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Die Lage scheint aussichtslos zu sein. Der Schatten wird immer mächtiger und kommt seinem Ziel stetig näher, während die Kräfte des Lichts schwinden. Noch einmal müssen Lucius, Eleonora und ihre Gefährten alles riskieren, um die drohende Dunkelheit abzuwenden. Die letzte Schlacht steht bevor und sie wird gnadenloser als jede vor ihr.
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Seitenzahl: 435
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
Prolog - Lyssandra
Kapitel 1 - Eleonora
Kapitel 2 - Lucius
Kapitel 3 - Eleonora
Kapitel 4 - Lucius
Kapitel 5 - Eleonora
Kapitel 6 - Lucius
Kapitel 7 - Lucius
Kapitel 8 - Lucius
Kapitel 9 - Eleonora
Kapitel 10 - Aestus
Kapitel 11 - Lucius
Kapitel 12 - Eleonora
Kapitel 13 - Raksha
Kapitel 14 - Lucius
Kapitel 15 - Eleonora
Kapitel 16 - Lucius
Kapitel 17 - Aestus
Kapitel 18 - Lucius
Kapitel 19 - Aestus
Kapitel 20 - Eleonora
Kapitel 21 - Sarina
Kapitel 22 - Aestus
Kapitel 23 - Lucius
Kapitel 24 - Ignia
Kapitel 25 - Lucius
Kapitel 26 - Eleonora
Kapitel 27 - Lucius
Kapitel 28 - Lapidia
Kapitel 29 - Ignia
Kapitel 30 - Eleonora
Kapitel 31 - Raksha
Kapitel 32 - Aestus
Kapitel 33 - Eleonora
Epilog - Eleonora
Die Legende von Licht und Schatten
Personenverzeichnis
Dank
B. E. Pfeiffer
Die Weltportale
Band 5
Fantasy
Die Weltportale (Band 5)
Die Lage scheint aussichtslos zu sein. Der Schatten wird immer mächtiger und kommt seinem Ziel stetig näher, während die Kräfte des Lichts schwinden. Noch einmal müssen Lucius, Eleonora und ihre Gefährten alles riskieren, um die drohende Dunkelheit abzuwenden. Die letzte Schlacht steht bevor und sie wird gnadenloser als jede vor ihr.
Die Autorin
Bettina Pfeiffer wurde 1984 in Graz geboren und lebt heute mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Baden bei Wien.
Seit ihrer Kindheit liebt sie es, sich Geschichten auszudenken. Besonders als Ausgleich zu ihrem zahlenorientierten Hauptjob taucht sie gern in magische Welten ab und begann schließlich, diese aufzuschreiben. So entstand recht schnell die Idee für die ›Weltportale‹ und andere magische Geschichten im Genre Fan-tasy/Romantasy.
Inspiration dafür findet sie immer wieder durch ihre Kinder, mit denen sie gern auf abenteuerliche Entdeckungsreisen geht.
www.sternensand-verlag.ch
1. Auflage, 2023
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2023
Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski
Lektorat: Sternensand Verlag GmbH | Wolma Krefting
Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH
Satz: Sternensand Verlag GmbH
ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-261-8
ISBN (epub): 978-3-03896-262-5
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Scene
Vergesst diese Worte nicht:
Es gibt keinen Schatten ohne Licht.
Nur wenn beide Kräfte sich verbinden
Wird der Kampf ein Ende finden.
Schmerz durchfuhr ihre Glieder. Lyssandra krümmte sich und ächzte lautstark. Sie war eine Clavema, ein Wesen aus einer anderen Welt. Schmerz sollte ihr fremd sein. Und doch nahm sie dieses heftige Brennen in ihrem Bauch wahr. Wäre sie nicht bereits so geschwächt gewesen, hätte sie vor Lucius niemals gezeigt, wie schlecht es ihr ging. Dazu war sie zu stolz.
»Was ist los?«, fragte der Ritter, sank trotz des Schnees auf die Knie und hob ihren bebenden Körper behutsam auf.
Sie spürte die Angst, die ihn drängte, schneller zu machen. Und doch war er fürsorglich und vorsichtig. Wie hatte sie so lang nicht sehen können, was er wirklich war?
Lyssandra antwortete nicht. Ihre Augen rollten nach hinten und sie stieß einen heiseren Laut aus.
Schmerz. So unglaublich heftiger Schmerz, ausgelöst durch das gewaltsame Öffnen eines Portals, das für immer hätte versiegelt bleiben sollen. Sie konnte die Dunkelheit fühlen, die sich Stück für Stück über der Welt ausbreitete.
Jetzt war geschehen, was sie all die Jahrhunderte verhindert hatte. Der Schatten würde sich befreien. Und er würde alles zerstören, wenn er sein Ziel erreichte.
Sie biss die Zähne fest zusammen und zwang sich, ihre Augen zu öffnen.
»Es geht schon«, krächzte sie. »Wir müssen weiter. Würdet Ihr mich … tragen?«
Es kostete sie Überwindung, dieses Eingeständnis zu machen. Aber sie hatte keine Wahl. Sie mussten weiter. Die Zeit arbeitete gegen sie.
Lucius hob seine Mundwinkel und nickte. Lyssandra ahnte, dass er selbst starke Schmerzen hatte. Die ehemalige Auronenkönigin, Lapidia, hatte ihn im Kampf mit einer vergifteten Klinge verwundet. Jeder gewöhnliche Mensch wäre bereits gestorben. Doch der Ritter war kein gewöhnlicher Mensch.
Er war das Licht. Wie er dazu geworden war, verstand Lyssandra nicht. Sie hatte die Verbindung zwischen ihm und Eleonora zwar gefühlt, aber ihr keine besondere Bedeutung beigemessen. Lyssandra war so dumm gewesen. Wenn es ihr aufgefallen wäre, hätte sie verhindern können, dass Eleonora vom Schatten in die Dunkelheit gezogen worden war.
Daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Sie musste dem Ritter helfen, seine Aufgaben zu meistern. Lyssandra ahnte, dass Lucius wohl bald eine Entscheidung treffen musste, die ihm vielleicht das Herz brach. Sie musste einen geeigneten Moment finden, um ihm zu erklären, was jetzt geschehen würde. Aber wie sagte man jemandem, dass er die Person, die er liebte, vielleicht für immer in die Dunkelheit würde bannen müssen?
Die Werkzeuge an ihrem Gürtel surrten. Magie, die den Clavema eigen war, rief nach ihr, weil das Portal im Reich der Auronen nicht mehr lange halten würde.
»Lauft schneller«, sagte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen zu Lucius.
Dann schloss sie die Augen, während die Kälte des Königs der Berge, auf dem sie sich noch befanden, über ihre schuppige Haut strich.
Sie wusste, dass sie sehr bald ein neues Portal würde schmieden müssen. Lyssandra hoffte, dass es nicht Eleonora war, die sie dahinter einsperren musste. Aber im Moment … sah es für das Hybridmädchen nicht gut aus.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und wandte den Kopf ab, als Rakshas Magie aufflammte. Eleonora verdrängte das Flehen des jungen Mannes, der das Unglück gehabt hatte, ihre Anwesenheit als Erstes zu bemerken.
»Bitte, Tante«, flehte der Junge und ächzte, als er erneut von der Schattenmagie in der Magengegend getroffen wurde.
Zumindest nahm Eleonora das an, weil Raksha es offensichtlich genoss, ihn dort zu verletzen.
»Tu einfach, was er will, Kalani«, entgegnete Lapidia mit ungerührter Stimme. »Dann hört er damit auf.«
Eleonora fragte sich nicht zum ersten Mal, was mit dieser Aurone nicht stimmte. Alles an ihr wirkte emotionslos und kalt. Nur wenn Lapidia mit Raksha sprach, veränderte sich alles an ihr. Dann blühte sie auf und strahlte förmlich.
Verstohlen riskierte Eleonora einen Blick auf Aestus, der in ihrer Nähe stand. Er hatte behauptet, dass sie beide ein Paar waren. Aber Eleonora erinnerte sich nicht an ihn. Sollte sie das nicht, wenn sie ihn wirklich geliebt hatte, bevor sie ihr Gedächtnis verlor? Sie hatte irgendwie das Gefühl, dass Aestus nicht ganz aufrichtig zu ihr war.
