Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Im Gegensatz zu Du Bois-Reymonds hielt der deutsche Zoologe Ernst Haeckel die Welträtsel für lösbar. Er machte den Ausdruck Ende des 19. Jahrhunderts mit seinem Buch "Die Welträtsel" äußerst populär. Die an Spinoza und Goethe orientierte monistische Philosophie, die er bereits früheren Werken zugrundegelegt hatte, spiegelte den ungetrübten Glauben an den Fortschritt der Wissenschaft wider und zielte auf eine Vereinheitlichung der Weltanschauungen. (aus wikipedia.de)
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 531
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Die Welträtsel
Ernst Haeckel
Inhalt:
Ernst Haeckel – Biografie und Bibliografie
Die Welträtsel
Vorwort zur ersten Auflage
Erstes Kapitel - Stellung der Welträtsel
Zweites Kapitel - Unser Körperbau
Drittes Kapitel - Unser Leben
Viertes Kapitel - Unsere Keimesgeschichte
Fünftes Kapitel - Unsere Stammesgeschichte
Sechstes Kapitel - Das Wesen der Seele
Siebentes Kapitel - Stufenleiter der Seele
Achtes Kapitel - Keimesgeschichte der Seele
Neuntes Kapitel - Stammesgeschichte der Seele
Zehntes Kapitel - Bewußtsein der Seele
Elftes Kapitel - Unsterblichkeit der Seele
Zwölftes Kapitel - Das Substanzgesetz
Dreizehntes Kapitel - Entwicklungsgeschichte der Welt
Vierzehntes Kapitel - Einheit der Natur
Fünfzehntes Kapitel - Gott und Welt
Sechzehntes Kapitel - Wissen und Glauben
Siebzehntes Kapitel - Wissenschaft und Christentum
Achtzehntes Kapitel - Unsere monistische Religion
Neunzehntes Kapitel - Unsere monistische Sittenlehre
Zwanzigstes Kapitel - Lösung der Welträtsel
Schlußbetrachtung
Nachwort zur Schrift über die »Welträtsel«
Die Welträtsel, Ernst Haeckel
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849617738
www.jazzybee-verlag.de
Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com
Naturforscher, geb. 16. Febr. 1834 in Potsdam, verstorben am 9. August 1919 in Jena. Studierte seit 1852 Medizin und Naturwissenschaften in Würzburg, Berlin und Wien, ließ sich für kurze Zeit als Arzt in Berlin nieder und widmete sich bald ausschließlich den Naturwissenschaften. Von seinem Lehrer Johannes Müller zum Studium der niederen Meerestiere angeregt, untersuchte er die Mittelmeerfauna 1859 und 1860 in Neapel und Messina, habilitierte sich auf Betreiben seines Freundes K. Gegenbaur 1861 als Privatdozent der Zoologie in Jena und erhielt 1862 die außerordentliche und 1865 die ordentliche Professur der Zoologie daselbst. Größere wissenschaftliche Reisen unternahm er nach Lissabon, Madeira, Teneriffa, Gibraltar, nach Norwegen, Syrien und Ägypten, nach Korsika, Sardinien, Ceylon, Algerien, Russland, Java, Sumatra. H. schloss sich bereits 1863 als einer der ersten Fachgelehrten Deutschlands rückhaltlos der Darwinschen Lehre an und gab ihr schon 1866 in seiner »Generellen Morphologie« jenen konsequenten Aus- und Durchbau, der sie erst zu einem wissenschaftlichen System erhob. In der Würdigung sowohl der untersten Stufen des Lebens (Moneren) als in der Einbeziehung des Menschen und in der inneren Durcharbeitung des Beweismaterials wirkte er bahnbrechend. Zu diesen Zwecken hat H. eine große Anzahl systematischer Bearbeitungen einzelner Tierklassen, wie der Moneren, Radiolarien, Kalkschwämme, gewisser Korallengruppen, der Medusen und Röhrenquallen durchgeführt; seine große Bedeutung liegt aber nicht sowohl in seiner glücklichen Beobachtungsgabe als in dem Vorwiegen eines spekulativen Zuges, der ihn vor unbewiesenen Schlüssen nicht zurückschrecken ließ, falls sie ihm nur logisch erschienen. Haeckels wichtigste Lehre ist die von der durchgreifenden Bedeutung der Entwickelungsgeschichte des Einzelwesens für die Aufhellung seiner Stammesgeschichte, indem er erstere als eine abgekürzte Wiederholung der letzteren betrachtet. Es ist dies das von ihm formulierte biogenetische Grundgesetz, aus dem er die vielfach missverstandene Störungsgeschichte (Cenogenesis) und die vielumstrittene Gasträa-Theorie ableitete. Er hat Stammbäume der einzelnen Tier- und Pflanzenabteilungen bis in ihre Familien hinein ausgeführt, die als Forschungsprogramme zu betrachten sind und mehr als einmal glänzende Bestätigung erfahren haben. Haeckels Versuche, die ganze lebende Welt unter Einen Gesichtspunkt zu sammeln, seine freimütige Art, das als richtig Erkannte auch offen zu bekennen, haben viele Gegner und noch mehr begeisterte Anhänger gefunden, von denen einige zur Förderung der von ihm vertretenen Forschungsrichtung bedeutende Geldmittel zur Verfügung stellten (Ritterstiftung). Der letzteren großen Mehrheit gilt H. nächst Darwin als der hervorragendste Forscher auf dem Gebiet des Darwinismus. In seinen Welträtseln (s. unten) gab er das Programm einer Weltanschauung, die nur kausale Zusammenhänge anerkennt, jede teleologische Betrachtungsweise schroff ablehnt, die Idee einer persönlichen Unsterblichkeit und »sittlichen Weltordnung« entschieden verwirft, gleichzeitig aber die Schönheit der Natur preist und den Menschen zu einer selbstlosen Hingabe an das »Schöne, Gute, Wahre« erziehen will. Vom neuern Materialismus unterscheidet sich Haeckels Lehre durch ihre Betonung der Empfindung als einer ursprünglichen Grundeigenschaft der Materie. Er schrieb: »Die Radiolarien, eine Monographie« (Berl. 1862 u. 1887–1888, 4 Bde.); »Beiträge zur Naturgeschichte der Hydromedusen« (Leipz. 1865); »Generelle Morphologie der Organismen« (Berl. 1866, 2 Bde.); »Natürliche Schöpfungsgeschichte« (das. 1868, 10. Aufl. 1902; franz. Übersetzung, 3. Aufl., Par. 1884; engl., 4. Aufl., Lond. 1892); »Studien über Moneren und andre Protisten« (Leipz. 1870); »Über die Entstehung und den Stammbaum des Menschengeschlechts« (Berl. 1870, 4. Aufl. 1881); »Zur Entwickelungsgeschichte der Siphonophoren« (Utrecht 1869); »Über Arbeitsteilung in Natur und Menschenleben« (Berl. 1869); »Das Leben in den größten Meerestiefen« (das. 1870); »Die Kalkschwämme, eine Monographie« (das. 1872, 3 Bde.); »Anthropogenie, Entwickelungsgeschichte des Menschen« (Leipz. 1874, 5. Aufl. 1903; franz. Übersetzung, Par. 1877); »Ziele und Wege der heutigen Entwickelungsgeschichte« (Jena 1875); »Arabische Korallen« (Berl. 1876); »Die Perigenesis der Plastidule« (das. 1876); »Studien zur Gasträa-Theorie« (Leipz. 1877); »Die heutige Entwickelungslehre im Verhältnis zur Gesamtwissenschaft« (Stuttg. 1877); »Das Protistenreich, eine populäre Übersicht über das Formengebiet der niedersten Lebewesen« (Leipz. 1878; franz., Par. 1880); »Gesammelte populäre Vorträge auf dem Gebiet der Entwickelungslehre« (Bonn 1878 bis 1879,2 Hefte; 2. Aufl. 1902, 2 Bde.); »Das System der Medusen« (Jena 1880–81); »Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck« (das. 1882); »Ursprung und Entwickelung der tierischen Gewebe« (das. 1884); »Planktonstudien« (das. 1890); »Der Monismus. Glaubensbekenntnis eines Naturforschers«, Vortrag (Bonn 1892, 10. Aufl. 1900); »Systematische Phylogenie« (Berl. 1894–96, 3 Tle.); »Die Welträtsel« (Bonn 1899 u. ö., Volksausgabe mit Nachwort 1903); »Die Amphorideen und Cystoideen« (Leipz. 1896); »Über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Menschen« (Bonn 1898, 7. Aufl. 1899). Auch gab er das Prachtwerk »Kunstformen der Natur« (Leipz. 1899–1904) heraus. Die Bearbeitung der von der Challenger-Expedition gesammelten Radiolarien, Tiefseemedusen, Hornschwämme und Siphonophoren erschien in den »Reports of the scientific results of H. M. S. Challenger« (Lond. 1881–89). Seine »Indischen Reisebriefe« (Berl. 1883, 4. Aufl. 1903) berichten über einen viermonatigen Aufenthalt auf Ceylon 1881–1882, »Aus Insulinde« (Bonn 1901) über seine Reise nach dem Malaiischen Archipel. Vgl. W. Bölsche, Ernst H., ein Lebensbild (Leipz. 1900); Breitenbach, Ernst H. (Odenkirchen 1904).
Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie
(1899)
Die vorliegenden Studien über monistische Philosophie sind für die denkenden, ehrlich die Wahrheit suchenden Gebildeten aller Stände bestimmt. Zu den hervorragenden Merkmalen des neunzehnten Jahrhunderts gehört das lebendige Wachstum des Strebens nach Erkenntnis der Wahrheit in weitesten Kreisen. Dasselbe erklärt sich einerseits durch die ungeheueren Fortschritte der wirklichen Naturerkenntnis in diesem merkwürdigsten Abschnitte der menschlichen Geschichte, andererseits durch den offenkundigen Widerspruch, in den dieselbe zur gelehrten Tradition der übernatürlichen »Offenbarung« geraten ist, und endlich durch die entsprechende Ausbreitung und Verstärkung des vernünftigen Bedürfnisses nach Verständnis der unzähligen neu entdeckten Tatsachen, nach klarer Erkenntnis ihrer Ursachen.
