er mit einer Hand in den Kasten hineingreift. In Sekundenschnelle ist von Docs Hand nichts mehr zu sehen. Als hätten die Mücken frisches Blut gerochen, stürmen sie auf seine Finger zu. Obwohl ich weiß, dass Doc und die Mücken durch das feine Netz voneinander getrennt sind, überläuft mich ein eisiger Schauer.

Tim sitzt stocksteif neben mir.

»Jetzt stechen sie mich«, berichtet unser alter Freund.

»Ach echt? Das habe ich mir beinahe gedacht«, flüstert Tim, doch seine Stimme dringt nicht bis zu ihm hinüber.

Doc schüttelt seine Hand, um den tollwütigen Mückenschwarm loszuwerden, befestigt die Klappe wieder, hüpft aufgeregt zu uns herüber und hält uns dann seine Hand vor die Nase.

Unwillkürlich lehnen wir uns beide nach hinten. Wie im Zeitraffer wachsen kleine rote Hügel auf seiner Haut. »Tim, schmiere mir jetzt die Salbe über die Stiche!«, verlangt Doc.

Tim verzieht das Gesicht, greift dann aber trotzdem brav in die Winnie-Puuh-Dose.

»Die Salbe wirkt sofort. Ihr werdet sehen: Meine Hand wird so heil sein wie vor fünf Minuten.« Noch während er spricht, dreht er uns den Rücken zu und stolpert zu einem Waschbecken, das sich, als wir gekommen sind, mit absoluter Sicherheit noch an einer anderen Stelle befunden hat.

Tim und ich werfen uns misstrauische Blicke zu. Wir denken beide, dass Docs neuste Erfindung vielleicht hier, jedoch niemals in der realen Welt funktionieren wird.

Ich höre ein Pfeifen, dann platschendes Wasser.

»Ha!«, nuschelt Doc und dreht den Wasserhahn wieder zu. »Kein einziger Stich mehr.« Er strahlt über das ganze Gesicht.

In diesem Moment klopft es an der Tür und Doc zuckt überrascht zusammen.

»Ganz schön was los heute!«, flüstert er und geht hinüber zum Eingang in die Zwischenwelt. »Ach, guten Tag, Manuel. Komm rein! Deine Kinder sind auch gerade zu Besuch. Habt ihr euch abgesprochen?«

Von meinem Vater habe ich nicht nur die haselnussbraunen Haare und die hellblauen Augen, sondern auch das Dreamer-Gen geerbt. Früher kam er jede Nacht in meine Kathedrale, um mir diese Welt zu erklären. Obwohl mein Vater nach der Beziehung mit Tims Mutter nach Aachen zog, besucht er mich regelmäßig in der Traumwelt und ich weiß, dass er auch immer mal wieder bei Tim vorbeischaut. Obwohl Dad nicht sein leiblicher Vater ist, hat er sich doch immer um ihn gekümmert.

Dad betritt den Raum und begrüßt uns freudestrahlend. »Alles gut bei euch beiden? Lange nicht mehr gesehen, Tim! Wie steht es mit dem Computerspiel, das du programmieren willst?« Dad setzt sich zu uns und ich stelle die Berliner auf den Tisch. Während wir das süße Gebäck aufessen, erzählt Tim von seinen neusten Ideen zu seinem Herzensprojekt, über das Doc nur den Kopf schüttelt.

»Dafür bin ich zu alt«, wiederholt er immer wieder.

Mein Vater hingegen ist Feuer und Flamme, bis ihm wieder einfällt, weswegen er eigentlich zu Doc gekommen ist. »Lass uns doch ein anderes Mal etwas ausführlicher darüber reden, Tim. Ich habe etwas Beunruhigendes erfahren und wollte mit Doc darüber sprechen.«

 

 

3. Kapitel

»Heißt das, wir sollen gehen?«, hake ich zögerlich nach.

»Nein, ihr könnt ruhig hierbleiben. Ein Freund schickt mich zu allen Freunden und Bekannten, die ich hier in der Traumwelt habe. Irgendetwas passiert in unseren Träumen, das wir noch nicht verstehen.«

»Kannst du ein wenig genauer beschreiben, was du meinst? Immerhin ist es ein Mysterium an sich, dass wir Dreamer bewusst träumen können«, verlangt Doc und kratzt sich einmal mehr an seiner kahlen Stelle.

»Na ja … viel weiß ich tatsächlich nicht. Uns ist zu Ohren gekommen, dass sich einige Dreamer plötzlich anders verhalten als zuvor. Ich habe von introvertierten Menschen gehört, die plötzlich unzählige Freundschaften knüpfen. Jedoch genauso von Dreamern, die auf einmal überhaupt keinen Kontakt mehr zu ihren Freunden pflegen.« Mein Vater zuckt etwas hilflos mit den Schultern. »Mein Bekannter konnte noch keine Parallelen in den Verhaltensweisen feststellen. Aber er bemerkte, dass es sich wie ein Virus auszubreiten scheint. Als könnte man sich bei anderen anstecken …«

Tim und ich tauschen misstrauische Blicke.

