Die Welt der Schamanen - Holger Kalweit - E-Book

Die Welt der Schamanen E-Book

Holger Kalweit

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Beschreibung

Ein schamanischer Reiseführer in das mystische Reich Ihrer Seele! "Wenn wir auch glauben, dass Religion sich nicht auf Papier bannen lässt, so haben wir doch den Versuch unternommen, über das spirituelle Bewußtsein zu schreiben, weil sich Wissenschaft und Religion heute einander annähern und sich vielleicht in absehbarer Zeit die Hände reichen werden." Der Autor führt Sie mit diesem Buch zurück in das unendlich lebendige Reich der Seele. Die Schamanen der unterschiedlichsten Völker sind langerprobte Reiseführer und Wegweiser auf diesem Weg. Sie gehen voraus und halten Ihnen durch die Erfahrungen, die sie in diesem Buch mit dem Leser teilen, die Fackel. Doch erst durch das psychologische Wissen, das wir im letzten Jahrhundert entwickelt haben, können wir die archaisch und seltsam anmutenden Handlungsweisen der Schamanen in ihrer Tiefe erfassen und verstehen. So ist es auch erst jetzt die richtige Zeit, einen breiten Zugang zur mystischen Welt der Schamanen zu erhalten.

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Holger Kalweit

Die Welt der Schamanen

Traumzeit und innerer Raum

Vorwort von Elisabeth Kübler-Ross

HOLGER KALWEIT ist Völkerkundler und Dipl. Psychologe. Er begründete zwei neue Therapien: die Dunkeltherapie und die Naturtherapie. Als Ethnologe erforscht und schreibt er über die Kosmologie von Naturvölkern und führte Mitte der 70er Jahre das Schamanentum in Deutschland ein und veröffentlichte dazu mehrere Bücher. Es geht ihm zentral um die Wiederentdeckung des Wissens alter, nicht europäischer Kulturen. Als Psychologe bemüht er sich vor allem um die Erforschung von Nahtoderlebnissen.

Der Autor führt den Leser mit diesem Buch zurück in das unendlich lebendige Reich der Seele.

Er schlägt dabei die Brücke zwischen uralten, fremd anmutenden spirituellen Erfahrungen und modernem psychologischem Wissen. So erhalten auch die Leser einen Zugang zum Schamanismus, die noch keine eigenen Erfahrungen mit inneren Räumen und Erlebnissen haben.

Dieses Buch enthält Verweise zu Webseiten, auf deren Inhalte der Verlag keinen Einfluss hat. Für diese Inhalte wird seitens des Verlags keine Gewähr übernommen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seiten verantwortlich.

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-8434-6203-7

© 2004 Schirner Verlag, Darmstadt

1. E-Book-Auflage 2015

Umschlag: Murat Karaçay, Schirner

E-Book-Erstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt, Germany

www.schirner.com

Inhalt

Vorwort

Einführung

Schlange beißt nicht Menschen, Schlange beißt, was Mensch denkt

Erster Teil:Die Religion der Zweimalgeborenen

1. Eine Geographie des Todes

2. Das Leben jenseits von Geburt und Tod

3. Die Wirklichkeit der Seele

4. Seelenreisen und Jenseitslehren

Ein Samojede in der Unterwelt

Die arktische Luftreise

Transatlantikflug im Seelenkörper

Die verweigerte Jenseitsreise

Die Geburt eines Propheten

Ich lief durch schwingende Hügel

Miriru – die Begattung mit der Ungud-Schlange

5. Die Körper-Geist-Verbindung: Luftseile und unsichtbare Fäden

6. Die äußerkörperliche Erfahrung

7. Die »wahre Erde«

Zweiter Teil:Die Schamanische Initiation

8. Leiden tötet, leiden belebt – Krankheit und Selbstheilung

9. Zerstückelungsrituale und Knochenschau in der Unterwelt

10. Imaginäre Freunde, Teilpersönlichkeiten und echte Totengeister

11. Sakrale Hochzeiten, Geistehen und Traumsexualität

12. Der Gesang der Macht: Freude, Freude, Freude!

13. Heilige Drogen: Wo die Welt geboren wird

14. Machterwerb durch Vererbung, Übertragung und Geschlechtsumwandlung

15. Die Ablehnung der Macht

16. Der Verlust der Macht

Dritter Teil:Wandlungssymbole des Bewußtseins

17. In den Eingeweiden der Erde

18. Lichterfahrungen und Feuerbälle

19. Aufstieg auf den Weltenbaum

20. Pforten zu Himmel und Unterwelt

21. Naturherren und Lebensspender

22. Kristall kam wirbelnd, Kristall kam regnend

23. Der Rhythmus des Lebens?

24. Gehe im Gleichgewicht, gehe in Schönheit

Vierter Teil:Religion und Wissenschaft

25. Wenn die Anthropologen kommen, verlassen die Götter die Insel

26. Die Welt und ich sind von einem Geist

Epilog

Zu viel Denken an weißen Mann – finde Traum nicht mehr

Anhang

Tabelle zur Lokalisierung der erwähnten Stämme

Anmerkungen

Bibliographie

Index

Fußnoten

Für Julia und Amelie

Vorwort

Mit diesem Buch legt Holger Kalweit eine erstaunlich umfassende Darstellung der schamanischen Erfahrung vor, die Erfahrungsberichte von vielen verschiedenen Heilern und Schamanen aus den unterschiedlichsten Regionen der Welt enthält. Schamanen aus sogenannten primitiven Stämmen Afrikas kommen hier ebenso zu Wort wie die Ureinwohner Australiens, Eskimos, nordamerikanische Indianer und andere.

Daß die Schamanen bei der Darstellung ihrer Initiationserlebnisse oft eine sehr ungewöhnliche und symbolische Sprache verwenden, macht manche ihrer Berichte auf den ersten Blick schwer verständlich, und vielleicht muß man selbst ein Schamane sein, um diese Berichte in ihrer ganzen Tiefe würdigen zu können. Schließlich ist hier von außerordentlichen Erfahrungen in einer »vierten Dimension« die Rede, in die diese Männer und Frauen auf der Suche nach paranormalen Kräften, der Fähigkeit zu heilen und/​oder die Zukunft vorauszusehen unter größten inneren Kämpfen und Schmerzen vorgedrungen sind.

Andererseits erstaunt und freut es mich immer wieder, wenn ich durch ein Buch wie dieses vor Augen geführt bekomme, daß offenbar Menschen auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten von einer Existenz nach dem Tode wußten und sich darauf vorbereiteten, indem sie sie vorwegnahmen – eine Existenz, in der wir keine körperliche Form mehr brauchen und in der wir eher mit einer Art Gedankenübertragung als mit Worten kommunizieren. Es ist dies eine Daseinsform, in der wir sehr verschiedene Bereiche durchqueren und auf dem Weg in bessere Wirklichkeiten manche Hindernisse überwinden müssen; hier ernten wir im Grunde das, was wir früher gesät haben. Ein Mensch, der ein gutes und mitfühlendes Leben geführt hat, kann den Totenfluß ohne Schwierigkeiten überqueren, während andere aufgehalten werden und je nach dem Grad der Selbstvervollkommnung und Güte, die sie im vergangenen Leben erreicht haben, eine kürzere oder schier endlose Weile kämpfen müssen, bis sie das jenseitige Ufer erreichen.

Nur wenige Menschen in unserer modernen westlichen Zivilisation begreifen, daß die Hilfsgeister und »imaginären Freunde«, von denen in diesem Buch auch die Rede ist – die von mir betreuten todkranken Kinder nennen sie ihre »Spielgefährten« –, keine Projektionen einer wilden Phantasie sind. Sie sind wirkliche Gefährten dieser Kinder, ihre Begleiter, Führer und Helfer in einer Zeit der Isolation, der Einsamkeit und des Leidens. Kinder in der ganzen Welt kennen solche Gefährten. Erst wenn sie aufwachsen in einer ungläubigen Welt, die über solche »Einbildungen« lacht, verlieren die meisten Kinder die Fähigkeit, diese Helfer zu erkennen.

Für unsere heutige westliche Welt ist es von größter Wichtigkeit, ihre Werte und ihre Ansichten einer kritischen Prüfung zu unterziehen – vor allem in Hinsicht auf Krankheit und Leiden. Das Motto der von mir gegründeten weltweiten Organisation »Shanti Nilaya« lautet: »Würden wir die Felsschluchten gegen alle Stürme abschirmen, so könnten wir niemals die Schönheit ihrer zerfurchten Wände bewundern.« Jene Menschen, die – wie die Schamanen, von denen dieses Buch berichtet – vielleicht schon früh in ihrem Leben durch schwere Zeiten und große Umwälzungen gegangen sind, werden mit großer Wahrscheinlichkeit zu den Begabtesten unter ihren Mitmenschen gehören. Sie werden nicht nur daran glauben, daß sie in diesem Leben geführt werden und daß es ein Leben nach dem Tode gibt, sie werden auch wissen, daß das Leben eine Schule ist, in der wir lernen und spirituell wachsen sollen.

Die Erweiterung unseres Bewußtseins und die Einsicht in Wirklichkeiten jenseits der dreidimensionalen materiellen Welt sind die Belohnung, wenn es uns gelingt, uns zumindest zeitweise von der materiellen Welt loszulösen und nach innen zu gehen. Dort erfahren wir dann unser spirituelles Potential, das, was andere den »Götterfunken« genannt haben und was der Teil Gottes ist, der in uns allen ist. Wer einmal einige dieser Offenbarungen erfahren hat, wird sie bei der Beschäftigung mit diesem Buch über den Schamanismus darin wiedererkennen. Er weiß und wird hier bestätigt finden, daß die menschlichen Grunderfahrungen auf der ganzen Welt die selben sind, da wir alle aus der gleichen Quelle hervorgehen. Und wir werden dorthin zurückkehren, wenn wir unsere Lektionen gelernt und unsere Prüfungen bewältigt haben, denn wir sind alle Kinder des gleichen Gottes.