Den gewaltigen Fortschritten der empirischen Kenntnisse in unserem »Jahrhundert der Naturwissenschaft« entspricht keineswegs eine gleiche Klärung ihres theoretischen Verständnisses und jene höhere Erkenntnis des kausalen Zusammenhanges aller einzelnen Erscheinungen, die wir mit einem Worte Philosophie nennen. Vielmehr sehen wir, daß die abstrakte und größtenteils metaphysische Wissenschaft, welche auf unseren Universitäten seit Jahrhunderten als »Philosophie« gelehrt wird, weit davon entfernt ist, jene neu erworbenen Schätze der Erfahrungswissenschaft in sich aufzunehmen. Und mit gleichem Bedauern müssen wir auf der anderen Seite zugestehen, daß die meisten Vertreter der sogenannten »exakten Naturwissenschaft« sich mit der speziellen Pflege ihres engeren Gebietes, der Beobachtung und dem Versuche begnügen, dagegen die tiefere Erkenntnis des allgemeinen Zusammenhanges der beobachteten Erscheinungen – d.h. eben Philosophie! – für überflüssig halten. Während diese reinen Empiriker »den Wald vor Bäumen nicht sehen«, begnügen sich jene Metaphysiker mit dem bloßen Begriffe des Waldes, ohne seine Bäume zu sehen. Der Begriff der »Naturphilosophie«, in welchem ganz naturgemäß jene beiden Wege der Wahrheitsforschung, die empirische und die spekulative Methode, zusammenlaufen, wird sogar noch heute in weiten Kreisen beider Richtungen mit Abscheu zurückgewiesen.
Dieser unnatürliche und verderbliche Gegensatz zwischen Naturwissenschaft und Philosophie, zwischen den Ergebnissen der Erfahrung und des Denkens, wird unstreitig in weiten gebildeten Kreisen immer lebhafter und schmerzlicher empfunden. Das bezeugt schon der wachsende Umfang der ungeheueren populären »naturphilosophischen« Literatur, die im Laufe des letzten halben Jahrhunderts entstanden ist. Das bezeugt auch die erfreuliche Tatsache, daß trotz jener gegenseitigen Abneigung der beobachtenden Naturforscher und der denkenden Philosophen dennoch hervorragende Männer der Wissenschaft aus beiden Lagern sich gegenseitig die Hand zum Bunde reichen und vereinigt nach der Lösung jener höchsten Aufgaben der Forschung streben, die wir kurz mit einem Wort als »die Welträtsel« bezeichnen.
Die Untersuchungen über diese »Welträtsel«, welche ich in der vorliegenden Schrift gebe, können vernünftigerweise nicht den Anspruch erheben, eine vollständige Lösung derselben zu bringen; vielmehr sollen sie nur eine kritische Beleuchtung derselben für weitere gebildete Kreise geben und die Frage zu beantworten suchen, wie weit wir uns gegenwärtig deren Lösung genähert haben. Welche Stufe in der Erkenntnis der Wahrheit haben wir am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wirklich erreicht? Welche Fortschritte nach diesem unendlich entfernten und doch so unvergleichlich wichtigem Ziele haben wir im Laufe desselben wirklich gemacht?
Die unermeßliche Ausdehnung, welche das menschliche Wissen infolge fortgeschrittener Arbeitsteilung in unserem Jahrhundert erlangt hat, läßt es schon heute unmöglich erscheinen, alle Zweige desselben mit gleicher Gründlichkeit zu umfassen und ihren inneren Zusammenhang einheitlich darzustellen. Selbst ein Genius ersten Ranges, der alle Gebiete der Wissenschaft gleichmäßig beherrschte und der die künstlerische Gabe ihrer einheitlichen Darstellung in vollem Maße besäße, würde doch nicht imstande sein, im Raume eines mäßigen Bandes ein umfassendes allgemeines Bild des ganzen »Kosmos« auszuführen. Mir selbst, dessen Kenntnisse in den verschiedenen Gebieten sehr ungleich und lückenhaft sind, konnte hier nur die Aufgabe zufallen, den allgemeinen Plan eines solchen Weltbildes zu entwerfen und die durchgehende Einheit seiner Teile nachzuweisen, trotz sehr ungleicher Ausführung derselben. Das vorliegende Buch über die Welträtsel trägt daher auch nur den Charakter eines »Skizzenbuches«, in welchem Studien von sehr ungleichem Werte zu einem Ganzen zusammengefügt sind. Da die Niederschrift derselben zum Teil schon in früheren Jahren, zum anderen Teil aber erst in der letzten Zeit erfolgte, ist die Behandlung leider oft ungleichmäßig; auch sind mehrfache Wiederholungen nicht zu vermeiden gewesen; ich bitte, dieselben zu entschuldigen.
Indem ich hiermit von meinen Lesern mich verabschiede, spreche ich die Hoffnung aus, daß ich durch meine ehrliche und gewissenhafte Arbeit – trotz ihrer mir wohl bewußten Mängel – ein kleines Scherflein zur Lösung der »Welträtsel« beigetragen habe, und daß ich im Kampfe der Weltanschauungen manchem ehrlichem und nach reiner Vernunfterkenntnis ringenden Leser denjenigen Weg gezeigt habe, der nach meiner festen Überzeugung allem zur Wahrheit führt, den Weg der empirischen Naturforschung und der darauf gegründeten monistischen Philosophie.
Allgemeines Kulturbild des neunzehnten Jahrhunderts.
Der Kampf der Weltanschauungen.
Monismus und Dualismus.
Am Schlusse des neunzehnten Jahrhunderts bietet sich dem denkenden und unbefangenen Beobachter eines der merkwürdigsten Schauspiele dar. Alle Gebildeten sind darüber einig, daß dasselbe in vieler Beziehung alle seine Vorgänger unendlich überflügelt und Aufgaben gelöst hat, welche in seinem Anfange unlösbar erschienen. Nicht nur die überraschenden theoretischen Fortschritte in der wirklichen Naturerkenntnis, sondern auch deren erstaunlich fruchtbare praktische Verwertung in Technik, Industrie, Verkehr usw. haben unserem ganzen modernen Kulturleben ein völlig neues Gepräge gegeben. Auf der anderen Seite haben wir aber auf wichtigen Gebieten des geistigen Lebens und der Gesellschaftsbeziehungen wenige oder gar keine Fortschritte gegen frühere Jahrhunderte aufzuweisen, oft sogar leider bedenkliche Rückschritte. Aus diesem offenkundigen Konflikt entspringt nicht nur ein unbehagliches Gefühl innerer Zerrissenheit und Unwahrheit, sondern auch die Gefahr schwerer Katastrophen auf politischem und sozialem Gebiete. Es erscheint daher nicht nur als das gute Recht, sondern auch als die heilige Pflicht jedes ehrlichen und von Menschenliebe beseelten Forschers, nach bestem Gewissen zur Lösung jenes Konfliktes und zur Vermeidung der daraus entspringenden Gefahren beizutragen. Dies kann aber nach unserer Überzeugung nur durch mutiges Streben nach Erkenntnis der Wahrheit geschehen und durch Gewinnung einer klaren, fest darauf gegründeten, naturgemäßen Weltanschauung.
Wenn wir uns den unvollkommenen Zustand der Naturerkenntnis im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts vergegenwärtigen und ihn mit der glänzenden Höhe an dessen Schlusse vergleichen, so muß jedem Sachkundigen der Fortschritt innerhalb desselben erstaunlich groß erscheinen. Jeder einzelne Zweig der Naturwissenschaft darf sich rühmen, daß er innerhalb dieses Jahrhunderts – und besonders in dessen zweiter Hälfte – extensive und intensive Gewinne von größter Tragweite erzielt habe. In der mikroskopischen Kenntnis des Kleinsten, wie in der teleskopischen Erforschung des Größten haben wir jetzt unschätzbare Einsichten gewonnen, die vor hundert Jahren undenkbar erschienen. Die verbesserten Methoden der mikroskopischen und biologischen Untersuchungen haben uns nicht nur überall im Reiche der einzelligen Protisten eine »unsichtbare Lebenswelt« voll unendlichen Formenreichtums offenbart, sondern auch in der winzigen kleinen Zelle den gemeinsamen »Elementarorganismus« kennen gelehrt, aus dessen sozialen Zellverbänden, den Geweben, der Körper aller vielzelligen Pflanzen und Tiere ebenso wie der des Menschen zusammengesetzt ist. Diese anatomischen Kenntnisse sind von größter Tragweite; sie werden ergänzt durch den embryologischen Nachweis, daß jeder höhere vielzellige Organismus sich aus einer einzigen einfachen Zelle entwickelt, der »befruchteten Eizelle«. Die bedeutungsvolle, hierauf gegründete Zellentheorie hat uns erst das wahre Verständnis für die physikalischen und chemischen, ebenso wie für die psychologischen Prozesse des Lebens eröffnet, jene geheimnisvollen Erscheinungen, für deren Erklärung man früher eine übernatürliche »Lebenskraft« oder ein »unsterbliches Seelenwesen« annahm. Auch das eigentliche Wesen der Krankheit ist durch die damit verknüpfte Zellularpathologie dem Arzte erst klar und verständlich geworden.
Nicht minder gewaltig sind aber die Entdeckungen des neunzehnten Jahrhunderts im Bereiche der anorganischen Natur. Die Physik hat in allen Teilen ihres Gebietes, in der Optik und Akustik, in der Lehre vom Magnetismus und der Elektrizität, in der Mechanik und Wärmelehre die erstaunlichsten Fortschritte gemacht; und, was wichtiger ist, sie hat die Einheit der Naturkräfte im ganzen Universum nachgewiesen. Die mechanische Wärmetheorie hat gezeigt, wie eng dieselben zusammenhängen, und wie jede unter bestimmten Bedingungen sich direkt in die andere verwandeln kann. Die Spektralanalyse hat uns gelehrt, daß dieselben Stoffe, welche unseren Erdkörper und seine lebendigen Bewohner aufbauen, auch die Masse der übrigen Planeten, der Sonne und der entferntesten Fixsterne zusammensetzen. Die Astrophysik hat unsere Weltanschauung im großartigsten Maßstabe erweitert, indem sie uns im unendlichen Weltraum Millionen von kreisenden Weltkörpern nachgewiesen hat, größer als unsere Erde und gleich dieser in beständiger Umbildung begriffen, in einem ewigen Wechsel von »Werden und Vergehen«. Die Chemie hat uns mit einer Masse von neuen, früher unbekannten Stoffen bekannt gemacht, die alle aus Verbindungen von wenigen unzerlegbaren Elementen (ungefähr neunzig) bestehen, und die zum Teil die größte praktische Bedeutung in allen Lebensgebieten gewonnen haben. Sie hat gezeigt, daß eines von diesen Elementen, der Kohlenstoff, der wunderbare Körper ist, welcher die Bildung der unendlich mannigfaltigen organischen Verbindungen bewirkt und somit die »chemische Basis des Lebens« darstellt. Alle einzelnen Fortschritte der Physik und Chemie stehen aber an theoretischer Bedeutung der Erkenntnis des gewaltigen Gesetzes nach, welches alle in einem gemeinsamen Brennpunkt vereinigt, des Substanzgesetzes. Indem dieses »kosmologische Grundgesetz« die ewige Erhaltung der Kraft und des, Stoffes, die allgemeine Konstanz der Energie und der Materie im ganzen Weltall nachweist, ist es der sichere Leitstern geworden, der unsere monistische Philosophie durch das gewaltige Labyrinth der Welträtsel zu deren Lösung führt.