»Aber alles, was wir sehen und erleben ist doch allein von unserer Vorstellungskraft abhängig. Ich kann in einem Moment todsterbenskrank sein und im nächsten topfit. Wie soll ich mich da ernsthaft mit einem Virus anstecken?«, frage ich geradeheraus. »Wie gesagt: Wir verstehen es noch nicht, sondern versuchen gerade nachzuvollziehen, bei welchen Dreamern dieses Phänomen auftaucht und wie plötzlich. Doc, ich wollte dich davor warnen, da du doch recht viele Kontakte zu anderen Dreamern pflegst. Womöglich ist es besser, diese ein wenig einzuschränken, bis wir wissen, was genau vor sich geht.«

Doc nickt, woraufhin mein Vater Tim und mich anvisiert. »Ich weiß, ihr kennt nicht so viele Dreamer wie Doc oder ich, aber womöglich wäre es besser, wenn auch ihr jeweils in euren eigenen Traumwelten bleibt.«

»Aber ich brauche die Nachhilfestunden bei Doc!«, widerspricht Tim lautstark.

»Könnt ihr das nicht tagsüber machen? Doc wohnt doch nur ein paar Kilometer von euch entfernt.«

»Pff!« Tim bläst seine Wangen auf. Es ist deutlich, dass er lieber die Zeit in seinen Träumen mit Biologie verbringt, als die wenigen Stunden, die er abends nach der Schule für sich hat. Doc jedoch hat nichts dagegen und schreibt ihm seine Adresse auf. So schnell gibt sich Tim allerdings nicht geschlagen. »Ich habe nachts viel mehr Zeit zum Lernen. Doc und ich treffen uns dann immer vier Stunden am Stück. Das wäre tagsüber überhaupt nicht denkbar«, behauptet er. »Außerdem treffe ich mich ja nur mit dir, Lilo und Doc. Was soll da schon passieren?«

Mein Vater atmet tief durch. »Na schön. Bisher war noch niemand der betroffenen Personen aus unserem Bekanntenkreis. Sollte sich dieser Virus allerdings auch in unserem Dunstkreis ausbreiten, bleibt ihr bis auf Weiteres in euren Traumwelten.«

Dad sieht mich ernst an, doch im selben Moment spüre ich eine überwältigende Leichtigkeit in mir aufsteigen. Ich fühle mich so leicht, als würde ich fliegen. Erschrocken werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr.

Es ist bereits sieben Uhr am Morgen.

Obwohl ich das Gefühl, das mich erfüllt, sehr gut kenne, ist es etwas, das nicht sehr oft vorkommt. Es bedeutet, dass ich geweckt werde. Normalerweise entscheide ich selbst, wann ich wach werde, und dann habe ich dieses Gefühl nicht.

Es kommt mir vor, als würde ich in lauter kleine Lichtpunkte zerfallen, die langsam, aber sicher in den Himmel aufsteigen. Um mich herum wird es immer heller und heller. Ich sehe gerade noch Dad, der begreift, dass ich aus der Welt der Träume gerissen werde, dann ist um mich herum nur noch Licht.

Tatsächlich ist es meine Mutter, die mich an diesem Samstagmorgen um sieben Uhr aus dem Schlaf reißt. Die Kaffeemaschine hat den Geist aufgegeben und offensichtlich hilft weder gut zureden noch Mums laute Schläge gegen das Gehäuse, sie wieder in Gang zu bringen. Etwas zerknirscht schiebe ich ihr unsere French Press hin.

»Darauf kann man sich immer verlassen«, sage ich leichthin, bevor ich im Wohnzimmer den großen Tisch für das Frühstück eindecke.

Mum – immer noch in Jogginghose – stellt ein Tablett mit Brotaufstrichen auf den Tisch und schenkt mir Tee ein. »Schläft Tim noch?«, fragt sie. Sie klingt immer noch wie eine heisere Katze.

»Nein, tut er nicht mehr«, antwortet er für mich. In Boxershorts und T-Shirt steht er vor uns und grinst, als ob er gerade im Lotto gewonnen hätte.

Mum schüttelt nur den Kopf, dann frühstücken wir in Ruhe, bevor sie sich wieder in ihr Schlafzimmer zurückzieht. Auch Tim verabschiedet sich direkt nach dem Essen von mir und so habe ich genügend Zeit, mich in meine Projektarbeit zu stürzen.

Gegen vierzehn Uhr werde ich jedoch unterbrochen, als es an unserer Wohnungstür klingelt. Schwerfällig öffne ich Christian Gassner, der guten Seele unserer Nachbarschaft. Er wohnt mit seiner Frau unter uns und engagiert sich für ein angenehmes Miteinander. Beinahe jeden zweiten Monat organisiert er irgendein Nachbarschaftsfest oder ein Grillen auf der Straße, sodass ich die meisten unserer Nachbarn kenne.

»Guten Tag Lilo, ich hoffe, ich störe nicht. Kannst du unseren neuen Nachbarn beim Hochtragen helfen? Sie brauchen dringend etwas Unterstützung.«

Eigentlich habe ich keine Lust darauf, Kisten durch die Gegend zu schleppen – aber wenn es wirklich um die Wohnung gegenüber geht und der Typ von gestern einzieht … Entschlossen schlüpfe ich in meine Sneakers und gehe hinunter auf die Straße. Zwischen den Häusern steht ein kleiner Transporter, dessen Hecktüren weit geöffnet sind. Christian und ich schlängeln uns an mehreren unterschiedlich großen Kartons und Möbelstücken vorbei. Christian nimmt mit einem anderen Mann aus unserem Haus das Ledersofa in Angriff. Gemeinsam heben sie den Zweisitzer an und quetschen ihn durch die Haustür. Ich nehme mir einen Karton und folge dem Sofa im Schneckentempo die Treppe hinauf. Im dritten Stockwerk stellen die Männer erschöpft ihre Last ab und lassen sich erst einmal auf die Polster fallen, während ich über ihre Füße hinwegtänzele.