ELISABETH KÜBLER-ROSS

Einführung

Schlange beißt nicht Menschen, Schlange beißt, was Mensch denkt.1

Wir gleichen Gefangenen in einer Höhle, die verbissen auf die nackten Felswände starren, wo wir sich bewegende Schatten wahrnehmen. Es sind die Schatten von Gegenständen, die – für uns unsichtbar – hinter unserem Rücken vorbeigetragen und von einem großen Feuer außerhalb unseres Gesichtskreises beleuchtet werden. Wir wenden uns nicht um und ergründen die Ursache der Schatten, weshalb wir überzeugt sind, hier eine wirkliche Welt vor uns zu haben – die Welt der Sinneswahrnehmungen. Doch brächte einer der Gefangenen Kraft und Mut auf, sich umzudrehen und stiege aus der Höhle hinaus, würde er die Gegenstände, die Ursache der vagen Schattenrisse erkennen. Verließe er schließlich die Höhle ganz, würde er – nachdem er sich die schmerzenden Augen gerieben hat – die Sonne schauen. Kehrte er nach dieser überwältigenden Erkenntnis der Natur seiner Schattenwelt in die Höhle zurück, würde wohl niemand der dort Lebenden seinen phantastischen Geschichten Glauben schenken; er wäre fortan ein Einsamer, der sich beauftragt fühlt, seine Mitmenschen aus der Verblendung zu führen und der ihnen das Schattenhafte ihrer Schattenwelt begreiflich machen will. Aber, fragen wir, kann nicht nur der, der selbst aus der Höhle hinausgekrochen ist, begreifen?

Diese berühmt gewordene erkenntnistheoretische Parabel stammt aus Platons Politeia. Sie enthält eine Handlungsanweisung für die wissenschaftliche Welt, die zwar viel zitiert, aber deshalb noch lange nicht befolgt wurde. In dieser Untersuchung wollen wir jedoch den erkenntnistheoretischen Prinzipien des »Höhlengleichnisses« folgen, zumal sie auch die Grundlagen des schamanischen Lehrweges sind.

Wer ist jener Mensch, der aufsteht, sich umdreht und geradewegs hinausläuft, um sich den »Schattengestalten« zu stellen? Ist es etwa der Schamane, der seine Geister herbeiruft, der Medizinmann, der im geistigen Sehen durch die Menschen hindurchschaut, der Magier, der die Lüfte durchfliegt und seinen Körper halbtot unter sich zurückläßt?

Das schamanische Weltbild überspringt Zeit und Kausalität, verkürzt Räume telepathisch und huldigt der Kommunikation mit allem Sein. Es sieht den Einzelmenschen eingespannt in ein universelles magisches Kraftfeld, in dem schon der leiseste Gedanke das gesamte Universum erschüttert, das gesprochene Wort den Nachbarn tötet und der normale Verstand durch ekstatische Kommunion mit der Umwelt zunichte gemacht wird. Jene Weltschau, durch die der Mensch fähig ist, mit unsichtbaren Energiemanifestationen oder mittels jenseitiger Entitäten die irdische Sphäre des Leiblichen zu beeinflussen, ist, so glauben viele, zu weit von der Logik unseres abendländischen Alltags entfernt, um im 20. Jahrhundert noch der Beachtung wert zu sein. Der Anthropologie ist in unserer wissenschaftsgläubigen Zeit die Aufgabe zugefallen, diese »abartigen« menschlichen Denkfiguren rational abzutun.

Die »perverse«, auf den Kopf gestellte Physik des schamanischen Universums – in der die Zeit dehnbar, der Raum plastisch, die Materie durchlässig ist und die bekannten Energiemanifestationen von weiteren unsichtbaren, feinstofflichen Kräften überboten werden – fällt durch die Maschen unseres Erkenntnissystems hindurch. Mit diesem Universum in Einklang leben jedoch alle Stammesgesellschaften, und auch unsere Vorfahren sowie alle Kulturen der alten und neuen Welt huldigten einst einem solchen Universum. Nur unsere moderne abendländische Kultur bildet eine Ausnahme. Als Einzelgänger unter den Kulturen hat sie sich in gezügelter Experimentierfreude ganz auf das im Dreidimensionalen Beobachtbare, auf eine rein sensorische, nur durch Logik erschließbare Wirklichkeit zurückgezogen.

Die Erfahrungen des Schamanen sind jedoch reale transpsychische Erfahrungen – und sie sind für jeden Menschen wiederholbar, bringt er nur genügend Mut und Selbstdisziplin auf, unseren begrenzten Intellekt und unser eingeengtes Normalbewußtsein zu überwinden. Jenseits dieses »normierten« Bewußtseins gibt es nämlich ein ganzes Spektrum von Wahrnehmungsformen. Die Stufenleiter der Erfahrung, die jeweils neue Daseinsweisen enthüllt, ist eine ewige Metapher des Erkenntnisfortschritts.

Zwei Besonderheiten unserer westlichen Zivilisation haben uns stark geprägt: zum einen der Gedanke, dem auch Friedrich Nietzsche anhing, allein in einem feindlichen Universum zu sein; zum anderen die Vorstellung, daß das Leben in letzter Instanz sinnlos ist. Im Gegensatz dazu verweist der Schamane auf die Lebendigkeit allen Seins, auf die globale, auf allen Ebenen gegebene Beziehung zu sämtlichen Wesen und Dingen – und auf das Erfülltsein des Universums mit einer schöpferischen Essenz, die die normale Existenz transzendiert und ihr inneren Zusammenhalt gibt. Der Schamane steht in der jahrtausendealten Tradition der Philosophia perennis, der mystischen Tradition der Einheit aller Dinge, allen Seins. Für die Magie ist alles mit allem verbunden, eins ersetzt das andere, das Gesetz des pars pro toto regiert, und das Bewußtsein besitzt, einer gigantischen Telefonzentrale gleich, Zutritt zu allen anderen Bewußtseinsebenen. Um diese Ebene der Erfahrung zu erreichen, fordern alle mystischen Schulen die vorübergehende Vernichtung des »normalen« Bewußtseins und die Aufhebung des rationalen Denkens durch mentale Techniken. Bewußtseinsleere läßt eine alternative Daseinsweise zum Durchbruch kommen, verschafft Zugang zur Existenzebene des transpersonalen Erlebens. Der psychischen Erfahrung wurde mit Beginn der Aufklärung und verstärkt mit der industriellen Revolution in immer stärkerem Maße ein wirklicher Beitrag zum menschlichen Leben abgesprochen. Die Aversion gegen theologisches Denken, christliche Innenwelt und Offenbarung des Göttlichen trieb unsere Kultur zu einer einseitigen Haltung in der Auseinandersetzung mit dem Lebendigen. Ein Standpunkt nüchterner Betrachtung des Faktischen und Materiellen setzte sich durch, und die Psyche geriet dabei in Vergessenheit. Der Materialismus schüttete das Kind mit dem Bade aus – er verwies die Psyche aus dem irdischen Paradies.

Erinnern wir uns an die Anfänge der wissenschaftlichen Psychologie und an ihre enormen Schwierigkeiten, sich als Wissenschaft durchzusetzen, die eine Innenwelt mit gesetzmäßigen Strukturen und Mechanismen postulieren konnte. Heute steht diese Wissenschaft nun dem gegenüber, was sie aus Selbstschutz, aus Angst, unwissenschaftlich zu sein, aus einer Lähmung des Verstehens gegenüber der religiösen Erfahrung abgelehnt hat – der Anerkennung veränderter, höherer Bewußtseinszustände.

Das westliche Denken befindet sich in einer Krise und sucht im Zuge der Befreiung aus den selbstgeschaffenen Fesseln den Weg zurück zum Ursprünglichen. Der Schamane und die metarationale Sphäre des Religiösen mit ihrer Erweiterung der Bewußtseinsstruktur nimmt dabei einen bedeutenden Platz ein, und das zunehmende Interesse an »primitiver« Religion geht dabei weit über das akademisch und anthropologisch Verantwortbare hinaus. Schon immer aber haben gesellschaftliche Gruppierungen, ja ganze Philosophien, Kulte, Modeströmungen und der Zeitgeist ganzer Epochen die unbekannte Kultur oder den fremdartigen Lebensstil für sich in Anspruch genommen, nur zu oft gepaart mit naivem Hedonismus, verstecktem Ethnozentrismus und abstrusen kulturellen Synkretismen. Das neue Religionsverständnis ist nicht frei von traditionellem Dogmatismus und sozialen Pathologien, doch durch den Drang nach unverstellter innerer Erfahrung, nach authentischer Spiritualität, besteht eine Chance, religiösem Kollektivismus, Aberglauben, Frömmelei und so weiter wenigstens teilweise zu entgehen.

Wenn wir auch glauben, daß Religion sich nicht auf Papier bannen läßt, daß Religion Erfahrung ist, so haben wir doch den Versuch unternommen, über das spirituelle Bewußtsein zu schreiben, weil Wissenschaft und Religion sich heute einander annähern und sich vielleicht in absehbarer Zukunft die Hände reichen werden. Wenn dies geschieht, dann brauchen wir nicht mehr mit Albert Einstein zu sagen: »Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind.« Was beide vereinigen kann, ist unser Bewußtsein, die Erkenntnis, daß alles Leben ein Abenteuer des Bewußtseins ist. So wie für Einstein alle wissenschaftlichen Theorien freie Erfindungen des Geistes sind, so sind für das spirituelle Weltempfinden alle Bewußtseinszustände freie und gleichzeitig beschränkte Schöpfungen, Facetten der kosmischen Ganzheit.

Trotz der Diskriminierung und der Isolierung, die die Stammesgesellschaften heute im imperialistischen Gefüge der westlichen Zivilisation hinnehmen müssen, trotz ihrer marginalen Position, der ihnen entgegengebrachten Geringschätzung, der Beschreibung ihrer Eigenarten in psychopathologischer Terminologie, der Herabwürdigung ihres Status zur Nichtexistenz durch einfaches Totschweigen und eine Politik des Völkermords, trotz der Etikettierung ihrer Mitglieder als Primitive, als Relikte der Evolution für den Biologen, als kulturelle Abnormitäten für den Soziologen, als prärationale Spezies für den Psychologen, trotz ihrer Einschätzung als unterentwickelte Gesellschaften für den Ökonomen, als nichtexistent für die militärischen Strategen, als romantische und exotische Reisebuchfiguren für satte Wohlstandsbürger – trotz alledem haben ihre Medizinmänner auf Menschen der »zivilisierten« Welt immer eine große Faszination ausgeübt. Obwohl man im Schamanen immer den Trickkünstler oder den psychisch Gestörten erblickte, der am stärksten von den Ausgeburten einer nicht-aristotelischen Weltschau geprägt ist, hat er die Interpretationssucht westlicher Kulturtheoretiker am meisten herausgefordert – und zwar gerade deshalb, weil er für eine auf Egostärke, »normales« Wachbewußtsein und dreidimensionale Logik eingeschränkte Ideologie ein nicht zu duldendes Schreckgespenst verkörpert.

