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Neue Perspektiven auf etwas, was vielen vertraut ist, können überraschen, verwirren, amüsieren - immer aber erfährt man auch etwas über sich selbst. In drei kurzen Geschichten lernen wir Menschen kennen, die jeweils einen ganz eigenen Blick auf einen Ausschnitt unserer Welt haben. Wer mag, kann mit ihnen gehen und dann vielleicht auch die eigene Welt ein Stück weit mit anderen Augen betrachten.
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Seitenzahl: 34
Wo die Große Mauer das Meer berührt
MundArt
Lautlos
Xiao Hong schaute aus dem Augenwinkel zu der Frau, die links neben ihr saß. Ma Jing hieß sie. Xiao Hong war mit ihr verwandt, hatte ihre Mutter zuhause in der kleinen Stadt an der Küste im Nordosten Chinas zu ihr gesagt. Ma Jing sei schon vor langer Zeit aus China weggegangen, sie habe es geschafft. Xiao Hong sollte es auch schaffen, mit Hilfe von Ma Jing, denn alleine könne sie es nicht.
Vor ihr und Ma Jing stand ein beängstigend großer Schreibtisch, dahinter saß ein Mann, den Xiao Hong auf 50 Jahre schätzte. Alle Menschen, die Xiao Hong bisher in Deutschland gesehen hatte, sahen so aus, als wären sie etwa 50 Jahre alt. Eine ordentliche Frisur, manche trugen Uniform, in jedem Fall immer saubere Kleidung. Und sie sahen ernst aus, sehr ernst.
Ma Jing redete in Worten, die Xiao Hong nicht verstand. Wahrscheinlich war es Deutsch. Heute Morgen, als sie Ma Jing zum ersten Mal in ihrem Leben gesehen hatte, an der Tür zu ihrem winzigen Zimmer, das sie sich mit vier anderen Frauen aus verschiedenen Ländern teilte, da hatte Ma Jing auf Xiao Hong eingeredet, ihr immer und immer wieder vorgesagt, wie man auf Deutsch grüßt: „Guten Tag!“ Xiao Hong hatte es versucht, wirklich versucht, doch Ma Jing war nicht zufrieden. Schließlich hatte sie die Geduld verloren, Xiao Hong am Arm gegriffen, und sie hinter sich her gezogen bis zur Bushaltestelle. Sie redete weiter auf Xiao Hong ein, sagte, es würde einen guten Eindruck machen, wenn sie zumindest schon auf Deutsch grüßen könnte, dann hätte sie viel bessere Chancen, diese Stelle zu bekommen.
Vor Xiao Hongs Abreise aus einem Vorort von Shanhaiguan hatte ihre Mutter sie beschworen, dass sie Ma Jing keine Schande machen solle, dass sie sich ja benehmen und bemühen müsse, schließlich würde Ma Jing mit ihrem Namen für sie bürgen, würde sie empfehlen wollen für eine Stelle. Xiao Hong hatte ihre Mutter gefragt, was genau denn Ma Jing für sie tun würde und ob sie einfach so in Deutschland arbeiten könne, aber statt einer Antwort hatte ihre Mutter nur die Arme erhoben und den Kopf geschüttelt. Später murmelte sie immer wieder etwas davon, wie undankbar Xiao Hong doch wäre, sie solle sich doch einfach fügen. Xiao Hong fügte sich und stellte keine weiteren Fragen.
Ma Jing redete noch immer mit dem Mann. Xiao Hong hatte nichts gesagt, nichts gefragt, sich kaum bewegt. Plötzlich stand der Mann auf, auch Ma Jing erhob sich, schaute mit wütendem Blick auf Xiao Hong herab, die rasch aufsprang, was den Stuhl furchtbar laut über den Steinboden quietschen ließ, dann ebenso wie Ma Jing zuvor dem Mann die Hand entgegenstreckte. Xiao Hong versuchte ein Lächeln. „Guten Tag!“
Ma Jing sagte Xiao Hong am nächsten Morgen, dass sie ab kommendem Montag für eine Saison Reinigungskraft in dem Hotel sei. Sie müsse vor allem Flure und die Haushaltsräume sauber halten, wenn sie sich gut anstellen würde, könnte sie in einigen Wochen vielleicht auch Zimmer reinigen, das würde