»Gib mir das, ich räume es gleich weg.«

Ich drehe mich überrascht um.

Wow! Was für ein Türkis! Wie das flache Wasser vor einer Südseeinsel. Noch nie in meinem Leben habe ich so faszinierende Augen gesehen. Ich bin unfähig, irgendetwas anderes zu denken. Nur: Wow! Ich bin wie gelähmt. Meine Hände krallen sich an der Kiste fest. Das Einzige, das sich an mir bewegt, ist mein Unterkiefer, der gegen meinen Willen Richtung Boden sackt. Sogar mein Herz hört für einen winzigen Augenblick auf zu schlagen, bis es sich erinnert, dass es gar nicht anhalten darf. Dann macht es zwei Hüpfer, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen.

Nur Luft bekomme ich immer noch keine, sodass mir leicht schwindelig wird.

»Hi, ich bin Philipp. Und … Geht es dir gut?«, will der Typ mit zusammengezogenen Augenbrauen wissen. »In der Küche steht Wasser, wenn du etwas trinken möchtest.«

»Äh … Danke. Ich heiße Lilo«, sage ich tonlos und gefühlt nach einer Minute. Ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt. Ich wäre gerne schlagfertig, um mich irgendwie lässig aus dieser Situation zu retten, aber das bin ich nicht. Ich kann auch nicht besonders gut lügen. Also reiße ich mich irgendwie von seinem Blick los und mustere stattdessen sein weinrotes T-Shirt, auf dem irgendeine abstrakte Figur abgebildet ist. Endlich kann ich wieder freier atmen. Ich drücke ihm den Karton in die Hand und fliehe in die Küche.

Ich schüttele den Kopf, um wieder zu mir zu kommen. Mann, wie peinlich! Aber seine Augen sind der Wahnsinn! Obwohl ich keinen Durst habe, trinke ich ein paar Schlucke, danach helfe ich Christian, das Sofa ins Wohnzimmer zu schieben, und schleppe mindestens acht weitere Kisten in die Wohnung. Um nicht wieder an Philipps Blick hängenzubleiben, weiche ich ihm geschickt aus. Dafür betrachte ich ihn heimlich eingehender. Er ist recht blass, als hätte er im gesamten Sommer keine Sonne gesehen, ungefähr dreißig Zentimeter größer als ich, und wenn er lächelt, bilden sich auf beiden Seiten Grübchen. Doch er zieht nicht allein in die Wohnung ein. Ihn begleitet Lisa, die leider viel zu jung ist, um seine Mutter sein zu können.

Sobald Lisa und ich die letzten Regalbretter im Wohnzimmer ablegen, ruft sie Philipp, Christian und die beiden anderen fleißigen Nachbarn zu uns.

»Vielen lieben Dank! Ohne euch hätten wir bestimmt noch bis spät in die Nacht gebraucht.«

»Ist doch kein Ding!«, behauptet Christian.

»Wir würden euch gerne als Dankeschön heute Abend gegen acht Uhr zum Essen einladen, bringt gern eure Familien mit!«, verkündet Philipp.

Wir bedanken uns und auf dem Weg nach Hause fragt mich Christian, ob wir uns dann später sehen.

Meine Enttäuschung darüber, dass Philipp wohl schon vergeben ist, lässt mich zögern. »Ich weiß noch nicht.«

Christian nickt verständnisvoll. »An einem Samstagabend hast du bestimmt schon etwas anderes vor, aber es wäre doch schön, die neuen Nachbarn näher kennenzulernen.«

»Tatsächlich bin ich noch nicht verplant«, gebe ich kleinlaut zu. Und wer weiß … vielleicht wird der Abend ja ganz nett. Außerdem brauche ich keinen attraktiven Grund auf zwei Beinen, um mit meinen Nachbarn zu Abend zu essen.

***

Nachdem wir uns kurz frisch gemacht haben, treffe ich mich mit Christian und seiner Frau Sandra vor deren Wohnungstür im zweiten Stock. Christian hört erst auf, von dem Nachmittag zu erzählen, als er bei Ottermann klingelt. Die Tür wird geöffnet, ohne dass nach unseren Namen gefragt wird.

Lisa Ottermann begrüßt uns mit einem steinernen Lächeln. Ihre großen braunen Augen fixieren neugierig unsere Gesichter. Für einen winzigen Moment gleitet ihr Blick an uns hinunter, doch dann schaut sie uns sofort wieder ins Gesicht.

»Schön, dass ihr da seid. Kommt herein!« Sie wirft ihre braunen Ringellöckchen über die zimtfarbene Schulter, die von ihrem Top freigelassen wird. Am Mittag, als sie noch keine hautenge Jeans und Stöckelschuhe getragen hat, war sie mir anders vorgekommen. Nicht so … eingebildet. Sie hält uns die Tür auf, während sie uns immer noch angrinst. Als hätte sie jemand dazu gezwungen, uns einzuladen.

»Wir haben euch etwas mitgebracht«, flötet Sandra. Mit dieser Stimme habe ich sie noch nie zuvor sprechen gehört. Spürt sie auch die Abneigung, die Lisa in diesem Moment uns gegenüber ausstrahlt?

Lisa nimmt das Schwarzbrot und das Salz dankend entgegen. »Ihr seid die Ersten. Geht doch schon einmal ins Wohnzimmer, aber schaut euch bloß nicht in diesem Chaos um.« Lisas Stimme klingt aufgesetzt. Beinahe so, als würde sie uns viel lieber wieder aus dem Haus werfen, als uns hineinzubitten. Ist sie unsicher? Oder einfach nur gestresst? So richtig kann ich ihr Verhalten nicht einordnen.