Er drehte seinen Kopf in ihre Richtung und lächelte, als ihre Blicke sich trafen. Mit einem Schnauben wandte Eleonora sich ab.
Nein, sie fühlte sich überhaupt nicht zu Aestus hingezogen. Da war auch keine Wärme, die sich in ihrer Brust ausbreitete, und sie strahlte ganz bestimmt nicht so, wie Lapidia es bei Raksha tat.
»Ich kann das nicht tun«, wimmerte der junge Aurone. »Du weißt, dass ich nicht in der Lage bin, sie zu krönen. Nicht solange meine Mutter nicht abdankt oder stirbt.«
Es knackte. Eleonora presste ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Das hier fühlte sich so unendlich falsch an. Und gleichzeitig flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren, dass sie genau dort war, wo sie hingehörte.
Warum Raksha ihr helfen wollte, den Thron der Auronen zu besteigen, verstand sie nicht. Sie hatte aber begriffen, dass er es sicher nicht tat, weil er ein gutes Herz hatte.
Eleonora beging den Fehler, zu Raksha zu sehen. Dabei erkannte sie, was er gerade mit Kalani machte und schauderte.
Schwarze Ranken hielten den Körper des Jungen gefangen. Er hing kopfüber in den magischen Fesseln, und dieser Byro trat nach seinem Gesicht. Blut tropfte bereits auf den weißen Boden des Thronsaals, in dem sie sich verschanzt hatten.
Eleonora versteifte sich, als Aestus eine Hand auf ihren Rücken legte. Sie hatte erwartet … nein, sie hatte gehofft, dass seine Berührung irgendein angenehmes Gefühl in ihr auslösen würde. Das Gegenteil war der Fall. Trotzdem wich sie nicht vor ihm zurück.
»Es tut mir leid, dass du das sehen musst«, murmelte er nah an ihrem Ohr. »Wir können leider nirgendwo hin, bis du gekrönt bist. Und wie es aussieht, ist nur der Sohn der derzeitigen Königin in der Lage, dir die Krone auszuhändigen.«
»Offensichtlich kann er das nicht«, brummte sie und wandte sich von dem Anblick ab. »Wir vergeuden unsere Zeit.«
Sie sah sich in dem Raum um. Auf seltsame Weise kam ihr der Ort vertraut vor. Die weißen Wände, die aussahen, als würde pures Licht durch sie hindurchfließen, erinnerten sie an etwas. Doch noch ehe sie den Gedanken greifen konnte, versank er in dem Nebel in ihrem Kopf.
Also betrachtete Eleonora das Emblem auf dem Boden. Es war ein Kreis, der in fünf Spalten geteilt worden war. Jede besaß eine andere Farbe: Hellblau, Dunkelblau, Grün, Rot und ein milchiges Weiß. Symbole waren in jede Spalte eingraviert worden. Eleonora konnte sie aber nicht entziffern. Vermutlich war es irgendeine alte Sprache.
»Ignia wird nicht an diesen Ort zurückkehren«, verkündete Lapidia in dem Moment. »Das ist so gut wie eine Abdankung.«
»Du und dieser Abschaum hindern sie daran. Das zählt nicht als Grund, sie als Königin abzusetzen«, krächzte Kalani. Er gab einen erstickten Laut von sich, als Byro erneut zutrat und ihm damit wohl endgültig die Nase brach.
Eleonora fuhr herum und starrte den Jungen an, der ächzend in der Luft hing. Sein Blut floss jetzt in Strömen aus seiner Nase und seinem Mund.
Eleonora ballte die Hände zu Fäusten. Byro holte noch einmal aus und sie war bereit, ihm Einhalt zu gebieten.
Doch da hob Raksha ganz langsam die Hand. Byro ließ das Bein sinken und machte einen Schritt zurück.
Raksha sging in die Hocke und musterte Kalani mit seinen blinden Augen. Der Schatten krümmte die Finger. Der Körper des Auronen wurde etwas höher gezogen, bis die beiden auf Augenhöhe waren.
Fast zärtlich legte Raksha seine Finger um das Kinn des Jungen. Kalani begann daraufhin zu zittern. Eleonora fühlte die Magie, die Raksha einsetzte und in den Körper des Auronen fließen ließ.
Kalani röchelte und dunkler Schaum bildete sich auf seinen Lippen. Er zuckte in den Fesseln, die ihn unbarmherzig hielten.
Ein Teil von Eleonora wollte auf den Schatten zustürmen und ihn davon abhalten, Kalani zu quälen. Aber ein größerer, viel lauterer Teil in ihr applaudierte Raksha für das, was er tat.
»Wehr dich nicht so sehr, Junge«, sagte der Schatten beinahe sanft. »Erzähl uns, was wir tun müssen, um Eleonora zur neuen Königin zu machen. Dann darfst du dich erholen, bis wir dich für die Krönung brauchen.«
Kalanis Augen rollten zurück und er röchelte noch einmal. Der Schaum lief ihm mittlerweile über das Gesicht, mischte sich mit seinem Blut und tropfte auf den Boden.
»Ein Tag«, krächzte der Junge. »Sie hat gesagt, wenn sie einen Tag fort ist, kann ein Oberster ihre Absetzung fordern.«
»Ein Tag ist schnell um.« Raksha lächelte milde.
»Er meint bestimmt einen Tag in der Menschenwelt, Liebster«, warf Lapidia ein. »Der dauert hier fast drei Monate.«
Rakshas Miene verfinsterte sich. Er ballte eine Faust und Kalani zuckte stärker.
»Genug!«, brüllte Eleonora.
Alle Blicke richteten sich auf sie. Obwohl sie sicher war, dass Raksha blind war, starrte er sie so finster an, dass die Luft um sie herum deutlich abkühlte.
»Eleonora«, raunte Aestus ihr ins Ohr. »Lass mich jetzt reden.«
Er schob sich vor sie und unterbrach damit den Blickkontakt zu Raksha. Der Schatten sprach sie trotzdem an.
»Stört dich etwas an meinen Methoden, Eleonora?«, fragte er.
Seine Stimme klang warm, seine Worte schnitten dennoch wie Eis in ihre Seele.
»Ich denke, sie wollte nur sicher gehen, dass du den Jungen nicht tötest«, antwortete Aestus für sie. »Immerhin brauchen wir ihn für die Krönung.«
Raksha starrte immer noch Eleonora an. Sie konnte spüren, wie sich sein Blick tief unter ihre Haut bohrte und sich auf den Funken Magie richtete, den sie, seitdem sie in diesem Palast angekommen waren, fühlte. Er war ein winziges Licht in der Schwärze, aus der ihre Seele bestand.
Zuerst hatte Eleonora diesen Funken gehasst. Aber jetzt … kam es ihr vor, als wäre er ein Teil von ihr. Jener Teil, den sie vergessen hatte. Und sie wollte nicht, dass Raksha ihn bemerkte.
Also verschloss sie ihn hinter magischen Schutzschildern, die sie in ihrem Innersten errichtete und hielt dem Blick des Schattens stand.
»So ist es«, sagte sie, weil sie wusste, dass Raksha das erwartete. »Du willst mich zur Königin machen? Dann hör auf, meinen künftigen Thronsaal mit Flecken zu ruinieren. Wir haben die Information, die wir wollten. Und der Junge muss mich krönen.«
Raksha hob einen Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. Dann schnippte er und Kalani fiel einfach zu Boden. Er blieb liegen, doch Eleonora sah, dass er noch atmete.
»Byro, bring den Prinzen in eine Zelle«, wies Raksha den älteren Auronen an. »Dann mach den Wachleuten klar, dass sie entweder tun, was wir verlangen, oder dieses Schloss nicht lebend verlassen werden. Ich habe nämlich keine Lust darauf, mich drei Monate in diesem Thronsaal zu verschanzen.«
»Ja, Herr«, erwiderte Byro. Rücksichtslos packte er Kalani am Kragen dessen hellblauen Gehrocks. Er schleifte den Jungen quer durch den Saal auf eine Tür zu, die aus dem Nichts erschien.