Da es unsere Aufgabe sein wird, in den folgenden Kapiteln eine allgemeine Übersicht über den jetzigen Stand unserer Naturerkenntnis und über ihre Fortschritte im neunzehnten Jahrhundert zu gewinnen, wollen wir hier nicht weiter auf eine Musterung der einzelnen Gebiete eingehen. Nur einen größten Fortschritt wollen wir noch hervorheben, welcher dem Substanzgesetz ebenbürtig ist, und welcher dasselbe ergänzt, die Begründung der Entwicklungslehre. Zwar haben einzelne denkende Forscher schon seit Jahrtausenden von »Entwicklung« der Dinge gesprochen, daß aber dieser Begriff das Universum beherrscht, und daß die Welt selbst weiter nichts ist als eine ewige »Entwicklung der Substanz«, dieser gewaltige Gedanke ist ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts. Erst in der zweiten Hälfte desselben gelangte er zu voller Klarheit und zu allgemeiner Anwendung. Das unsterbliche Verdienst, diesen höchsten philosophischen Begriff empirisch begründet und zu umfassender Geltung gebracht zu haben, gebührt dem großen englischen Naturforscher Charles Darwin; er lieferte uns 1859 den festen Grund für jene Abstammungslehre, welche der geniale französische Naturphilosoph Jean Lamarck schon 1809 in ihren Hauptzügen erkannt, und deren Grundgedanken unser größter deutscher Dichter und Denker, Wolfgang Goethe, schon 1799 prophetisch erfaßt hatte. Damit wurde uns zugleich der Schlüssel zur »Frage aller Fragen« geschenkt, zu dem großen Welträtsel von der »Stellung des Menschen in der Natur« und von seiner natürlichen Entstehung. Wenn wir heute, 1899, imstande sind, die Herrschaft des Entwicklungsgesetzes – und zwar der »monistischen Genesis!« – im Gesamtgebiete der Natur klar zu erkennen und sie in Verbindung mit dem Substanzgesetze zur einheitlichen Erklärung aller Naturerscheinungen zu benutzen, so verdanken wir dies in erster Linie jenen drei genialen Naturphilosophen; sie leuchten uns deshalb als drei Sterne erster Größe unter allen anderen großen Männern des neunzehnten Jahrhunderts.
Diesen erstaunlichen Fortschritten unserer theoretischen Naturerkenntnis entspricht deren mannigfaltige praktische Anwendung auf allen Gebieten des menschlichen Kulturlebens. Wenn wir heute im »Zeitalter des Verkehrs« stehen, wenn der internationale Handel und das Reisen eine früher nicht geahnte Bedeutung erlangt haben, wenn wir mittelst Telegraph und Telephon die Schranken von Raum und Zeit überwunden haben, so verdanken wir das in erster Linie den technischen Fortschritten der Physik, besonders in der Anwendung der Dampfkraft und der Elektrizität. Wenn wir durch die Photographie mit größter Leichtigkeit das Sonnenlicht zwingen, uns in einem Augenblick naturgetreue Bilder von jedem beliebigen Gegenstand zu verschaffen, wenn wir in der Landwirtschaft und in den verschiedensten Gewerben erstaunlich praktische Fortschritte gemacht haben, wenn wir in der Medizin durch Chloroform und Morphium, durch antiseptische und Serumtherapie die Leiden der Menschheit unendlich gemildert haben, so verdanken wir dies der angewandten Chemie. Wie sehr wir durch diese und andere Erfindungen der Technik alle früheren Jahrhunderte überflügelt haben, ist so allbekannt, daß wir es hier nicht weiter auszuführen brauchen.
Während wir so heute mit gerechtem Stolze auf die gewaltigen Fortschritte des neunzehnten Jahrhunderts in der Naturerkenntnis und deren praktischer Verwertung zurückblicken, so bietet sich uns leider ein ganz anderes und wenig erfreuliches Bild, wenn wir nun andere, nicht minder wichtige Gebiete dieses modernen Kulturlebens ins Auge fassen. Zu unserem Bedauern müssen wir da den Satz von Alfred Wallace unterschreiben: »Verglichen mit unseren erstaunlichen Fortschritten in den physikalischen Wissenschaften und ihrer praktischen Anwendung, bleibt unser System der Regierung, der administrativen Justiz, der Nationalerziehung und unsere ganze soziale und moralische Organisation in einem Zustande der Barbarei.« Um uns von der Wahrheit dieser schweren Vorwürfe zu überzeugen, brauchen wir nur einen unbefangenen Blick mitten in unser öffentliches Leben hineinzuwerfen oder in den Spiegel zu blicken, den uns täglich unsere Zeitung, als das Organ der öffentlichen Meinung, vor Augen hält.
Beginnen wir unsere Rundschau mit der Justiz, dem »Fundamentum regnorum«. Niemand wird behaupten können, daß deren heutiger Zustand mit unserer fortgeschrittenen Erkenntnis des Menschen und der Welt in Einklang sei. Keine Woche vergeht, in der wir nicht von richterlichen Urteilen lesen, über welche der »gesunde Menschenverstand« bedenklich das Haupt schüttelt; viele Entscheidungen unserer höheren und niederen Gerichtshöfe erscheinen geradezu unbegreiflich. Wir sehen davon ab, daß in vielen modernen Staaten – trotz der auf Papier gedruckten Verfassung – noch tatsächlich der Absolutismus herrscht, und daß manche »Männer des Rechts« nicht nach ehrlicher Überzeugung urteilen, sondern entsprechend dem »höheren Wunsche von maßgebender Stelle«. Wir nehmen vielmehr an, daß die meisten Richter und Staatsanwälte nach bestem Gewissen urteilen und nur menschlich irren. Dann erklären sich wohl die meisten Irrtümer durch mangelhafte Vorbildung. Freilich herrscht vielfach die Ansicht, daß gerade die Juristen die höchste Bildung besitzen: werden sie ja doch gerade deshalb bei der Besetzung der verschiedensten Ämter vorgezogen. Allein diese vielgerühmte »juristische Bildung« ist größtenteils eine rein formale, keine reale. Das eigentliche Hauptobjekt ihrer Tätigkeit, den menschlichen Organismus und seine wichtigste Funktion, die Seele lernen unsere Juristen nur oberflächlich kennen; das beweisen z.B. die wunderlichen Ansichten von »Willensfreiheit, Verantwortung« usw., denen wir täglich begegnen. Als ich einmal einem bedeutenden Juristen versicherte, daß die winzige kugelige Eizelle, aus der sich jeder Mensch entwickelt, lebendig sei, ebenso mit Leben begabt wie der Embryo von zwei oder sieben oder neun Monaten, fand ich nur ungläubiges Lächeln. Den meisten Studierenden der Jurisprudenz fällt es gar nicht ein, sich um Anthropologie, Psychologie und Entwicklungsgeschichte zu bekümmern, die ersten Vorbedingungen für richtige Beurteilung des Menschenwesens. Freilich bleibt dazu auch »keine Zeit«; diese wird vielfach nur zu sehr durch das gründliche Studium von Bier und Wein in Anspruch genommen sowie das »veredelnde« Mensurenwesen. Der Rest der kostbaren Studienzeit aber ist notwendig, um die Hunderte von Paragraphen der Gesetzbücher zu erlernen, deren Kenntnis den Juristen zu allen möglichen Stellungen im heutigen Kulturstaate befähigt.
Das leidige Gebiet der Politik wollen wir hier nur ganz flüchtig streifen, da die unerfreulichen Zustände des modernen Staatslebens allbekannt und jedermann täglich fühlbar sind. Zum großen Teile erklären sich deren Mängel daraus, daß die meisten Staatsbeamten eben Juristen sind, Männer von ausgezeichneter formaler Bildung, aber ohne jene gründliche Kenntnis der Menschennatur, die nur durch vergleichende Anthropologie und monistische Psychologie erworben werden kann, – ohne jene Kenntnis der sozialen Verhältnisse, deren organische Vorbilder uns die vergleichende Zoologie und Entwicklungsgeschichte, die Zellentheorie und die Protistenkunde liefert. »Bau und Leben des sozialen Körpers«, d.h. des Staates, lernen wir nur dann richtig verstehen, wenn wir naturwissenschaftliche Kenntnis von »Bau und Leben« der Personen besitzen, welche den Staat zusammensetzen, und der Zellen, welche jene Personen zusammensetzen. Wenn diese unschätzbaren biologischen und anthropologischen Vorkenntnisse unsere »Staatslenker« besäßen und unsere »Volksvertreter«, die mit ihnen zusammenwirken, so würde unmöglich in den Zeitungen täglich jene entsetzliche Fülle von soziologischen Irrtümern und von politischer Kannegießerei zu lesen sein, welche unsere Parlamentsberichte und auch viele Regierungserlasse nicht gerade erfreulich auszeichnen.
Das schlimmste ist, wenn der moderne Kulturstaat sich der kulturfeindlichen Kirche in die Arme wirft, und wenn der bornierte Egoismus der Parteien, die Verblendung der kurzsichtigen Parteiführer die Hierarchie unterstützt. Dann entstehen so traurige Bilder, wie sie uns leider am Schlusse des neunzehnten Jahrhunderts der deutsche Reichstag vor Augen führt: die Geschicke des gebildeten deutschen Volkes in der Hand des ultramontanen Zentrums, unter der Leitung des römischen Papismus, der sein ärgster und gefährlichster Feind ist. Statt Recht und Vernunft regiert dann Aberglaube und Verdummung. Unsere Staatsordnung kann nur dann besser werden, wenn sie sich von den Fesseln der Kirche befreit, und wenn sie durch allgemeine naturwissenschaftliche Bildung die Welt- und Menschenkenntnis der Staatsbürger auf eine höhere Stufe hebt. Dabei kommt es gar nicht auf die besondere Staatsform an. Ob Monarchie oder Republik, ob aristokratische oder demokratische Verfassung, das sind untergeordnete Fragen gegenüber der großen Hauptfrage: Soll der moderne Kulturstaat geistlich oder weltlich sein? soll er theokratisch durch unvernünftige Glaubenssätze und klerikale Willkür, oder soll er nomokratisch durch vernünftige Gesetze und bürgerliches Recht geleitet werden? Die Hauptaufgabe ist, unsere Jugend zu vernünftigen, vom Aberglauben befreiten Staatsbürgern heranzuziehen, und das kann nur durch eine zeitgemäße Schulreform geschehen.