»Kein Stress«, sage ich daher beschwichtigend, als sie uns zum Wohnzimmer geleitet. »Wir haben ja schließlich unseren Beitrag zum Chaos geleistet, nicht wahr?«

Lisa lacht. Und ich glaube, dass ihr Lachen tatsächlich echt ist und es ihr etwas von ihrer Anspannung nimmt. »Da ist wohl etwas Wahres dran.«

Während Lisa die Geschenke in die Küche bringt, gehen wir ins Wohnzimmer. Auf dem Boden liegen zwei Matratzen und einige Kissen. An der Wand stehen die meisten Umzugskisten fein säuberlich übereinandergestapelt und vor dem Fenster hat das helle Ledersofa seinen Platz eingenommen.

Christian setzt sich auf eines der Bodenkissen und lehnt sich gegen die Kartonwand, als es erneut klingelt und die anderen beiden Helfer mit ihren Familien hereinkommen. Ich sehe gerade noch, wie Lisa mit wehendem Oberteil durch den Flur stürmt.

»Eine Stunde, maximal«, flüstert Sandra ihrem Mann zu. Wir lassen uns neben Christian nieder und beobachten die neuen Gäste. Sie scheinen mit Lisas Persönlichkeit ebenfalls überfordert zu sein. Ich beschließe zu gehen, sobald Sandra und ihr Mann den Rückzug antreten.

Christian beginnt ein Gespräch, das von allen Anwesenden dankbar angenommen wird. Nach kurzer Zeit taut auch Lisa allmählich auf. Zwar ist sie immer noch schüchtern und redet kaum, doch sie wirkt nicht mehr so steif wie am Anfang.

Endlich betritt auch Philipp den Raum. Seine türkisfarbenen Augen fesseln mich. Ich kann mich nicht mehr bewegen, sondern starre ihn an wie ein Reh im Scheinwerferlicht.

Er grüßt uns kurz und öffnet einige Kartons, bis er eine Bluetoothbox findet und Musik abspielt. Allmählich löst sich die angespannte Stimmung und ich bin in der Lage, meinen Blick von meinem neuen Nachbar abzuwenden und stattdessen locker mit den anderen Gästen zu plaudern.

Lisa holt Gläser aus einer Kiste in der Küche und verteilt sie an die Anwesenden, während ich hinter ihr herlaufe und Limo oder Wasser in die leeren Gläser fülle. Um halb acht kommen schließlich die Pizzen. Sie verschwinden im Nu in den leeren Bäuchen der Gäste, und nachdem ich kein vegetarisches Stück mehr ergattern kann, geselle ich mich wieder zu Christian und Sandra.

»Wie lange bleibt ihr noch?«, frage ich die beiden.

»Hm … ich denke, wir werden so langsam aufbrechen«, antwortet Sandra wie erhofft.

»Wie? Ihr wollt schon gehen?« Unser Gastgeber kommt zu uns herüber.

Sofort schießt mir die Hitze ins Gesicht. Ich fühle mich ertappt.

»Ich bin Busfahrerin und muss morgen wieder früh arbeiten«, entschuldigt Sandra sich.

»Kann ich, bevor wir gehen, noch einmal kurz eure Toilette benutzen?«, hakt Christian ein.

»Klar, links neben dem Eingang ist das Badezimmer.«

Als Christian uns verlässt, entsteht zwischen uns Dreien ein dickes Schweigen.

Ich starre die weißen Wände an, während ich nach einem Gesprächsthema suche. »Und … ähm … werdet ihr hier noch streichen?«

Philipp lächelt, sodass seine Grübchen kurz zu sehen sind. »Ja, auf jeden Fall! Lisa liebt Farben, also war das eigentlich nie wirklich eine Frage für uns.«

Ich betrachte gespielt interessiert die Wände, um ihm nicht ins Gesicht blicken zu müssen.

»Habt ihr noch Zeit für einen kleinen Rundgang? Dann könnte ich euch zeigen, was wir uns vorgestellt haben.«

Sandra zuckt mit den Schultern. »Warum nicht.«

Als erstes führt uns Philipp in Lisas Zimmer. »Meine Schwester will auf dieser Seite einen Farbverlauf malen. Am liebsten im Aquarell-Look. Dafür müssen wir aber erst einmal die Raufasertapete runtermachen.«

Seine Schwester? Zwischen einer Ameise und einem Marienkäfer hätte ich mehr Ähnlichkeiten entdeckt als zwischen Philipp und Lisa.

Doch diese Neuigkeit lässt mein Herz etwas schneller schlagen. Was ist nur mit mir los? Ich bin doch eigentlich niemand, der so leicht in Schwärmereien verfällt. Ich kenne diesen Kerl doch überhaupt nicht!

»Das klingt nach ganz schön viel Arbeit.«

»Lisa ist Künstlerin. Sie arbeitet den ganzen Tag mit Farben und Pinseln. Am Ende sieht es bestimmt genial aus.«

Ich gehe hinüber zu zwei Farbeimern. In einem ist weiße und in dem anderen dunkelgrüne Farbe.

»Dunkelgrün?«, frage ich.

»Ja, sie stellt es sich wie einen Nebelwald vor. Ich bin sehr gespannt, wie es aussieht, wenn sie fertig ist.«

»Und welche Farbe haben die Möbel?«

»Ausschließlich weiß. Im Prinzip richtet sie ihr Zimmer immer gleich ein.«

»Dann seid ihr wohl schon oft umgezogen«, vermute ich.

