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Und der Greif zog seine Kreise. Damit beginnt die Legende um Finja. Dieses Mädchen ist nicht so unbeschwert wie ihre Freundinnen. Sie lebt in Eskalien, einem Dorf am Fuße des Eska. Dieser Berg trägt den Namen Drachenberg seit jener Zeit, als das Land der Sage nach vom Wilden Grausen und einem Drachen gepeinigt wurde. Vor mehr als sechs Jahrhunderten verschwanden die Tyrannen anscheinend im Nichts. Die Burg wandelte sich, die Bewohner wechselten, aber den Eska umgab seither ein Fluch. Die Hexe Thecodontia, der Greif, der Kolk. Auf geheimnisvolle Weise in die Geschichte des Eska mit seinem verbotenen Wald verstrickt. Wird Finja den Zauber lösen? Eine Stimme lockt und ruft: Komm Finja, komm. Die Stimme irritiert nicht nur Finja, sie bringt auch die Erzählerin aus dem Konzept. Wer hat ein Interesse daran, die Vergangenheit ruhen zu lassen? Von wem geht die spürbare Bedrohung aus? Gibt es eine Verbindung zwischen Eskalien und Rungholt? Es geht die Sage: Rungholt steht wieder auf. Seemannsgarn der Nordfriesen? Und das Ende ist der Anfang. Die Erzählerin entführt uns auf die Hallig Südfall, zu der einzigen Bewohnerin Mareike, die mehr zu wissen scheint. Hier, mitten im Wattenmeer, im Rungholtgebiet, ist nichts mehr, wie es einmal war. Ist die Liebe das Einzige, was zählt? Nunja, nicht immer so, wie wir es uns erträumen. Aber vielleicht so, wie es gut für uns ist. Für uns und alle, die nach uns kommen mögen.
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Seitenzahl: 134
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„Wenn du das Staunen verlierst
und der Zauber unsere Welt verlässt,
sind wir arm, bettelarm.“
Mareike
Prolog
< I >
*
Stets für Wunder bereit
Und der Greif zog seine Kreise
Opa Patzek
Finja
Artur
Thecodontia
Ende 1. Buch
< II >
*
Natur – Gewaltige Stürme
Und die Stimme lockt und ruft
Der Ring
Finjas Geheimnis
Die Wetterfahne
Änne Enns
Suche nach den Wurzeln
Abschied
Ende 2. Buch
< III >
*
Wasser
Und das Ende ist der Anfang
Rungholt
Die Halligen
Eine Nacht auf Südfall
Sehnsucht nach Mareike
Ein Sommer auf der Hallig
Hoffnungsträger
Epilog
*
Oh wie es saust
Die Abendsonne zaubert ein flirrendes Licht in die auflaufenden Wellen. Ich sitze am Deich von Nordstrand und träume mich in die Zeiten hinein, in denen Sturmfluten die Uthlande zerrissen. Ich sinne den Worten Liliencrons nach: „Heute bin ich über Rungholt gefahren, die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren. – Trutz, Blanke Hans.“
Mit dem Trutzen war es nicht weit her. Untergegangen mit Mann und Maus.
Meine Augen suchen den Horizont ab. Ich sehe einen schwarzen Streifen zwischen Himmel und Meer - bis das schwindende Sonnenlicht ihn mit sich nimmt in den diesigen Abend. Südfall muss links sein. Zeichnet sich eine Silhouette ab? Ich erahne die Warft der Hallig.
Ich stelle mir das reiche ausschweifende Treiben auf Rungholt vor, denke an das Glockengeläut.
Laut Überlieferung ragt jedes siebente Jahr der Kirchturm aus den Fluten der Nordsee – in der Johannisnacht. Ob wir das siebente Jahr haben, ist mir nicht bekannt, aber der Juni ist noch fern.
Ich spinne an einem Text, bin am Schauplatz, höre das rhythmische Rauschen – heute verspielt und harmlos.
Ein Junge gesellt sich zu mir. „Du bist nicht von hier“, stellt er fest.
„Das ist nicht schwer zu erraten, oder?“
„Ich meine ja nur. Soll ich dir was erzählen?“
„Worum geht’s denn?“
„Um Mareike.“
„Deine Freundin?“
„Nee.“ Er kraust die Nase. „Du musst nach Südfall gehen, da ist sie“, sagt er wichtig.
Ich schaue zum Himmel. „Es ist bald dunkel.
