Die Wahtari-Saga. Steinschmelze - Sophie Alvarsson - E-Book

Die Wahtari-Saga. Steinschmelze E-Book

Sophie Alvarsson

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Beschreibung

"Lara? Sie soll ja ein hübsches kleines Ding sein. Glück für den Prinzen der Stammnation, der sie heiraten darf", provozierte Kenos Lehrer seinen Schützling aus den Augenwinkeln. Die darauf einsetzende Energiewelle aus Frust, Wut und Verzweiflung, die den Boden durchzuckte und die Wüste unter ihnen auf einer Länge von fünfzig Metern aufbrach, hatte er nicht kommen sehen. Denn durch seine Liebe zu Lara hatte Keno endlich einen Zugang zur Gabe des Erdstaates, dem Formen, gefunden. Doch werden seine Fähigkeiten reichen, den Vormarsch Wahtari Brataks zu stoppen und den Untergang des Erdstaates zu verhindern? Oder spielt nicht am Ende sein Bruder Fynn, der anscheinend gegen alle fünf Gaben des großen Königreiches immun ist, die entscheidende Rolle? "Steinschmelze" ist der zweite Band der Buchreihe um den jungen Wahtari Keno, der den Frieden unter den vier Königreichen seiner Welt sichern und den amtierenden Wahtari ablösen soll. Doch dieser möchte seine Macht nicht hergeben.

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Über die Autorin:

Sophie Alvarsson wurde 1984 in der Ahreifel geboren und lebt mit ihrem Sohn und vier Hühnern in der Südpfalz. Bereits als Kind schrieb sie Fantasygeschichten und diese Leidenschaft hat sie bis heute nicht losgelassen. Ihren Debütroman "Die Wahtari- Saga - Der Geschmack von Luft" schrieb sie während ihres Studiums in Bonn. Mit wachsendem Alter findet sie mehr Zeit zum Schreiben und genießt das Abtauchen in fremde Welten.

In dieser Reihe erschienen:

Die Wahtari-Saga: Der Geschmack von Luft

Die Wahtari-Saga: Steinschmelze

Für Ursula und Günter

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

DANKSAGUNG

KAPITEL 1

Steh auf und versuch es noch einmal«, hallte eine tiefe Stimme durch die verzweigten Gänge des unterirdischen Höhlensystems. Das Echo brach von allen Seiten über Keno herein und die Vibrationen ließen ihn zusammenfahren.

»Es funktioniert einfach nicht. Ich fühle absolut nichts!« Keno lag schwer atmend auf dem Rücken und war beinahe komplett von Schlamm, Steinen und Sand bedeckt. Verzweifelt rieb er sich eine Schlammschicht aus dem Gesicht. Ohne hinzusehen, konnte er den strafenden Blick seines Lehrers, der Hand, auf sich spüren. Keine zehn Meter entfernt thronte er auf einem steinernen Sessel.

Gerade mal zwei kleine Fackeln erhellten ihr unterirdisches Trainingszentrum. Keno hasste die Dunkelheit unter der Erde, aber gerade jetzt war er froh darüber, da er so die Enttäuschung seines Lehrers nicht auch noch sehen musste.

»Steh auf! Ich werde das nicht noch einmal sagen.« Die Höhlenwände begannen zu beben und Keno zuckte zusammen, als er einen kleinen Energiestoß spürte.

»Au!«, fluchte er und rieb sich die Hände. Immerhin das spürte er. Und wie er es jedes Mal spürte.

»Steh auf!«

Keno versuchte, sich aufzurichten und aus den schlammigen Geröllmassen zu befreien. Ein zersplittertes Felsfragment hatte sich gefährlich tief in seine Seite zwischen die Rippen gebohrt. Er zog es keuchend heraus und versuchte, sich mit bloßen Händen frei zu buddeln. Es war zum Heulen. Er spürte den körperlichen Schmerz, den ihm seine Formversuche einbrachten, nur zu deutlich, den Rest leider nicht. Mühsam kletterte er aus seinem Geröllloch heraus und ließ sich erschöpft auf die Knie fallen. Sein Atem ging schwer, als er versuchte, sich die Kruste von den Augen zu wischen, die Schweiß und Sand dort gebildet hatten. Seine Haare, sein Gesicht und seine gesamte Kleidung waren überzogen von braunem Schlamm.

»Komm schon, Keno, du musst die Gabe des Erdstaates fühlen, nicht nur mit den Händen, du musst sie mit dem ganzen Körper fühlen«, ermahnte sein Lehrer, der niemand Geringeres als einer der vier Oberhäupter der Rakaja war, erneut. Das tat er nun schon seit Tagen. »Der Stein, die Pflanzen, die Erde, alle Lebewesen um dich herum, einfach alles ist eine Verlängerung deines Körpers. Fühl diese Verbindung! Nutze sie! Beherrsche sie!«

»Da ist nichts«, keuchte Keno resignierend und ließ sich wieder auf den Rücken fallen.

Die Hand musterte ihn mit ernster Miene. Dann ließ er wie zur Demonstration einen Steinbrocken nach oben schnellen und formte einen kleinen Hocker für seine Füße daraus. »Vielleicht muss ich strenger zu dir sein«, murmelte er und legte seine Füße hoch.

Keno schnaubte. An fehlender Strenge lag sein Versagen mit Sicherheit nicht. Erneut traf ihn ein kleiner Energieschlag und Keno rieb sich die Hände, die nach jedem dieser kleinen Blitze wie verrückt kribbelten. Er biss die Zähne zusammen, bis sein Kiefer schmerzte. Nein, an der fehlenden Strenge seines Lehrers lag sein Versagen ganz bestimmt nicht. Es lag wohl eher daran, dass er die Gabe des Erdstaates nicht beherrschte. Vielleicht war er schlicht und ergreifend kein Former. Vielleicht hatten sich die Rakajas einfach den Falschen ausgesucht.