»Sie, ja. Sie zieht eigentlich alle paar Jahre um, um als Künstlerin bekannter zu werden«, erklärt er uns.

»Und du?«, will ich wissen. Ich hoffe, es klingt einigermaßen beiläufig. »Beginnst du dieses Semester dein Studium in Aschaffenburg?«

»Ähm … nein, ich gehe noch zur Schule. Ist jedoch das letzte Jahr.«

»Warum wohnst du dann nicht bei deinen Eltern?«, fragt Sandra irritiert.

»Bei Lisa habe ich mehr Freiheiten«, antwortet er knapp. »Gehen wir weiter?«

Es ist offensichtlich, dass er nicht näher darauf eingehen möchte, also stimmen wir zu und betreten mit ihm den Raum, durch den ich mein Zimmer auf der anderen Straßenseite sehe.

»Das wird mein Zimmer.«

»Noch ein Kunstprojekt?« Sandra läuft zwei Schritte in den Raum und blickt sich um. In der Mitte stehen zwei Umzugskisten und ein Gitarrenkoffer.

Philipp schüttelt den Kopf. »Es wird einfach nur dunkelbraun.«

Ich muss lachen. »Komplett dunkelbraun?«

Überrascht sieht er mich mit großen Augen an, als hätte ich ihm einen Schlag ins Gesicht verpasst. »Was ist daran so lustig?«

Der Blickkontakt besteht einen Moment zu lange. Ich muss schlucken und mich von diesem Anblick wegreißen. »Das wird doch viel zu dunkel …«

»Ich habe kein so gutes Gefühl für Farben wie Lisa, aber mir gefällt Dunkelbraun.«

»Vielleicht solltest du vorsichtshalber erst einmal nur eine Wand streichen«, rate ich ihm.

»Hm … Vielleicht hast du ja recht und ich entscheide morgen nach einer Wand, dass es mir reicht.«

»Ich habe morgen noch nichts vor und könnte dir helfen«, biete ich ihm an, bevor ich überhaupt darüber nachgedacht habe. Als mir bewusst wird, dass ich mich ihm gerade regelrecht aufdränge, schießt mir das Blut in die Wangen und ich blicke schräg an ihm vorbei, als würde ich etwas anderes betrachten.

Überrascht zieht er seine Augenbraue in die Höhe. »Klar, nett von dir! Warum nicht? Komm einfach um neun rüber, wenn du Bock hast.«

»Wollen wir noch einmal in die anderen Zimmer schauen?«, wirft Sandra ein und wir kehren über die Küche ins Wohnzimmer zurück.

»Möchtet ihr vielleicht doch noch etwas trinken?«

Sandra und ich schütteln gleichzeitig den Kopf.

»Ich denke, wir werden jetzt gehen«, setzt Sandra fest. Christian steht am Fenster. Neben ihm Lisa. Sie lacht und wirft ihre Löckchen über die nackte Schulter. Beide haben eine Bierflasche in der Hand und Christian schiebt sich gerade eine kleine Karte in die Hosentasche. Sandra runzelt missbilligend die Stirn und stampft dann zielstrebig auf Christian zu. Wir verabschieden uns und sobald die Haustür hinter uns zufällt, beginnt Sandra zu schimpfen. »Ich habe doch gesagt, dass ich früh aufstehen muss.«

»Ich weiß, aber als ich von der Toilette kam, wart ihr gerade mit Philipp ins Gespräch vertieft. Und da hat mir Lisa noch ein Bier angeboten«, verteidigt sich Christian.

»Und da hast du dir gedacht, dass das die perfekte Gelegenheit ist, mit einer mindestens zehn Jahre jüngeren Frau zu flirten?«

»Ernsthaft? Ich habe nicht geflirtet! Wir haben uns höchstens angeregt unterhalten – mehr nicht!«

Sandra lacht schrill und entrüstet.

Am liebsten hätte ich mich unsichtbar gemacht, doch das ist vor Nicht-Dreamern natürlich eine bescheuerte Idee. Und so fliehe ich vor ihnen, bevor sie mich als Schiedsrichterin in ihren Streit einbinden können. Leider höre ich ihre Stimmen auch in unserer Wohnung noch durch den Boden zu mir heraufdringen.

»Du bist schon wieder zurück?«

Erschrocken zucke ich zusammen.

»Ja, ich lebe noch hier«, sagt Mum, die an ihrem Laptop in der Küche sitzt.

»Ich war in Gedanken.«

»Wie war es bei den neuen Nachbarn?«

»Ging so.« Ich betrete mein Zimmer und will gerade das Licht einschalten, als ich mich beobachtet fühle. Täusche ich mich oder steht Philipp drüben auf der anderen Seite?

 

 

4. Kapitel

Einen Moment lang bleibe ich ganz stillstehen. In seinem Zimmer rührt sich nichts. Stattdessen sehe ich ihn im Nachbarraum bei den anderen Gästen. Ich muss mich getäuscht haben. Mit einem komischen Gefühl in der Magengegend ziehe ich den Vorhang zu, bevor ich das Licht einschalte.

Am nächsten Morgen klingelt mein Wecker um kurz vor halb neun – und das an einem Sonntag. Tim und ich waren gerade auf dem Gipfel eines Berges angekommen und ich wollte die Aussicht genießen, als der Wecker mich zurück in die reale Welt holte.

Vielleicht wäre ich länger liegen geblieben, doch allmählich sickern die Erinnerungen an gestern Abend durch meinen müden Verstand.