Die Geschichte der Erforschung des Schamanentums ist die Geschichte einer Verschwörung gegen das arationale, unobjektive, nicht-kartesianische Denken. Medizinmann, Trancemedium, Visionär und Zauberer stellen für den aufgeklärten Geist seit jeher den Erzfeind des »vernünftigen« Denkens dar. Der Schamane ist für den wissenschaftlichen Verstandesdünkel die dunkelste Ausgeburt menschlicher Unvernunft. So schwebt über jeder intellektuellen Bewegung, die sich dieses Stiefkindes der Wissenschaft annimmt, das Damoklesschwert des wissenschaftlichen Ruins, wenn sie dieses Thema nicht von der Warte sozial-behavioristischer, intellektualistischer oder naiv-materialistischer Konzeptionen abhandelt. Schamanenforschung ist jedoch keine Grenzwissenschaft für besonders exaltierte Gelehrte. Sie rückt mit Siebenmeilenstiefeln aus den Randbezirken in den Mittelpunkt unseres existenziellen Verständnisses. Da die Grundwerte des abendländischen Denkens ins Wanken geraten sind und neue Bewußtseinswelten sich abzeichnen, rückt der Schamane in den Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit – der Vernachlässigte, der Meister des Absurden, der verbannte König findet zurück ins Reich. Die schamanischen Erfahrungen bringen uns die sakrale Dimension der Natur wieder näher, profane Wissenschaft sowie heilige Inspiration und Weisheit vereinen sich zu einer neuen meta-rationalen Wissenschaft – die klaffende Wunde der Dualität beginnt sich zu schließen.

In dieser Arbeit werden wir die Erfahrungen von über- oder paranormal begabten Menschen skizzieren, die sich unter großen Strapazen und Gefahren in Sphären des Überbewußten katapultiert haben, von denen aus wir nach der Überwindung der Grenzen des Alltags-Ego eine umfassendere Schau des menschlichen Daseins gewinnen. Sie gehören jeweils zu den bedeutenden Persönlichkeiten ihres Stammes, stellen das »Zentralgestirn« ihrer Gesellschaft dar, bilden den Kern der religiösen, politischen und sozialen Gemeinschaft. Wir werden versuchen, eine positive Erklärung der schamanischen Lebensschau zu geben, von der jeder Psychiater, aber auch jedes Individuum, das auf der Suche nach Selbstvervollkommnung und Ich-Transzendenz ist, lernen kann. Unser theoretisches Repertoire für diese Untersuchung stammt im wesentlichen aus einer neuen wissenschaftlichen Orientierung, die ihr rein abendländisches Gesicht verloren hat, da sie die Psychologien und Philosophien anderer Kulturen anerkennt und mit unseren modernen Erkenntnissen zu vereinen sucht: der Transpersonalen Wissenschaft.

Für jene Menschen, die sich allein mit »realistischen« Problemen beschäftigen wollen, gehört die Auseinandersetzung mit fremden Völkern, insbesondere mit »primitiven« Zauberern in einen Bereich, der kaum noch das Interesse unserer fortschrittssüchtigen gegenwärtigen Zivilisation verdient. Sollte es in unserer ach so modernen, objektiven, vernünftigen Welt tatsächlich noch solche Menschen geben? Seltsam genug – das Magische, Okkulte und Außersinnliche scheint sich wieder auszubreiten und sich in unserer Zivilisation auf dem Weg über die modernsten Forschungen wieder zu Wort zu melden.

Durch die allgemeine Krise des abendländischen Denkens und durch den Umbruch der klassischen Denkparadigmen begünstigt, gewinnen auch solch mysteriöse Forschungsgebiete wie der Schamanismus wieder an Bedeutung, da sie neue Modelle des Geistes und ein weiteres Universum des Bewußtseins formulieren.

Die Prämissen der Naturwissenschaften ebenso wie unsere moralischethischen Wertvorstellungen scheinen zu versagen, ihr zu eng zusammengeflicktes Gewand platzt aus den Nähten, und durch die Risse des objektivistischen Universums schillern schamanische Bewußtseinserfahrungen hindurch, denen sich die Wissenschaft, will sie sich den neuen Wirklichkeiten nicht zunehmend entfremden, zuwenden muß. Die dunkelsten Gebiete des menschlichen Geistes werden nun erhellt, das Primitiv-Ursprüngliche avanciert zum Fortschrittlich-Zukünftigen, und die Heiligen, Schamanen und Yogis werden zu Anklägern der abendländischen Mentalität. Was wir bisher als unterentwickelt und naiv abgestempelt haben, gerät heute offenbar zu einer Herausforderung an unsere weitere kulturelle Entwicklung; integrieren wir das so lange Verdrängte nicht in unsere Geisteshaltung, vergrößert sich der Schatten, der unheilvoll über dem mechanistisch materialistischen Lebensstil schwebt.

Unsere Kultur bedarf aber weitaus mehr als nur eines veränderten Lebensstils; die Strukturen des Denkens und die Relation von Bewußtsein und Materie sind im westlichen Gehirn schief gelagert – die Welt, ganz auf die materielle Seite gerutscht, droht uns zu erdrücken. Wir befinden uns in einer materialistischen Hypertrophie, und sollten wir uns auf ihrem Höhepunkt selbst vernichten, wäre das nur die endgültige Widerlegung eines Weltbildes, das wir bis dahin für das non plus ultra gehalten haben. Der indianische Schamane Lame Deer sagt dazu:

Allein die Menschenwesen sind an einem Punkt angelangt, wo sie nicht mehr wissen, wozu sie leben. Sie wissen ihr Gehirn nicht mehr zu gebrauchen, und sie haben das geheime Wissen ihres Körpers, ihrer Sinne und ihrer Träume vergessen. Sie machen keinen Gebrauch mehr von dem Geist, der einem jeden von ihnen eingegeben wurde. Sie sind sich dessen nicht einmal bewußt, und so stolpern sie blind auf die Straße ins Nichts – einen geteerten Highway, den sie selbst gewalzt und geglättet haben, um schneller zu dem riesigen Loch zu kommen, das sie am Ende alle verschlucken wird. Es ist ein schneller, komfortabler Super-Highway – ich weiß, wo er hinführt. Ich habe es gesehen. Ich war in meinen Visionen bereits dort, und ein Schauer läuft mir den Rücken hinunter, wenn ich nur daran denke.2

Erster Teil Die Religion der Zweimalgeborenen

Einst starb ein sehr mächtiger Medizinmann. Bevor er starb, befahl er den Leuten, ihn nach seinem Tod zu verbrennen. Sie taten, wie er sie geheißen hatte. Doch er kam wieder ins Leben zurück. Bei seinem zweiten Tod hängten sie seinen Körper an ein Trockengestell, wie er ihnen befohlen hatte. Er wurde wieder lebendig. Beim dritten Tod banden sie ihn in einem Kajak fest, schleppten es aufs Meer hinaus und ließen es treiben. Er kam zurück. Beim vierten Tod zerschnitten sie ihn, kochten ihn in fünf Töpfen und verstreuten die Stücke überall – all das entsprechend seinem Befehl. Doch er kam wieder ins Leben zurück. Als er das fünfte Mal starb, wurde er als Baby wiedergeboren.

(LANTIS 1946, S.308)

1. Eine Geographie des Todes

Tod bedeutet für Plato lysis, Loslösung, und chorismos, Abtrennung. Philosophie definiert er geradezu als phaedros melete thanatou, Praxis und Vorbereitung für den Tod; dank diesem Wissen der Philosophen sei der Tod für sie weniger schrecklich als für andere Menschen, glaubte er. Es heißt, daß ein Freund Platos, der zu seinem Totenbett kam, ihn bat, seine Philosophie in einem einfachen Satz zusammenzufassen. Plato soll darauf geantwortet haben: »Übe zu sterben!«

Die enge Beziehung des Schamanen zum Sterben, zum Tod und zum Nach-Todesleben ebenso wie seine geistigen Techniken, die ihn an die Grenzen des Lebens führen, machen ihn zum hervorragenden Vertreter jener platonischen Philosophie.

Doch auch die moderne Todesforschung ist nicht mehr weit von Platos philosophischer Quintessenz entfernt. Ihr geht es zunächst allerdings darum, eine charakteristische Abfolge der Nah-Todeserfahrung zu entdecken. Wie die Untersuchungen von Osis und Haraldsson, die indische und westliche Fallbeispiele verglichen haben, zeigen, trifft man in unterschiedlichen Kulturen auf einen gleichartigen Verlauf der Todeserfahrungen.1 Die Entwicklungskurve von Jenseitsreisen in Stammeskulturen ist bisher noch nicht im Lichte der modernen Erkenntnisse aufgezeichnet worden. Sollten sich jedoch in nächster Zeit Ethnologen ein differenziertes Wissen über die Psychologie des Todes aneignen, sich so bei ihren Forschungen vom einfachen Zuhörer zum wirklichen Gesprächspartner emanzipieren, und sollten sie die Erfahrungen des Schamanen nicht mehr als symbolisch-kulturelle Artefakte fehlinterpretieren, so werden wir einem neuen Aufschwung der Wissenschaft vom Tod entgegengehen.