Ebenso wie unsere Rechtspflege und Staatsordnung entspricht auch unsere Jugenderziehung durchaus nicht den Anforderungen, welche die wissenschaftlichen Fortschritte des neunzehnten Jahrhunderts an die moderne Bildung stellen. Die Naturwissenschaft, die alle anderen Wissenschaften so weit überflügelt, und welche, bei Licht betrachtet, auch alle sogenannten Geisteswissenschaften in sich aufgenommen hat, wird in unseren Schulen immer noch als Nebensache oder als Aschenbrödel in die Ecke gestellt. Dagegen erscheint unseren meisten Lehrern immer noch als Hauptaufgabe jene tote Gelehrsamkeit, die aus den Klosterschulen des Mittelalters übernommen ist; im Vordergrunde steht der grammatikalische Sport und die zeitraubende »gründliche Kenntnis« der klassischen Sprachen sowie der äußerlichen Völkergeschichte. Die Sittenlehre, der wichtigste Gegenstand der praktischen Philosophie, wird vernachlässigt und an ihre Stelle die kirchliche Konfession gesetzt. Der Glaube soll dem Wissen vorangehen; nicht jener wissenschaftliche Glaube, welcher uns zu einer monistischen Religion führt, sondern jener unvernünftige Aberglaube, der die Grundlage eines verunstalteten Christentums bildet. Während die großartigen Erkenntnisse der modernen Kosmologie und Anthropologie, der heutigen Biologie und Entwicklungslehre auf unseren höheren Schulen gar keine oder nur ganz ungenügende Verwertung finden, wird das Gedächtnis mit einer Unmasse von philologischen und historischen Tatsachen überladen, die weder für die theoretische Bildung noch für das praktische Leben von Nutzen sind. Aber auch die veralteten Einrichtungen und Fakultätsverhältnisse der Universitäten entsprechen der heutigen Entwicklungsstufe der monistischen Weltanschauung ebensowenig als die Unterrichtsleitung in den Gymnasien und in den niederen Schulen.
Den Gipfel des Gegensatzes gegen die moderne Bildung und gegen deren Grundlagen, die vorgeschrittene Naturerkenntnis, erreicht unstreitig die Kirche. Wir wollen hier gar nicht vom ultramontanen Papismus sprechen oder von den orthodoxen evangelischen Richtungen, welche diesem in bezug auf Unkenntnis der Wirklichkeit und Lehre des krassesten Aberglaubens nichts nachgeben. Vielmehr versetzen wir uns in die Predigt eines liberalen protestantischen Pfarrers, der gute Durchschnittsbildung besitzt und der Vernunft neben dem Glauben ihr gutes Recht einräumt. Da hören wir neben vortrefflichen Sittenlehren, die mit unserer monistischen Ethik (im 19. Kapitel) vollkommen harmonieren, und neben humanistischen Erörterungen, die wir durchaus billigen, Vorstellungen über das Wesen von Gott und Welt, von Mensch und Leben, welche allen Erfahrungen der Naturforschung direkt widersprechen. Es ist kein Wunder, wenn Techniker und Chemiker, Ärzte und Philosophen, die gründlich über die Natur beobachtet und nachgedacht haben, solchen Predigten kein Gehör schenken wollen. Es fehlt eben unseren Theologen ebenso wie unseren Philologen, unseren Politikern ebenso wie unseren Juristen an jener unentbehrlichen Naturerkenntnis, welche sich auf die monistische Entwicklungslehre gründet, und welche bereits in den festen Besitzstand unserer modernen Wissenschaft übergegangen ist.
Aus diesen bedauerlichen, hier nur kurz angedeuteten Gegensätzen ergeben sich für unser modernes Kulturleben schwere Konflikte, deren Gefahr dringend zur Beseitigung auffordert. Unsere heutige Bildung, als Ergebnis der mächtig vorgeschrittenen Wissenschaft, verlangt ihr gutes Recht auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens; sie wünscht die Menschheit mittelst der Vernunft auf jene höhere Stufe der Erkenntnis und damit zugleich auf jenen besseren Weg zum Glück erhoben zu sehen, welche wir unserer hoch entwickelten Naturwissenschaft verdanken. Dagegen sträuben sich aber mit aller Macht diejenigen einflußreichen Kreise, welche unsere Geistesbildung in betreff der wichtigsten Probleme in den überwundenen Anschauungen des Mittelalters zurückhalten wollen; sie verharren im Banne der traditionellen Dogmen und verlangen, daß die Vernunft sich unter diese »höhere Offenbarung« beugen solle. Das ist der Fall in weiten Kreisen der Theologie und Philologie, der Soziologie und Jurisprudenz. Die Beweggründe dieser letzteren beruhen zum größten Teile gewiß nicht auf reinem Egoismus und auf eigennützigem Streben, sondern teils auf Unkenntnis der realen Tatsachen, teils auf der bequemen Gewohnheit der Tradition. Von den drei großen Feindinnen der Vernunft und Wissenschaft ist die gefährlichste nicht die Bosheit, sondern die Unwissenheit und vielleicht noch mehr die Trägheit. Gegen diese beiden letzteren Mächte kämpfen selbst Götter dann noch vergebens, wenn sie die erstere glücklich überwunden haben.
Eine der mächtigsten Stützen gewährt jener rückständigen Weltanschauung der Anthropismus oder die »Vermenschlichung«. Unter diesem Begriffe verstehe ich »jenen mächtigen und weit verbreiteten Komplex von irrtümlichen Vorstellungen, welcher den menschlichen Organismus in Gegensatz zu der ganzen übrigen Natur stellt, ihn als vorbedachtes Endziel der organischen Schöpfung und als ein prinzipiell von dieser verschiedenes, gottähnliches Wesen auffaßt. Bei genauerer Kritik dieses einflußreichen Vorstellungskreises ergibt sich, daß derselbe eigentlich aus drei verschiedenen Dogmen besteht, die wir als den anthropozentrischen, anthropomorphischen und anthropolatrischen Irrtum unterscheiden.« I. Das anthropozentrische Dogma gipfelt in der Vorstellung, daß der Mensch der vorbedachte Mittelpunkt und Endzweck alles Erdenlebens – oder in weiterer Fassung der ganzen Welt – sei. Da dieser Irrtum dem menschlichen Eigennutz äußerst erwünscht, und da er mit den Schöpfungsmythen der drei großen Mediterran-Religionen, mit den Dogmen der mosaischen, christlichen und mohammedanischen Lehre innig verwachsen ist, beherrscht er auch heute noch den größten Teil der Kulturwelt. – II. Das anthropomorphische Dogma knüpft ebenfalls an die Schöpfungsmythen der drei genannten und anderer Religionen an. Es vergleicht die Weltschöpfung und Weltregierung Gottes mit den Kunstschöpfungen eines sinnreichen Technikers und mit der Staatsregierung eines weisen Herrschers. »Gott der Herr« als Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt wird dabei in seinem Denken und Handeln durchaus menschenähnlich vorgestellt. Daraus folgt dann wieder umgekehrt, daß der Mensch gottähnlich ist. »Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde.« Die ältere naive Mythologie ist reiner Homotheismus und verleiht ihren Göttern Menschengestalt, Fleisch und Blut. Weniger vorstellbar ist die neuerer mystische Theosophie, welche den persönlichen Gott als »unsichtbares Wesen« verehrt und ihn doch nach Menschenart denken, sprechen und handeln läßt; sie gelangt dadurch zu dem paradoxen Begriff eines »gasförmigen Wirbeltieres«. – III. Das anthropolatrische Dogma, ergibt sich aus dieser Vergleichung der menschlichen und göttlichen Seelentätigkeit von selbst; es führt zu der göttlichen Verehrung des menschlichen Organismus, zum »anthropistischen Größenwahn«. Daraus folgt wieder der hochgeschätzte »Glaube an die persönliche Unsterblichkeit der Seele«, sowie das dualistische Dogma von der Doppelnatur des Menschen, dessen »unsterbliche Seele« den sterblichen Körper nur zeitweise bewohnt. Indem nun diese drei anthropistischen Dogmen mannigfach ausgebildet und der wechselnden Glaubensform der verschiedenen Religionen angepaßt wurden, erlangten sie im Laufe der Zeit eine außerordentliche Bedeutung und wurden zur Quelle der gefährlichsten Irrtümer. Die anthropistische Weltanschauung, die daraus entsprang, steht in unversöhnlichem Gegensatz zu unserer monistischen Naturerkenntnis; sie wird zunächst schon durch deren kosmologische Perspektive widerlegt.
Nicht allein die drei anthropistischen Dogmen, sondern auch viele andere Anschauungen der dualistischen Philosophie und der orthodoxen Religion offenbaren ihre Unhaltbarkeit, sobald wir sie aus der kosmologischen Perspektive unseres Monismus kritisch betrachten.
Wir verstehen darunter jene umfassende Anschauung des Weltganzen, welche wir vom höchsten erklommenen Standpunkt der monistischen Naturerkenntnis gewonnen haben. Da überzeugen wir uns von folgenden wichtigen, nach unserer Ansicht jetzt größtenteils bewiesenen »kosmologischen Lehrsätzen«.
1. Das Weltall (Universum oder Kosmos) ist ewig, unendlich und unbegrenzt. 2. Die Substanz desselben mit ihren beiden Attributen (Materie und Energie) erfüllt den unendlichen Raum und befindet sich in ewiger Bewegung. 3. Diese Bewegung verläuft in der unendlichen Zeit als eine einheitliche Entwicklung, mit periodischem Wechsel von Werden und Vergehen, von Fortbildung und Rückbildung. 4. Die unzähligen Weltkörper, welche im raumerfüllenden Äther verteilt sind, unterliegen sämtlich dem Substanzgesetz; während in einem Teile des Universums die rotierenden Weltkörper langsam ihrer Rückbildung und ihrem Untergang entgegengehen, erfolgt in einem anderen Teile des Weltraums Neubildung und Fortentwicklung. 5. Unsere Sonne ist einer von diesen unzähligen vergänglichen Weltkörpern, und unsere Erde ist einer von den zahlreichen vergänglichen Planeten, welche diese umkreisen. 6. Unsere Erde hat einen langen Abkühlungsprozeß durchgemacht, ehe auf derselben tropfbarflüssiges Wasser und damit die erste Vorbedingung organischen Lebens entstehen konnte. 7. Der dann folgende biogenetische Prozeß, die langsame Entwicklung und Umbildung zahlloser organischer Formen, hat viele Millionen Jahre (weit über hundert!) in Anspruch genommen. 8. Unter den verschiedenen Tierstämmen, welche sich im späteren Verlaufe des biogenetischen Prozesses auf unserer Erde entwickelten, hat der Stamm der Wirbeltiere im Wettlaufe der Entwicklung neuerdings alle anderen weit überflügelt. 9. Als der bedeutendste Zweig des Wirbeltierstammes hat sich erst spät (während der Triasperiode) aus niederen Reptilien und Amphibien die Klasse der Säugetiere entwickelt. 10. Der vollkommenste und höchst entwickelte Zweig dieser Klasse ist die Ordnung der Herrentiere oder Primaten, die erst im Beginne der Tertiärzeit (vor mindestens drei Millionen Jahren) durch Umbildung aus niedersten Zottentieren (Prochoriaten) entstanden ist. 11. Das jüngste und vollkommenste Ästchen des Primatenzweiges ist der Mensch, der erst gegen Ende der Tertiärzeit aus einer Reihe von Menschenaffen hervorgegangen ist. 12. Demnach ist die sogenannte »Weltgeschichte« – d.h. der kurze Zeitraum von wenigen Jahrtausenden, innerhalb dessen sich die Kulturgeschichte des Menschen abgespielt hat, eine verschwindend kurze Episode in dem langen Verlaufe der organischen Erdgeschichte, ebenso wie diese selbst ein kleines Stück von der Geschichte unseres Planetensystems; und wie unsere Mutter Erde ein vergängliches Sonnenstäubchen im unendlichen Weltall, so ist der einzelne Mensch ein winziges Plasmakörnchen in der vergänglichen organischen Natur.
Nichts scheint mir geeigneter als diese großartige kosmologische Perspektive, um von vornherein den Maßstab und den weitsichtigen Standpunkt festzusetzen, welchen wir zur Lösung der großen, uns umgebenden Welträtsel einhalten müssen. Denn dadurch wird nicht nur die maßgebende »Stellung des Menschen in der Natur« klar bewiesen, sondern auch der herrschende anthropistische Größenwahn widerlegt, die Anmaßung, mit welcher der Mensch sich dem unendlichen Universum gegenüberstellt und als wichtigsten Teil des Weltalls verherrlicht. Diese grenzenlose Selbstüberhebung des eiteln Menschen hat ihn dazu verführt, sich als »Ebenbild Gottes« zu betrachten, für seine vergängliche Person ein »ewiges Leben« in Anspruch zu nehmen und sich einzubilden daß er unbeschränkte »Freiheit des Willens« besitzt. Der lächerliche Cäsarenwahn des Caligula ist eine spezielle Form dieser hochmütigen Selbstvergötterung des Menschen. Erst wenn wir diesen unhaltbaren Größenwahn aufgeben und in gebührender Bescheidenheit die naturgemäße kosmologische Perspektive einnehmen, können wir zur Lösung der »Welträtsel« gelangen.
Anmerkung. Der geringe Spielraum, welchen unser menschliches Vorstellungsvermögen uns bei Beurteilung großer Dimensionen in Raum und Zeit gestattet, ist ebenso eine reiche Fehlerquelle von anthropistischen Illusionen wie ein mächtiges Hindernis der geläuterten monistischen Weltanschauung. Um sich der unendlichen Ausdehnung des Raumes bewußt zu werden, muß man einerseits bedenken, daß die kleinsten sichtbaren Organismen (Bakterien) riesengroß sind gegenüber den unsichtbaren Atomen und Molekeln, welche weit jenseits der Sichtbarkeit auch bei Anwendung der stärksten Mikroskope liegen; andererseits muß man die unbegrenzten Dimensionen des Weltraumes erwägen, in welchem unser Sonnensystem nur den Wert eines einzelnen Fixsternes hat und unsere Erde nur einen winzigen Planeten der mächtigen Sonne darstellt. – – In entsprechender Weise werden wir uns der unendlichen Ausdehnung der Zeit bewußt, wenn wir uns einerseits an die physikalischen und physiologischen Bewegungen erinnern, die innerhalb einer Sekunde sich abspielen, und andererseits an die ungeheuere Länge der Zeiträume, welche die Entwicklung der Weltkörper in Anspruch nimmt. Selbst der verhältnismäßig kurze Zeitraum der »organischen Erdgeschichte« (innerhalb deren das organische Leben auf unserem Erdball sich entwickelt hat) umfaßt nach neueren Berechnungen weit über hundert Millionen Jahre, d.h. mehr als 100 000 Jahrtausende!
Allerdings lassen die geologischen und paläontologischen Tatsachen, auf welche sich diese Berechnungen gründen, nur sehr unsichere und schwankende Zahlenangaben zu. Während wohl die meisten sachkundigen Autoritäten gegenwärtig für die Länge der organischen Erdgeschichte 100-200 Millionen Jahre als wahrscheinlichste Mittelzahl annehmen, beläuft sich dieselbe nach anderen Schätzungen nur auf 25-50 Millionen; nach einer genauen geologischen Berechnung der neuesten Zeit auf mindestens vierzehnhundert Jahrmillionen. Wenn wir auch ganz außerstande sind, die absolute Länge der phylogenetischen Zeiträume annähernd sicher zu bestimmen, so besitzen wir dagegen andererseits sehr wohl die Mittel, die relative Länge derselben ungefähr abzuschätzen. Nehmen wir 100 Millionen Jahre als Minimalzahlen, so würden sich dieselben auf die fünf Hauptperioden der organischen Erdgeschichte etwa folgendermaßen verteilen:
I. Archozoische Periode (Primordialzeit), vom Beginn des organischen Lebens bis zum Ende der kambrischen Schichtenbildung; Zeitalter der Schädellosen
52 Millionen,
II. Paläozoische Periode (Primärzeit), vom Beginn der silurischen bis zum Ende der permischen Schichtenbildung; Zeitalter der Fische
34 Millionen,
III. Mesozoische Periode (Sekundärzeit), vom Beginn der Triasperiode bis zum Ende der Kreideperiode; Zeitalter der Reptilien
11 Millionen,
IV. Zänozoische Periode (Tertiärzeit), vom Beginn der eozänen bis zum Ende der pliozänen Periode; Zeitalter der Säugetiere
3 Millionen,
0,1 Million.
Um die ungeheuere Länge dieser phylogenetischen Zeiträume dem menschlichen Auffassungsvermögen näher zu bringen und namentlich die relative Kürze der sogenannten »Weltgeschichte« (d.h. der Geschichte der Kulturvölker!) zum Bewußtsein zu bringen, hat Dr. Heinrich Schmidt (Jena) die angenommene Minimalzahl von hundert Jahrmillionen durch chronometrische Reduktion auf einen Tag projiziert. Durch diese »verjüngende Projektion« verteilen sich die 24 Stunden des »Schöpfungstages« folgendermaßen auf die fünf phylogenetischen Perioden:
I. Archozoische Periode (52 Jahrmillionen).
(= von Mitternacht bis 1/2 1 Uhr mittags).
II. Paläozoische Periode (34 Jahrmillionen).
(= von 1/2 1 Uhr mittags bis 1/2 9 Uhr abends).
III. Mesozoische Periode (11 Jahrmillionen).
(= von 1/2 9 Uhr bis 1/4 12 Uhr abends).
IV. Zänozoische Periode (3 Jahrmillionen)
(= von 1/2 12 Uhr abends bis 2 Min. vor Mitternacht).
V. Anthropozoische Periode (0,1-0,2 Jahrmillionen)
VI. Kulturperiode, sogenannte »Weltgeschichte« (6000 Jahre)
Wenn man also nur die Minimalzahl von 100 Jahrmillionen (nicht die Maximalzahl von 14001) für die Zeitdauer der organischen Entwicklung auf unserem Erdball annimmt und diese auf 24 Stunden projiziert, so beträgt davon die sogenannte »Weltgeschichte« nur fünf Sekunden (Prometheus, Jahrg. X, 1899 [Nr. 492]).
Der ungebildete Kulturmensch ist noch ebenso wie der rohe Naturmensch auf Schritt und Tritt von unzähligen Welträtseln umgeben. Je weiter die Kultur fortschreitet und die Wissenschaft sich entwickelt, desto mehr wird ihre Zahl beschränkt. Die monistische Philosophie wird schließlich nur ein einziges, allumfassendes Welträtsel anerkennen, das. »Substanzproblem«. Immerhin kann es aber zweckmäßig erscheinen, auch eine gewisse Zahl von schwierigsten Problemen mit jenem Namen zu bezeichnen. In der berühmten Rede, welche Emil du Bois-Reymond 1880 in der Leibniz-Sitzung der Berliner Akademie der Wissenschaften hielt, unterscheidet er »Sieben Welträtsel« und führt dieselben in nachstehender Reihenfolge auf: I. das Wesen von Materie und Kraft, II. der Ursprung der Bewegung, III. die erste Entstehung des Lebens, IV. die (anscheinend absichtsvoll) zweckmäßige Einrichtung der Natur, V. das Entstehen der einfachen Sinnesempfindungen und des Bewußtseins, VI. das vernünftige Denken und der Ursprung der damit eng verbundenen Sprache, VII. die Frage nach der Willensfreiheit. Von diesen sieben Welträtseln erklärt der Rhetor der Berliner Akademie drei für ganz transzendent und unlösbar (das erste, das zweite und fünfte); drei andere hält er zwar für schwierig, aber für lösbar (das dritte, vierte und sechste); bezüglich des siebenten und letzten »Welträtsels«, welches praktisch das wichtigste ist, nämlich der Willensfreiheit, verhält er sich unentschieden.
Da mein Monismus sich von demjenigen des Berliner Rhetors wesentlich unterscheidet, da aber andererseits seine Auffassung der »sieben Welträtsel« großen Beifall in weiten Kreisen gefunden hat, halte ich es für zweckmäßig, gleich hier von vornherein zu denselben klare Stellung zu nehmen. Nach meiner Ansicht werden die drei »transzendenten« Rätsel (I, II, V) durch unsere Auffassung der Substanz erledigt (Kapitel 12); die drei anderen, schwierigen, aber lösbaren Probleme (III, IV, VI) sind durch unsere moderne Entwicklungslehre endgültig gelöst; das siebente und letzte Welträtsel, die Willensfreiheit, ist gar kein Objekt kritischer wissenschaftlicher Erklärung, da sie als reines Dogma nur auf Täuschung beruht und in Wirklichkeit gar nicht existiert.
Die Mittel und Wege, welche wir zur Lösung der großen Welträtsel einzuschlagen haben, sind keine anderen als diejenigen der reinen wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt, also erstens Erfahrung und zweitens Schlußfolgerung. Die wissenschaftliche Erfahrung erwerben wir uns durch Beobachtung und Experiment, wobei in erster Linie unsere Sinnesorgane, in zweiter die »inneren Sinnesherde« unserer Großhirnrinde tätig sind. Die mikroskopischen Elementarorgane der ersteren sind die Sinneszellen, die der letzteren Gruppen von Seelenzellen. Die Erfahrungen, welche wir von der Außenwelt durch diese unschätzbarsten Organe unseres Geisteslebens erhalten haben, werden dann durch andere Gehirnteile in Vorstellungen umgesetzt und diese wiederum durch Assoziation zu Schlüssen verknüpft. Die Bildung dieser Schlußfolgerungen erfolgt auf zwei verschiedenen Wegen, die beide gleich wertvoll und unentbehrlich sind: Induktion und Deduktion. Die weiteren verwickelten Gehirnoperationen, die Bildung von zusammenhängenden Kettenschlüssen, die Abstraktion und Begriffsbildung, die Ergänzung des erkennenden Verstandes durch die plastische Tätigkeit der Phantasie, schließlich das Bewußtsein, das Denken und Philosophieren sind ebenso Funktionen der Ganglienzellen oder Neuronen der Großhirnrinde wie die vorhergehenden einfacheren Seelentätigkeiten. Alle zusammen vereinigen wir in dem höchsten Begriffe der Vernunft.
Durch die Vernunft allein können wir zur wahren Naturerkenntnis und zur Lösung der Welträtsel gelangen. Die Vernunft ist das höchste Gut des Menschen und derjenige Vorzug, der ihn allein von den Tieren wesentlich unterscheidet. Allerdings hat sie aber diesen hohen Wert erst durch die fortschreitende Kultur und Geistesbildung, durch die Entwicklung der Wissenschaft erhalten. Der ungebildete Mensch und der rohe Naturmensch sind ebensowenig (oder ebensoviel) »vernünftig« wie die nächstverwandten Säugetiere (Affen, Hunde, Elefanten usw.). Nun ist aber in weiten Kreisen noch heute die Ansicht verbreitet, daß es außer der göttlichen Vernunft noch zwei weitere (ja sogar wichtigere!) Erkenntniswege gebe: Gemüt und Offenbarung. Diesem gefährlichen Irrtum müssen wir von vornherein entschieden entgegentreten. Das Gemüt hat mit der Erkenntnis der Wahrheit gar nichts zu tun. Was wir »Gemüt« nennen und hochschätzen, ist eine verwickelte Tätigkeit des Gehirns, welche sich aus Gefühlen der Lust und Unlust, aus Vorstellungen der Zuneigung und Abneigung, aus Strebungen des Begehrens und Fliehens zusammensetzt. Dabei können die verschiedensten anderen Tätigkeiten des Organismus mitspielen, Bedürfnisse der Sinne und der Muskeln, des Magens und der Geschlechtsorgane usw. Die Erkenntnis der Wahrheit fördern alle diese Gemütszustände und Gemütsbewegungen in keiner Weise; im Gegenteil stören sie oft die allein dazu befähigte Vernunft und schädigen sie häufig in empfindlichem Grade. Noch kein »Welträtsel« ist durch die Gehirnfunktion des Gemütes gelöst oder auch nur gefördert worden. Dasselbe gilt aber auch von der sogenannten »Offenbarung« und von den angeblichen, dadurch erreichten »Glaubenswahrheiten«: diese Phantasiegebilde beruhen sämtlich teils auf Dichtung, teils auf bewußter oder unbewußter Täuschung, wie wir im 16. Kapitel sehen werden.
Als einen der erfreulichsten Fortschritte zur Lösung der Welträtsel müssen wir es begrüßen, daß in neuerer Zeit immer mehr die beiden einzigen dazu führenden Wege: Erfahrung und Denken – oder Empirie und Spekulation – als gleichberechtigte und sich gegenseitig ergänzende Erkenntnismethoden anerkannt worden sind. Die Philosophen haben allmählich eingesehen, daß die reine Spekulation, wie sie z.B. Plato und Hegel zur idealen Weltkonstruktion benutzten, zur wahren Erkenntnis nicht ausreicht. Und ebenso haben sich andererseits die Naturforscher überzeugt, daß die bloße Erfahrung, wie sie z.B. Baco und Mill zur Grundlage der realen Weltanschauung erhoben, für deren Vollendung allein ungenügend ist. Denn die zwei großen Erkenntniswege, die sinnliche Erfahrung und das vernünftige Denken, sind zwei verschiedene Gehirnfunktionen: die erstere wird durch die dazwischen liegenden Denkherde, die großen »Assozionszentren der Großhirnrinde« vermittelt. (Vergl. Kapitel 7 und 10.) Erst durch die vereinigte Tätigkeit beider entsteht wahre Erkenntnis.
Allerdings gibt es auch heute noch eine große Zahl von Kathederphilosophen, welche die Welt bloß aus ihrem Kopfe konstruieren wollen, und welche die empirische Naturerkenntnis schon deshalb verschmähen, weil sie die wirkliche Welt nicht kennen. Andererseits behaupten auch heute noch manche Naturforscher, daß die einzige Aufgabe der Wissenschaft das »tatsächliche Wissen, die objektive Erforschung der einzelnen Naturerscheinungen sei«; das »Zeitalter der Philosophie« sei vorüber, und an ihre Stelle sei die Naturwissenschaft getreten (Virchow 1893). Diese einseitige Überschätzung der Empirie ist ein ebenso gefährlicher Irrtum wie jene entgegengesetzte der Spekulation. Beide Erkenntniswege sind sich gegenseitig unentbehrlich. Die größten Triumphe der modernen Naturforschung, die Zellentheorie und die Wärmetheorie, die Entwicklungstheorie und das Substanzgesetz, sind philosophische Taten, aber nicht Ergebnisse der reinen Spekulation, sondern der vorausgegangenen, ausgedehntesten und gründlichsten Empirie.
Am Beginne des neunzehnten Jahrhunderts rief unser größter idealistischer Dichter, Schiller, den beiden streitenden Heeren, den Philosophen und Naturforschern, zu:
»Feindschaft sei zwischen Euch! Noch kommt das Bündnis zu frühe!
Wenn Ihr im Suchen Euch trennt, wird erst die Wahrheit erkannt!«
Seitdem hat sich das Verhältnis zum Glück gründlich geändert; indem beide Heere auf verschiedenen Wegen nach demselben höchsten Ziele strebten, haben sie sich in demselben zusammengefunden und nähern sich im gemeinsamen Bunde immer mehr der Erkenntnis der Wahrheit. Wir sind endlich am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu jener monistischen Erkenntnismethode zurückgekehrt, welche schon an dessen Anfang von unserem größten realistischen Weltkenner und Dichter, Goethe, als die einzig naturgemäße anerkannt war.
Alle verschiedenen Richtungen der Philosophie lassen sich, vom heutigen Standpunkte der Naturwissenschaft beurteilt, in zwei entgegengesetzte Reihen bringen, einerseits die dualistische oder zwiespältige, andererseits die monistische oder einheitliche Weltanschauung. Gewöhnlich ist die erstere mit theologischen und idealistischen Dogmen verknüpft, die letztere mit mechanistischen und realistischen Grundbegriffen. Der Dualismus (im weitesten Sinne) zerlegt das Universum in zwei ganz verschiedene Substanzen, die materielle Welt und den immateriellen Gott, der ihr als Schöpfer, Erhalter und Regierer gegenübersteht. Der Monismus hingegen (ebenfalls im weitesten Sinne begriffen!) erkennt im Universum nur eine einzige Substanz, die »Gott und Natur« zugleich ist; Körper und Geist (oder Materie und Energie) sind in ihr untrennbar verbunden. Der extramundane »persönliche« Gott des Dualismus (ein idealisierter Mensch!) führt notwendig zum anthropistischen Theismus; hingegen der intramundane Gott des Monismus (das allumfassende Weltwesen!) zum Pantheismus.
Sehr häufig werden auch heute noch die verschiedenen Begriffe Monismus und Materialismus und ebenso die wesentlich verschiedenen Richtungen des theoretischen und des praktischen Materialismus verwechselt. Da diese und andere ähnliche Begriffsverwirrungen höchst nachteilig wirken und zahlreiche Irrtümer veranlassen, wollen wir zur Vermeidung aller Mißverständnisse nur kurz noch folgendes bemerken: I. Unser reiner Monismus ist weder mit dem theoretischen Materialismus identisch, welcher den Geist leugnet und die Welt in eine Summe von toten Atomen auflöst, noch mit dem theoretischen Spiritualismus (neuerdings vielfach als Energetik bezeichnet), welcher die Materie leugnet und die Welt nur als eine räumlich geordnete Gruppe von Energien oder immateriellen Naturkräften betrachtet. II. Vielmehr sind wir mit Goethe der festen Überzeugung, daß »die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann«. Wir halten fest an dem reinen und unzweideutigen Monismus von Spinoza: Die Materie, als die unendlich ausgedehnte Substanz, und der Geist (oder die Energie), als die empfindende oder denkende Substanz, sind die beiden fundamentalen Attribute oder Grundeigenschaften des allumfassenden göttlichen Weltwesens, der universalen Substanz (Vergl. Kapitel 12.)
Monistische Studien über menschliche und vergleichende Anatomie.
Übereinstimmung in der gröberen und feineren Organisation des Menschen und der Säugetiere.