Lieber morgen.“
„Hast du Angst?“
Das will ich nicht auf mir sitzen lassen. „Wie kommt man da hin?“
„Komm mit, ich zeig es dir.“
Eine Weile geht der Knirps schweigend vor mir her. Dann wendet er sich um. „Von hier aus gehst du …“, er erklärt umständlich den Weg.
„Was macht Mareike auf der Insel?“, frage ich.
„Das ist ne Hallig“, verbessert er mich.
„Das ist doch dasselbe.“
„Eine Insel hat Deiche.“
„Halligen nicht?“
„Nö, die Häuser sind auf Erdhügeln gebaut.“
„Ich könnte mit dem Schiff fahren“, schlage ich vor.
„Es geht von Fuhlehörn mit Hansens Kutsche, wenn du nicht laufen willst. Kost nich viel.“
„Hinter dem Anleger, vom Badestrand aus?“
Er nickt.
„Wer bist du überhaupt?“
„Lasse Hansen!“
„Der Kutscher ist dein Vater, was?“ Ich sehe ihn belustigt an. „Was kriegst du von ihm für die Werbung?“
„Och nichts.“
„Du flunkerst. Was gibts auf Südfall? Komm mir nicht mit dem Hokuspokus von Rungholt, davon hab ich schon gehört.“
Er tut geheimnisvoll. Er will mich zu einem Ausflug animieren. Warum eigentlich nicht?
„Also gut. Ich wohne im Inselkroog. Du holst mich morgen ab und zeigst mir, wo die Kutsche abfährt. Ich will mir deine Mareike ansehen.“
Im Gasthof eine hitzige Debatte: Rungholt steht wieder auf! Beim Nachtmahl lausche ich dem Gespräch der Stammtischrunde. Das Nordplatt liegt mir wie eine Melodie im Ohr. Jetzt, zu fortgeschrittener Stunde, sind die Zungen gelöst. Die wunderlichen Geschichten der Friesen, genauer gesagt, der Nordfriesen, füllen die Gaststube aus. Die Männer diskutieren über die Seefahrt, den Fischfang, die Viehwirtschaft. Sie erzählen von langen Wintern, von sturmgepeitschten Fluten und den Geheimnissen in der Tiefe.
Ein Alter mit Vollbart hatte einen bislang unbekannten Brunnenring im Watt entdeckt. „Letzte Woche wars“, er haut mit der Faust auf die Tischplatte. „Meine Frida meinte, ich soll nicht so viel saufen. Dann hören die Halluzinationen auf. Sie wollte das Ding sehen.“
„Bei dem Schietwetter da draußen?“, wirft ein hagerer Mann ein.
„Was denkst du! Mit der nächsten Ebbe marschierten wir raus. Der Brunnen war wieder im Watt verschwunden. Da hat mich meine Frida ausgelacht. Hab ich lieber geschwiegen. Will meine Ruhe vor den Weibern haben.“ Er rührt in seinem Grog und schlürft.
„Sicher hast du die Stelle nicht mehr gefunden. Da draußen sieht alles gleich aus“, lästert ein Jüngerer.
„Du sprichst wie ein Tourist“, der Hagere brubbelt vor sich hin, ein anderer grinst endlich: „Wenn es auf Südfall gewesen wäre. Aber so. Trotzdem, eine gute Geschichte!“
Der Vollbart schüttelt den Kopf. „Das ist nicht gesponnen. Rungholt steigt wieder aus dem Meer auf.“
„Wer‘s glaubt“, nickt der Hagere. „Den Totenkopf hat Fischer Willem jedenfalls zurückgebracht. Erinnert ihr euch, wie seine Alte gezetert hat? Die Rungholter kommen, hatte sie gekeift, die Rungholter kommen, die holen sich ihr Eigentum zurück.“
„Im Fangnetz hatte er den Schädel“, sagt einer.
„Immer nur Fische ist ja auch langweilig“, feixen die anderen.
„Aber nun ist der Willem tot“, bemerkt der Hagere mit ernster Stimme.
Das ist ja gruselig. Ein Fluch? Ich hänge meinen Gedanken nach. Will mehr wissen über den Untergang dieser sagenumwobenen Stadt. Vielleicht ist was Wahres dran – wäre eine spannende Episode für mein Buch.
Am anderen Morgen erwache ich unausgeruht, wie gerädert. Ich habe geträumt. Wirres Zeug.