In diesem Kapitel möchte ich auf die typischen postmortalen Wahrnehmungen eingehen, wie sie die Thanatologie (Todesforschung) bisher herausgearbeitet hat, damit wir an ihnen die Seelenreisen der Schamanen besser messen können.2

Bevor sich das Bewußtsein des Sterbenden vom Körper befreit, hören viele Personen ein eigenartiges Geräusch, das sie als Knacken, Klicken, Brausen, aber auch als wunderbare harmonische Klänge beschreiben. Ein 28jähriger Mann, der im Gefängnis einen Selbstmordversuch unternahm, vernahm augenblicklich seltsame Geräusche: »Ich hörte dieses Klingeln, dieses laute, laute Klingeln; und dann kam ein schwarzes Loch mit all diesen leuchtenden Dingen ringsumher und wunderschöne Musik, die wunderbarste Musik, die ich je gehört habe … Das Läuten wurde lauter und ging in Choräle über, die alle um mich herum erklangen. Es war die wunderschönste Erfahrung, glaube ich, die ich je gehabt habe – ich war vollkommen eingebettet in Töne, in die herrlichsten Stimmen, die ich je gehört habe.«3

Nach verschiedenen akustischen Empfindungen befindet sich die sterbende Person mit einem Mal in einer merkwürdigen Lage: Sie kann ihren eigenen Körper von einem Standpunkt außerhalb beobachten. Sie fühlt sich schwerelos, ja schwebt vielleicht unter der Zimmerdecke, fliegt, gleitet dahin, geht sogar durch materielle Gegenstände hindurch und hört und sieht alles, was um ihren Körper herum geschieht, läßt sich aber durch die Worte der »Lebenden«, etwa des Arztes, der sie operiert oder gar für tot erklärt, nicht beeindrucken. Sie versucht sich mitzuteilen, doch niemand reagiert auf sie. Blitzschnell bewegt sie sich von einem Ort zum anderen und fühlt sich in einen zeitneutralen Zustand versetzt; Raum und Zeit haben ihre Bedeutung für sie verloren. Bald wird sich die Person bewußt, daß sie zwar einen Körper besitzt, aber keinen von fester Beschaffenheit – eher einen, der sich als Nebel, Wolke, Rauch, Dunst oder Kraftfeld manifestiert. Im außerkörperlichen Zustand nehmen viele einen telepathischen Kontakt zu anderen auf, transzendieren die Grenzen der materiellen Welt. Nach dem Klickgeräusch oder der himmlischen Musik und der Körperloslösung fühlen sich die Personen durch einen dunklen Tunnel oder Raum, eine Höhle oder ein Loch gezogen. Nach einem Selbstmordversuch berichtet ein 25 jähriger Mann: »Urplötzlich hatte ich das Gefühl, einen Körper zu besitzen, verloren. Ich fühlte mich wie Energie im All. Es herrschte vollkommene Dunkelheit, ich fühlte mich dahineilen, als sauste ich auf einen pechschwarzen Ort zu. Es zog mich, zog mich, zog mich.«4

Oft taucht in Mythen, aber auch bei überpersönlichen Erlebnissen das Motiv der Grenze, des Hindernisses auf. Der Fluß als Trennungslinie ist vielleicht die bekannteste Form einer Scheide zwischen Diesseits und Jenseits; andere sind Nebelschwaden, Gewässer, Zäune, Türen.

Diese Grenze muß das körperlose Bewußtsein überwinden. Nach dem Durchfliegen des Tunnels oder der Dunkelheit taucht am Ende ein gleißendes Licht auf. Eingehüllt davon erfährt die Person ein Gefühl der Liebe und Anerkennung, und alle Schuldgefühle gegenüber dem Leben schwinden. Dieses Licht besitzt eine nachgerade persönliche Qualität, es gehört zu den bedeutsamsten Erlebnissen in diesem Zustand und führt zu einer völligen spirituellen Verwandlung des Menschen. In diesem Glanz erkennt der Mensch Lichtwesen und ihm bekannte Verstorbene. Manche begegnen in diesem Licht auch Schutzwesen oder spirituellen Helfern. Und wenn aus dem Licht eine Stimme ertönt, so nimmt das Individuum sie nicht akustisch wahr, sondern eher im Zentrum seines Bewußtseins. Das Aussehen der Wesenheiten mag amorph sein oder auch menschliche Züge tragen und an ein Gespenst, wie man es sich landläufig vorstellt, erinnern. Eine Person beschreibt eine solche Gestalt, die sie für ihren verstorbenen Großvater hielt: »Ich sah seidenartige Gewänder, irgendwie fließende Formen – nicht eigentlich greifbar, aber dennoch besaßen sie eine gewisse Dichte. Sie besaßen eine andere Beschaffenheit, sehr, sehr leicht, zart und doch fest. Sie sangen …«5

Einige Personen berichten von Menschen oder Wesen, die sich in einem bemitleidenswerten Zustand befinden; sie seien, obwohl gestorben, noch verstrickt in die Begierden und materiellen Funktionen der irdischen Welt. Forscher wie Charles Garfield sammelten solche als Höllenvisionen klassifizierten Motive6, während andere Autoren diese Zustände nicht verzeichnen konnten.

Oft kommt es – allerdings auch ohne das Auftreten der üblichen Jenseitselemente – zu einem Lebensrückblick. Er taucht regelmäßig im Zusammenhang mit der Begegnung mit jenseitigen Wesen auf. Der Person wird eine Schau über ihr ganzes Leben gewährt, sie nimmt alle Stationen ihrer Entwicklung zur gleichen Zeit wahr oder blitzschnell hintereinander. Die Lebensrückschau empfinden viele als eine Art Gericht, denn die Lichtwesen betonen immer wieder die Bedeutung der Liebe und des Weisheitserwerbs sowie der Wirkungen, die die eigenen Handlungen auf andere haben. Sofort weiß die Person dann, was sie im Leben richtig oder falsch gemacht hat. Plato berichtet von »Zeichen«, die den Seelen nach diesem seelischen Gericht vorn und hinten angehängt werden, auf denen man erkennen kann, was sie im Leben getan haben. Das tibetische Totenbuch berichtet in ähnlicher Weise vom »Spiegel des Karma«.

Der Betroffene tritt nun in eine Welt strahlender Farben und goldenen Lichts ein; er befindet sich inmitten einer Landschaft mit wundervollen Blumen. Die Zurückgekehrten schildern, sie hätten sich in einer Welt aufgehalten, in der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig existieren, und in diese Welt einzutauchen, käme einer Erleuchtung gleich. Viele haben das Gefühl, in unerklärlicher Weise über die Gesamtheit allen Wissens zu verfügen, und aus diesem Gefühl heraus wollen nur wenige wieder in die normale Welt zurückkehren. »Es war«, erzählt ein »Zurückgekehrter« aus Raymund A. Moodys Bericht, »als ob mit einem Schlag alles Wissen – über alles, was seit dem Urbeginn jemals geschehen ist und was immer und ewig weitergehen würde –, es war, als ob ich für eine Sekunde sämtliche Geheimnisse aller Zeiten verstanden hätte, alle Rätsel des Universums, die Sterne, den Mond – einfach alles.«7 Ein weiteres Motiv, dem wir immer wieder begegnen, ist die eigenartige Form der Rückkehr in den Körper. Die Jenseitsbegleiter führen die Person zunächst zu einem anderen, irgendwie höhergestellten Wesen, das die Rückkehr anordnet, da die Zeit des Betroffenen noch nicht abgelaufen sei. Die Jenseitswesen geleiten die Person dann zurück, und das nächste, dessen sie sich bewußt wird, ist, daß sie plötzlich im Bett oder Krankenhaus wieder erwacht. Nach der Wiederbelebung sind viele über die Bemühungen des Arztes erzürnt, denn nur widerwillig kehren sie in die Welt zurück.

Die Nachwirkungen einer Nah-Todeserfahrung zeichnen sich oft durch eine radikale Veränderung der Lebensführung aus. Die Betroffenen entwickeln philosophische Interessen, beschäftigen sich mit religiösen Fragen und verfolgen humanistische Werte und Ziele. Das Sein im Hier und Jetzt erleben sie stärker; insgesamt läßt sich wohl von einer Intensivierung ihres Daseins sprechen. Nach Kenneth Rings Untersuchungen verändert sich für 60% der »Zurückgekehrten« das Leben, 43% sagen, diese Erfahrung sei die bedeutsamste ihres Lebens gewesen, 89% möchten sie gern wiederholen.8 Wie es scheint, ist das Nah-Todeserlebnis mit einer psychischen Wiedergeburt verbunden, mit einer Bejahung der menschlichen Existenz. Durch das Überleben des klinischen Todes entwickeln die meisten Personen eine neue Vorstellung vom Sterben, sie verlieren die Angst vor dem Tod und neigen zu einer positiven Einstellung gegenüber dem Dasein. Die Nah-Todeserfahrung bedeutet auch für den Schamanen eine Umwandlung, von der er mit Ratschlägen, Offenbarungen und Botschaften Verstorbener heimkehrt. Für viele ist der Aufstieg in den Himmel oder der Abstieg in die Unterwelt das zentrale Initiationserlebnis, aus dem sie als Verwandelte, die besondere Kräfte von Jenseitswesen mit auf den Weg bekommen haben, hervorgehen.

Die Kritik der Nah-Todesphänomenologie, der wir uns nun zuwenden wollen, verfolgt zwei Stoßrichtungen. Die erste, eine Auferstehung des Spiritismus in wissenschaftlichem Gewand fürchtend, versucht, die Phänomene mit medizinischen »Erklärungen« herunterzuspielen, zu physiologisieren, gehirnbiologisch greifbar zu machen. Die zweite arbeitet noch mit dem veralteten Konzept der Halluzination.

Ronald Siegel meint, Nah-Todeserfahrungen spiegelten die innere Struktur des Gehirns wider, und Tunneleffekt und Lebensrückblick seien gehirneigene Produktionen. Sehr oft würden blockierte Erinnerungen durch psychoaktive Drogen, traumatische Erlebnisse oder gehirnelektrische Reizungen wieder freigesetzt; in diesem Sinne lasse sich auch die panoramaartige Lebensschau erklären. Geräusche und Musik erklärt Siegel damit, daß auch während der Operation unter Anästhesie noch sensorische Informationen ins Gehirn dringen. Die Lichterfahrungen begreift er als eine Reizung des Zentralnervensystems, welche den Effekt einer Lichtreizung imitiere.9 Andere Forscher sehen die Lichterlebnisse als Folge einer Unterversorgung des Hinterhauptlappens, in dem sich die Sehrinde befindet, mit Sauerstoff. Dem läßt sich mit Moody entgegenhalten, daß Tunnelerlebnisse und Geräuschhören nicht nur bei Narkosepatienten auftreten, sondern auch in allen anderen Sterbesituationen des täglichen Lebens. Das Geräuschphänomen vergleicht man mit den auditiven Halluzinationen bei Schläfenlappenepilepsie, die eine Dämmerattacke ankündigen; diese Patienten erfahren oft auch eine panoramahafte Erinnerungsfähigkeit. Die Nah-Todeserfahrungen, von denen die genannten Autoren berichten, treten jedoch nicht bei Schizophrenen auf, sondern bei völlig normalen Menschen, die zufällig in Unfälle verwickelt oder krank wurden.