Plötzlich sitze ich kerzengerade im Bett. Allein der Gedanke daran, Philipp in einer halben Stunde wiederzusehen, löst in mir ein Glücksgefühl aus, das mich dazu bringt, schwungvoll aus dem Bett zu springen und meinen Schrank nach etwas Geeignetem zum Anziehen zu durchwühlen. Tatsächlich besitze ich weniger Kleider als die meisten meiner Mitschülerinnen – bei den Jungs bin ich mir nicht so sicher. Es tut mir in der Seele weh, dass ich mir heute beim Streichen irgendetwas von meinen Lieblingssachen ruinieren könnte. Was hat mich gestern geritten, diesem Kerl meine Hilfe anzubieten? Da müssen irgendwelche Hormone mit mir durchgegangen sein. Und das alles nur wegen seiner türkisfarbenen Augen? Krieg dich mal wieder ein, Lilo!Dennoch bleibt meine gute Laune, sodass ich noch in meinen Schlafsachen, aber voller Energie den Vorhang beiseite ziehe, um die Sonne zu begrüßen. Als ich auf der anderen Seite Philipp stehen sehe, ziehe ich ihn ruckartig wieder zu.

Wie peinlich! Wahrscheinlich ist mein Schädel gerade so rot wie eine Tomate. Hat er mich gesehen? Mann, natürlich hat er mich gesehen! Bestimmt nicht nur mich, sondern auch mein rosafarbenes Hello-Kitty-T-Shirt, das mir meine Oma letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hat.

Und was jetzt? Den Vorhang wieder aufziehen und dämlich grinsen oder lieber frühstücken? Ich entscheide mich für die zweite Variante – in der Hoffnung, Philipp würde die Aktion bis um neun Uhr vergessen haben.

Ich frühstücke, ziehe mich um und mache mich im Bad fertig, dann ziehe ich mir die Schuhe an und stelle fest, dass es bereits halb zehn ist. Wo ist nur die Zeit hin?

»Shit«, murmle ich und greife nach meiner Jacke, die ich mir im Gehen überwerfen. Die Haustür fällt hinter mir ins Schloss – da bemerke ich, dass ich meinen Schlüssel vergessen habe. Also schreibe ich Mum eine Nachricht, während ich zur Tür gegenüber laufe. Ich drücke auf Absenden und gleichzeitig auf Philipps Klingel.

»Hallo?«

»Ich bin es. Lilo.«

»Klar, komm hoch!«

Ich grinse, obwohl ich eigentlich keinen Grund dafür habe. Zwei Stufen auf einmal nehmend laufe ich die Treppenstufen nach oben. Die Wohnungstür der Ottermanns ist nur angelehnt.

»Philipp?« Zaghaft schiebe ich die Tür auf und spähe hinein. »Hallo?«

»Ich bin in meinem Zimmer«, ruft Philipp, woraufhin ich eintrete.

»Hi«, beginne ich das Gespräch etwas unbeholfen und meide seinen Blick.

Trotzdem wird mir warm und ich spüre ein angenehmes Kribbeln in meinem Bauch. Ich sollte mich dringend auf etwas anderes konzentrieren.

»Hi.« Philipp steht in einem Chaos aus Plastikplanen, Lichtstrahlern, zwei Farbtöpfen, Pinseln und Plüschrollen.

»Schön, dass du da bist. Übrigens kannst du mich auch Phil nennen, wenn du willst. Das ist kürzer und alle meine Freunde nennen mich so.«

»Klar.«

»Willst du deine Jacke nicht ausziehen?«

»Äh … ja, natürlich.« Ich komme mir auf einmal ziemlich dämlich vor. Hastig drehe ich mich weg und bringe meinen Anorak ins Wohnzimmer. »Ist deine Schwester nicht da?«, frage ich, als ich zurückkomme.

»Sie ist in ihrem Atelier.« Phil öffnet einen Eimer voll brauner Farbe. Die dunkle Masse sieht aus wie Schokopudding.

»Was war das eigentlich heute Morgen am Fenster?«

Mein Gesicht wird augenblicklich wieder knallrot. Will er, dass mein Kopf platzt? Wenn ja, ist er auf dem richtigen Weg, denn ich leuchte wahrscheinlich gerade so hell wie eine Glühbirne – und der Draht droht jeden Moment durchzubrennen.

»Äh das …«, stottere ich, »Ich war … noch nicht bereit, mich der Welt zu präsentieren. Ich muss mich erst einmal daran gewöhnen, dass hier wieder Menschen leben.«

Phil grinst, als hätte er mich durchschaut. Es ist ein besserwisserisches Grinsen, das er dem Farbeimer schenkt und meine gute Stimmung bröckeln lässt. Wahrscheinlich ist meine Schwärmerei für ihn so offensichtlich, dass er sich über mich lustig macht. Also versuche ich an etwas anderes als seine unglaublich türkisfarbenen Augen zu denken. Dummerweise ist das Gesamtpaket vor mir auch nicht gerade schlecht.

Um ihn nicht weiter verträumt anzuschauen, betrachte ich die Wände. Zwei von vier hat er bereits abgeklebt. »Wo möchtest du anfangen?«

»Dort mit der großen Wand. Danach schaue ich mir erst einmal das Ergebnis an, um zu beurteilen, ob du womöglich recht hast.«

»Eine weise Entscheidung«, flüstere ich mehr zu mir selbst als zu ihm, höre ihn jedoch leise glucksen.