Alle biologischen Untersuchungen, alle Forschungen über die Gestaltung und Lebenstätigkeit der Organismen haben zunächst den sichtbaren Körper ins Auge zu fassen, an welchem uns die betreffenden morphologischen und physiologischen Erscheinungen entgegentreten. Dieser Grundsatz gilt ebenso für den Menschen wie für alle anderen belebten Naturkörper. Dabei darf sich die Untersuchung nicht mit der Betrachtung der äußeren Gestalt begnügen, sondern sie muß in das Innere derselben eindringen und ihre Zusammensetzung aus den gröberen und feineren Bestandteilen erforschen. Die Wissenschaft, welche diese grundlegende Untersuchung im weitesten Umfange auszuführen hat, ist die Anatomie.
Die erste Anregung zur Erkenntnis des menschlichen Körperbaues ging naturgemäß von der Heilkunde aus. Da diese bei den ältesten Kulturvölkern gewöhnlich von den Priestern ausgeübt wurde, dürfen wir annehmen, daß diese höchsten Vertreter der damaligen Bildung schon im zweiten Jahrtausend vor Christus und früher über ein gewisses Maß von anatomischen Kenntnissen verfügten. Aber genauere Erfahrungen, gewonnen durch die Zergliederung von Säugetieren und von diesen übertragen auf den Menschen, finden wir erst bei den griechischen Naturphilosophen des sechsten und fünften Jahrhunderts v. Chr., bei Empedokles (von Agrigent) und Demokritos (von Abdera); vor allen aber bei. dem berühmtesten Arzte des klassischen Altertums, bei Hippokrates (von Kos). Aus ihren und anderen Schriften schöpfte auch (im vierten Jahrh. v. Chr.) der große Aristoteles, der hochberühmte »Vater der Naturgeschichte«, gleich umfassend als Naturforscher wie als Philosoph. Nach ihm erscheint nur noch ein bedeutender Anatom im Altertum, der griechische Arzt Claudius Galenus (von Pergamus); er entfaltete im zweiten Jahrhundert n. Chr. in Rom unter Kaiser Marcus Aurelius eine reiche Praxis. Alle diese älteren Anatomen erwarben ihre Kenntnisse zum größten Teile nicht durch die Untersuchung des menschlichen Körpers selbst – die damals noch streng verboten war! –, sondern durch diejenige der menschenähnlichsten Säugetiere, besonders der Affen; sie waren also alle eigentlich schon »vergleichende Anatomen«.
Das Emporblühen des Christentums und der damit verknüpften mystischen Weltanschauung bereitete der Anatomie, wie allen anderen Naturwissenschaften, den Niedergang. Die römischen Päpste waren vor allem bestrebt, die Menschheit in Unwissenheit zu erhalten und hielten die Kenntnis des menschlichen Organismus mit Recht für ein gefährliches Mittel der Aufklärung über unser wahres Wesen. Während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten blieben die Schriften des Galenus fast die einzige Quelle für die menschliche Anatomie, ebenso wie diejenigen des Aristoteles für die gesamte Naturgeschichte. Erst als im sechzehnten Jahrhundert n. Chr. durch die Reformation die geistige Weltherrschaft des Papismus gebrochen und durch das neue Weltsystem des Kopernikus (1543) die damit verknüpfte geozentrische Weltanschauung zerstört wurde, begann auch für die Erkenntnis des menschlichen Körpers eine neue Periode des Aufschwungs. Die großen Anatomen Vesalius (aus Brüssel), Eustachius und Fallopius (aus Modena) förderten durch eigene gründliche Untersuchungen die genaue Kenntnis unseres Körperbaues so sehr, daß ihren zahlreichen Nachfolgern bezüglich der gröberen Verhältnisse hauptsächlich nur Einzelheiten festzustellen übrig blieben. Der ebenso kühne als geistreiche und unermüdliche Andreas Vesalius (dessen Familie, wie der Name sagt, aus Wesel stammte) ging bahnbrechend allen voran; er vollendete schon in seinem 28. Lebensjahre das große, einheitlich durchgeführte Werk »De humani corporis fabrica«, 1543?; gab der ganzen menschlichen Anatomie eine neue, selbständige Richtung und sichere Grundlage. Dafür wurde Vesalius später in Madrid – wo er Leibarzt Karls V. und Philipps II. war – von der Inquisition als Zauberer zum Tode verurteilt. Er rettete sich nur dadurch, daß er eine Reise nach Jerusalem antrat; auf der Rückreise erlitt er bei der Insel Zante Schiffbruch und starb hier im Elend, krank und aller Mittel beraubt.
Die Verdienste, welche unser neunzehntes Jahrhundert sich um die Erkenntnis des menschlichen Körperbaues erworben hat, bestehen vor allem in dem Ausbau von zwei neuen, überaus wichtigen Forschungsrichtungen, der »vergleichenden Anatomie« und der »Gewebelehre« oder der »mikroskopischen Anatomie«. Was zunächst die erstere betrifft, so war sie allerdings schon von Anfang an mit der menschlichen Anatomie eng verknüpft gewesen; ja, die letztere wurde sogar so lange durch die erstere ersetzt, als die Sektion menschlicher Leichen für ein todeswürdiges Verbrechen galt – und das war sogar noch im fünfzehnten Jahrhundert der Fall! Aber die zahlreichen Anatomen der folgenden drei Jahrhunderte beschränkten sich größtenteils auf die genaue Untersuchung des menschlichen Organismus. Diejenige hochentwickelte Disziplin, die wir heute vergleichende Anatomie nennen, wurde erst im Jahre 1803 geboren, als der große französische Zoologe George Cuvier (aus Mömpelgard im Elsaß stammend) seine grundlegenden »Leçons sur l'Anatomie comparée« herausgab und darin zum erstenmal bestimmte Gesetze über den Körperbau des Menschen und der Tiere festzustellen suchte. Während seine Vorläufer – unter ihnen auch Goethe 1784 – – hauptsächlich nur das Knochengerüst des Menschen mit demjenigen der übrigen Säugetiere eingehend verglichen hatten, umfaßte Cuviers weiter Blick die Gesamtheit der tierischen Organisation; er unterschied in derselben vier große, voneinander unabhängige Hauptformen oder Typen: Wirbeltiere (Vertebrata), Gliedertiere (Articulata), Weichtiere (Mollusca) und Strahltiere (Radiata). Für die »Frage aller Fragen.« war dieser Fortschritt insofern epochemachend, als damit klar die Zugehörigkeit des Menschen zum Typus der Wirbeltiere – sowie seine Grundverschiedenheit von allen anderen Typen – ausgesprochen war. Allerdings hatte schon der scharfblickende Linné in seinem ersten »Systema naturae« (1735) einen bedeutungsvollen Fortschritt damit getan, daß er dem Menschen definitiv seinen Platz in der Klasse der Säugetiere (Mammalia) anwies; ja, er vereinigte sogar in der Ordnung der Herrentiere (Primates) die drei Gruppen der Halbaffen, Affen und Menschen (Lemur, Simia, Homo). Aber es fehlte diesem kühnen, systematischen Griffe noch jene tiefere empirische Begründung durch die vergleichende Anatomie, die erst Cuvier herbeiführte. Diese fand ihre weitere Ausführung durch die großen vergleichenden Anatomen des neunzehnten Jahrhunderts, durch Friedrich Meckel (in Halle), Johannes Müller (in Berlin), Richard Owen und Thomas Huxley (in England), Carl Gegenbaur (in Jena, später in Heidelberg). Indem dieser letztere in seinen Grundzügen der vergleichenden Anatomie (1870) zum erstenmal die durch Darwin neu begründete Abstammungslehre auf jene Wissenschaft anwendete, erhob er sie zum ersten Range unter den biologischen Disziplinen. Die zahlreichen vergleichend-anatomischen Arbeiten von Gegenbaur sind, ebenso wie sein allgemein verbreitetes »Lehrbuch der Anatomie des Menschen«, gleich ausgezeichnet durch die gründliche empirische Kenntnis eines ungeheueren Tatsachenmaterials wie durch die umfassende Beherrschung desselben und seine philosophische Verwertung im Sinne der Entwicklungslehre. Seine vergleichende Anatomie der Wirbeltiere (1898) legt den unerschütterlichen Grund fest, auf welchem sich unsere Überzeugung von der Wirbeltiernatur des Menschen nach allen Richtungen hin klar und bestimmt beweisen läßt.
In ganz anderer Richtung als die vergleichende entwickelte sich im Laufe unseres Jahrhunderts die mikroskopische Anatomie. Schon im Anfange desselben (1802) unternahm ein französischer Arzt, Bichat, den Versuch, mittelst des Mikroskopes die Organe des menschlichen Körpers in ihre einzelnen feineren Bestandteile zu zerlegen und die Beziehungen dieser verschiedenen Gewebe (Hista oder Tela) festzustellen. Aber dieser erste Versuch führte nicht weit, da ihm das gemeinsame Element für die zahlreichen, verschiedenen Gewebe unbekannt blieb. Dies wurde erst 1838 für die Pflanzen in der Zelle von Matthias Schieiden (in Jena) entdeckt und gleich darauf auch für die Tiere von Theodor Schwann nachgewiesen, dem Schüler und Assistenten von Johannes Müller in Berlin. Zwei andere berühmte Schüler dieses großen und bahnbrechenden Meisters, Albert Kölliker und Rudolf Virchow, führten dann im sechsten Dezennium des neunzehnten Jahrhunderts (in Würzburg) die Zellentheorie und die darauf gegründete Gewebelehre für den gesunden und kranken Organismus des Menschen im einzelnen durch; sie wiesen nach, daß auch im Menschen, wie in allen anderen Tieren, alle Gewebe sich aus den gleichen mikroskopischen Formbestandteilen, den Zellen, zusammensetzen, und daß diese »Elementarorganismen« die wahren, selbsttätigen Staatsbürger sind, die, zu Milliarden vereinigt, unseren Körper, den »Zellenstaat«, aufbauen. Alle diese Zellen entstehen durch oft wiederholte Teilung aus einer einzigen, einfachen Zelle, aus der »Stammzelle« oder »befruchteten Eizelle« (Cytula). Die allgemeine Struktur und Zusammensetzung der Gewebe ist beim Menschen dieselbe wie bei den übrigen Wirbeltieren. Unter diesen zeichnen sich die Säugetiere, die jüngste und höchst entwickelte Klasse, durch gewisse besondere, spät erworbene Eigentümlichkeiten aus. So ist z.B. die mikroskopische Bildung der Haare, der Hautdrüsen, der Milchdrüsen, der Blutzellen bei den Mammalien ganz eigentümlich und verschieden von derjenigen der übrigen Vertebraten; der Mensch ist auch in allen diesen feinsten histologischen Beziehungen ein echtes Säugetier.