»Keno, ich wiederhole mich nicht.« Die Hand trommelte mit dem Zeigefinger bedrohlich auf die Lehne seines Steinthrones.

Keno hatte keine Lust, noch einen weiteren Energieschlag abzubekommen, und kämpfte sich mühsam auf die Beine. Das nächste Mal, wenn sein Lehrer über ihm Felsmassen herabregnen ließ, würde er einfach liegen bleiben, damit er zu Staub zermahlen wurde. Dieser Gedanke drängte sich in letzter Zeit immer häufiger in seinen Kopf. Dann würde er auch die Energieschläge nicht mehr ertragen müssen. Wankend stand er jetzt da und sah durch die düstere Dämmerung zu seinem Lehrer.

»Ich kann deine trübsinnige Stimmung fühlen, Keno. Das hatten wir bereits. Lass das!«

Keno seufzte und hätte am liebsten mit den Augen gerollt, traute sich aber nicht.

Die Hand hatte aufgehört, mit dem Finger zu trommeln, und musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen.

Keno sah zu Boden und erwartete den nächsten Energieschlag. Aber nichts geschah.

Die Hand seufzte und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht.

Vielleicht würde sein Lehrer jetzt endlich akzeptieren, dass es keinen Sinn hatte. Wenn es nach Keno ging, konnte diese Einsicht nicht früh genug kommen. Er konnte nicht formen. Er fühlte den Stein nicht, konnte nicht spüren, wo sich jemand in seiner Umgebung befand. Und den Stein zu erweichen und zu formen, das brachte er höchstens in seinen Träumen zustande. Wenn er denn davon träumen würde, was er nicht tat. Es bildete sich ein dicker Kloß in Kenos Hals und sein Magen zog sich zusammen.

Die Hand erhob sich und ging auf Keno zu. Als der alte Erdianer Kenos Schulter umfasste, war die Strenge in seinem Gesicht ein wenig verblasst.

»Das harte Training tut mir leid, aber die Zeit drängt«, entschuldigte er sich achselzuckend. »Lass uns eine kurze Pause einlegen.«

Keno nickte und hätte am liebsten losgeheult. Die Rakajas, die Rebellen, alle zählten sie auf ihn, aber er kam in seiner Ausbildung nicht einen Schritt voran. Im Gegenteil, Keno hatte das Gefühl, er würde sogar Rückschritte machen. Er hatte das Gefühl, die Gabe des Spurenlesens, seinen Geruchs- und Geschmackssinn zu verlieren, weil sie hier unter der Erde im Dunkeln ohne jeglichen Einfluss von außen verkümmerte.

»Komm, die Sonne tut dir bestimmt gut.« Die Hand umfasste Kenos Arm und gewaltige Geröllmassen unter ihnen schossen nach oben und hoben sie an die Oberfläche. Die Decke über ihnen öffnete sich geräuschvoll, als sein Lehrer die Steinmassen verflüssigte und auseinanderformte. Staub, Sand und kleine Steinchen rieselten auf sie herab und Keno schloss schützend die Augen. Die Geröllmassen unter ihren Füßen wurden immer dichter, als der Stein sie weiter und weiter nach oben transportierte, bis er gleichzeitig die neue Decke des unterirdischen Trainingszentrums und den Boden an der Oberfläche bildete.

Keno blinzelte in die Mittagssonne und nahm einen tiefen Atemzug an der frischen Luft. Doch die bekannte Vielfalt der Gerüche von Wald, Bäumen und Tieren fehlte. Alles, was er roch, waren Sand, Stein und ein wenig Wasser. Die Wüste im Herzen des Erdstaates machte ihm langsam zu schaffen. Wohin er auch blickte, er sah nichts als Sand, Stein und ein paar trostlose Berge im Hintergrund. In nordöstlicher Richtung, keine zweihundert Meter von ihnen entfernt, erkannte er zwei Gestalten, die sich mitten in der Wüste einen Übungskampf mit Schwertern lieferten. Der Anblick der beiden wirkte beinahe bizarr und Keno bemitleidete seinen Bruder Fynn, der gerade von Memnon, einem Lauscher aus dem Waldvolk, unerbittlich attackiert wurde. Keno löste seinen Blick von dem ungleichen Schwertkampf und schloss kurz die Augen. Immerhin wärmte die Sonne sein Gesicht und ließ den Matsch langsam trocknen.

Keno setzte sich in den Sand und angelte sich seinen Wasserschlauch vom Gürtel. Sein Lehrer ließ sich ihm gegenüber nieder und beobachtete ihn nachdenklich. Keno nahm einen tiefen Schluck und versuchte, nicht nur den Sand, sondern auch seinen Frust herunterzuspülen. Er blinzelte erneut in die Ferne und sah sich um. Aber seine Augen hatten sich noch nicht an die Helligkeit gewöhnt. Er erkannte nur, dass sie heute an einer Stelle aufgetaucht waren, die nicht weit von dem Ort entfernt war, an dem die Hand sie vor nicht einmal zwei Monaten vor Milas’ Soldaten gerettet hatte. Diesen schiefen Zwillingsberg im Nordwesten mit seiner grauen Färbung würde er überall wiedererkennen.

Keno schloss seine Augen und atmete tief durch. Er verkrampfte sich immer noch innerlich, wenn er an seine Bestimmung dachte. Er konnte und wollte nicht akzeptieren, dass er der Erbe des Wahtari war, des Herrschers über alle Sinne. Ein kleiner Teil in ihm hoffte noch immer, dass das alles ein riesiger Irrtum war.