Sofort breitet sich wieder das Kribbeln in meinem Körper aus – begleitet von einer befreienden Leichtigkeit. »Soll ich die Ränder übernehmen?«

Er nickt und überreicht mir einen Farbbehälter. »Das wäre nett. Moment, hier ist noch eine kleine Rolle!«

Ich achte peinlich genau darauf, ihn bei der Übergabe nicht zu berühren, dann knie ich mich vor die Wand und beginne mit der Arbeit. »Woher kommt ihr eigentlich?«

»Aus Hamburg.«

»Ist es schön da?«, frage ich.

Phil zuckt mit den Schultern. »Mir gefallen die Stadt und die Nähe zur Küste, aber das Gerücht über den Regen stimmt. Wer Regen nicht leiden kann, ist dort also nicht so gut aufgehoben.«

»Muss schwer für dich sein, jetzt mitten in der Oberstufe zu wechseln. Ich hoffe, deine Freunde kommen dich hier mal besuchen.«

Er wirft mir einen beiläufigen Blick zu, bevor er sich wieder auf die Wand fokussiert. »Das glaube ich kaum. Aber ich werde wahrscheinlich alle paar Wochen nach Hause fahren und dann den ein oder anderen Freund treffen.«

»Das klingt cool! Leben noch ein paar Verwandte von dir in Hamburg, die du regelmäßig besuchst?«, will ich wissen.

»Mein Vater.«

»Dein Vater? Aber warum bist du dann hierhergezogen, wenn du noch bis zum Ende deiner Schulzeit bei ihm wohnen kannst?«

Verwirrt starre ich auf seinen Rücken, doch er dreht sich nicht zu mir um. Er antwortet auch nicht sofort, sondern atmet zunächst mehrmals tief durch. »Die Situation ist kompliziert und ich denke nicht, dass das ein Gesprächsthema für ein erstes Treffen ist.«

Meine Neugierde ist geweckt. Aber wie kann ich ihn dazu bringen, mir mehr zu erzählen, ohne dass er blockiert? Immerhin kann ich verstehen, wenn er nicht mit mir über irgendwelche heiklen Themen sprechen möchte. Doch jede Faser meines Körpers will ihn kennenlernen, also wage ich einen Versuch.

»Na ja …«, beginne ich, »Streng genommen sehen wir uns heute zum dritten Mal. Also ist das hier nicht unser erstes Treffen …«

Er lacht leise und wirft mir einen flüchtigen Blick zu, bevor er den Kopf schüttelt und schweigend weiterstreicht. Mir fällt auf, dass er auf der rechten Seite seiner Unterlippe herumkaut. Macht er das immer, wenn er nachdenkt? Sieht eigentlich ganz niedlich aus … Ich reiße meinen Blick von ihm los, sodass mein Gehirn wieder funktioniert. Sein Geheimnis … Nice try, hat aber nicht gereicht. Dann muss ich eben später noch mal nachhaken.

Ich schließe mich seinem tiefen Schweigen an und eine Zeit lang hört man nur das Schmatzen der Rollen, bis er schließlich seufzt. »Meine Mutter und meine kleine Schwester sind im Mai gestorben. Irgendwie ist meine Mutter falsch rum auf die Autobahn aufgefahren. Sie war abgelenkt – hat gerade mit meinem Vater telefoniert und dann …«

Ich bin überrascht, dass er sich mir anvertraut. Ich wünschte, ich hätte ihn nicht danach gefragt. Seine Trauer liegt wie ein dunkler Schatten über seinem Gesicht, das nun noch blasser als zuvor ist.

Phil starrt hinunter auf die Farbe, tunkt seine Rolle immer wieder gedankenverloren hinein. »Mein Vater hat sich in seine Schuldgefühle reingesteigert und leidet nun unter Depressionen. Er wurde vor ein paar Wochen stationär aufgenommen und ich wollte nicht allein in Hamburg bleiben. Deshalb bin ich zu Lisa gezogen. Eigentlich wollte sie erst zum Ende des Jahres hierherkommen, aber sie konnte den Umzug glücklicherweise schon zu Beginn des Schuljahres ermöglichen.«

»Das tut mir leid«, flüstere ich.

Phil drückt energisch seine Rolle gegen die Wand. Sein Gesicht hat sich versteinert und dadurch die Trauer ausgesperrt. »Ich brauche kein Mitleid.«

»Hm«, gebe ich von mir.

»Was?«, fragt er wirsch. Ich zucke unwillkürlich zurück. Er runzelt die Stirn und seine Augen feuern türkisfarbene Blitze auf mich ab.

Schnell wende ich mich von ihm ab und wieder der Wand zu.

»Ich wollte nur nett sein. Vielleicht brauchst du kein Mitleid, aber ich kann mir vorstellen, dass du gerade jetzt deine Freunde sehr dringend benötigst. Der Start in einer fremden Stadt kann ziemlich einsam sein.«

Ich erinnere mich noch genau, wie es für Tim war, als er nach Aschaffenburg kam. Er hatte es schwer, von unseren Mitschülern akzeptiert zu werden. Es dauerte zwei Jahre, bis sie ihn nicht immer nur Stitch nannten, weil wir so oft zusammen abhingen, sondern seinen richtigen Namen verwendeten. Inzwischen hat er wesentlich mehr Freunde als ich und nichts mehr gegen seinen Spitznamen. Philipps Wut löst sich in Luft auf. »Mit Menschen hatte ich noch nie ein Problem. Sie mögen mich. Tatsächlich fällt es mir relativ leicht, mich mit anderen Leuten anzufreunden. Also kein Grund, sich zu sorgen«, verspricht er mir mit einem herablassenden Lächeln.

Ich rümpfe die Nase. Endlich habe ich etwas, was meine rosarote Brille etwas transparenter macht.