»Oh, und lass den Thronsaal reinigen«, rief Raksha ihm nach. »Wir wollen doch nicht, dass die künftige Königin der Auronen unglücklich über das Aussehen hier ist.«
»Ich schicke jemanden«, knurrte Byro und ging durch die Tür, die hinter ihm verschwand, kaum, dass sie sich geschlossen hatte.
Immer noch starrte Raksha Eleonora an. Aestus legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie an sich.
»Sollen wir auf Byros Rückkehr warten oder suchen wir uns schon Gemächer aus?«, wollte Aestus wissen.
»Ein wenig Geduld werden wir brauchen«, antwortete Raksha und streckte seine Hand nach Eleonora aus. »Inzwischen kannst du dich schon einmal auf den Thron setzen, meine Liebe. Damit du die Macht fühlst, die dir gehören soll.«
Mit erhobenem Kinn schritt Eleonora auf Raksha zu, nachdem Aestus sie losgelassen hatte. Sie ergriff die Hand des Schattens und fühlte die klirrende Kälte, die von ihm ausging, sowie den Sog der Dunkelheit, der sie einhüllte.
Sofort wollte sie ihre Hand zurückziehen, doch Raksha schloss seine Finger um ihre und hielt sie fest.
»Was ist, Teuerste? Ist meine Dunkelheit unangenehm?« Er tätschelte ihre Hand.
Die Geste hatte nichts Beruhigendes oder Freundliches an sich. Eleonora kam es mehr wie eine Drohung vor und ein Beweis, dass Raksha ihr überlegen war. Sie konnte seine Macht deutlich fühlen und wusste, dass sie mit der Magie, die sie in sich wahrnahm, nie gegen seine Kräfte ankommen würde.
»Du fühlst dich eiskalt an«, erwiderte sie gereizt.
»Ah, aber du auch, meine Schöne.« Er zerrte sie grob zum Thron. »Du solltest allerdings meine Kälte als angenehm empfinden. Weil sie deiner gleicht.« Raksha presste sie auf den Stuhl aus Kristall, in dessen Rückenlehne das Symbol einer Flamme eingraviert worden war. »Du und ich, wir entspringen derselben unendlichen Dunkelheit, in der es keinen Funken Licht gibt.«
»Es gibt keinen Schatten ohne Licht«, murmelte Eleonora, bevor sie sich daran hindern konnte.
Raksha riss die trüben Augen auf und starrte sie entsetzt an. »Was hast du gesagt?«
Ihr Herz schlug wild, trotzdem hob sie lässig die Schultern. »Keine Ahnung, der Satz hat gerade gepasst. Irgendwann muss ich ihn gehört haben.« Sie strich über die gepolsterten Armlehnen des Throns. »Muss ich das Ding behalten oder kann ich mir einen eigenen anfertigen lassen?«
Raksha blinzelte und gab dann ein Schnauben von sich. »Du bist die Königin. Dein Wunsch ist deinen Untertanen Befehl.«
»Nur, wenn sie dich genug fürchten«, fügte Lapidia hinzu und trat an Rakshas Seite. Sie schlang einen Arm um ihn und umklammerte ihn wie eine Ertrinkende ein Stück Treibholz, das sie retten sollte. »Aber dafür werden wir schon sorgen. Nicht wahr, mein Liebster?«
Wieder lächelte die Aurone den Schatten an und schmiegte sich schließlich an ihn. Raksha ließ es zu, doch Eleonora erkannte an seiner regungslosen Miene sehr deutlich, dass er wohl nicht dasselbe für Lapidia empfand wie sie für ihn.
»Das überlasse ich dir, mein Täubchen«, meinte er an Lapidia gewandt und rang sich schließlich ein Lächeln ab. »Du hast darin Übung, die Auronen zu beherrschen.«
Lapidia seufzte zufrieden, während Raksha ihren Nacken kraulte. Eleonora verdrehte die Augen und stützte ihr Kinn auf einer Hand ab.
»Ihr werdet euch jetzt nicht küssen, oder?«, fragte sie und atmete hörbar aus, als Lapidia sich auf die Zehenspitzen stellte.
Raksha jedoch machte keine Anstalten, Lapidia den Kuss zu schenken, den sie sich offensichtlich wünschte.
»Fühlst du die Macht der Auronen?«, wollte er stattdessen von Eleonora wissen.
»Sollte ich? Für mich ist das nur ein Stuhl mit einer seltsamen Verzierung«, entgegnete sie.
»Hmm«, machte Raksha. »Möglicherweise liegt es daran, dass die Auronen noch eine Königin haben. Das ist ungünstig. Ich hatte gehofft, du könntest den Schattenkristall bereits zerstören.«
»Vielleicht sollten wir versuchen, die fünf Artefakte zu vereinen«, schlug Aestus vor. »Immerhin besitzen wir jetzt drei und können die anderen zwei damit aufspüren.«
»Keine schlechte Idee«, meinte Raksha.
Er schnippte und aus dem Nichts erschienen ein Ring und das Bruchstück eines Schwertes. Das Zepter, das an Eleonoras Gürtel hing, begann zu summen und schimmerte im gleichen silbernen Licht wie die beiden anderen Gegenstände.
»Sobald Byro zurück ist, soll er dich in die Menschenwelt bringen«, sagte Raksha und reichte Aestus die beiden Gegenstände. »Du holst mit ihm die Artefakte. Danach kehren wir zum Kristall auf dem König der Berge zurück. Und sobald Eleonora die Königin der Auronen ist, werden wir die letzten Fesseln ablegen, die uns noch binden. Dann sind wir endlich frei.«
Eleonora schauderte bei dem Ausdruck auf Rakshas Gesicht. Und gleichzeitig fand sie die Dunkelheit, die von ihm ausging, faszinierend. Tröstlich. Sie durfte dennoch nie vergessen, wie gefährlich dieses Wesen war.
»Meine Teuerste, würdest du Aestus dein Zepter überlassen?«, fragte Raksha. »Ich verspreche dir, du bekommst es zurück, sobald es möglich ist.«
Sie betrachtete das Zepter an ihrem Gürtel. Der Stab bestand aus einem silbrigen Metall, das sich eiskalt anfühlte und in dem winzige Partikel schimmerten, als wären kleine Sterne darin eingeschlossen. Der Kristall auf der Spitze wirkte milchweiß. Silberne Schlieren überzogen die spiegelglatte Oberfläche und ließen ihn aussehen, als würde etwas darin schweben.
Ihre Finger umschlossen den Stab und eine seltsame Ruhe erfasste sie. Eleonora wusste nicht, wieso, aber sie lächelte.
Bis sich eine Hand über ihre legte. Eleonora löste ihren Blick von dem Zepter und sah in die eisblauen Augen des Mannes, mit dem sie angeblich zusammen war.
Aestus schmunzelte und strich über ihre Finger. »Ich passe auf das Zepter auf«, versprach er.
Sie wollte es nicht hergeben. Nicht an ihn und auch an keinen anderen.
»Ich werde mit in die Menschenwelt gehen«, verkündete Eleonora.
»Ich halte das nicht für klug«, erwiderte Raksha.
»Und wieso?«, wollte sie wissen.
Der Schatten betrachtete sie, ohne eine Regung zu zeigen. Aber die Dunkelheit in ihm hatte sich verändert. »Du bist in Gefahr. Es gibt Mitglieder einiger Völker, die behaupten werden, deine Freunde zu sein. Allerdings wollen sie dich genauso vernichten wie mich, da sie unsere Magie fürchten.«
Sie reckte ihr Kinn. »Du behauptest auch, mich beschützen zu wollen. Was unterscheidet dich von den anderen?«
Raksha beugte sich herab, bis sich ihre Augen auf derselben Höhe befanden. »Meine Teuerste, ich habe es dir bereits erklärt: Wir beide entspringen derselben Magie.« Er sprach ruhig auf sie ein. Eleonora hörte dennoch den bedrohlichen Unterton in seiner Stimme. »Wir sind einzigartig. Jeder fürchtet uns, weil sie unsere Macht nicht verstehen.« Er legte seine Hand auf ihre und eisige Kälte kroch über ihre Haut. Doch diesmal empfand sie die Berührung nicht als unangenehm, sondern als beruhigend. »Du und ich, wir müssen zusammenhalten. Ich brauche dich und deswegen werde ich dir nicht schaden. Aber diese anderen Wesen … sie fürchten deine Macht. Wenn sie denken, dass du zu gefährlich wirst, werden sie dich töten. Das will ich um jeden Preis verhindern.«
Da war keine echte Sorge in seinen Worten. Deswegen hob Eleonora ihr Kinn etwas höher, richtete sich zu voller Größe auf und blickte auf ihn herab.