Ob es sich bei diesen Nah-Todeserfahrungen um eine toxische Psychose, um Sauerstoffmangel, Epilepsie oder Narkosewirkungen handelt oder um rein psychische Erlebnisse mit persönlichkeitsintegrativer und spiritueller Kraft, soll hier nicht die Frage sein. Wenn wir später betrachten, mit welchen physiologischen Mitteln Schamanen sich bewußt in Todesnähe begeben, werden wir sehen, daß diese beiden Aspekte sich nicht unbedingt ausschließen müssen. Unterbrechung der Sauerstoff- und Blutzufuhr zum Gehirn, narkoseähnliche Bedingungen und anfallartige Trancezustände gehören zum Repertoire schamanischer Psychotechnik ebenso wie die Erzeugung von Angst, Streß, Schock und wirklichen Nah-Todessituationen. Es ist wohl eher so, daß wir die bewußtseinsverändernde Potenz von Epilepsie, Psychose und Narkose neu zu definieren haben; in ihnen stecken transpersonale Reserven des Bewußtseins, die es erst noch zu erschließen gilt.

Ob wir die psychischen Erscheinungen nun neurophysiologisch, als Halluzination, transpersonal oder spiritistisch deuten, bleibt angesichts der positiven existentiellen Nachwirkungen zunächst irrelevant. Die neurophysiologische Position geht mit Scheuklappen an der psychischen Realität vorbei, und der Begriff »Halluzination« legt die Leugnung der »Wirklichkeit« solcher Erfahrungen und deren Einstufung als »pathologisch« nahe. Die transpersonale Theorie dagegen scheint in diesem Bereich heuristisch und praktisch die fruchtbarste zu sein. Sie stellt sich auf die Seite des Wahrnehmenden, hilft ihm, seine Erlebnisse zu integrieren und geht von einem latenten noch aufzubrechenden Bewußtseinspotential aus, in das die Nah-Todeserlebnisse erste Einblicke geben.

2. Das Leben jenseits von Geburt und Tod

Die Welt besteht nicht nur aus dem, was wir wahrnehmen. Sie ist riesig und hat auch noch Platz für Menschen, die sterben und nicht mehr hier unten auf der Erde wandeln. Die Menschen hören nicht auf zu existieren, weil Krankheit oder ein anderer Unfall ihren tierischen Geist hier auf der Erde tötet. Wir leben weiter, und es gibt jene, die sagen, daß es das, was wir die Seele nennen, ist, was uns vom Sterben abhält.

Das erzählen uns nicht nur die Schamanen, die die verborgenen Dinge kennen; gewöhnliche Leute, die zu träumen verstehen, haben oft gesehen, wie ihnen die Toten erschienen, so als ob sie lebendig wären. Deshalb glauben wir, daß das Leben nicht hier auf der Erde aufhört.

NALUNGIAQ, EIN NETSILIK-ESKIMO.1

Wenn einer 75 Jahre alt ist, kann es nicht fehlen, daß er mitunter an den Tod denke. Mich läßt dieser Gedanke in völliger Ruhe, denn ich habe die feste Überzeugung, daß unser Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur; es ist ein Fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich, die selbst unseren irdischen Augen unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet.

GOETHEZU ECKERMANNAM 2. MAI 1824.

Eine ebenso einfache wie drastische Art und Weise, den Bewußtseinszustand eines Menschen zu verändern – und das dürfen wir als die radikalste Form des Bewußtseinswandels ansehen –, ist es, jemanden zu töten oder ihn in Todesnähe zu führen. Eine außerkörperliche Erfahrung oder eine Reise ins Jenseits gelten im schamanischen Universum als Höhepunkte der Bewußtseinsveränderung; sie bieten, wie wir sehen werden, einem Schamanen die beste Voraussetzung, übersinnliche Erfahrungen zu machen. Ein Beispiel hierfür ist der Bericht des Polarforschers Knud Rasmussen über die Caribou-Eskimo Schamanin Kinälik. Rasmussen beschreibt sie uns als 30 Jahre alte, sehr intelligente, saubere, vertrauenswürdige und gesprächige Frau. Sie wurde durch eine Todesvision zur Schamanin, genauer gesagt starb sie durch Erschießen.

Man hatte sie zur Schamanenausbildung bestimmt, weil sie einmal geträumt hatte, ein Mann des Stammes würde krank werden. Das nahm man als Zeichen für ihre schamanische Begabung – die Geister hätten ihr im Traum diese Nachricht eingegeben. Ihr Schwager, der Schamane Igjugârjuk, wurde ihr Lehrer. Ihre Mutter bat Igjugârjuk, Kinälik zu »erschießen«. Vor ihrer Hinrichtung harrte sie fünf Tage im Freien aus, an Zeltpfählen aufgehängt, damit Hila, die mystische Kraft, sie sehen und ihr Aufmerksamkeit schenken würde. Trotz des harten Winters mit seinen eisigen Schneestürmen konnte ihr die Kälte nichts anhaben, denn ihr Hilfsgeist beschützte sie. Als Igjugârjuk sie erschoß – nicht mit einer Bleikugel, sondern mit einem kleinen Stein –, versammelten sich die Stammesangehörigen und schauten zu. Kaum war Kinälik tot zusammengebrochen, stimmten alle einen Gesang an und feierten die ganze Nacht hindurch. Kinälik ließ man draußen im Schnee liegen, unter der Obhut ihres Hilfsgeistes natürlich.

Am nächsten Morgen, als Igjugârjuk sie gerade wiederbeleben wollte, wachte Kinälik ganz von alleine auf. Sie war ins Herz getroffen worden. Den Kiesel verwahrte ihre Mutter sorgfältig. Kinälik erklärte nach dieser Initiation, ihr Hauptschutzgeist sei nun ihr toter Bruder, der sie oft besuchen käme, indem er mit dem Kopf voran und mit gespreizten Beinen durch die Luft glitte, dann aber auf der Erde wie ein gewöhnlicher Mensch laufe. Den Polarbären gab sie als einen weiteren ihrer Hilfsgeister an. Igjugârjuk hielt ihre Ausbildung damit für beendet und wollte ihr keine zusätzlichen Leiden mehr auferlegen. Je mehr Leiden ein werdender Schamane auf sich nimmt, desto größere schamanische Macht erwirbt er. Igjugârjuk hatte noch einen weiteren Schüler: Aggiârtoq. Ihm erlegte er eine andere Art des Sterbens auf. Igjugârjuk wählte für Aggiârtoq den Tod durch Ertrinken. Man band Aggiârtoq an eine Zeltstange und trug ihn auf das Eis hinaus; dort schlugen die Männer ein Loch und ließen ihn mit Kleidern auf den Grund des Sees hinab. Dort blieb er fünf Tage lang stehen; als sie ihn wieder hinaufzogen, war er seltsamerweise völlig trocken, so als sei er nie mit Wasser in Berührung gekommen. Von nun an standen ihm seine tote Mutter sowie ein Skelett als Hilfsgeister zur Seite.2

Die gewaltigste Idee, die der menschliche Geist seit seiner Evolution zur Kulturfähigkeit zum Leitmotiv seiner Werke und Handlungen machte und die wohl von keinem Gedanken, keiner Spekulation und Theorie in allen verflossenen Epochen übertroffen werden konnte, ist der Glaube, das Wissen, ja die Erfahrung, daß unsere physische Sinneswelt eine Welt der Schatten, der Illusion und der Täuschung ist und daß unser Körper, jenes dreidimensionale Werkzeug, einem Etwas als Hülle und Wohnung dient, das – weit größer und allumfassender als er – die Matrix des wirklichen Lebens bildet.

Die Seele hat in den Sprachen der Völker viele Namen erhalten: Schatten, Hauch, Lebensatem, Pneuma, Entelechie, Geist, Doppel sind nur einige. Die Konzeption einer Seele reduziert unsere sichtbare Welt der Form und der Eigenschaften auf eine abgeleitete oder sekundäre Welt. Der Schatten wird zum Ursprung und die Materie zum Kind, zum Nachfahren einer höher strukturierten, einheitlichen und überdimensionalen Wirklichkeit.

Leben wir also in einem Universum der projizierten Bilder, der gesteuerten Handlungen, in einer Antipodenwelt, in der die Seele ein Marionettenspiel mit unserem Körper inszeniert und unsere Psyche die Fäden darstellt, mit denen sich unser Körper drehen und wenden läßt? Ist das Leben hier etwa auf den Kopf gestellt und die Wirklichkeit zu äußerem Schein verkommen? Träumten Kulturen aller Epochen, Zivilisationen aller Kontinente vom Anfang aller Zeiten bis zur Gegenwart nur den Traum der physischen Existenz? Ist unser Dasein bloß ein Traum der Seele, die wie ein Filmvorführer ein geschäftiges Kommen und Gehen vor unseren Augen ablaufen läßt, das ebensowenig Substanz hat wie die Bilder auf der Projektionsleinwand? Ist die Seele jener Energiespender oder Lebensodem, der uns die Kraft gibt, die Sinne einzuschalten, die Rezeptoren von Haut und Augen ansprechen zu lassen und unsere Denkzentren anzukurbeln und in Gang zu halten?

Nichts geht ohne Seele, hören wir von den hervorragendsten Geistern aller alten Kulturen: kein Verstand, keine Lebensfunktionen, keine Fingerbewegung. Die Philosophie der Seele ist nicht nur die älteste, die dauerhafteste und am weitesten verbreitete Form eines philosophischen Solipsismus, sie ist auch die ursprünglichste und fundierteste Idee vom menschlichen Sein. Eine Welterfahrung, die sich selbst nur als platzende Schaumkrone auf den Wellenbergen tieferer Strukturen empfindet, als kurzlebige Monade gebunden an einen umfassenderen Seinsgrund, führt unvermeidlich zu einer idealistischen Philosophie – degradiert sie doch unser materielles Dasein zu einem Dasein zweiter Ordnung, zu einem Geschehen vom Wirklichkeitsgehalt von Schatten und Spiegelungen.

Die Existenz eines Lebensprinzips jenseits des Körpers steht im Mittelpunkt des Denkens aller Stammeskulturen, die Anfangsglied einer Kette von Kulturen sind, welche sich alle jener einen Idee verschrieben. Wohl gab jede Gesellschaft ihre spezifischen Bewertungen, Ausschmückungen und intellektuellen Farben hinzu und umkränzte die Philosophie der Seele mit dem ihr eigentümlichen Mythos und Lebensstil, doch blieb der Gedanke eines animatorischen Prinzips hinter unserer Körperwelt durch die gesamte Geschichte erhalten, immer wieder genährt von den spontanen Erfahrungen der Menschen.

Beispiele für dieses Leitmotiv in der Menschheitsgeschichte zu bemühen, lohnt sich zunächst kaum, genügt es doch festzustellen, daß das erste und universellste Faktum humanen Seins die Vorstellung einer vom Leib unabhängigen, lebenspendenden Kraft ist, welche das Individuum so maßgeblich bestimmt wie unser Körper den Körperschatten. So wie der Schatten nur scheinbar eigene Existenz hat, jedoch nichts anderes ist als ein unselbständiges, in eine andere Dimension projiziertes Abbild des Körpers, so soll auch unsere materielle Existenz nur ein Spiegelbild der immateriellen Seele sein. Die Seele und ihr postmortaler Lebenszusammenhang ist die erste Tatsache, mit der sich alle traditionelle spirituelle Philosophie befaßt. Die Seele ist daher auch das erste Thema unserer Auseinandersetzung; von ihr ausgehend, vertiefen wir uns in die Sphären der okkulten Erfahrung und des esoterischen Wissens der Schamanen, der Techniker des Heiligen und Spezialisten der Jenseitswelten.

Der Schamane ist der klassische Erforscher des Todesbereichs, er erforscht Routen und Wege zum und im Jenseits und entwirft eine Landkarte des Post-mortem-Terrains. Als »Wissenschaftler« der trans-individuellen Dimension und nicht-irdischen Bewußtseinsdomäne gilt er in seiner Kultur als die große Autorität, die nicht nur die Alltagspsyche kennt, sondern auch den unabhängig vom Körper sich manifestierenden Geist. Seine Einweihungszeit hat den Schamanen gelehrt, psychische und physische Funktionen, Körperchemie, Physiologie sowie Konzentration und Kontemplation zu beherrschen und sich psychisch weit über den Durchschnittsmenschen zu erheben.

Die Fähigkeiten vieler Schamanen mögen bei psychophysischen Selbstkontrolltechniken enden, für andere beginnt hier erst der Auf- oder Abstieg ins Totenreich. Unterstützt von Schutz- und Hilfsgeistern, nehmen sie hier Kontakte zu Verstorbenen, Toten, Dämonen und geistigen Wesenheiten auf, die ihnen mit Rat und Unterstützung bei der Bewältigung des irdischen Lebens zur Seite stehen. Der Schamane unterwirft sich einer jahrelangen harten Schulung, um sich bewußt in einen Todeszustand versetzen zu können, in dem seine Seele den Körper verläßt. Er tastet sich zunächst vorsichtig durch die auf ihn lauernden Gefahren, lernt mit ihnen umzugehen, und je nach Fähigkeit und Kraft dringt seine Seele in abgelegenste Gebiete des Geistes vor. Nicht jeder Schamane weist die gleichen Fähigkeiten auf, je nach persönlicher Disposition reist er weitere oder kürzere Strecken ins Todesreich:

Höchstwahrscheinlich sind viele Merkmale der »Bestattungsgeographie«, wie auch einige Themen der Todesmythologie, Ergebnisse von ekstatischen Erfahrungen der Schamanen. Die Länder, die von den Schamanen gesehen werden, und die Personen, denen sie auf ihrer ekstatischen Reise ins Jenseits begegnen, werden von den Schamanen noch während oder nach ihrer Trance genauestens beschrieben. Die unbekannte und schreckliche Todeswelt gewinnt so Gestalt und wird nach übereinstimmenden Mustern geordnet. Schließlich enthüllt sie eine Struktur, und mit der Zeit wird sie bekannt und vertraut. Der Reihe nach werden die übernatürlichen Bewohner der Todeswelt sichtbar; sie nehmen Gestalt an und offenbaren eine Persönlichkeit, ja sogar eine Biographie. Langsam aber sicher wird die Welt des Todes erkennbar. Die Berichte über die ekstatischen Reisen der Schamanen helfen bei gründlicher Untersuchung, die Welt des Todes zu »vergeistigen« und gleichzeitig mit wunderbaren Formen und Gestalten zu bereichern.3

Der Schamane als Auserwählter, der es schon zu Lebzeiten fertigbringt, die Grenze zur Transzendenz zu durchbrechen, bewegt sich als Botschafter zwischen zwei Welten, der Welt der lebenden Menschen und der Welt der Toten oder nicht-materiellen Existenzen. Er schwingt sich auf zum Heroen, der die überirdischen Gefahren meistert, und wird zum Helden, den die Volksüberlieferung feiert und der in Mythen und Epen Verewigung findet. In der Tat überschreitet der Schamane die profane Daseinsordnung, er tritt heraus aus der Banalität in eine ätherische, feinstoffliche Sphäre, die dem normalen Menschen entweder nur im Tod selbst oder durch zufällige Krankheit, Unfall, Traum, Schock oder starke Emotion zugänglich ist. Das bewußte und kontrollierte Eindringen in diesen verschlossenen Bereich gehört zu den gewaltigsten Leistungen des Menschen, und nicht umsonst genießt der Schamane dafür weltweit Anerkennung und Verehrung.

Der schamanischen Reise in die Unterwelt – wie dem Orpheusmythos – begegnen wir in den Hochkulturen nur noch als Thema der überlieferten Epen und Mythen. In Stammeskulturen ist die Reise in die andere Welt jedoch noch lebendige, jederzeit erlebbare Alltagswirklichkeit, die jeder, wenn auch nur indirekt, bei einer schamanischen Séance, Beschwörung oder Zeremonie hautnah miterleben kann, wenn die Geister durch den Schamanen sprechen und ihre Kommentare über Zukunft, Gegenwart und die Dinge des Daseins abgeben. Der Mensch der Stammeskultur ist daher dem Tode und dem Todesreich näher als der Mensch der späten Zivilisationen, ja er steht philosophisch und existentiell an der Eingangspforte zur Jenseitswelt. In Kontakt mit dem Schattenland und im Zwiegespräch mit den Verstorbenen lebt durch die Vermittlung seines Schamanen auch er in zwei Erfahrungsbereichen. Auch er hat die Möglichkeit, Schamane zu werden und sich die andere Welt ganz zu erschließen. Daß wir in der christlichen Religion vermittels des Priesters und seines abstrakten Amtes nur einen blassen Streifen des jenseitigen Kosmos erblicken, entrückt die überweltliche Sphäre unserem Dasein und unserer Lebensphilosophie. Das Jenseits verkommt zu einem Abstrusum primitiver Geistestätigkeit. Was unsere Kultur als Höherentwicklung verstanden hat, ist eine zunehmende Entfremdung von den Gestalten der postmortalen, transpersonalen Welt und zugleich von unseren ureigenen Kräften, die uns durch psychische Selbstkontrolle und Ekstasetechnik helfen könnten, die Pforten zu höheren Bewußtseinsdomänen aufzuschließen.

Es geht nicht an, den Schamanen als archaischen Helden oder ein Relikt der Vorzeit abzustempeln, der in den Außenbezirken der technologischen Zivilisation dahinvegetiert und dort ein historisch überholtes Dasein fristet. Die umwälzenden Erkenntnisse der Todesforschung ernennen gerade ihn zum modernsten, zum fortgeschrittensten Psychologen. Die heutige Thanatologie entreißt den Schamanen dem Dornröschenschlaf, in den ihn unsere Wissenschaft verwünschte, und allmählich erkennen wir, daß die Vorstellung, die wir uns von ihm gemacht haben, das schimärenhafte Bild unserer eigenen wissenschaftlichen Beschränktheit war, eine schillernde Fata Morgana westlicher Lebensideologie.

Die Thanatologie ist aber nur der erste Schritt auf dem Weg der Befreiung des Schamanen von dem Dornengestrüpp, mit dem Generationen von Forschungsreisenden, Missionaren, Abenteurern und Anthropologen ihn durch ein üppig wucherndes Schrifttum umgeben haben. Heute sind Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen dabei, ihn aus dem Wust rationalistischer ebenso wie romantischer Ideen und Theorien auszugraben – weshalb Schamanenforschung eigentlich zunächst eine Archäologie des westlichen Geistes bedeutet. Die Ausgrabung ist zuerst zu leisten, und dann kommt die Beschreibung, ja Beschreibung wird dann nicht mehr nötig sein, denn befreit vom Wust der Ideologie und historischen Hirngespinste enthüllt sich sein Antlitz wie von allein. Ich glaube, die moderne Bewußtseinsforschung ist dazu aufgebrochen, die rationalistischen Mythen der anthropologischen Mythenforscher zu entmythisieren.

Das Sterben und der Tod – verdrängt und verschwiegen in einer Gesellschaft, die sich auf die sinnlichsten, die lebensnahesten Werte nicht mehr besinnen mag und in technologischen Artefakten und Spielereien sich zu verwirklichen meint – sind die unbegreiflichsten, die urtümlichsten Erfahrungen des Menschen. Das Verschwinden des Totenkults geht einher mit dem Verlust der Reflexion über ein begrenztes Leben, und eine materialistische Kompensationsideologie von – wie wir heute erkennen – krankhafter Gestalt nimmt als kulturell anerkannte Pathologie seinen Platz ein. Hier wird ein Verdrängungsmechanismus wirksam, der trotz aller zur Zeit wach werdenden Kritik nach wie vor fest und selbstherrlich im Sattel des gewöhnlichen Denkens sitzt und halluziniert, den Tod aus der Welt geschafft zu haben. Das über dem Tod schwebende Tabu hat die Lebendigkeit des Lebens beschnitten. Unsere Lebenseinstellung, unausgewogen darauf bedacht, allein die guten Seiten des Lebens auszukosten, wird von der Wirklichkeit immer wieder eingeholt – spätestens am Grab oder unter dem Chirurgenskalpell.

Diese charakteristische abendländische Einstellung zur Wirklichkeit des Todes findet in der bekannten Geschichte kaum eine Parallele.