Im Frühstücksraum sitzen Gäste, tauschen Pläne für den heutigen Tag aus, ziehen mich in eine belanglose Unterhaltung. Nein, ich weiß noch nicht, ob ich eine Land- oder eine Seetour mache. Nein, ich möchte mich nicht anschließen. Ich will diese Mareike kennenlernen.
Der Rhythmus von Ebbe und Flut durchkreuzt meine Pläne. Erst in zwei Tagen kann die Kutsche fahren, hat mir Lasse verraten. Ich war auf dem Hof der Hansens, habe mir die Pferde angesehen, mich mit dem Besitzer, der sein Gespann selbst kutschiert, bekanntgemacht. Er ist nett. Allerdings nicht so gesprächig wie sein Sohn.
Wir haben verabredet, dass ich die Wattwagenfahrt im Sommer nachholen werde. Denn – leider – morgen fahre ich heim.
Mein Zug hält in jedem Kleckerdorf. Ab Hamburg-Altona habe ich den Schnellzug gebucht. Ich habe also Zeit, mir den Plot meiner Nordsee-Legende auszudenken. Über Rungholt? Darüber ist doch genug geschrieben worden. Geforscht und erfunden.
Das Rätselhafte reizt mich. Aber mit Fantasy-Romanen habe ich es nicht. Obwohl – ein bisschen mythisch ist mein Greifbuch auch. Krampfhaft frage ich mich, ob es eine Verbindung zwischen Rungholt und meinem Drachenberg geben könnte.
In der Glut des Tages,
in der Hitze der Nacht,
hat schon manch ein Denker
Großes vollbracht.
In den lähmenden Stunden,
in der schlaflosen Ruh,
werden Märchen erfunden,
gaukeln Träume dazu.
Im Vergehen des Seins,
im Verrinnen der Zeit,
mit der Liebe eins,
stets für Wunder bereit.
Zuhause lasse ich alles stehen und liegen. Den Koffer packe ich morgen aus. Ich esse das Stück Kuchen, das ich mir eingesteckt hatte, stelle eine Flasche Wasser auf den Nachtschrank, suche mein Buch vor und kuschle mich in mein Bett.
Eine Weile betrachte ich das Cover. Und der Greif zog seine Kreise. Ich blättere, schaue mir die Illustrationen an, denke an die Zeit, in der es entstanden war, märchenhaft schön. Jahre ist das her.
Ich will es noch einmal aufmerksam lesen, will mir die Einzelheiten einprägen, um endlich die Erzählung von Finja, meiner Finja, zu Ende zu schreiben. Vielleicht … Aber nein … erst lese ich:
Es war ein wundervoller Tag. Die Sonne tauchte das Land in gleißendes Licht. Auf dem Pflaster der Landstraße flimmerte die Luft. Über den Wiesen tanzten Falter, summten Insekten. Hinter den Zäunen weideten fette, schwarz-weiße Kühe. Auf den Feldern reifte das Korn der Ernte entgegen.
Helle Stimmen, fröhliches Lachen. Vier Mädchen tummelten sich am Dorfteich. Sie hatten Schuhe und Strümpfe ins Gras geworfen und ließen die nackten Füße ins kühle Nass baumeln.
Sie planschten und spritzten.
Da kam mit schlurfendem Schritt der alte Patzek daher. In einer altmodischen Kiepe sammelte er saftigen Löwenzahn und Brenn-Nesseln. Er hatte in seinem Stall etliche Mäuler zu stopfen.
Die Mädchen hatten ihn erblickt und hüpften ihm entgegen. „Hast du die Kiepe voll, Opa Patzek?“, und „Wir helfen dir!“, schwatzten sie durcheinander.
„Kinder! Lasst mich leben!“, rief der Alte.
Er hob den Korb vom Rücken, stellte ihn umständlich auf die Wiese und kramte in seinen verbeulten Hosentaschen. Bedächtig förderte er eine Pfeife zutage, Tabak in ausgefranstem Papier und ein abgewetztes Päckchen Streichhölzer.
Während die Kinder Grünzeug suchten und die Kiepe füllten, zündete er nach langem, sorgfältigem Stopfen seine Pfeife an. Er sog ein paar Mal schnell, dann paffte er genüsslich blaue Wolken in die Weltgeschichte. Er setzte sich auf einen umgestürzten, dicken Zaunpfahl. Im Nu hockten die Mädels um ihn herum.
„Erzählst du uns?“, bat die zarte Marleen mit erwartungsvollen Augen.
„Du kennst doch alles!“, gab der alte Patzek zu bedenken.
Marleen schüttelte den Kopf, dass die braunen Locken nur so hin und her flogen.