»Ich will dennoch mitgehen. Das Zepter bleibt in meiner Hand«, verkündete sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ.
Raksha betrachtete sie mit seinen blinden Augen. Seine Finger auf ihren zuckten. Sie konnte seine Wut deutlich wahrnehmen. Eleonora erwartete, dass der Schatten einen Wutausbruch haben würde. Doch Raksha lachte nur trocken und stand wieder auf.
»Meinetwegen. Aestus, du schützt sie mit deinem Leben«, wies Raksha ihn an und ging zu Lapidia. Er ergriff ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. »Komm, mein Täubchen. Lass uns den beiden Frischverliebten etwas Freiraum geben, bis Byro zurück ist.«
Er führte die Aurone vom Thron fort auf eine Fensterfront zu. Der Thronsaal wirkte sonnendurchflutet, aber jetzt, da Eleonora hinausblickte, erkannte sie, dass der Himmel hinter dem Glas so grau war, als würde die Sonne bereits versinken.
Das war seltsam. Überhaupt war alles an diesem Ort seltsam. Und dennoch fühlte sie sich unendlich wohl hier, obwohl sie nicht wusste, wieso.
»Willst du das wirklich riskieren?«, fragte Aestus, der sich neben den Thron hockte und seine Hand auf ihre legte.
Diese Berührung hatte etwas Tröstliches. Trotzdem empfand Eleonora sie nicht als so angenehm wie vorhin jene von Raksha.
»Ich gebe das Zepter nicht her«, entgegnete sie trotzig. »Auch dir nicht.«
»Darf ich fragen, warum?« Aestus musterte den Stab.
»Weil …« Sie biss sich auf die Unterlippe, schnaubte und wandte den Blick ab. »Ich will einfach nicht.«
»In Ordnung.« Aestus strich behutsam über ihren Handrücken. »Ich finde es irgendwie sogar schön, dass wir gemeinsam gehen.« Sie wandte sich ihm wieder zu und betrachtete das schiefe Schmunzeln auf seinem Gesicht. »Ich habe mich jeden Moment, in dem wir getrennt waren, nach dir gesehnt.«
Sie schob die Augenbrauen zusammen. »Warum waren wir denn getrennt?«
Aestus räusperte sich. »Weil ein anderer Mann Anspruch auf dich erhoben hat und dich von mir ferngehalten hat.«
Er mied ihren Blick und Eleonora fragte sich, ob er die Wahrheit sprach. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendjemandem gelingen konnte, sie gegen ihren Willen von etwas abzuhalten. Immerhin … hatte sie sich gerade gegen Raksha durchgesetzt.
»Aber jetzt bist du hier«, sagte Aestus unvermittelt und drückte ihre Hand. »Und ich bin froh, dass wir jetzt die verlorene Zeit wieder aufholen können.«
Eleonora atmete hörbar aus. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Wenn sie Aestus ansah, konnte sie seine Zuneigung zu ihr erkennen. Und etwas in ihrem Herzen, das von Dunkelheit umgeben war, antwortete auf diese Gefühle.
Sie hatte ihn vermutlich wirklich gemocht. Doch jedes Mal, wenn sie versuchte herauszufinden, was sie für ihn empfand, tauchte ein Gesicht aus dem Nebel ihres Vergessens auf. Umrahmt von goldblondem Haar und mit dunkelblauen, fast violetten Augen. Und mit dem Gesicht kam ein Schmerz, den sie nicht verstand. Also verdrängte sie es, genauso wie die widersprüchlichen Gefühle, die es hervorrief.
Aestus tätschelte ihre Hand. »Erinnerst du dich an unser Picknick?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf und hörte ihm gedankenverloren zu, während er von einem sonnigen Tag erzählte, an dem sie gemeinsam unter einem Baum gesessen hatten.
Eleonora nahm seine Worte kaum wahr. Sie tastete nach dem winzigen Funken in ihrer Brust und beobachtete dabei Raksha, der sich mit Lapidia unterhielt.
Er durfte nichts von diesem Funken wissen. Das winzige Licht gehörte ihr. Und sie wollte nicht zulassen, dass Raksha es ihr wegnahm. Und das würde er. Weil sie genauso gehandelt hätte an seiner Stelle.
Die Wunde an seiner Seite pochte bei jedem Schritt. Lucius hielt dennoch nicht an. Er war nicht stehen geblieben, als sie über die verkohlte Wiese gelaufen waren, auf der einst die Pigmentera gelebt hatten. Der Ritter hatte sein Tempo auch nicht verlangsamt, nachdem sie auf den schneebedeckten Pfad zurückgekehrt waren. Und genauso wenig hatte er gezögert, die Clavema, die wie eine Eidechse auf zwei Beinen aussah, hochzuheben, als sie zusammengebrochen war.
Doch jetzt … ging auch ihm langsam die Kraft aus. Er trug auch immer noch Ninas leblosen Körper, und er würde ihn nicht hier zurücklassen. Sie mochte Eleonora und alle anderen verraten haben, aber sie verdiente es dennoch nicht, hier, vergessen von jedem, liegen zu bleiben. Und er musste Eleonora retten.
Dazu musste er zu den anderen zurückkehren, koste es, was es wolle.
Der Weg zurück zum Schiff der Auronen wirkte länger als jener hinauf zum Portal in die Welt der Pigmentera. Aber vermutlich war das nur seine eigene Unruhe, die ihm das weismachen wollte.
Er konnte es immer noch nicht glauben. Eleonora war von Raksha und Aestus in die Dunkelheit gestürzt worden. Lucius hatte das niemals für möglich gehalten. Und doch war es geschehen.
Sie hat geglaubt, ich wäre gestorben, dachte er wehmütig. Ich wäre an ihrer Stelle zerbrochen. Raksha muss das von Anfang an geplant haben. Nur so konnte er sie auf seine Seite ziehen.
Lucius biss die Zähne zusammen, als eine neue Welle des Schmerzes seinen Körper flutete. Er stolperte und fiel mit den Knien in den Schnee. Sein Atem bildete gefrierende Wölkchen und seine Hand zitterte. Er betrachtete die Clavema, die mit halb geöffneten Lidern auf Ninas leblosem Körper lag. Ihr Brustkorb hob und senkte sich so schnell wie sein eigener.
»Weiter«, sagte Lucius zu sich selbst und der Clavema und kämpfte sich auf die Beine zurück.
Ein Knirschen erklang, gefolgt von Rufen. Lucius zwang seine Füße, sich schneller zu bewegen, und rannte den Pfad hinab.
Endlich kam das Schiff der Auronen in Sichtweite. Es hing schräg an der Bergwand. Der Mast war gebrochen und die Auronen versuchten mit allen Mitteln, es daran zu hindern, abzustürzen. Sie hatten magische Seile um den Schiffsrumpf geschlungen und befestigten sie an den rauen Felsen. Die Windauronen versuchten inzwischen, den Sturm, der an den Segeln des Einmasters riss, zu kontrollieren und gleichzeitig das Gewicht des Schiffs zu verlagern, damit es nicht in die Tiefe fiel.
Doch sie befanden sich hier auf dem König der Berge. Magie besaß ihre eigenen Regeln an diesem Ort und die Kräfte der Auronen wirkten nicht so, wie sie es sonst taten.
Es war also nur eine Frage der Zeit, bis das Schiff herabstürzen würde, falls sie es nicht auf den Kristallfluss zurückbrachten.
Lucius rannte noch schneller. Er war mit Eleonora allein zum Gipfel des Berges aufgebrochen. Eigentlich hatte er gedacht, die anderen würden ihnen folgen. Aber vermutlich waren sie zu dem Schiff zurückgekehrt, nachdem der Ritter und Eleonora im Reich der Pigmentera verschwunden waren.
Hector, der Lunara und ein Verwandter von Eleonora, entdeckte ihn als Erstes.
»Lucius!«, rief er und rannte dem Ritter entgegen.
Lunara waren nicht fähig, richtige Emotionen zu empfinden. Von Sarina, Eleonoras Großmutter, abgesehen, hatte Lucius bei diesem Volk tatsächlich kaum Gefühlsregungen wahrgenommen. Aber Hector wandelte sich langsam. Erst lächelte er schwach, während er sich Lucius näherte. Dann erst bemerkte er Nina, die Lucius in den Armen hielt. Hector sah sich suchend um und seine Miene wurde finsterer.
Lucius ächzte. Seine Beine gaben unter ihm nach und er fiel erneut auf die Knie. Er konnte den Sturz nicht mit seiner Hand abbremsen, doch Hector fing ihn auf.
»Du bist verletzt.« Der Lunara blickte noch einmal hinter Lucius. »Und wo ist Eleonora. Wieso hast du Nina in den Armen und nicht Eleonora?«
Er hatte sich überlegt, wie er den anderen erzählen sollte, was geschehen war. Doch nichts fühlte sich jetzt richtig an. Wie sollte er erklären, dass Eleonora in die Dunkelheit gestürzt und dem Schatten gefolgt war, ohne es wie Verrat klingen zu lassen?
Lucius schluckte und suchte nach den richtigen Worten. In dem Moment knirschte das Holz des Schiffs. Die magischen Seile, die sich um den Segler geschlungen hatten, rissen. Der Wind brauste auf und zerrte an dem Segel. Im nächsten Moment rutschte das Schiff ab und stürzte den Berg hinunter.
Die Auronen stießen Verwünschungen aus. Lucius’ Brust wurde eng. Sie saßen hier fest. Mitten auf dem Berg, dessen Magie eigenen Gesetzmäßigkeiten folgte, hatten sie die einzige Möglichkeit verloren, schnell zu reisen.
»Lucius«, drang Fyrias Stimme in seine Gedanken.
Er blickte auf in das Gesicht der ehemaligen Obersten des Windelements. Ihre blonden Haare wurden vom Sturm zerzaust, ihre sonst stets strahlende Miene wirkte ungewohnt ernst. Neben ihr erschien Scio, der Oberste des Wasserelements. Er sank vor Lucius in die Knie und hob seine Hände über die Wunde.
Funken stoben hoch, als die Heilmagie des Auronen gegen das Gift in der Wunde kämpfte. Lucius biss die Zähne zusammen und krümmte sich.
»Was ist geschehen?«, fragte Fyria, die mit Tränen in den Augen Nina betrachtete.
»Und wo ist Eleonora?«, hakte Hector erneut nach.
Lucius rang mit einer Übelkeit, die sich jetzt, da Scio ihn heilte, in ihm breitmachte. Sein Herz schlug rasend schnell, während sich die Wunde an seiner Seite schloss und der Schmerz abklang. Nun brodelte ein anderer Schmerz in seinem Inneren hoch.
Seine Augen brannten und er blinzelte heftig gegen die Tränen an. Dann suchte er Fyrias Blick. Ihr konnte er am ehesten erzählen, was passiert war.
»Lapidia … sie hat versucht, Eleonora glauben zu lassen, dass ich sie verrate«, begann er zu berichten. »Sie hat mir gesagt, sie würde Eleonora und mich am Leben lassen, wenn ich ihr das Zepter der Lunara bringe. Es war die einzige Chance, nah genug an sie heranzukommen. Also habe ich es getan.«
Er stockte und verdrängte das Bild von Eleonora, die ihn angefleht hatte, es nicht zu tun. »Vertrau mir«, hatte er ihr zugeraunt. Aber er hatte dennoch gefühlt, wie ihr Herz zerbrochen war. Weil auch seines in dem Moment tiefe Risse bekommen hatte.
»Sie hat das Zepter?«, keuchte Scio.
Lucius schüttelte den Kopf, bis ihm bewusstwurde, dass sie es jetzt vermutlich sehr wohl besaß.
»Ich habe es ihr nicht gegeben. Es musste für sie nur so aussehen, bis ich nah genug bei ihr war, um gegen sie zu kämpfen. Sie hat mich mit einer vergifteten Klinge verletzt und dann über den Rand der Welt geworfen.«
»Was?« Fyrias Stimme war nicht viel mehr als ein heiseres Flüstern. »Aber wie hast du das überlebt?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Lucius. »Ich habe das Bewusstsein verloren. Irgendwann bin ich in undurchdringlicher Dunkelheit aufgewacht. Vermutlich hatte ich Glück und bin bei meinem Sturz irgendwie auf einem Felsvorsprung gelandet. Jedenfalls konnte ich die Felswand wieder hochklettern. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Als ich den Rand erreichte und mich hochgezogen habe … waren Lapidia und Eleonora verschwunden.«
Sein Atem stockte, als er an den Moment dachte, da er in dem strömenden Regen gestanden und versucht hatte, zu begreifen, was geschehen war. Er hatte nur Nina entdeckt, die leblos auf dem Plateau zurückgeblieben war. Ohne die Clavema hätte Lucius nicht gewusst, was sich ereignet hatte.
»Eleonora hat gekämpft«, sagte er heiser. »Aber Lapidia … es ist ihr gelungen, Raksha und Aestus zu befreien. Sie haben ihr den von Nina verunreinigten Mondstein in den Körper geschoben.«
Fyria keuchte, Scio stieß einen Fluch aus und Hector vergrub sein Gesicht in den Händen.
»Sie ist … sie haben sie … in die Dunkelheit geworfen«, stammelte Lucius und schluckte gegen den Kloß in seinem Hals. »Und sie haben sie mitgenommen. Offensichtlich wollen sie mit ihr nach Galene, um sie zu krönen.«
Niemand sagte ein Wort und die Bedeutung dessen, was er den anderen anvertraut hatte, wog unermesslich schwer auf seinen Schultern.
»Wenn du nicht dabei warst, als all das geschah«, durchbrach Scio schließlich das Schweigen. »Woher weißt du, was passiert ist?«
»Ich habe es gesehen«, krächzte die Clavema. Lucius betrachtete das Wesen, das die Augen nur zu schmalen Schlitzen geöffnet hatte. »Ich war dort, aber ich konnte nichts ausrichten, um das Hybridmädchen zu retten. Aber ich habe gehört, was Lapidia und der Schatten über sie und den Ritter gesagt haben.«
»Und was wäre das?«, hakte Fyria nach.
»Wir brauchen erst einen Ort, an dem wir sicher sind, nun, da das Schiff fort ist«, entgegnete die Clavema. »Und die Königin der Auronen sollte das auch hören. Alle sollten das.«
Lucius sah zu den Auronen, die noch an der Absturzstelle standen. Sofern er richtig gesehen hatte, war das Schiff unbemannt vom Abgrund verschluckt worden. Das war zumindest ein schwacher Trost.
»Haben wir noch ein Zelt mit?«, fragte er an Fyria gewandt.
Sie nickte und tippte auf den Stein an ihrem Ring. Er leuchtete auf und ein kleines Bündel erschien direkt vor ihr auf dem Schnee.
»Ich kann es nur nicht aufbauen«, gestand Fyria.
»Dann hole ich Helios und die anderen«, schlug Scio vor und erhob sich.
Lucius sah ihm einen Moment nach, dann bemerkte er, dass Fyria ihn anstarrte. Also erwiderte er den Blick der Aurone, der wieder so sanft wie immer war. Sie griff nach seiner Hand, sagte jedoch kein Wort.
Der Ritter musste seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpressen, um sie am Beben zu hindern. Allein die Berührung von Fyria, der mitfühlende Ausdruck auf ihrem Gesicht und das stille Verständnis, das sie ihm entgegenbrachte, rüttelten an seiner mühevoll aufrechterhaltenen Fassade.
Alles in ihm tat weh. Die Wunde mochte Scio geheilt haben, aber nun traf ihn die Erkenntnis mit voller Wucht. Er hatte Eleonora im Stich gelassen. Wäre er bei ihr gewesen, hätte der Schatten sie niemals in die Dunkelheit ziehen können. Noch nicht einmal mit dem verunreinigten Mondstein.
»Lucius«, sagte Fyria leise. »Hör auf.«
»Womit?«, krächzte er und blinzelte gegen die Tränen an.
»Du bist nicht schuld, dass sie fort ist. Und ich weiß, dass du alles tun wirst, um sie zu retten. Also hör auf zu glauben, dass du etwas falsch gemacht hast. Denn das hast du nicht. Wir sind froh, dass du noch lebst.«
Hector legte eine Hand auf Lucius’ Schulter und drückte sie. »Ja, das sind wir. Und ganz egal, was geschehen ist … wir holen Eleonora zurück.«
Lucius wollte Hoffnung schöpfen. Doch da seufzte die Clavema laut. Er sah zu ihr und fing ihren Blick auf. Das Wesen wirkte nicht so überzeugt wie die anderen, dass sie Eleonora retten konnten.
Doch ehe er nachfragen konnte, was die Clavema wusste, erschien Ignia neben Scio.
»Eleonora ist fort?«, fragte die Königin atemlos. »Was ist geschehen?«
»Nicht hier«, brummte die Clavema. »Baut das Zelt auf. Dann erklären wir euch alles.«
Helios nahm Fyria das Päckchen ab, warf es mehrere Schritte von ihnen entfernt auf den Boden und wirkte mit den Händen einen Zauber. Ein kleines Zelt baute sich von selbst auf. Ignia hob eine Augenbraue. »Wie sollen wir da alle Platz finden?«
»Lass dich überraschen«, meinte Fyria, half Lucius auf die Beine und schritt dann auf den Zelteingang zu.
Lucius wusste nicht, was er mit Nina machen sollte. Er entschied sich schließlich, sie im Zelt direkt beim Eingang abzulegen. Also folgte er Fyria. Behutsam bettete er Ninas Körper auf einen Stapel Decken. Erst dann sah er sich um.
Er war einmal mehr beeindruckt, wie geräumig das Innere durch die Zauber der Magier war. Von außen mochte es kleiner sein als eine Hundehütte, aber innen war es so groß wie ein Mehrfamilienhaus. Ein magisches Feuer knisterte in einem Becken, Teppiche bedeckten den Boden und überall befanden sich Lager aus Kissen und Decken. Ein Tisch stand in der Mitte des Zelts, auf dem Geschirr für mehrere Personen vorbereitet worden war.
Fyria hielt darauf zu und setzte sich links des Kopfendes hin. Sie winkte Lucius zu sich und bedeutete ihm, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Also ließ er sich dort nieder. Die Clavema kletterte auf den Tisch.
Ignia betrat das Zelt und blieb mit offenem Mund stehen. Sie sah sich staunend um, während sie langsam auf den Tisch zuging.
»Das haben die Magier erschaffen?«, fragte sie und konnte immer noch nicht aufhören, alles zu betrachten. »Wann haben sie gelernt, solche Magie zu wirken?«
»Es ist wohl viel geschehen in der Zeit, die Euer Volk abgeschieden von den sterblichen Völkern verbracht hat«, meinte Helios, der neben Lucius Platz nahm. »Die Magier haben die Rolle übernommen, die eigentlich den Auronen zugedacht war. Wir mussten erfinderisch werden, um die Menschen zu beschützen.«
Ignia senkte verlegen den Blick. »Wenn das alles überstanden und der Schatten bezwungen ist, hoffe ich, dass alle Völker sich erneut annähern können.«
»Das wäre schön«, stimmte Helios zu.
»Falls wir den Schatten bezwingen«, warf Wyn, der ihnen ins Zelt gefolgt war, ein.
Er stammte aus der Welt der Lunara und hatte sich erst kürzlich der Gruppe um Eleonora angeschlossen. Lucius schätzte ihn für sein Kampftalent und seine Umsichtigkeit. Ohne den Lunara wären sie nicht auf den Berg gelangt. Wyn war, wie die meisten seines Volkes, eher nüchtern und sprach aus, was er dachte, ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer zu nehmen.
Ignia musterte ihn mit finsterem Blick. »Zweifelst du daran, dass wir ihn bezwingen?«
»Wir haben das Licht verloren«, entgegnete Wyn. »Du erinnerst dich vielleicht, dass nur das Licht den Schatten zu bezwingen vermag? Nun ist sie aber fort. Wie sollen wir also diesen Kampf gewinnen?«
Die Königin der Auronen biss sich auf die Unterlippe und sah hilfesuchend zu Lucius. Er wusste allerdings auch nicht, was er sagen sollte.
Das Zelt hatte sich mittlerweile gefüllt. Langsam wurde es eng, obwohl der Raum groß war. Daphne und Cerim hielten sich ein Stück vom Tisch entfernt. In ihren Augen erkannte Lucius die Angst, die auch er empfand, weil Eleonora nicht hier war. Neben Drisella – Daphnes Mutter – befand sich noch Malfor, der Elfenprinz, im Zelt. Duno hatte sich am Tisch niedergelassen und musterte Lucius fragend.
Der Ritter riskierte einen Blick zu der Clavema, die einen Becher umgedreht hatte und darauf geklettert war. Nun saß sie auf dem Gefäß und trommelte mit ihren scharfen Klauen auf das Holz, aus dem es gefertigt war. Er fragte sich, was dieses Wesen allen mitteilen wollte. Was hatte es noch gehört, als es auf dem Berg zugesehen hatte, wie Eleonora in die Dunkelheit fiel?
»Da wir nun alle hier sind«, riss Ignia ihn aus seinen Überlegungen und Lucius richtete seine Aufmerksamkeit auf sie. »Bitte, erzähl uns, was geschehen ist und was mit Eleonora passiert ist.«
Der Ritter räusperte sich und berichtete noch einmal, was sich zugetragen hatte. Immer wieder sah er zu der Clavema, die bei seinen Worten nachdenklich nickte, aber nichts dazu sagte.
»All das habe ich nicht selbst gesehen«, schloss er seine Erzählung schließlich ab. »Sondern von der Clavema erfahren, die hier sitzt.«
Er deutete auf das Wesen, das nun aufstand und seinen Blick über die Anwesenden schweifen ließ.
»Ich war dabei, als der Schatten sein Gefängnis verlassen konnte«, bestätigte sie. »Und ich habe gehört, was er vorhat, nun, da Eleonoras Herz verdunkelt wurde.«
»Und was wäre das?«, hakte Ignia nach, da die Clavema in Schweigen verfallen war.
»Er will sie zur Königin der Auronen krönen«, erklärte die Clavema. »Und dann die letzten Fesseln, die ihn noch halten, lösen.«
»Er kann sie nicht krönen, solang Ignia lebt«, warf Scio ein.
»Kann er doch«, murmelte Fyria. »Wenn er herausfindet, welche Regel Ignia erlassen hat, für den Fall, dass ihr etwas zustößt.« Sie sah zu der Aurone. »Kalani ist in Galene, nicht wahr? Er weiß, wann man dich als Königin absetzen kann.«
»Bei den Göttern«, stöhnte Ignia und erhob sich ruckartig. »Wir müssen sofort nach Galene. Wir müssen …«
»… Ruhe bewahren«, übertönte Wyns Stimme jene von Ignia. »Überstürzt aufzubrechen wird uns alle in Gefahr bringen.«
»Aber mein Sohn …«
»Königin Ignia, ich verstehe, dass Ihr Euch sorgt«, unterbrach Wyn sie. »Aber Ihr helft ihm nicht, wenn Ihr im Kampf umkommt. Statt einfach in eine mögliche Falle zu laufen, sollten wir überlegen, was wir tun können, nun, da wir das Licht verloren haben.«
»Das haben wir nicht«, rief die Clavema über die beginnenden Gespräche hinweg. Mit einem Mal verstummten alle und starrten das Wesen an. »Der Schatten hat es Eleonora gesagt, bevor er sie in die Dunkelheit gestürzt hat. Sie war nie das wahre Licht.«
»Was?«, fuhr Ignia sie an und schüttelte den Kopf. »Wovon sprichst du? Eleonora vereint alle vier erdfremden Völker. Ich habe ihre Magie gesehen. Wir alle haben sie gesehen. Sie ist das Licht. … war«, korrigierte die Königin sich räuspernd.
Die Clavema wandte sich zu Lucius um, der es nicht wagte, zu atmen. Die goldenen Augen des Wesens bohrten sich in seine.
»Sie wurde als Licht geboren. Aber ihr Schicksal war wohl, das wahre Licht zu erwecken«, erklärte die Clavema und hob den Arm. »Darf ich vorstellen? Lucius, das Licht, das den Schatten bezwingen wird.«
Sein Herz blieb beinahe stehen und sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. »Nein«, stöhnte er. »Nein, du irrst dich. Ich bin nicht … meine Aufgabe ist es, das Licht zu beschützen.«
»Und das hast du«, meinte die Clavema. »Indem du zum wahren Licht geworden bist.«
Er ballte seine Hände zu Fäusten. »Du irrst dich. Eleonora ist das Licht und ich bin ihr Beschützer.«
Die Clavema schwieg, genau wie alle anderen. Lucius bekam kaum noch Luft. Es konnte doch nicht sein, dass sie alle glaubten, dass er zum Licht geworden war.
»Das ergibt keinen Sinn«, meldete Ignia sich zu Wort. »Nichts für ungut, Lucius, aber du bist ein gewöhnlicher Mensch. Dein Schicksal mag anders sein als das eines Menschen, aber … du kannst nicht das Licht sein.«
Zustimmend nickte Lucius. Er sah zu der Clavema, die ihren Kopf schief legte und ihn mit einem tadelnden Blick bedachte.
»Was sagt die Prophezeiung dazu?«, wollte Scio wissen. »Es muss doch eine geben.«
»Wir alle wissen, wie kryptisch die Worte der Lunara sind«, meinte Fyria mit schwachem Lächeln an Wyn gewandt. »Entschuldige.«
»Nein, es ist Kauderwelsch«, pflichtete der Lunara ihr bei. »Fraglich ist nur, wie wir herausfinden, ob Lucius das Licht ist.«
»Ganz einfach, indem er seine Magie erstrahlen lässt«, sagte Duno und wandte sich Lucius zu. »Ruf sie.«
»Wir sind auf dem König der Berge«, warf der Ritter ein. »Hier wirkt Magie nicht richtig.«
»Ruf sie trotzdem«, bat Ignia.
Lucius stieß den Atem aus, schloss die Augen und tastete nach dem Licht in seinem Auronenkristall. Sofort schwoll die Magie an, erfüllte den Raum und wurde so stark, dass die Helligkeit selbst durch seine geschlossenen Lider schmerzte.
Er hörte das Keuchen der anderen, fühlte die unermessliche Kraft in sich und schloss sie hastig wieder ein. Zögerlich hob er die Lider. Die Mienen der anderen ließen keinen Zweifel mehr aufkommen. Sie hielten ihn für das wahre Licht.
»Wenn Lucius nun das Licht ist … was ist dann Eleonora?«, stellte Fyria die Frage, die auch auf seiner Seele brannte.
»Es gibt kein Licht ohne Schatten«, murmelte Scio und rieb sich über die Stirn. »Heißt das, Eleonora ist jetzt der Schatten?«
»Davon ist auszugehen«, sagte die Clavema. »Die Frage ist, ob sie wird wie Raksha oder ob sie der wahren Bestimmung des Schattens folgt.«
»Sie ist nicht der Schatten«, entfuhr es Lucius. »Eleonora ist liebevoll, ihr Herz ist unendlich groß. Sie würde niemals etwas so Grauenhaftes tun wie Raksha. Er ist ein Monster, sie nicht.«
»Aber es war nicht die wahre Bestimmung des Schattens, ein Monster zu sein«, warf die Clavema ein. »Das weißt du doch mittlerweile, oder?«
»Ich lasse dennoch nicht zu, dass Eleonora in der Dunkelheit verweilt«, entgegnete Lucius und musste sich bemühen, seinen Zorn zu unterdrücken. »Sie ist das Licht. Ihr werdet es schon noch erkennen, wenn sie wieder bei uns ist.«
Niemand erwiderte etwas darauf. Das schürte Lucius’ Zorn nur noch mehr. Er zwang seinen Atem, ruhiger zu werden.
Wyn hatte recht. Weder Zorn noch Sorge durften ihn jetzt davon ablenken, einen vernünftigen Plan zu schmieden. Sie mussten Eleonora retten. Aber das Schiff lag vermutlich vollkommen zerstört am Fuß des Berges. Und der Schatten besaß nicht nur Eleonora, sondern auch drei Artefakte. Damit war er mächtig. Und gefährlich.
»Was sollen wir also unternehmen?«, warf Wyn die Frage in den Raum. »Auf welche Kräfte können wir zurückgreifen? Die Magier sind schwer geschlagen worden. Die Menschen werden uns nicht helfen. Wir können in der Welt der Lunara um Hilfe bitten und vermutlich werden uns auch die Elfen beistehen.«
»Die Auronen werden den Kampf ebenfalls unterstützen«, sagte Ignia entschlossen.
»Sofern sie nicht hinter dem Schleier gefangen sind«, fügte Fyria hinzu. »Raksha wird Galene abschotten. Niemand wird ohne seine Erlaubnis hinein- oder hinausgelangen.«
»Dann müssen wir den Schleier zerbrechen«, meinte Scio. »Es wird nicht einfach werden, aber mit der Hilfe der Lunara sollten unsere Kräfte dafür ausreichen.«
»Und wenn uns das gelingt … was geschieht danach?«, wollte Wyn wissen.
»Wir sollten hoffen, dass unsere Kräfte ausreichen, um ihn zu bekämpfen«, murmelte Ignia. »Und dass der Schatten nicht sämtliche Auronen in seine Kreaturen verwandelt hat.«
Sie schauderte und rieb sich über die Arme. Lucius verstand, warum. Ihr Sohn war in Gefahr, eines dieser Wesen zu werden. Es gab keine Möglichkeit, die Verwandlung umzukehren. Jeder Aurone, der von Raksha zu diesem Schicksal gezwungen wurde, war für immer verloren.
»Die Königin der Pigmentera hat uns etwas anvertraut, bevor sie starb«, sagte die Clavema.
Alle Blicke richteten sich auf sie, doch das Wesen nickte Lucius auffordernd zu.
»Solana, so hieß die Königin, war Rakshas Schwester«, erklärte er mit kratziger Stimme. »Und sie hat uns gesagt, dass die Lorana noch hier, unter dem König der Berge, ruhen und darauf warten, von uns erweckt zu werden, wenn wir sie brauchen.«
»Die Lorana sind hier?«, fragte Fyria. Ihre Augen begannen zu strahlen. »Das sind … wunderbare Neuigkeiten. Dann … dann wird es uns gelingen, den Schleier zu brechen.«
»Falls sie wirklich hier sind, wir sie finden und sie aufwecken können«, meinte Wyn.
»Oh, ich liebe deinen Enthusiasmus«, brummte Scio. »Du verstehst es, uns alle zu motivieren.«
»Ich versuche nur, euch klarzumachen, was schiefgehen könnte«, entgegnete Wyn und verschränkte die Arme vor der Brust. »Jemand muss euch allen Vernunft beibringen.«
»Gut, dann ist der nächste Schritt, die Lorana zu finden«, entschied Ignia.
»Dazu werden wir den Berg verlassen müssen.« Wyn atmete geräuschvoll aus. »Die Frage ist, wie uns das gelingen soll. Das letzte Mal hat uns die Magie im Kreis laufen lassen.«
»Ich kann helfen, ein Portal zu finden«, sagte die Clavema. »Damit sollten wir ins Tal gelangen.«
»Dann los.« Ignia erhob sich. »Lasst uns nicht noch mehr Zeit verlieren.«
Sie schritt zum Eingang des Zeltes und schob die Plane weg. Kalter Wind schlug ihnen entgegen. Aber nicht nur das. Der Geruch von Feuer drang in Lucius’ Nase. Und gleich darauf bebte der Boden. Ein wuchtiger Zauber traf das Zelt und Lucius sank bewusstlos zusammen.
Sie schreckte aus dem Dämmerschlaf, in den sie versunken war, hoch. Der Thronsaal lag mittlerweile dunkel vor ihr und wurde nur durch wenige magische Lichter, die vereinzelt im Raum schwebten, erhellt.
Eleonora saß immer noch auf dem Thron. Ihr Nacken schmerzte, also stand sie auf und streckte sich. Sie hatte nicht vorgehabt, einzuschlafen. Aber dieser Byro ließ sich unglaublich lang Zeit, und sie war es leid gewesen, Aestus ein gezwungenes Lächeln zu schenken.
Immer wieder hatte er ihr von ihrer angeblich gemeinsamen Zeit erzählt. Doch nichts davon war Eleonora vertraut vorgekommen. Weder ihr Picknick noch der Ausflug, den sie scheinbar nach Aquaris, einer Stadt am Meer, gemacht hatten.
Allerdings hatte sie ständig das Gefühl gehabt, dass eine andere Erinnerung versuchte, durch den Nebel in ihrem Kopf zu brechen. Und jedes Mal hatte sie einen heftigen Stich in ihrem Herzen gefühlt, der ihr die Luft zum Atmen raubte.
Irgendwann hatte Aestus es dann aufgegeben und stattdessen ihre Hand gehalten. Eine Weile hatte Eleonora es zugelassen, dann war ihr seine aufdringliche Nähe zu viel geworden.
»Ich brauche etwas Zeit für mich«, hatte sie gesagt und war auf den Thron zurückgekehrt, auf dem sie nun wohl geschlafen hatte.
Es war bedrückend still in dem Raum. Eleonora setzte sich in Bewegung und sah sich um. Sie hatte es vermieden, die Blutflecken auf dem Boden näher zu betrachten. Ihr Magen zog sich selbst jetzt, da sie nur daran dachte, wie Raksha und Byro diesen Auronen zugerichtet hatten, zusammen. Sollte sie nicht Gefallen daran haben, Dunkelheit über andere zu bringen, wenn sie und Raksha sich so ähnlich waren?
Sie schob den Gedanken von sich und tastete mit ihren Kräften nach dem kleinen Funken Licht in ihrem Herzen, den sie so sorgfältig versteckt hatte. Beinahe atmete sie auf, weil sie ihn immer noch fühlen konnte. Etwas in ihr wollte dieses Licht um keinen Preis aufgeben.
»Du bist wieder wach«, sagte Aestus. Eleonora zuckte zusammen und riss die Hände kampfbereit hoch. Er machte einen Schritt zurück. »Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.«
Sie schob sich eine Strähne ihrer dunkelbraunen Haare hinter das Ohr. »Schon gut. Ich war in Gedanken«, brummte sie und suchte den Raum nach Raksha und Lapidia ab. Falls sie sich hier aufhielten, verbargen sie sich gut in den nicht beleuchteten Ecken. »Wie spät ist es?«
»In der Auronenwelt wird wohl bald der Morgen anbrechen«, meinte Aestus nachdenklich. »Bei den Menschen sind höchstens wenige Minuten vergangen, seit wir den Berggipfel verlassen haben.«
Eleonora nickte und blickte zu den Fenstern, durch die gräuliches Licht fiel, das nun deutlich heller war als der Thronsaal selbst.
»Wenn du Hunger hast … Lapidia meinte, als Aurone bist du in der Lage, dem Palast zu befehlen, dir alles zu bringen, was du möchtest«, sagte Aestus. »Vielleicht versuchst du es?«
»Und wie soll das gehen?«, fragte sie misstrauisch nach.
Er tippte auf seine Schlüsselbeine. »Du trägst einen Auronenkristall in dir. Er liegt genau hier.«
Sie hob ihre Fingerspitzen an die Stelle, die er bei sich berührte und hielt den Atem an. Magie pulsierte unter ihrer Haut. Etwas in ihr erinnerte sich an diese Kräfte. Doch in der Erinnerung waren sie anders gewesen. Nicht so tosend oder zornig. Sondern warm und hell.
Ein Gesicht erschien vor ihrem inneren Auge. Eines mit markanten Wangenknochen, fast purpurnen Iriden und einem Lächeln, das ihr Herz schneller schlagen ließ, bevor es in Tausende von Scherben zerbarst.
Eleonora konnte das Schluchzen nicht unterdrücken.
Aestus legte seine Hand auf ihre und musterte sie besorgt. »Hast du Schmerzen? Ist es die Magie?«
Sie schüttelte den Kopf und blinzelte die Tränen fort, die in ihren Augen brannten. »Also, was soll ich tun?«, fragte sie mit brüchiger Stimme.
Aestus betrachtete sie eine gefühlte Ewigkeit. Dann atmete er geräuschvoll aus. »Rede mit mir, Eleonora. Ich bin dein Freund und wir sind ein Paar. Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Ich kann mich verflucht noch mal an nichts erinnern!«, fuhr sie ihn an. »Immer wieder kommen verschwommene Fetzen aus meinem früheren Leben hoch. Und jedes Mal habe ich das Gefühl zu ertrinken, wenn ich sie sehe.«
Er tätschelte ihre Hand, als wäre sie eine senile alte Frau. »Das tut mir leid …«
»Und was habe ich davon?« Zornig zog sie ihre Hand fort. »Gar nichts. Also frag mich nicht, was mit mir ist, denn außer deinem falschen Mitleid kannst du mir nichts geben.«
Er schob die Augenbrauen zusammen und sein Blick verfinsterte sich. Vermutlich hatte er genug von ihr. Sollte er doch, dann hatte sie ihre Ruhe. Etwas in ihr wollte sich an diesen Mann erinnern, den sie ständig nur schemenhaft vor sich sah. Selbst dann, wenn es ihr das Herz zerriss. Sie hatte das Gefühl, dass er für sie wichtig war.
»In Ordnung«, murmelte Aestus. »Soll ich dir trotzdem verraten, wie du das Schloss dazu bringst, dir zu geben, was du möchtest?«
Sie nickte nur und legte ihre Fingerspitzen wieder auf den Kristall, den sie unter der Haut fühlen konnte. Magie erhob sich, durchströmte ihren Körper. Und irgendwie kam es ihr vor, als würde das Schloss selbst darauf antworten.
»Stell dir vor, was du möchtest. Und das Schloss wird es dir geben«, meinte Aestus.
»Das ist alles?«, fragte sie ungläubig.
»Es klingt vermutlich leichter, als es ist. Lapidia meinte, du musst sehr genau mit deiner Vorstellung sein.«
Eleonora verdrehte die Augen und richtete ihren Blick schließlich auf den Boden. Sie führte sich bildlich vor Augen, dass ein Tisch mit Bergen von Süßigkeiten erschien. Und tatsächlich wölbte sich der weiße Untergrund und ein schiefer Tisch mit drei gleich langen und einem zu kurz geratenen Bein tauchte auf. Auf ihm türmten sich Kuchen, Schüsseln voller bunt gefärbter Cremes und Obst.
Aestus nickte anerkennend. »Nicht übel für den ersten Versuch ohne Erinnerung.«
Eleonora antwortete nicht. Sie ging zum Tisch, um sich etwas Kuchen zu nehmen. Ein Lächeln tauchte im Nebel ihrer Erinnerungen auf. Von einer Aurone, die Süßigkeiten liebte und selbst zum Frühstück Kuchen aß.
Wie hieß sie noch gleich?
Eleonora wusste es nicht. So sehr sie es versuchte, sie konnte den Namen nicht aus dem Sumpf ihrer zerbrochenen Erinnerungen hervorholen.
Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie so die Gedanken verdrängen, griff nach einem Kuchenstück und biss davon ab. Eleonora hatte nicht bemerkt, wie hungrig sie eigentlich war. Wann sie wohl zuletzt etwas gegessen hatte?