»Keine Angst, ich werde dir nicht wie ein Babysitter hinterherlaufen und dir den Hintern pudern«, antworte ich kühl und hoffe, dass ich diesen Vorsatz nicht wieder über Bord werfe, wenn ich das nächste Mal in seine Augen blicke.

Bis zum Abend reden wir über alles Mögliche. Ich finde heraus, dass er neunzehn Jahre alt ist, in seiner Freizeit am liebsten Gitarre spielt und auf dieselbe Schule geht wie ich. Trotzdem schaffe ich es, ihn nicht zu fragen, ob wir morgen gemeinsam dorthin laufen wollen. Auch wenn ich sehr gerne wieder mit ihm quatschen würde, fühlt sich diese Idee einfach gezwungen und aufdringlich an.

Nachdem wir zwei Wände gestrichen haben, muss Phil zugeben, dass mehr dunkelbraune Seiten zu viel geworden wären. Ich helfe ihm, die Rollen und Pinsel auszuwaschen.

Als ich meine Hände abtrockne, hält er mir sein Handy hin. »Willst du mir deine Nummer geben? Wäre womöglich ganz gut, hier in Aschaffenburg eine Freundin zu haben.« Er lächelt schief.

»Klar!«, antworte ich und kann mir das breite Grinsen nicht verkneifen.

***

In derselben Nacht streicht die heiße Südsee-Sonne sanft über meine geschlossenen Lider, während angenehm kalter Wind durch meine Haare weht. Sobald die kühle Brise vorbei ist, breitet sich wieder der Schatten eines Palmenblattes über meinem Gesicht aus. Mir ist trotzdem warm und ich strecke meine Arme aus – in der Hoffnung, bei der nächsten winzigen Windböe mehr kühle Luft abzubekommen.

»Was ist denn mit dir los? Du grinst die ganze Zeit.«

Als hätte Tim mich bei irgendetwas Illegalem erwischt, steigt mir die Hitze ins Gesicht.

»Nein!«, ruft er grinsend.

»Was?«

»Sag bloß, dich hat es erwischt!«

»Ich weiß nicht, was du meinst«, behaupte ich und drehe mich weg.

»Du bist die schlechteste Lügnerin, die ich kenne! Lass es lieber, Lilo. Wer ist der Glückliche?« Tim kommt zu mir in die Hängematte und wirft mir ein Kissen gegen den Kopf, als ich mich weigere, mit ihm darüber zu sprechen. Als das immer noch nicht wirkt, bringt Tim die Hängematte aus dem Gleichgewicht und wir landen auf dem Sandstrand. »Spuck’s schon aus! Ich lasse bestimmt nicht locker. Wie lange warst du nicht mehr verknallt? Seit der ersten Klasse?«

»Gar nicht wahr!«, beschwere ich mich. Aber normalerweise bin ich wirklich nicht die Person, die ihr Herz so einfach an einen Jungen verliert. Also was hat Phil, das die anderen nicht haben? Jetzt mal abgesehen von seinen unglaublich hypnotisierenden Augen, seinen Grübchen, seiner Größe und … Mein Verstand rettet mich aus diesen treibsandähnlichen Gedanken. Er ist nicht der erste gut aussehende Junge und trotzdem habe ich mich nie verliebt.

»Wer ist es? Woher kennst du ihn?«

Seufzend gebe ich nach und wir setzen uns in das flache Meer, sodass die leichten Wellen über unsere Beine zu uns heraufrollen. Dann erzähle ich ihm alles, was in den letzten Tagen geschehen war.

»Schau mich nicht so an!«, verlange ich, als ich meinen kurzen Bericht beende.

Er grinst über das ganze Gesicht und seine goldenen Augen leuchten.

»Jetzt will ich diesen Phil kennenlernen!«

»Mach doch kein Drama draus. Ich will nichts überstürzen!«

Tim schüttelt den Kopf und holt Luft, um etwas zu sagen, doch ich unterbreche ihn. »Ich brauche keine Tipps von dir, Tim!«

»Sicher?«

»Japp«, antworte ich ihm entschlossen.

»Du kannst aber jederzeit zu mir kommen, wenn du nicht mehr weiterweißt.«

Ich schweige, damit er endlich das Thema wechselt.

Tatsächlich tut er mir diesen Gefallen. »Ich wollte heute eigentlich Doc besuchen gehen …«

»Und was hat dich daran gehindert?«, frage ich und zucke mit dem Fuß, weil mich dort ein kleiner Fisch kitzelt.

»Er war nicht da.«

»Vielleicht ist er heute ausnahmsweise einmal später schlafen gegangen«, vermute ich, aber ich weiß, was Tim gleich sagen wird – und ich weiß, dass er recht hat.

»Doc – unser Doc? Das glaubst du doch wohl selbst nicht, oder? Er geht doch immer um Punkt sechs Uhr schlafen. Ich kann mich nicht an einen Tag erinnern, an dem er mal später ins Bett gegangen ist.«

Ich nicke, antworte aber nicht.

»Glaubst du, es ist irgendetwas passiert?«, will Tim nach einer Weile wissen.

»Meinst du, dieser Virus hat ihn erwischt?«

Tim schüttelt den Kopf. »Nein. Er war einfach nicht da. Er hat nicht geschlafen.«

Es ist erst halb fünf am Morgen. Noch habe ich genug Zeit, ihm einen Besuch abzustatten. »Ich gehe noch einmal zu ihm«, beschließe ich. »Vielleicht hatte er Besuch und ist deshalb später ins Bett gegangen.«