Elena lachte verächtlich. „Sie will von ihrem Artur hören! Sie träumt von ihm!“ Als Marleen wütend abwehrte, setzte Elena triumphierend hinzu: „Jede Nacht!“ Elena war die Selbstbewussteste von allen und wohl auch die Hübscheste. Die schwarzen, langen Haare lagen für gewöhnlich seidig auf ihren Schultern. Im Augenblick hingen sie in feuchten Strähnen herab.
„Ph!“ Steffi ließ sich rücklings ins Gras plumpsen. „Tut nicht so! Ihr seid allesamt in den tollen Gutssohn verknallt!“ Lustig setzte sie hinzu: „Aber wenn er eine nimmt, dann mich!“ Komisch, Steffi vermochte fast jede Situation zu retten. Sie war selten ernst und immer hungrig. Man sah es. Unter dem kurzen, blonden Bubikopf ein pausbackiges, spitzbübisches Gesicht mit unzähligen Sommersprossen.
„Bitte, erzähl!“, bat Marleen noch einmal. Gespannt sahen ihn vier Paar träumende Mädchenaugen an.
„Vom Gut? Wirklich mal wieder vom Gut?“, fragte der Alte. Sein Blick ruhte nachdenklich auf der kleinen Finja. Sie hatte bisher kein Wort gesagt. Die anderen redeten ja! Bieder hingen ihr die langen, dunkelblonden Zöpfe über die Brust. Die gelösten Enden drehte sie spielerisch um die Finger. Sie wartete geduldig, dass Willi Patzek anfing, zu erzählen. Dass er erzählen würde, das wusste sie. Wozu also drängen? Sie begegnete mit stillem Lächeln seinem Blick und dachte sehnsüchtig: Du gehörst zu der Geschichte. Du bist ein Teil von ihr. Du bist drin, ich draußen. Ich wär so gern die gute Fee, die deiner Geschichte fehlt. Dieser Gedanke, entsprungen einem zärtlichen Herzen, war eine unsichtbare Brücke, die sie mit dem alten Mann verband.
Patzek versank in Erinnerungen. Tief aus ihnen heraus drang seine Stimme:
„Es war einmal vor langer, langer Zeit. Da war hier keine Wiese. Kein Acker. Urwald bedeckte das Land. Es gab Königreiche, Raubritter und Leibeigene.
Einst zog der König von Eskalia ins Feld und wurde Herr über diesen stattlichen Wald. Nur der einzige Berg weit und breit mit seinem schroffen Felsen, den unzugänglichen Höhlen, trutzte dem Heer. Jeder Vorstoß war sinnlos. Wer in den Bannkreis des Berges und seiner Wilden geriet, verbrannte jämmerlich. Der König zögerte nicht, sich mit einer scheußlichen alten Hexe zu verbünden, der machthungrigen Thecodontia. Was da gehandelt wurde, hat kein Mensch je erfahren.
Der König war seither unverwundbar. Er trat bei den Höhlen dem Dragoyja, einem siebenzüngigen Drachen, in den Weg. Von grausiger Gestalt, Feuer speiend und brüllend, stürzte sich das Fabeltier dem Angreifer entgegen. Der König zog sein Schwert. Er war bereit.
Einer Detonation folgte eine Feuersäule, loderte empor über den Felsen, qualmte und stank. Als sich der Rauch gelegt hatte, war der Drache verschwunden. Auch die Wilden waren fort. Der König brüstete sich mit seinem Sieg, prahlte mit der Gefahr, seinem mutigen Kampf. Sein Lager schlug er unterhalb des Felsens auf.
Er errichtete eine Burg, wie sie größer und schöner nie gebaut worden war. Der Felsen mit seinen Höhlen, seither der Drachenberg, bildete rückseits eine uneinnehmbare Festung. Zinnen und Mauern umgaben in der Front einen Innenhof mit wuchtigen, schmuckreichen Gebäuden. All das wuchs in Windeseile. Anscheinend gehörte das zu den Bedingungen, die der Herrscher mit der Thecodontia ausgehandelt hatte. Wer weiß.
Seine Leute rodeten das Herzstück des Urwaldes und bauten ein Dorf. Es breitete sich aus mit seiner Landwirtschaft, den Häusern, Höfen und Straßen, und der König nannte es Eskalien.
Die vier Wälder, die von dieser Pracht blieben, sind heute noch. Dort im Osten der Eska mit dem Drachenberg. Im Westen der Lauba, im Norden der Tann und im Süden der Grub.