Der Schamane, der Spezialist des Todes, der Botschafter des Jenseitsreiches, wird jedoch auch in unserer Kultur langsam als einer der fähigsten Pioniere und Erforscher der Innenwelt erkannt, einer Innenwelt, die nichts anderes ist als die Außenwelt einer anderen Welt. In den Medizinleuten der Stammesgesellschaften haben wir die lebendigen Vertreter nicht nur einer vorindustriellen, sondern gleichzeitig auch der postindustriellen Psychologie vor uns, welche die engen Grenzen der konventionellen Psychotherapie, die nur zwischenmenschliche Konflikte einigermaßen zu bereinigen und zu entknoten weiß, weit hinter sich lassen wird. Diese »Transpersonale Psychologie« wird zu Diagnosen und Formen der Heilung gelangen, die die Kurzsichtigkeit einer bloß individuell, familiär oder gesellschaftlich orientierten Analyse einer Störung überwinden. Sie wird die Konflikte des Lebens in einem Zusammenhang sehen, der Diesseits und Jenseits verbindet, und von dieser hohen Warte eine für den Normalmenschen vielleicht ungewöhnliche und unverständliche Therapielösung anstreben.

Unsere abendländischen Psychotherapeuten haben bereits verschiedene Phasen auf dem Weg zu immer umfassenderen Einordnungskriterien – von der rein individualistischen Beurteilung einer Krankheit hin zur familiären und gesellschaftlichen Determination – durchlaufen. Sie haben die Vorstellung von der Isoliertheit des Individuums transzendiert, indem sie seine Störungen in ein weiteres Feld der Ursache-Wirkungs-Beziehung eingebettet fanden. Der Schamane jedoch geht, nachdem er all das gemeistert hat, noch einen Schritt weiter – er verläßt die Ebene des Materiellen und begibt sich ganz ins Geistige, ins reine Bewußtsein.

Der Schamane »stirbt«, er nimmt den Tod vorweg, reist in Gestalt der Seele vorübergehend in ein Jenseits und erforscht die Geographie des Todes. Und wie wir nur zu oft hören, sind viele Schamanen nicht zurückgekommen. Ihre Körper wurden nicht wieder vom Lebensprinzip beseelt, sie blieben bewegungslos liegen, Leichen ohne Seele. Die Fahrt in die andere Dimension ist nicht ohne Gefahren, und nur durch lange Übung und genaue Kenntnis dafür gewappnet, umschifft der Spezialist des Heiligen die Strudel und Klippen der anderen Welt. Dazu bedarf es äußerster Beherrschung und Kontrolle des Bewußtseins, des Denkens und des Gefühls, was schließlich in einer Loslösung der Seele vom Körper gipfelt. Astralreise, Seelenexkursion, Himmelsaufstieg, Unterweltsabstieg, Höllenfahrt, Jenseitsreise, Out-of-the-Body-Experience oder außerkörperliche Erfahrung sind einige Namen dafür. Die außerkörperliche Erfahrung (AKE) stellt einen gesonderten Bewußtseinszustand dar, der durch seine Trennung von Selbstbewußtsein und Körper aus allen anderen alternativen Bewußtseinszuständen herausragt.

Die bewußte Abspaltung des Bewußtseins, des Identitätsgefühls, des Ich-Denkens, kurzum der Seele, gehört zu den geheimnisumwittertsten Leistungen der menschlichen Psyche. In der Tradition von Stammeskulturen unterscheidet man sorgfältig zwischen Menschen, die befähigt sind zu heilen, zu diagnostizieren oder Rituale anzuleiten, und jenen, die darüber hinaus mit Jenseitskräften kommunizieren können, indem sie ihre körperliche Hülle abstreifen. Ein Medizinmann mag die Fähigkeit zur Telepathie, zum Hellsehen oder zur Präkognition besitzen, aber solange er nicht die postmortale Szene betreten kann, bleibt er unvollkommen und lernbedürftig.

Der Schamane ist also ein Meister des Todes, er stirbt wirklich und wird auch wirklich wiedergeboren. Er ist für eine beschränkte Zeit tot, seine Rückkehr ist ungewiß, und mit seinen Künsten schwebt er immer am Abgrund der endgültigen Auslöschung. Er mag durch widrige Umstände den Weg nicht zurückfinden; Geister, Dämonen oder auch die Schönheiten der anderen Sphäre können ihn betören und verwirren. Fremde Zauberer mögen ihm den Weg abschneiden und ihn überfallen; oder er verirrt sich in der ihm noch fremden geistigen Landschaft. Sein Bewußtsein mag getrübt sein, seine Intention unklar, er mag Situationen begegnen, auf die er während seiner Ausbildung nicht vorbereitet wurde.

In den Berichten finden wir oft das Motiv der Reise, um den Austritt der Seele aus dem Körper und ihre Wanderungen durch die Todesszenerien zu beschreiben. Die Metapher der »Reise« ins Jenseits ist ein antikes Bild, dessen sich fast alle Kulturen bedienten, um die Bewußtseinsodyssee des Schamanen oder Heiligen greifbar zu machen. Der Versuch, der immateriellen Erfahrung in einer transpersonalen Dimension eine Metaphorik aus unserem dreidimensionalen Universum unterzuschieben, ist sicherlich unzureichend und verkürzt, gleichzeitig aber auch die einzige Möglichkeit, das Unaussprechliche in Sprache zu übersetzen. Die uns oft lächerlich erscheinende naiv-realistische Ausdrucksweise und die Benutzung umgangssprachlicher Sinnbilder, die andere Kulturen zur Beschreibung ihrer Erlebnisse in jenseitigen Bewußtseinsreichen verwenden, stellt die beste Möglichkeit dar, überhaupt Aussagen über diesen Existenzbereich zu machen.

Naiv ist nicht die Wortwahl der Schamanen, sondern unser Unvermögen, den Übersetzungsmechanismus von der akausalen und transpersonalen zur personalen sprachlichen Ebene zu entziffern. Versagt nicht bereits unser Sprachschatz, wenn wir etwa die Erfahrung des Riechens in die des Hörens oder einen optischen Eindruck in einen auditiven umsetzen wollen? Ja, versagt die Sprache nicht schon, wenn wir ein Gefühl in Worte kleiden möchten? So wie die linke und rechte Gehirnhemisphäre unterschiedliche Strategien der Informationsverarbeitung verwenden – die rechte mehr intuitiv, ganzheitlich und symbolisch »fühlt« und die linke mehr linear, logisch und rational »denkt« – und beide jeweils entgegengesetzte Erfahrungsmodalitäten verkörpern, so müssen wir uns auch den Unterschied der Erfahrung von Diesseits und Jenseits vorstellen. Die Kommunikation im Jenseits basiert nicht auf Sprache, sondern geschieht, wie mediale Schamanen uns immer wieder erzählen, in Form eines unmittelbaren telepathischen und gefühlsmäßigen Austauschs von Person zu Person. Da weder materielle Schranken noch körperliche Grenzen existieren, sondern nur reines Bewußtsein in Gestalt der Seele, ist eine direkte Teilnahme am anderen, ein spontanes Eindringen in seine psychische Atmosphäre ohne weiteres möglich.

Wollten wir versuchen, einen annähernd angemessenen Beschreibungsstil für die Jenseitsvorgänge und Seelenerfahrungen zu finden, müßten wir uns wohl von der allegorischen Übersetzung distanzieren und uns der Sprache der modernen Mikrophysik zuwenden, denn sie besitzt eine hinreichend abstrakte Terminologie, um Probleme auszudrücken, die der anschauliche Intellekt und das logische Denken nicht mehr erfassen können. Obwohl solch eine Anleihe nicht unbedingt hilfreich erscheint, erhielten wir auf diese Weise sicherlich eine klarere, eindeutigere Darstellung, als es uns die Umgangssprache oder die Allegorie erlaubt. Wie wir sehen werden, hilft uns hier auch die psychologische Fachsprache nicht weiter: Sie ist gänzlich der personalen Persönlichkeitscharakteristik verpflichtet und etikettiert transpersonale Zustände als krankhafte Phantasien eines schizophrenen Gehirns.

Mircea Eliade betont, daß Todesmythologien und Jenseitsgeographien auch zur Existenz des modernen westlichen Menschen gehören und daß die mythische Originalität dieser »imaginären« Welten nicht nur in Literatur und Poesie erfolgreich nachgewiesen ist, sondern seit jeher auch als Motiv in der Kunst, im Film und im Theater eine große Rolle spielt. Der Dualismus Diesseits/​Jenseits, Tod/​Leben, Körper/​Geist besitzt eine urtümliche Faszination, der sich auch der aufgeklärte Mensch nicht entziehen kann. Wir sind hier mit einem Archetyp im Sinne C. G. Jungs konfrontiert, mit einer realen trans-psychischen Erfahrung, die alle Epochen der Menschheitsgeschichte überdauerte und immer wieder in einzelnen Individuen, Kulten und ganzen Kulturen auflebt. Es ist eine perenniale, ewige Weisheit, eine naive Grunderfahrung des Menschen. Und wie ich zeigen werde, kann der westliche Mensch sich ihr ebensowenig entziehen wie traditionell lebende Menschen.

Diese Erfahrung kann nicht mit klischeehaften Kontrasten von primitiv oder modern, krank oder gesund begriffen werden – sie kommt bei Gesunden und Kranken, bei intellektuellen wie emotionalen Menschen, bei Psychotikern ebenso wie bei Wissenschaftlern oder Künstlern vor. Die neuen Forschungen zeigen, daß es sich um ein allgemein menschliches, jedem zugängliches Erleben handelt, das relativ einfach auszulösen ist: indem man sich in eine Situation begibt, die leicht mit dem Tod enden kann. Bei Auto- oder Betriebsunfällen, bei Stürzen im Gebirge, schweren Krankheiten, Ohnmachten oder in Trance und Ekstase kann sich unser Bewußtsein verselbständigen und eine charakteristische Sequenz von Nah-Todesmotiven durchleben. Voraussetzung für ein derartiges Sterbeerlebnis ist die Dekonditionierung und Zerstörung unserer gewöhnlichen Wahrnehmungsmuster, die Unterbrechung biopsychischer Funktionsabläufe. In der Nah-Todeserfahrung, dem außerkörperlichen Erlebnis und der Jenseitsreise treten uns wirkliche Phänomene des Bewußtseins gegenüber und nicht etwa nur Symbole des Unbewußten.

Das tibetische und das ägyptische Totenbuch und auch die mittelalterliche Tradition der ars moriendi, der Kunst des Sterbens, vermitteln uns einen Eindruck der Beschäftigung früherer Generationen mit dem Tod. Diese Bücher skizzieren, was wir als Sterbende zu erwarten haben, wenn das Bewußtsein losgelöst vom Leib sich auf den Weg in einen anderen Seinsbereich macht. Der Versuch, dem Menschen schon während des Lebens und besonders während des Sterbens eine Vorstellung vom Jenseits und den dort zu erwartenden psychischen Zuständen zu vermitteln, damit er nicht schockiert und überrascht eine Art nach-todlichen Nervenzusammenbruch erleidet, stellt eine machtvolle Form der »Psychotherapie des Todes« dar.