Vor nicht allzu langer Zeit war er noch ein unbedeutender Familienloser, ein Niemand, der auf dem Hof seiner Zieheltern gearbeitet hatte und halbwegs zufrieden mit sich und seiner kleinen Welt war. Jetzt musste er zusehen, wie er in Rekordzeit die Gaben aller vier Nationen erlernte, um einen Krieg zu verhindern, von dem er bisher noch nicht einmal gewusst hatte. Denn das war die Aufgabe des Wahtari, den Frieden mit der Macht aller vier Gaben zu sichern.

Keno biss sich auf die Lippen, als sein Magen sich zusammenkrampfte. Es fühlte sich ungerecht an, dass es ihn getroffen hatte. Sein Leben als Niemand war hart gewesen, hatte aber seine Vorteile gehabt. Es hatte ihm gefallen, unsichtbar zu sein. Jetzt wehrte sich jede Faser seines Körpers gegen seine Bestimmung. Aber seine letzte Vision hatte ihm gezeigt, dass er keine Wahl hatte. Er musste seine Bestimmung annehmen oder Hunderttausende würden sterben. Sie würden seinetwegen sterben, weil er den bevorstehenden Krieg nicht verhindert hatte. Wahtari Bratak würde die Lauscher des Waldvolkes, die Seher des Lichtvolkes, die Former des Erdstaates und zu guter Letzt auch die Spurenleser der Stammnation auslöschen. Mit ihnen würden viele Bewohner der betroffenen Nationen einen grausamen Tod finden. Und das nur, damit Wahtari Bratak unangefochten herrschen konnte.

Keno wurde durch die Geräusche des Schwertkampfes aus seinen Gedanken gerissen.

»Halt die Deckung hoch, du stehst völlig ungeschützt«, rief Memnon und schlug erneut auf Fynn ein. Kenos Ziehbruder versuchte, den Schwerthieb zu parieren, wurde jedoch von der Wucht des Schlages nach hinten geschleudert und landete keuchend im Sand.

»Steh auf, komm schon.« Memnon wirbelte sein Schwert elegant um die eigene Achse und kehrte zurück in die Angriffsposition.

»Nein, ich bleibe liegen. Mir reicht’s für heute und auch sonst«, japste Fynn und versuchte, zu Atem zu kommen. Er drehte seinen Kopf und sah Keno und die Hand in einiger Entfernung im Sand sitzen.

Memnon war seinem Blick gefolgt. »Es reicht noch lange nicht für heute«, brummte er und strich sich eine braune Haarsträhne hinters Ohr. »Aber ihr zwei dürft eine Pause machen.« Er nickte Keno kurz zu.

»Wie überaus gütig«, erwiderte Fynn spöttisch.

Keno beobachtete, wie Memnon das Schwert in den Sand stieß und sich seine Stabwaffe vom Rücken band. Seine spitzen Ohren zuckten unruhig hin und her, als er die Umgebung abhorchte. Mit zwei geübten Handgriffen hatte Memnon die Lederstulpen an beiden Enden der Stabwaffe entfernt und die langen dünnen Klingen reflektierten die Sonnenstrahlen wie kleine Blitze. Er wirbelte die traditionelle Waffe des Waldvolkes elegant über seinen Kopf und begann mit Trockenübungen.

Mittlerweile war Fynn aufgestanden, durch den Sand gestiefelt, hatte Keno erreicht und ließ sich nach einer knappen Begrüßung neben ihn fallen.

Die Hand nickte ihm freundlich zu und ließ die beiden Jungen allein. Der alte Erdianer ging zu Memnon. Da ihm der Gang durch den Sand zu mühevoll war, formte er sich einen schmalen steinernen Weg.

»Und? Wie läuft es so bei dir?«, fragte Fynn, der immer noch außer Atem war. Er griff ebenfalls an seine Seite und angelte sich seinen Wasserschlauch.

»Frag nicht.« Keno versuchte, sich die getrockneten Dreckkrusten vom Gesicht zu ziehen. Die Wintersonne wärmte den Sand und ließ sie ihre Erschöpfung nur noch deutlicher spüren.

»Also genauso gut wie bei mir«, grinste Fynn und stupste ihm mit dem Ellenbogen in die Seite.

Keno seufzte. Immerhin blieben Fynn die elenden Energieschläge erspart.

Sie schwiegen beide einen Moment lang und ließen die Wintersonne ihre Gesichter wärmen.

»Was denkst du, wie viel Zeit uns noch bleibt bis zu deinem komischen Wahrheitstest?« Fynn beobachtete Memnon, wie er blitzschnell und geschmeidig wie eine Raubkatze um seine eigene Achse wirbelte und seine Stabwaffe über dem Kopf rotieren ließ.

Keno atmete einmal tief durch und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wenn es nach mir geht, können die sich ruhig Zeit damit lassen«, brummte er schließlich und beobachtete ebenfalls Memnons Kampfübungen.

»Bloß nicht, noch ein paar Tage mehr und Memnon schlägt mir aus Frust über mein fehlendes Talent den Kopf ab.« Fynn ließ sich nach hinten in den weichen Sand fallen und schloss die Augen.

Keno sah ihn mitleidig von der Seite an und atmete einmal tief durch. Bevor Memnon die Geduld mit Fynn verlor, hätte die Hand ihn mit Sicherheit schon längst mit einem Energieschlag getötet. Oder er hätte ihn unter Geröll verschüttet oder mit einem Felsen erschlagen oder … Ach, die Liste war lang. Dennoch, Keno war für jede Minute Aufschub vor der Wahrheitsprozedur dankbar. Allein der Gedanke daran ließ ihm einen Schauer über den Rücken fahren. Er hatte eine Ahnung, dass es wieder in einer Katastrophe enden würde. Nachdem die Rakajas, die Beschützer des Wahtari, ihm seine Bestimmung an seinem sechzehnten Geburtstag eröffnet hatten, war genau das eingetreten, wieder und wieder. Eine Katastrophe jagte die nächste. Erst hatten Soldaten den Hof seiner Zieheltern niedergebrannt und er, seine Zieheltern Johan und Martha sowie seine beiden Ziehbrüder Fynn und Aaron hatten fliehen müssen. Dann erfuhr er, dass Lara, seine Lara, die er liebte, seit er denken konnte, die Tochter des Rebellenanführers war. Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, war er der schlechteste Wahtari-Anwärter aller Zeiten. Er hatte seine Gaben überhaupt nicht unter Kontrolle, verletzte alle. Gekrönt wurde diese Situation davon, dass er keine Ahnung hatte, wie es seinen Zieheltern und Aaron ging. Und Lara sollte den Thronerben der Stammnation heiraten und er war schuld daran, dass ein ganzes Dorf der Stammnation in seinem Namen ausgelöscht worden war. Kurzum, der Gedanke, sich beim nächsten Übungsangriff seines Lehrers von den Geröllmassen einfach erschlagen zu lassen, wurde ihm immer sympathischer.

Keno sah auf seine Hände und war kurz davor, an Verzweiflung zugrunde zu gehen. Sein Magen zog sich gefährlich zusammen.

»Atme tief durch, Keno.«

Keno zuckte zusammen. Er hatte gar nicht gehört, dass Memnon sich ihnen genähert hatte. Er wollte anscheinend ebenfalls eine Pause einlegen.

Fynn schrak ebenfalls hoch und blinzelte Memnon gegen die Sonne an. Er hasste es, wenn sich Memnon so anschlich.

Keno ging es da nicht anders. Auch er blinzelte nun ins Licht. Die Hand konnte er weit und breit nicht sehen, vermutlich war er wieder abgetaucht. Es gefiel ihm unter der Erde einfach besser als an der Oberfläche. Er seufzte tief und sah zu Memnon hoch. »Es wäre schön, wenn durchzuatmen auch nur eines meiner Probleme lösen könnte«, sagte er und klang gereizter als beabsichtigt.

»Du darfst dich nicht so unter Druck setzen, auch wenn die Zeit drängt.« Memnon klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Dann ließ er den Blick in die Ferne schweifen und fuhr nachdenklich fort: »Eine Gabe zu erlernen und zu trainieren, braucht Geduld und ein Maß innerer Ruhe.« Damit setzte er sich im Schneidersitz vor Keno hin und klopfte sich vorsichtig den Sand aus den Ohren. Dann begann er, die Klingen seiner Stabwaffe zu schleifen.

Keno hob müde eine von Matsch und Sand verkrustete Augenbraue. Das Erlernen des Formens brauchte also Geduld und innere Ruhe. Da war es nicht besonders hilfreich zu wissen, dass das große Königreich im Krieg versinken würde, wenn er die vier Gaben nicht schnell genug beherrschte. Geduld und innere Ruhe! Er hatte sich vor Stress schon alle Fingernägel abgekaut, bis sie wund und entzündet waren. Und Memnon sprach von Geduld und innerer Ruhe.

Keno zuckte erschrocken zusammen, als sein Lehrer ohne Vorwarnung vor ihnen aus der Erde schoss. Die Hand liebte es offensichtlich, ihn und seinen Bruder zu erschrecken, und konnte sich ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen. »Das mag vielleicht für die Gabe deines Volkes gelten, Memnon«, brummte sein Lehrer, stand noch für einen Moment in einer Wolke aus Staub da und sah auf alle herab. Eine kleine Sandfontäne rieselte zu Boden, als er sich zu ihnen in den Sand setzte.

Fynn hatte sich vor Schreck an seinem Wasser verschluckt und bekam einen Hustenanfall. Sein Wasserschlauch fiel zu Boden und das Wasser versickerte in Sekundenschnelle im Sand.

»Formen heißt fühlen, ein kleiner Gefühlsausbruch kann da manchmal helfen«, grinste die Hand und sah zu, wie Keno seinem Bruder fest auf den Rücken klopfte.

»Würde es nicht helfen, wenn ich die abnehmen würde?«, fragte Keno und griff an seine blaue Aranja-Halskette unter seinem Hemd.

»Bloß nicht«, riefen die Hand und Memnon beinahe gleichzeitig und rissen warnend die Hände hoch.

»Das ist zu gefährlich«, ergänzte die Hand freundlicher, als er Kenos gekränktes Gesicht bemerkte. »Bis du deine Gaben nicht im Griff hast, ist es sicherer so. Wenn du die Kette trägst, werden wir außerdem nicht so leicht gefunden. Und du kannst nicht allzu viel anrichten, solltest du wie durch ein Wunder endlich mal den Zugang zur Gabe des Formens finden.«

Wenn überhaupt möglich, wurde Kenos Gesichtsausdruck noch trauriger. Für einen Former hatte die Hand erstaunlich wenig Einfühlungsvermögen.

»Was ganz bald geschehen wird«, fuhr die Hand eilig fort, als er Fynns und Memnons Augenrollen bemerkte. »Ich meine ja nur, wenn es dir gelingt, kann es sein, dass du so einiges anrichtest, wie ich gehört habe«, versuchte die Hand seine Aussage abzumildern und scheiterte kläglich.

»Wie einfühlsam von dir«, scherzte Memnon und sprach Keno und Fynn aus der Seele.

»Was denn?«, fragte die Hand und sah unschuldig in die Runde. »Ich mag diese Wüste. Keno darf hier ein bisschen üben, aber verwüsten sollte er sie nicht.«

Keno hätte beinahe wegen Memnons verständnislosem Blick laut gelacht, aber nur beinahe, seinen Frust konnte nichts so leicht vertreiben. Er ließ seine Halskette seufzend los. Er hatte gehofft, einen leichteren Zugang zur Gabe des Formens zu bekommen, wenn seine Fähigkeiten nicht mehr eingeschränkt wären durch das Ablegen der Kette.

»Wo wir gerade über Dinge sprechen, die wir mögen oder vielleicht auch nicht«, begann nun Fynn, »können wir uns vielleicht darauf einigen, dass ihr euch weder anschleicht …«, bei diesen Worten schielte er zu Memnon, »noch einfach aus dem Wüstensand katapultiert?« Er klopfte sich den Sand von der Jacke. »Sonst brauche ich gar nicht weiter den Schwertkampf zu üben, weil ich demnächst nämlich sicher an Herzversagen sterbe oder im Sand oder Wasser ersticke.«

Die Hand und Memnon warfen sich einen schnellen Blick zu, dann sahen sie die Jungen an, seufzten und nickten.

Keno konnte sehen, dass dieses Zugeständnis der Hand schwerer fiel als Memnon, wo er doch dieses kleine Erschreckspiel so sehr genoss.

Im nächsten Moment lenkte ihn ein leises Krächzen aus der Ferne ab. Er hob den Kopf, suchte den Himmel ab und sah den weißen Schneebussard Akasch als kleinen Punkt am Horizont.

Fynn hatte gerade Kenos Wasserschlauch an die Lippen gesetzt, als dieser ruckartig aufsprang, um dem Bussard entgegenzulaufen. Fynn zuckte erneut vor Schreck zusammen, verschluckte sich wieder und griff sich an die Brust. »Nicht du jetzt auch noch. Wisst ihr was? Bringt mich doch einfach gleich um, dann haben wir es hinter uns«, japste er Keno hinterher und verdrehte die Augen. »Was zu viel ist, ist zu viel.«

Keno ignorierte ihn, blieb nach ein paar Metern stehen, den Blick in den Himmel gehoben, zerrte seinen Jackenärmel nach unten und hielt den Arm in die Luft.

Wenige Augenblicke später landete Akasch auf seinem Unterarm und bettelte nach einer Belohnung. Keno hatte jedoch nur Augen für die Nachricht an seinem Fuß. »Akasch, halt still. Ich gebe dir ja gleich deine Belohnung«, murmelte er und angelte umständlich mit einer Hand einen kleinen Brocken Fleisch aus einem Lederbeutel an seinem Gürtel. Akasch würdigte ihn jedoch keines Blickes, denn das Fleisch war überzogen von Steinstaub und Sand. Keno seufzte, was zu viel war, war zu viel – das galt wohl nicht nur für Fynn.

»Akasch! Fang!«, rief Memnon von weiter hinten und warf eine kleine Lammkeule in die Luft.

Akasch stieß sich augenblicklich von Kenos Arm ab und stürzte sich im Flug auf sie.

Keno versuchte derweil verzweifelt, die kleine Pergamentrolle zu öffnen, aber die verkrustete Erde an seinen Händen machte das zu einem unmöglichen Unterfangen. Er ließ sich auf die Knie fallen und rieb sich die Hände im warmen Wüstensand halbwegs sauber. Er blieb hocken und schaffte es danach endlich, das Pergament zu entrollen. Schweigend las er. Sein Herz pochte wie verrückt, aber er wurde bitter enttäuscht. Schon wieder. Traurig ließ er den Kopf hängen.

»Darf ich?« Memnon war zu ihm getreten und fischte die Nachricht aus seiner Hand, als Keno nicht reagierte. Er starrte einfach nur in die Ferne der Wüste.

»Was gibt’s Neues?«, brüllte Fynn von hinten.

»Eigentlich sind es gute Nachrichten«, antwortete Memnon laut und ließ seinen Blick besorgt zu Keno schweifen.

Der war anderer Meinung. Er hatte so sehr gehofft, von seinen Eltern, von Aaron und Lara zu hören. Ja, vor allem wollte er wissen, wie es Lara ging, obwohl ihn das Schicksal seiner Zieheltern Martha und Johan weitaus mehr sorgen sollte. Denn seit der Flucht vom Hof hatte er nichts mehr von den beiden gehört. Keno konnte nicht in Worte fassen, wie sehr er hoffte, dass es ihnen, Lara und Aaron gutging. Sein Herz fand nur holprig zu seinem gewohnten Rhythmus zurück.

Da geschah etwas – der Boden unter Kenos Knien bebte kurz.

Die Hand riss irritiert den Kopf hoch und sah sich um. Aber alles war wieder ruhig und so beließ es Kenos Lehrer dabei, kurz die Augenbraue nach oben zu ziehen und sich dann wieder seinem Mittagessen zu widmen, das er mittlerweile von den Vorräten aus ihrem unterirdischen Trainingszentrum geholt haben musste.

Memnon sah wieder auf die Nachricht, las die Zeilen noch einmal und fasste den Inhalt für die anderen zusammen: »Die Rebellen haben kurz vor der Grenze Halt gemacht und sich entschieden zu bleiben, bis Keno auf die Wahrheit getestet wurde. Sie zweifeln daran, dass Keno für das Massaker im Dorf verantwortlich war. Auch die anderen Nationen wollen erst das Ergebnis der Wahrheitsprozedur abwarten, bis sie sich endgültig entscheiden, ob sie Wahtari Bratak oder Keno folgen. Das sind wirklich gute Nachrichten, Keno. Das sind richtig gute Nachrichten!« Er sah die anderen an, bei Keno blieb sein Blick hängen.

Das mochte vielleicht sein, aber Kenos Gedanken kreisten hauptsächlich um seine Eltern, Aaron und Lara. Bei der Erinnerung an Laras Duft, einem feinen Gemisch aus Kamille und Jasmin, zog sich sein Magen erneut zusammen.

Und da war es wieder – die Erde unter Kenos Knien bebte. Diesmal so stark, dass es auch Fynn und Memnon spürten. Sie warfen sich überraschte Blick zu.

Die Hand sprang auf und musterte Keno.

Der versuchte zu atmen, aber seine Lunge zog sich weiter zusammen. Er bekam kaum noch Luft. Eilig vergrub er seine Hände tief im Sand und versuchte, sich zu beruhigen.

»Was hat er?«, fragte die Hand an Memnon gewandt.

»Ich vermute, er hat gehofft, von seinen Eltern oder Lara zu hören«, erklärte Memnon und Fynn nickte.

»Von diesem Mundan-Mädchen?«, fragte die Hand erneut wenig einfühlsam.

»Ihr Name ist Lara«, stieß Keno zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Erneut bebte die Erde – und die Hand wirkte hocherfreut. Die Hand formte sich einen Hocker aus Sand und ließ sich darauf nieder, nicht ohne den Blick von Keno zu nehmen.

Keno bemerkte es nicht, er ballte seine Hände im Sand zu Fäusten, während er krampfhaft versuchte zu atmen. Er durfte nicht erneut die Kontrolle verlieren oder er würde wieder Menschen verletzen so wie einst Fynn. Allein bei dem Gedanken, Fynn wieder zu verletzen, begann sein Herz zu rasen.

Die Mundwinkel seines Lehrers zuckten derweil schelmisch nach oben, während er betont langsam einen passenden Fußhocker formte. »Richtig, Theo Mundans Tochter, sie soll den Thronfolger der Stammnation heiraten, so habe ich gehört. Und sie soll ein hübsches kleines Ding sein.« Er fing sich einen warnenden Blick von Memnon ein und Fynn wedelte wie verrückt mit den Händen in seine Richtung, dass er aufhören sollte zu reden.

Keno hockte einfach da, die Hände im heißen Sand vergraben. Allein die Vorstellung von Laras anstehender Hochzeit war schon zu viel für ihn. Und dass sein Lehrer sie als hübsches Ding bezeichnet hatte, gab ihm den Rest. Er konnte nicht mehr an sich halten. Er erinnerte sich an ihren ersten und letzten Kuss, an ihre Tränen, die an seiner Wange hängen geblieben waren, bevor sie zum Thronfolger der Stammnation aufgebrochen war. Er erinnerte sich an ihren Duft, der ihn schon sein ganzes Leben begleitet hatte. Die Vorstellung, dass sie jetzt bei einem anderen war, trieb ihn fast in den Wahnsinn. Schlagartig öffnete er seine geballten Fäuste, die immer noch im Sand vergraben waren, und eine Energiewelle durchzuckte den Boden unter ihnen. Die Wüste brach mit einem gewaltigen kurzen Dröhnen auf einer Länge von dreißig Metern auf und Sandfontänen schossen mehrere Meter in die Höhe, verdunkelten die Sonne und rieselten herab. Es tat weh auf der Haut und sie alle duckten sich unter dem Sandregen, die Arme schützend über den Kopf haltend. Der Riss fraß sich von Keno ausgehend in die Wüste hinein, sodass sie nur von dem Sandregen betroffen waren und nicht in einen plötzlichen Abgrund stürzten. Zum Glück. Allerdings warf die Erschütterung sie um. Fynn wurde sogar nach hinten geschleudert und bekam eine weitere Ladung Sand ab. Memnon sprang sofort wieder auf, ebenso die Hand, während Keno einfach rücklings liegen blieb und verwirrt in den Himmel starrte.

Begeistert klatschte sein Lehrer in die Hände. »Na also, damit können wir arbeiten«, rief er. Und mit einem Blick zu Memnon fuhr er fort: »Von wegen Ruhe und inneres Gleichgewicht, so ein Frustanfall bringt uns voran. Er hat sich viel zu sehr in sich verkrochen, jetzt lässt er endlich alles raus.« Er rieb sich zufrieden die Hände und widmete sich mit Appetit wieder seinem Essen, das er mit einer kurzen Berührung mit den Händen vom Sand befreite. Als sich die Hand erneut auf den Steinhocker niederließ, betrachtete er den in sich zusammengesackten Fußhocker neben sich und musste schlucken. Er hatte ihn nur halb fertig formen können. Denn wenn Keno seine Gaben einsetzte, dann konnte kein Gabenträger des großen Königreiches seine eigene Gabe nutzen, egal wie mächtig er auch war. Keno konnte sie alle blockieren und hatte noch nicht verstanden, wie mächtig ihn dieser Umstand machte. Vielleicht hätte er in seiner Ausbildung näher auf diesen Umstand eingehen müssen. Er sah auf seine Hände. Er schluckte bei dem Gedanken, ohne seine Gabe sein zu müssen.

»Ich hasse diese Wüste aus ganzem Herzen«, prustete Fynn, nachdem er sich mühsam aus dem Sand rausgekämpft hatte und sandig und staubig dastand. »Keno?«, brüllte er zu seinem Bruder hinüber, der ebenfalls aufgestanden war und jetzt geschockt den riesigen Graben zu seinen Füßen betrachtete. »Meinetwegen darfst du diese dumme Wüste gerne kaputtmachen, meinen Segen hast du«, fuhr er fort und sah dann zur Hand, die sich zu seiner Zufriedenheit kurz am Essen verschluckte.

»Aber die Kette bleibt am Hals«, schob die Hand warnend nach, nachdem er sich wieder gefangen hatte.

KAPITEL 2

Arosa blickte in den Wandspiegel vor ihr. Sie saß allein in ihrer kleinen fensterlosen Kammer im Herzen der Hirades-Festung im Erdstaat, die gerade einmal mit einem schmalen Bett, einem kleinen Tisch, zwei Stühlen, einer Kleidertruhe und einer Frisierkommode bestückt war. Sie atmete tief durch und starrte ihr Spiegelbild an. Ihr Gesicht wirkte müde. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal einen Tag frei gehabt hatte. Es musste Jahre her sein.

Erschöpft atmete sie einmal tief aus, bevor sie begann, vorsichtig mit den Händen ihre langen schwarzen Haare zu entwirren. Es war eine Routine, die sie seit frühester Kindheit wie im Schlaf beherrschte. Denn das war es, was von ihr erwartet wurde – sie hatte hübsch auszusehen. Die Männer sollten sie begehren, ihr all ihre Geheimnisse anvertrauen. Dieses Aussehen hatte sie neben weiteren Fertigkeiten zu der hervorragenden Spionin gemacht, die sie heute war. Sie seufzte, als sie darüber nachdachte. Es hatte mal eine Zeit gegeben, da war ihr Spiegelbild nicht so wichtig für sie gewesen. Es war eine Zeit, in der sie glücklich war. Aber es war auch eine Zeit, die schon so lange zurücklag, dass die Erinnerungen langsam zu verblassen schienen. Bis vor Kurzem jedenfalls.

Sie schloss wehmütig die Augen und griff nach einem mit kleinen Edelsteinen und Gold verzierten Kamm. Das Metall lag kalt und schwer in ihrer Hand, als sie mechanisch ihre langen schwarzen Haare kämmte. Sie summte leise eine kleine Melodie vor sich hin. Es war eine einfache, eingängige und traurige Melodie. Nur einmal am Tag, genau für die Dauer dieser kleinen Melodie, erlaubte sie es sich, an Memnon zu denken, sich an die alten Tage zu erinnern. Eine Träne sammelte sich in ihrem linken Auge. Als die Melodie zu Ende war, wischte Arosa sie schnell fort. Sie gönnte sich wirklich immer nur diesen Moment während ihrer Morgenroutine, um an glücklichere Zeiten zurückzudenken. Danach konzentrierte sie sich wieder voll und ganz auf ihre Aufgaben.

An den Haarspitzen hatten sich die Haare zu kleinen Knoten verheddert. Während sie sich ganz der Melodie und den Erinnerungen hingegeben hatte, war sie unaufmerksam gewesen. Das hatte sie nun davon, jeden Morgen für einen Moment sentimental zu werden. Sie versuchte, ihre Haare zu entwirren, aber scheiterte. Genervt riss sie an den Strähnen ihres langen schwarzen Haares herum und mehrere fielen zu Boden. Wütend warf sie den Kamm gegen die Wand und vergrub ihr Gesicht in den Händen.

Gleich darauf hörte sie Schritte auf dem Gang vor ihrer Tür. Sie sah auf und ihre langen filigranen Ohren schwangen nach hinten, auch wenn sie schon längst erkannt hatte, wer sich ihrer Kammer näherte. Sie atmete einmal tief durch, hob den Kamm auf und frisierte sich weiter, den Blick starr in den Spiegel gerichtet.

Die Tür zu ihrer Kammer öffnete sich, ohne dass sich der Eintretende die Mühe machte anzuklopfen. Sie drehte sich nicht um, sondern beobachtete den Besucher hinter ihr durch den Spiegel.

»Gut, du bist wach. Ich habe einen neuen Auftrag für dich.« Gonko Baumgard betrat die Kammer, ohne seine Tochter dabei wirklich anzusehen. »Ich will, dass du dich mehr um den König der Erdianer bemühst. Er entgleitet mir mehr und mehr. Seine Entscheidungen sind nicht mehr vorhersehbar.« Gonko warf wütend einen Stapel Briefe auf den kleinen Tisch und ließ sich auf einen Holzstuhl fallen, der beinahe verloren vor dem ordentlich gemachten Bett stand.

Arosa reagierte nicht, jedenfalls nicht äußerlich. Sie kämmte weiter mechanisch ihr langes schwarzes Haar glatt und wandte ihrem Vater weiterhin den Rücken zu. Immer mehr schwarze Strähnen rieselten zu Boden.

»Heute kommt endlich eine neue Lieferung Kamnis-Kraut an. Wir werden es brauchen, um uns gegen die anderen Gabenträger abzuschirmen. Ich habe außerdem den Schatzmeister bestochen, uns mehr Aranja-Granulat zu besorgen. Unsere Vorräte gehen zur Neige und wir müssen es täglich nehmen. Damit kann uns kein Gabenträger, egal aus welcher Nation, lesen. Wir werden immun sein.« Er seufzte. »Ab heute wird es von Gabenträgern aus allen Nationen am Hofe nur so wimmeln. Sie dürfen die Wahrheit nicht riechen, hören oder sehen, dann wären wir verloren. Wenn einer herausfindet, dass wir das Massaker an dem Dorf veranstaltet haben, nur um Keno in Verruf zu bringen, ist unser Leben verwirkt und all unsere Pläne haben sich erledigt, unsere Macht wird verloren sein«, beendete Gonko seinen Monolog.

Arosa beobachtete das Spiegelbild ihres Vaters, wie er hektisch Karten und Briefe studierte. Das Geräusch von knisterndem Pergament kratzte in ihren Ohren und sie bekam eine Gänsehaut. »Verloren?« Sie versuchte, es zu verbergen, aber ihre Stimme klang müde und rau. Aber ihrem Vater würde es nicht auffallen, er war zu sehr mit sich und seinen Plänen beschäftigt. Wie immer.

»Ja, Tochter, wir werden verloren sein, was sonst?« Gonko sprach leise, aber die Wörter waren so voller Hass, dass sie wie Gift in Arosas Ohren eindrangen und ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken jagten. Dennoch hielt sie den Blick auf das Spiegelbild ihres Vaters gerichtet, sah, wie er wieder und wieder die Dokumente vor sich las und schließlich wütend auf den kleinen Tisch warf.

Arosa legte den schweren Kamm zur Seite und faltete ihre Hände auf dem Schoß zusammen. »Du meinst, du bist dann verloren«, flüsterte sie in einer besonderen Frequenz, die nur Lauscher verstehen konnten.

Ihr Vater hielt mitten in der Bewegung inne und starrte ihren Rücken an. »Wie bitte? Wie war das?«, zischte er in der gleichen Frequenz zurück, dass es Arosa erneut einen Schauer über den Rücken jagte.

Es war das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass er sie wirklich ansah. Sie fand den Blick ihres Vaters durch den Spiegel und hielt ihm stand. Ohne sich abzuwenden von ihm, griff sie erneut nach dem Kamm und bürstete die immer gleiche Haarsträhne.

Gonko Baumgard erhob sich und ging auf sie zu, den Blick weiter auf ihr Spiegelbild gerichtet. Er stellte sich hinter sie, umfasste ihre Schultern und starrte sie durch den Spiegel an. »Sei vorsichtig, was du sagst, Tochter. Du hast mir zu gehorchen, ich dulde keine Aufmüpfigkeit. Ich dachte, das hätte ich dir ausgetrieben.« Er drückte mit seinen Händen fest zu, bis Arosa schmerzhaft zusammenzuckte. Gonkos Mundwinkel ruckten zufrieden nach oben, als er ihr unterdrücktes Stöhnen vernahm. Er funkelte sie durch den Spiegel noch einmal wütend an, bis er von ihr abließ und zurückkehrte an den Tisch mit den Dokumenten.

Normalerweise wäre die Diskussion damit beendet gewesen. Aber seit sie wusste, dass Memnon noch lebte, war nichts mehr beendet. Im Gegenteil, alles fing gerade erst an. Neue Energie durchströmte ihren Körper und ihr Blut rauschte kraftvoll durch ihre Ohren. Sie reckte das Kinn und ohne dass sie es bewusst gesteuert hätte, spannte sich jeder Muskel in ihrem Körper an. Wäre ihr Vater aufmerksamer gewesen, hätte er es hören können, aber er hatte ihr noch nie viel Aufmerksamkeit geschenkt. Jedenfalls nie mehr als erforderlich.

»Ich habe König Mesanthos zu gehorchen, nur ihm habe ich einen Eid geschworen«, erwiderte Arosa mit ruhiger und fester Stimme. Die Müdigkeit war verflogen und eine beinahe vergessene Energie wärmte ihren Körper wie nach einer langen Winterstarre.

Gonkos Kopf zuckte nach oben. Er hielt ihrem Blick einen Moment stand, dann verzog sich sein Mund zu einem bösartigen Grinsen. »Bald schon werde ich König sein.«

Arosa kämmte weiter ihre Haarsträhne. Ihr Gesicht war ausdruckslos. »Möglich. Aber ich nehme an, Memnon wird da noch ein Wörtchen mitreden.«

Bei dem Klang dieses Namens wären Gonko beinahe die Briefe aus der Hand geglitten. Er verharrte kurz, hatte sich aber schnell wieder gefasst. Aber nicht schnell genug, um Arosas geübtem Blick zu entgehen. »Ein Toter wird das wohl kaum verhindern können. Und jetzt hör auf mit deinem nervtötenden Geschwätz, du hältst mich von wichtigen Dingen ab.« Er drehte sich um und verstaute sorgsam die Briefe in seiner Robe.

Aber Arosa hatte die Veränderung in seiner Stimme bemerkt. Sie hatte gehört, wie der Herzschlag ihres Vaters bei Memnons Namen einen Moment schneller wurde. Sie hatte gehört, wie er versuchte, es zu überspielen, wie er kurz scharf die Luft eingesogen hatte. Ein Reflex des Körpers, den nur sehr wenige Menschen vollends unterdrücken konnten. Sie wusste, was diese kleine, feine körperliche Reaktion zu bedeuten hatte. Es war schließlich ihr Job, ihr Gegenüber zu lesen. Er hatte sie seit frühester Kindheit zu einer herausragenden Spionin ausgebildet. Arosas Augen weiteten sich, bis das Weiß scharf hervorblitzte.

»Und mach etwas mit deinem Gesicht. Du siehst furchtbar aus. Der König wird dich so nicht einmal bemerken.« Gonko Baumgard war im Begriff zu gehen und drückte schon die Klinke nach unten.

Arosa knallte den goldenen Kamm auf die Anrichte und drehte sich das erste Mal seit Beginn des Gespräches zu ihrem Vater um. »Seit wann weißt du es?« Ihre Stimme klang noch immer gefasst. Sie war ein Profi, keiner konnte ahnen, wie es in ihrem Inneren aussah.