Die mikroskopischen Forschungen von Albert Kölliker und von Franz Leydig (ebenfalls in Würzburg) erweiterten nicht nur unsere Kenntnis vom feineren Körperbau des Menschen und der Tiere nach allen Richtungen, sondern sie wurden auch besonders wichtig durch die Verbindung mit der Entwicklungsgeschichte der Zelle und der Gewebe; sie bestätigten namentlich die wichtige Theorie von Carl Theodor Siebold (1845), daß die niedrigsten Tiere, die Infusorien und Rhizopoden, zeitlebens einzellige Organismen sind.
Unser gesamter Körperbau zeigt sowohl in der gröberen als in der feineren Zusammensetzung den charakteristischen Typus der Wirbeltiere (Vertebrata). Diese wichtigste und höchst entwickelte Hauptgruppe des Tierreichs wurde in ihrer natürlichem Einheit zuerst 1801 von dem großen Lamarck erkannt; er faßte unter diesem Begriffe die vier höheren Tierklassen von Linné zusammen: Säugetiere, Vögel, Amphibien und Fische. Die beiden niederen Klassen: Insekten und Würmer, stellte er jenen als »Wirbellose« (Invertebrata) gegenüber. Cuvier bestätigte (1812) die Einheit des Vertebratentypus und begründete sie fester durch seine vergleichende Anatomie. In der Tat stimmen alle Wirbeltiere, von den Fischen aufwärts bis zum Menschen, in allen wesentlichen Hauptmerkmalen überein; sie besitzen alle ein festes inneres Skelett, Knorpel- und Knochengerüst, und dieses besteht überall aus einer Wirbelsäule und einem Schädel; die verwickelte Zusammensetzung des letzteren ist zwar im einzelnen sehr mannigfaltig, aber im allgemeinen stets auf dieselbe Urform zurückzuführen. Ferner liegt bei allen Vertebraten auf der Rückenseite dieses Axenskelettes das »Seelenorgan«, das zentrale Nervensystem, in Gestalt eines Rückenmarks und eines Gehirns. Auch von diesem wichtigen Gehirn – dem Werkzeuge des Bewußtseins und aller höheren Seelentätigkeiten! – gilt dasselbe wie von der es umschließenden Knochenkapsel, dem Schädel; im einzelnen ist seine Ausbildung und Größe höchst mannigfaltig abgestuft, im großen und ganzen bleibt die charakteristische Zusammensetzung überall dieselbe.
Die gleiche Erscheinung zeigt sich nun auch, wenn wir die übrigen Organe unseres Körpers mit denen der anderen Wirbeltiere vergleichen: überall bleibt infolge von Vererbung die ursprüngliche Anlage und die relative Lagerung der Organe dieselbe, obgleich die Größe und Ausbildung der einzelnen Teile höchst mannigfaltig sich sondert, entsprechend der Anpassung an sehr verschiedene Lebensbedingungen. So sehen wir, daß überall das Blut in zwei Hauptröhren kreist, von denen die eine (Aorta) über dem Darm, die andere (Prinzipalvene) unter dem Darm verläuft, und daß durch Erweiterung der letzteren an einer ganz bestimmten Stelle das Herz entsteht; dieses »Ventralherz« ist für alle Wirbeltiere ebenso charakteristisch wie umgekehrt das Rückengefäß oder »Dorsalherz« für die Gliedertiere und Weichtiere. Nicht minder eigentümlich ist bei allen Vertebraten die frühzeitige Scheidung des Darmrohres in einen zur Atmung dienenden Kopfdarm (oder »Kiemendarm«) und einen die Verdauung bewirkenden Rumpfdarm mit der Leber (daher »Leberdarm«); ferner die Gliederung des Muskelsystems, die besondere Bildung der Harn- und Geschlechtsorgane usw. In allen diesen anatomischen Beziehungen ist der Mensch ein echtes Wirbeltier.
Mit der Bezeichnung Vierfüßer (Tetrapoda) hatte schon Aristoteles alle jene höheren, blutführenden Tiere belegt, welche sich durch den Besitz von zwei Beinpaaren auszeichnen. Später wurde dieser Begriff erweitert und mit der lateinischen Bezeichnung Quadrupeda vertauscht, nachdem Cuvier gezeigt hatte, daß auch die »zweibeinigen« Vögel und Menschen eigentlich Vierfüßer sind; er wies nach, daß das innere Knochengerüst der vier Beine bei allen höheren landbewohnenden Vertebraten, von den Amphibien aufwärts bis zum Menschen, ursprünglich in gleicher Weise aus einer bestimmten Zahl von Gliedern zusammengesetzt ist. Auch die »Arme« des Menschen, die »Flügel« der Fledermäuse und Vögel, die Brustflossen der Robben und Waltiere zeigen denselben typischen Skelettbau wie die »Vorderbeine« der laufenden, eigentlich vierfüßigen Tiere.
Diese anatomische Einheit des verwickelten Knochengerüstes in den vier Gliedmaßen aller Tetrapoden ist sehr wichtig. Um sich wirklich davon zu überzeugen, braucht man bloß das Skelett eines Salamanders oder Frosches mit demjenigen eines Affen oder Menschen aufmerksam zu vergleichen. Da sieht man sofort, daß vorn der Schultergürtel und hinten der Beckengürtel aus denselben Hauptstücken zusammengesetzt ist wie bei den übrigen »Vierfüßern«. Überall sehen wir, daß das erste Glied des eigentlichen Beines nur einen einzigen starken Röhrenknochen enthält (vorn den Oberarm, hinten den Oberschenkel); dagegen wird das zweite Glied ursprünglich stets durch zwei Knochen gestützt (vorn Ellbogen und Speiche, hinten Wadenbein und Schienbein). Vergleichen wir dann weiter den verwickelten Bau des eigentlichen Fußes, so überrascht uns Sie Wahrnehmung, daß die zahlreichen, denselben zusammensetzenden, kleinen Knochen ebenfalls überall ähnlich angeordnet und gesondert sind; vorn entsprechen sich in allen Klassen der Tetrapoden die drei Knochengruppen des Vorderfußes (oder der »Hand«): I. Handwurzel, II. Mittelhand und III. fünf Finger; ebenso hinten die drei Knochengruppen des Hinterfußes: I. Fußwurzel, II. Mittelfuß und III. fünf Zehen. Sehr schwierig war die Aufgabe, alle diese zahlreichen kleinen Knochen, die im einzelnen höchst mannigfaltig gestaltet und umgebildet, teilweise oft verschmolzen oder verschwunden sind, auf eine und dieselbe Urform zurückzuführen sowie die Gleichwertigkeit der einzelnen Teile überall festzustellen. Diese wichtige Aufgabe wurde erst vollständig von Carl Gegenbaur gelöst. Er zeigte in seinen »Untersuchungen zur vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere« (1864), wie diese charakteristische »fünfzehige Beinform« der landbewohnenden Tetrapoden ursprünglich (erst in der Steinkohlenperiode) aus der vielstrahligen »Flosse« (Brustflosse oder Bauchflosse) der älteren, wasserbewohnenden Fische entstanden ist. In gleicher Weise hatte derselbe in seinen berühmten »Untersuchungen über das Kopfskelett der Wirbeltiere« (1872) den jüngeren Schädel der Tetrapoden aus der ältesten Schädelform der Fische abgeleitet, derjenigen der Haifische (Selachier).
Besonders bemerkenswert ist noch, daß die ursprüngliche, zuerst bei den alten Amphibien der Steinkohlenzeit entstandene Fünfzahl der Zehen an allen vier Füßen – die Pentadactylie – sich infolge strenger Vererbung noch beim Menschen bis auf den heutigen Tag konserviert hat. Selbstverständlich ist dementsprechend auch die typische Bildung der Gelenke und Bänder, der Muskeln und Nerven der zwei Beinpaare, in der Hauptsache dieselbe geblieben wie bei den übrigen »Vierfüßern«; auch in diesen wichtigen Beziehungen ist der Mensch ein echter Tetrapode.
Die Säugetiere (Mammalia) bilden die jüngste und höchst entwickelte Klasse der Wirbeltiere. Sie sind zwar, ebenso wie die Vögel und Reptilien, aus der älteren Klasse der Amphibien abzuleiten, sie unterscheiden sich aber von allen diesen anderen Tetrapoden durch eine Anzahl von sehr auffallenden anatomischen Merkmalen. Äußerlich tritt vor allem die Haarbedeckung der Haut hervor sowie der Besitz von zweierlei Hautdrüsen: Schweißdrüsen und Talgdrüsen. Aus einer lokalen Umbildung dieser Drüsen an der Bauchhaut entstand dasjenige Organ, welches für die Klasse besonders charakteristisch ist und ihr den Namen gegeben hat, das »Gesäuge«. Dieses Werkzeug der Brutpflege ist zusammengesetzt aus den Milchdrüsen (Mammae) und den »Mammartaschen« (Falten der Bauchhaut); durch ihre Fortbildung entstanden die Zitzen oder »Milchwarzen«, aus denen das junge Mammale die Milch seiner Mutter saugt. Im inneren Körperbau ist besonders bemerkenswert der Besitz eines vollständigen Zwerchfells, einer muskulösen Scheidewand, welche bei allen Säugetieren – und nur bei diesen! – die Brusthöhle von der Bauchhöhle gänzlich abschließt; bei allen übrigen Wirbeltieren fehlt diese Trennung. Durch eine Anzahl von merkwürdigen Umbildungen zeichnet sich auch der Schädel der Mammalien aus, besonders der Bau des Kieferapparates (Oberkiefer, Unterkiefer und Gehörknochen). Aber auch das Gehirn, das Geruchsorgan, das Herz, die Lungen, die inneren und äußeren Geschlechtsorgane, die Nieren und andere Körperteile zeigen bei den Säugetieren besondere Eigentümlichkeiten im gröberen und feineren Bau; diese alle vereinigt weisen unzweideutig auf eine frühzeitige Trennung derselben von den älteren Stammgruppen der Reptilien und Amphibien hin, welche spätestens in der Triasperiode – vor mindestens zwölf Millionen Jahren! – stattgefunden hat. In allen diesen wichtigen Beziehungen ist der Mensch ein echtes Säugetier.