Heute haben wir begonnen, sterbende Menschen aufmerksam zu beobachten und sie nicht trübselig vor sich hindämmern zu lassen – einsam, isoliert, totgeschwiegen. Auch die in reine Körpervorstellungen verstrickten Mediziner bekommen langsam ein Gespür für die psychische Seite des sterbenden und reanimierten Menschen. Wir erkennen, daß der Nah-Todeszustand und Sterbevorgang ein normaler Bewußtseinszustand ist, in welchem der Mensch einer besonders einfühlsamen Betreuung und Therapie bedarf. Das Erleichtern des Sterbens durch Gespräche und durch eine Hinführung zur Anerkennung des Unvermeidlichen schien den meisten Psychiatern und Psychologen bisher fremd und überflüssig. Die Psychologie, die sich doch eigentlich dem Menschen in allen seinen Lebensphasen widmen sollte, verschwieg die Existenz des Todes und drängte ihn in die Siechenstationen der Krankenhäuser ab. Die Brutalität und Einfältigkeit des Weltbildes der abendländischen Psychologie erhält mit dem Aufschwung der Thanatologie heute ein Gegengewicht. Dennoch bemühen sich erst wenige fortschrittliche Menschen um das Geschehen beim Sterbeprozeß, denn wer das tut, trifft im allgemeinen immer noch auf eine Mauer des Schweigens, der Ablehnung und Angst.

Dieser Diskriminierung und Scheu vor der Todesforschung begegnen wir auch bei der Betrachtung des Schamanen. Der Zynismus gegenüber dem Tod ist der Zynismus gegenüber dem mythischen Weltbild. Sollte die Anerkennung des Todes sich über den kleinen Kreis von Spezialisten hinaus in weiteren Kreisen der westlichen Gesellschaft durchsetzen, so gehen wir auch einer Aufwertung des schamanischen Weltbildes entgegen.

Aufgrund des anwachsenden empirischen Materials, das wir von Reanimierten erhalten, sind wir heute dabei, eine Kartographie des Nah-Todesbereichs und eine Verlaufskurve des Sterbevorgangs zu zeichnen. So ist auch der Glaube an eine Nach-Todeswelt bei Stammesgesellschaften nicht nur tradierte Kosmologie – durch die Reise des Schamanen in die Post-mortem-Existenz erhält die Vorstellungskraft immer wieder neue Nahrung.

Vielleicht stellt sich später einmal heraus, daß die Vorwegnahme des Todes durch ein Nah-Todeserlebnis verbunden mit einem psychischen Wiedergeburtsprozeß nicht nur die optimale Vorbereitung auf den künftigen Sterbevorgang, sondern auch die beste Voraussetzung für eine Wiederherstellung der seelischen Balance und Harmonie ist. »Ein Mensch, der stirbt, bevor er stirbt«, sagte der Augustiner Abraham a Santa Clara, »stirbt nicht, wenn er stirbt.« Der Tod/​Wiedergeburtsprozeß ist in allen Stammesreligionen das zentrale therapeutische Agens. Er ist die Basis der Initiations- und Übergangsriten, die den Menschen von einer Lebensphase in die nächste führen, und er steht am Anfang der schamanischen Initiations- und Berufungserlebnisse. Sicherlich dürfen wir verschiedene Intensitätsgrade des Nah-Todeserlebnisses annehmen, dessen einfachste und harmloseste Form wohl ein rein symbolisches Mitempfinden des Todes darstellt, dessen anderes Extrem den Menschen hart an die Grenze tatsächlicher physischer Auslöschung führt, was von ungleich stärkerer Nachwirkung und transformativer Qualität ist.

Das abendländische Denken durchlief in seiner Geschichte einen Prozeß der Entfremdung von den inneren Quellen der Inspiration. Die Erlebnisberichte über Nachtodeszustände, die Entwürfe von Jenseitskosmologien und Eschatologien, die primär nicht aus philosophischer Reflexion, sondern aus der psychischen Erfahrung entstanden, begriff der sich selbst entfremdete Geist des Abendlandes zunehmend als spekulativen Ausdruck diskursiven Denkens. Das Wissen um ungeahnte Kraftreserven des Bewußtseins und seine Fähigkeit zur Expansion und Exkursion über die dreidimensionale Körperwelt hinaus ging verloren. Die aufsteigende materialistische Ideologie hielt die diversen Jenseitskartographien für eine Beschreibung realer Landschaften in abgelegenen Gebieten.

Eigentlich ist das ein konsequenter Gedankengang, denn bekanntlich vermag ein wissenschaftliches System ein anderes immer nur an den eigenen Maßstäben zu messen – und für das materialistische Weltbild existierte keine Bewußtseinsdimension von Ausmaßen, wie sie uns heute die Bewußtseinsforschung offenbart. So mißdeutete die materialistische Weltsicht notgedrungen Psychisches als Faktisches, was zu den unsäglichsten Entstellungen und Verwirrungen in der »wissenschaftlichen« Religionskritik führte, die heute schrittweise zurückgenommen werden müssen, und zwar ironischerweise mit den Mitteln der materialistisch-empirischen Wissenschaft selbst.

Später werden wir eine interessante Parallele zu diesem Prinzip der Veräußerlichung in den Erfahrungsberichten der Schamanen wiederfinden – sie selbst stellen nämlich sehr oft die transpersonalen Erlebnisse in Bildern und in einem Sinnverständnis dar, die den Uneingeweihten hier wirkliche materielle Erfahrungen vermuten lassen. So verstanden denn auch Missionare, Priester und Forscher notgedrungen – und unterstützt durch ihre eigene Inkompetenz in Sachen der inneren Erfahrung – die Mitteilungen der von ihnen beobachteten »Primitiven« als Realien der äußeren Welt, besonders wenn die Beobachter selbst noch in einem auf den Kopf gestellten magischen Universum lebten und Teufels-, Dämonen- und Engelsgestalten als körperliche Erscheinungen deuteten.

Religiöse und spirituelle Erfahrungen sind eine Form der intuitiven Selbsterforschung. Das spirituelle Bewußtsein lotet sich, wenn auch weitgehend unbewußt, sozusagen selbst aus, indem es sich Situationen aussetzt, die seine innere Struktur verändern. Manipuliert die mechanistisch-materialistische Wissenschaft die äußere Situation und läßt sie die Qualität der subjektiven Wachheit des Beobachters unhinterfragt, so geht die »spirituelle Bewußtseinsforschung« einen ganz entgegengesetzten Weg: Da der Forschende in ihr sich selbst höherentwickeln oder transformieren möchte, manipuliert er die biologischen und psychologischen Voraussetzungen des Normalbewußtseins in einer Weise, daß sich dieses entautomatisiert und auflöst.

Hier stoßen wir auf das neue Erkenntnisparadigma der Bewußtseinsforschung. Es unterscheidet sich grundlegend von den bisherigen Untersuchungsstrategien und stellt nicht bloß eine Abwandlung, Reform oder Verfeinerung gängiger Methodologie dar. Wir müssen zunächst erkennen, daß unserer bisherigen Wissenschaft eine Art Veräußerlichungsprinzip inhärent war, welches alle psychischen Fakten als Fakten einer materiellen Welt verkannte. Diese Anschauung hat heute natürlich nur noch historischen Wert. Inzwischen haben wir nicht nur die Frage, ob es irgendwo in unserer irdischen Geographie ein Jenseits, eine Götter- und Dämonenwelt gibt, gestrichen, sondern den Gedanken an die Möglichkeit eines solchen Existenzbereichs vollends eliminiert, indem wir ihn als Ausfluß einer kranken, halluzinierenden Psyche beschreiben.

Interessant ist, wie ein Paradigma, das sich aus seiner inneren Struktur heraus der Beschäftigung mit dem Sterben und dem Tod konsequent verschließen muß, notwendig zur forscherischen Selbstbeschneidung führt. Unsere Kultur als Ganzes ist Ausdruck dieser Selbstbeschneidung und Einseitigkeit. Das einäugige Paradigma des Materialismus befindet sich im Niedergang; ob es den Rückzug aus den Gefilden der Wissenschaft übersteht und sich am Rande einer postindustriellen Gesellschaft der Zukunft weiter als sinnvolle Philosophie erhalten kann, ist fraglich. Durch die neue Bewußtseinsforschung wird es jedenfalls zunehmend in Frage gestellt.

3. Die Wirklichkeit der Seele

Als die Götter den Menschen von dem Gott Mataliki entspringen ließen, scheuten sie sich, seiner Seele vollkommene Bewußtheit zu geben, denn wenn sie erst einmal den Körper verlassen und sich ganzer Bewußtheit erfreuen würde, käme sie nie mehr zurück und der Körper würde überflüssig werden. Deshalb gingen die Götter sicher, daß die Seele die Welt nur in einer nebelhaften Weise wahrnehmen würde, daß sie sich vor Tageslicht fürchten und so die Welt immer nur im Schutz der Dunkelheit sehen könnte.1

Der einzige Wert eines Menschen ist seine Seele. Deshalb wurde ihr ewiges Leben gegeben, entweder im Land des Himmels oder in der Unterwelt. Die Seele ist die mächtigste Kraft des Menschen; es ist die Seele, die uns zu Menschen macht, doch wie ihr das gelingt, wissen wir nicht. Unser Fleisch und Blut, unser Körper ist nichts als eine Hülle unserer Lebenskraft.

IKINILIK, EIN UTKUHIKJALING-ESKIMO2

Es ist ein dünnes, substanzloses menschliches Abbild, von Natur eine Art Dampf, Schleier oder Schatten … meistens unfaßbar und unsichtbar, und doch physische Kraft manifestierend.3

Die Seele besteht aus feinen, einheitlichen Atomen besonderer Art.

DEMOKRIT

Wenn die Menschheit etwas gemeinsam hat, dann ist es sicherlich der Glaube an die Existenz einer Seele, eines mit dem Körper nur lose assoziierten Bewußtseins oder Lebensträgers. Diese Vorstellung finden wir fast ausnahmslos bei allen Völkern und Kulturen, aber auch bei allen modernen Zivilisationen, dort allerdings nur in subkulturellen Gruppierungen.