Viele Generationen wuchsen heran. Es gab Tyrannen und Wohltäter. Die Burg wandelte sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem Gutsbetrieb. Die alten Mauern verfielen. Neue Gebäude entstanden.
Aber alle Herren dieses Besitzes kamen seit Menschengedenken auf tragische Art ums Leben. Bei einer Schlacht, einem Raubzug, auf der Jagd. Unfälle, Unglücke, Morde. Ein Fluch lastet über dem Berg und seinen Bewohnern. Ein geheimnisvoller Fluch!“
Die letzten Worte hatte der Alte beschwörend gesprochen, mitten in Finjas gebannten Blick hinein. Hier war ein Mensch, der ihn verstand. Vielleicht der einzige Mensch! Und es war so wichtig, so wichtig!
Er war alt. Wenn er starb, würde mit ihm das Zeugnis dieses Landes sterben. Nur ein Mensch wie Finja, mit diesem kindlichen Glauben, diesem reinen Herzen, konnte sein Erbe antreten. Und er hatte nichts als seine Tiere und diese Geschichte.
„Eine hübsche Story. Hokuspokus!“, bemerkte Elena.
Es entbrannte eine heiße Diskussion zwischen den Mädchen. Es fiel nur dem Alten auf, dass Finja gedankenverloren schwieg. Ihre Augen verfolgten einen schwarzen Punkt am klaren Himmel. Der Greif zog seine Kreise. Er war heute Herr der Wälder um Eskalien. Er war derzeitiger Bewohner des verfallenen Herrenhauses. Majestätisch segelte er mit weit gestreckten Schwingen durch die Lüfte. Bestechende Eleganz, kühle Unnahbarkeit.
„Na? Wo bist du gerade?“ Patzek stupste leicht gegen Finjas Schulter.
Die Kleine sah ihn versonnen an. „Wir haben ein Gedicht in der Schule gelernt: Ach könnt ich doch fliegen, nur ein einziges Mal.“
„Dann würdest du mit ihm dort oben in die Sonne fliegen, was?“
„Wer in die Sonne fliegt, versengt sich die Flügel, hat der Lehrer gesagt.“
Patzek nickte. „Wenn du so denkst, solltest du mit dem Kolk fliegen. Diese Rabenvögel sind bodenständig und wollen nicht so hoch hinaus.“
„Du meinst, ich will hoch hinaus? Hältst du mich für stolz?“
„Kleine Finja, du denkst zu viel. Ich vermute, für dich lebt sogar diese arme, verbeulte Konservendose. Weggeworfen, allein gelassen.“ Er zeigte auf die Reste eines Picknicks im Gras.
Finja lachte.
Opa Patzek hatte recht. Sie wandte sich um:
„Steffi, Elena, Marleen! Er soll weiterreden!“
„Ja! Sag, was jetzt kommt!“
„Hast du’s wirklich selbst erlebt? Kannst du schwören?“
„Ihr braucht es ja nicht zu glauben. Ich war so alt, wie ihr jetzt seid. Ich bin in Eskalien aufgewachsen. Ich kannte den Herren vom Gut und spielte vor dem eisernen Tor oft mit dem kleinen Artur. Wir hatten Brummkreisel mit Peitschen und schoben Klicker in die Murmellöcher. Manchmal durfte ich sogar zum Essen bleiben." Der Alte machte eine Pause, überlegte.
„Das änderte sich schlagartig, als die Gutsfrau verstarb. Das Dorf trauerte um eine Heilige. Für mich war sie ein Engel von überirdischer Schönheit. Am Tag nach der Trauerfeier ging Clemens von Eskalia, der Gutsherr, zur Jagd. Er kehrte nie zurück.“
Die gedankenverlorenen Pausen wurden länger. Die Stimme brüchig. „Artur war nun Waise. Man hörte ihn nicht mehr lachen. Unsere Spiele hatten ein Ende.“ Patzek sog an seiner Pfeife. Sie war ausgegangen. Umständlich entzündete er sie. Geistesabwesend paffte er seine Rührung fort.
„Ein paar Getreue kümmerten sich um Artur und um das Gut. An einem kalten Wintermorgen fand mein Spielkamerad einen mächtigen Raben. Seit der Zeit lebt dieser Kolk dort droben.“
„Dann wäre er uralt. So was geht gar nicht!“ Elena wusste es besser, wie immer.
Patzek nickte nachsichtig und fuhr fort: