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»Johann Bockelson, Schneidergesell, Mitglied eines dramatischen Vereins, Wanderprediger und Prophet der Wiedertäufer, gestorben auf eine grausame und gewalttätige Weise zu Münster in Westphalen am 22. Januar 1536.« Aus einer beiläufigen Textstelle seines früheren Stückes Es steht geschrieben gewann Dürrenmatt das komische Potential für ein neues Stück.
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Seitenzahl: 106
Friedrich Dürrenmatt
Eine Komödie in zwei Teilen Urfassung
Diogenes
Es ging mir, im Gegensatz zu den verschiedenen Fassungen, die vorher einzeln im Arche-Verlag erschienen sind, bei den Fassungen für die Werkausgabe nicht darum, die theatergerechten, das heißt die gestrichenen Fassungen herauszugeben, sondern die literarisch gültigen. Literatur und Theater sind zwei verschiedene Welten: Außer den Komödien, die ich nur für die Theater schrieb, Play Strindberg und Porträt eines Planeten, die Übungsstücke für Schauspieler darstellen und die ich als Regisseur schrieb, gebe ich im Folgenden – die ersten Stücke tastete ich nicht an – die dichterische Fassung wieder, eine Zusammenfassung verschiedener Versionen.
F.D.
Eine Komödie in zwei Teilen Urfassung
An Ernst Schröder
Kaiser Karl V.
Kardinal
Franz von Waldeck, Fürstbischof von Minden, Osnabrück und Münster
Kurfürst
Landgraf von Hessen
Der Kanzler
Jan Matthison
Bernhard Rothmann
Bernhard Krechting
Staprade
Vinne
Klopriss
Johann Bockelson von Leyden
Knipperdollinck
Judith, seine Tochter
Der Mönch
Wache
Heinrich Gresbeck, Sekretär des Bischofs
Elisabeth Roede, Schauspielerin
Metzger
Gemüsefrau
Kesselflicker Langermann
Frau Langermann
Schuster Friese
Frau Friese
ihre Töchter
Helga
Gisela
Veronika von der Recke, Äbtissin
Divara, Matthisons Frau
Kruse
Henker
Täuferinnen
Ritter Johann von Büren
Ritter Hermann von Mengerssen
1. Landsknecht
2. Landsknecht
Geschrieben 1966/67
Uraufführung im Schauspielhaus Zürich am 16. März 1967
In der Stadt. Ägidiitor.
Matthison, Rothmann, Krechting, Bockelson, Vinne, Klopriss und Staprade, zerlumpte Propheten der Täufer, betreten mit ihrer Habe Münster in Westfalen.
MATTHISON
Gott verhüllte sein Antlitz
Da verließ das Tier mit den sieben Köpfen seine Höhle
Vom Geklirr seiner Schwingen erbebten Himmel und Erde
BOCKELSON
Herr, Herr, laß uns nicht gänzlich im Stiche!
ROTHMANN
Der Papst, der Kaiser, der Fürst, der Lutheraner, der Kaufmann, der Richter und der Landsknecht
Stahlen dem Volk zuerst das Land, dann das Vieh und endlich den Leib
KRECHTING
Zu den wilden Tieren im Wald, zu den Fischen, zu den Vögeln und zu den Weibern und Töchtern der Armen
Sprachen sie: Ihr seid unser
BOCKELSON
Herr, Herr, deine Feinde verspotten dich!
STAPRADE
Sie prägten Münzen und nahmen Zinsen und Zinsen von den Zinsen
VINNE
Sie machten Gesetze
Die Mächtigen vor den Ohnmächtigen zu schützen
KLOPRISS
Die Reichen vor den Armen, die Satten vor den Hungrigen
BOCKELSON
Herr, Herr, blicke nieder auf unser Elend!
MATTHISON
Sie beteten Götzen an, die sie Heilige nannten, und verbreiteten Irrlehren jeglicher Art
Damit das Volk unwissend bleibe und gefügig ihrer Willkür
BOCKELSON
Herr, Herr, erleuchte uns!
ROTHMANN
Da rebellierten die Bauern und ergriffen die Waffen
Doch die Landsknechte der Fürsten waren mächtiger denn das arme Volk
BOCKELSON
Herr, Herr, erbarme dich unser!
KRECHTING
Die Leichen der Bauern verstopften die Flüsse und hingen in den Ästen der Bäume
STAPRADE
Die Totenvögel mästeten sich
Sie wurden feiß wie die Säue, daß sie nicht mehr fliegen konnten
BOCKELSON
Herr, Herr, in tiefster Not schrei ich zu dir!
MATTHISON
Da erbarmte sich der Herr der Bedrängten!
BOCKELSON
Jauchzet!
KLOPRISS
Er erhöhte, was erniedrigt worden war
BOCKELSON
Singet!
VINNE
Er machte wissend uns Unwissende
BOCKELSON
Preiset!
ROTHMANN
Er schickte uns aus, seine Propheten
Das Volk zu erlösen aus seiner Knechtschaft
Nicht durch die Waffen der Gewalt, sondern durch das Schwert des Geistes
BOCKELSON
Lobet den Herrn!
MATTHISON
Wir Täufer sind reinen Leibes
Wir haben die Sünden von uns geworfen wie der Bräutigam die Kleider von sich wirft, wenn die Nacht seiner Hochzeit gekommen
Wir sind getauft, wie Johannes es tat mit dem Gott
Wir sind friedfertig, und unsere Waffe ist das Gebet
BOCKELSON
Buße, tut Buße, bekehret euch!
ALLE
Buße, tut Buße, bekehret euch!
ROTHMANN
Zum Zeichen seines Bundes verhieß uns der Herr eine Stadt
Gesegnet sei Münster in Westfalen, das uns umgibt in der Morgensonne
BOCKELSON
Gesegnet!
KRECHTING
Bald werden dir die letzten Ungläubigen entfliehen
Der Bischof wird dich mit seinen Kebsweibern und Lustknaben verlassen
Und die erbärmlichen Lutheraner werden dir entweichen wie Aussätzige!
BOCKELSON
Fluch ihnen! Fluch!
ALLE
Fluch ihnen! Fluch!
MATTHISON
In deinen Mauern, Münster, wird uns ein neues Jerusalem erstehen
BOCKELSON
Halleluja!
MATTHISON
Wir werden sein tausend mal tausend und zehnmal hunderttausend
Ein großes Volk, das weder Reiche noch Arme kennt
Noch Mächtige und Ohnmächtige
BOCKELSON
Hosianna!
MATTHISON
Dann endlich wird der Tag kommen, der verheißen ist
Ein neuer Himmel wird sein und eine neue Erde
Wir werden eins sein mit ihm, der wiedergeboren ist in uns
BOCKELSON
Amen!
MATTHISON
Brüder, ich nehme als Prophet der Täufer im Namen des Herrn von der Stadt Münster Besitz. Verteilen wir uns, evangelisieren wir auf den Plätzen und in den Straßen, verkünden wir unsere heilige Lehre überall, das Reich Gottes in diesen Mauern zu errichten. Ehre sei Gott in der Höhe!
DIE ANDERN
Ehre sei Gott in der Höhe!
Matthison, Krechting, Rothmann, Vinne, Klopriss, Staprade ab.
BOCKELSON
Es gilt. Erzittere, Münster in Westfalen!
Klettert in einen Mistkarren.
BOCKELSON
Komme Volk! Du sollst von meiner Rednergabe verschlungen werden wie von einem brüllenden Löwen.
Kesselflicker Langermann und Schuster Friese treten auf.
FRIESE
Es ist ein frischer Morgen und ein Haufen Dreck und Staub am Boden.
LANGERMANN
Lutum und pulvis. Ich habe studiert.
FRIESE
Langermann, Ihr gabt Euch Mühe, Kesselflicker zu werden.
LANGERMANN
Ich mußte das Studium aufgeben, Schuster Friese. Ich höre Stimmen.
FRIESE
Das hören heute viele.
LANGERMANN
Es ist immer was im Kopf. Wie ein Stern oder wie ein Baum mit Ästen, Früchten und Blättern, versteht Ihr?
FRIESE
Nein!
LANGERMANN
Das macht das Rappeln.
Stutzt. Bockelson schnarcht.
LANGERMANN
Hört Ihr?
FRIESE
Rappelt’s?
LANGERMANN
Es schnarcht.
FRIESE
Wache! Da liegt einer im Karren und schläft.
Eine Wache tritt auf.
WACHE
Der Mann wird arretiert. Artikel 24: Gegen die Völlerei. Der Mann ist voll. Artikel 29: Gegen den Aufenthalt an unanständigen Orten. Ein Mistkarren ist ein unanständiger Ort.
BOCKELSON
Ehre sei Gott in der Höhe!
LANGERMANN
Je!
WACHE
Ihr seid arretiert.
BOCKELSON
Wo bin ich, ihr Leute?
FRIESE
Vor meinem Hause beim Ägidiitor.
BOCKELSON
Ich meine, in welcher Stadt?
LANGERMANN
Je!
FRIESE
Er weiß nicht, wo er ist.
WACHE
Ihr seid in Münster in Westfalen.
BOCKELSON
In welcher Zeit nach Christi Geburt?
LANGERMANN
Je!
FRIESE
Er weiß auch die Zeit nicht.
WACHE
Wir zählen das Jahr 1533.
BOCKELSON
Herr, ich danke dir, daß du so an mir getan!
Breitet die Arme aus.
WACHE
Name?
BOCKELSON
Johann Bockelson.
WACHE
Herkunft?
BOCKELSON
Von vornehmer Herkunft. Ich bin der natürliche Sohn des Dorfschulzen Bockel von Grevenhagen.
WACHE
Herkommend?
BOCKELSON
Aus Leyden in den Niederlanden.
WACHE
Beruf?
BOCKELSON
Zuerst war ich Schneidergeselle, dann Schankwirt, darauf Inhaber eines bescheidenen, aber anständigen Bordells, später Mitglied der Kammer der Rhetoriker, Verfasser einiger Schwänke und endlich Schauspieler.
LANGERMANN
Je!
FRIESE
Ein Schauspieler.
WACHE
Beruf: Vagant.
BOCKELSON
Ich spielte in den Reichsstädten und Residenzen Deutschlands die großen Heldenrollen der Weltliteratur und sprach sogar Seiner Exzellenz, dem Bischof von Minden, Osnabrück und Münster in Westfalen, Fürst von Waldeck, in seiner Sommerresidenz Iburg vor.
WACHE
Nach Eurem Zustande zu schließen, seid Ihr nicht engagiert worden.
BOCKELSON
Seine Exzellenz fiel mir nach dem Vorsprechen begeistert um den Hals, doch wie ich den armen König Ödipus spielen sollte und in der Hauptprobe gerade ausgerufen hatte:
Weh! Weh!
Ach Unseliger ich! Ach! Ach!
Wohin trägt mich mein Fuß?
Wohin verweht meine Stimme?
Wohin, ach wohin
Verschlägt das Schicksal mich!
erscholl Gottes Stimme so mächtig vom Himmel herab, daß die ganze Sommerresidenz erzitterte.
LANGERMANN
Vox Dei. Ich bin in der Theologie bewandert.
BOCKELSON
Täufer! Werde Täufer! befahl die Stimme, und ich ließ mich taufen.
WACHE
Konfession: Wiedertäufer.
BOCKELSON
Ich hoffe, daß auch ihr diesem Glauben angehört.
FRIESE
Ich bin Schuster.
LANGERMANN
Ich habe das Rappeln.
WACHE
Ich muß Euch arretieren. Das Gesetz ist das Gesetz. Ihr seid dagelegen in Völlerei.
BOCKELSON
Ich war nicht betrunken, mein Freund, ich war ohnmächtig.
LANGERMANN
Animus eum reliquit. Ich habe auch Medizin studiert.
WACHE mißtrauisch
Ohnmächtig?
BOCKELSON
Vor einer halben Stunde predigte ich in den Straßen der Stadt Rotterdam.
WACHE streng
Rotterdam ist sechs Tagereisen entfernt.
BOCKELSON
Exakt.
WACHE
Ihr wäret in einer so kurzen Zeitspanne von wenigen Minuten aus Rotterdam nach Münster in Westfalen gekommen?
BOCKELSON
Der Erzengel Gabriel trug mich durch die Lüfte.
FRIESE
Durch die Lüfte?
BOCKELSON
Und zwar in einer derart sausenden Geschwindigkeit, daß wir ins Jahr 1533zurückgeflogen sind, denn wir zählten schon das Jahr 1534, als wir in Rotterdam predigten.
LANGERMANN
Magie. Faustus, Paracelsus, Agrippa –
BOCKELSON
Wir schwebten eben über Münster, als den Erzengel die Morgensonne blendete. Er schneuzte und ließ mich in diesen Karren fallen, wo ihr mich ohnmächtig aufgefunden habt.
FRIESE
Schneuzt ein Erzengel denn auch?
BOCKELSON
Es ist dies ein sanftes und wohltönendes Getöse, einem Glockendreiklang nicht unähnlich, von einer rhythmischen Erschütterung des Leibes begleitet, wobei der Erzengel beide Arme auszubreiten liebt.
LANGERMANN
Je!
WACHE
Weiß der Teufel, was sich der Erzengel Gabriel dachte, als er ausgerechnet Euch nach Münster in Westfalen trug.
BOCKELSON
Der Himmel hat Großes mit mir Unwürdigem vor, mein Freund. Die Täufer werden mich zu ihrem König wählen, der Kaiser wird mir seine Krone anbieten, der Papst von Rom nach Münster nackten Fußes wandeln, den Saum meines Mantels zu lecken, und Gott, auf seinem heiligen Richterthrone, wird mich zum Herrn der Erde erheben!
Knipperdollinck und seine Tochter Judith treten auf, beide in reicher Kleidung.
WACHE
Platz dem Bürgermeister Bernhard Knipperdollinck.
KNIPPERDOLLINCK
Nach den kummervollen Nächten voll Seufzern der Reue und voll Furcht vor der ewigen Verdammnis, voll Skrupel über Handlungen, zu denen mich der Tag und das Geschäft zwingt, liebe ich diesen täglichen Gang aufs Rathaus früh am Morgen.
JUDITH
Du hast Sorgen, Vater.
KNIPPERDOLLINCK
Kümmere dich nicht darum, mein Kind. Nach dem Tode deiner Mutter bin ich ein alter Mann geworden, Gespinsten zugeneigt und grüblerischen Gedanken.
BOCKELSON
Heil dir, Lutheraner, der du wandelst in deiner Gnade und in deinem kostbaren Pelz, eine goldene Kette auf dem Bauch und eine Tochter am Arm, keusch und wohlerzogen!
KNIPPERDOLLINCK
Wer ist dieser Mann?
WACHE
Ein Schauspieler.
JUDITH
Laß uns weitergehen, Vater.
KNIPPERDOLLINCK
Er ist in Lumpen.
WACHE
Er behauptet, ein großer Prophet der Täufer zu sein, und ein Engel habe ihn hergeflogen.
KNIPPERDOLLINCK
Warum verspottest du mich, Täufer?
BOCKELSON
Warum verfolgst du mich, Bürgermeister?
KNIPPERDOLLINCK
Ich verfolge die Täufer nicht, ich dulde sie.
BOCKELSON
Ach, daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, spricht der Herr, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.
KNIPPERDOLLINCK
Was willst du von mir?
BOCKELSON
Ich will von deinem Brot und ich will von deinem Wein. Ich will ein Kleid für meinen Leib und ein Bett für meinen Schlaf. Ich will von deinem Gold und ich will von deiner Macht.
KNIPPERDOLLINCK
Du forderst viel.
BOCKELSON
Ich biete mehr.
KNIPPERDOLLINCK
Das wäre?
BOCKELSON
Könnte es nicht sein, daß ich dir die ewige Seligkeit verschaffe?
Schweigen.
KNIPPERDOLLINCK
Ich gewähre dir, was du verlangst. Ich werde dich empfangen wie einen König. Komm, mein Kind.
Knipperdollinck mit Tochter ab.
BOCKELSON
Nun?
LANGERMANN
Je!
FRIESE
War das ’ne Einladung!
BOCKELSON
Meine Weltherrschaft nimmt ihren Lauf!
WACHE
Ich arretiere Eure Gnaden besser nicht.
BOCKELSON
Es ist noch früh am Morgen, meine Guten – ich bitte den Karren in den Schatten zu schieben und mich noch ein wenig schlafen zu lassen.
WACHE
Zu Befehl, Euer Gnaden.
Schiebt den Karren mit Bockelson hinaus. Friese folgt.
LANGERMANN
Er hört Stimmen. Ich höre Stimmen. Ich werde auch Prophet.
Im bischöflichen Palast.
Heinrich Gresbeck rollt den Bischof herein.
BISCHOF
Ich bin der Bischof von Minden, Osnabrück und Münster in Westfalen
Fürst Franz von Waldeck
99 Jahre 9 Monate und 9 Tage alt
Ich bin an beiden Beinen gelähmt, und dies seit einem Jahrzehnt
Wie es bisweilen bei Leuten meines Alters vorkommt
Ich spreche fließend Latein und Griechisch und liebe Homer und Lukian
Doch am liebsten sind mir die nichtsnutzigen Komödien
Meine Theatertruppe ist die beste und teuerste im Heiligen Römischen Reiche Deutscher Nation
Das Possenspiel unseres Lebens
Das mühsame Herumstolpern auf der Flucht vor der Wahrheit und auf der Suche nach ihr
Wird auf den Brettern leicht, ein Tanz, ein Gelächter, ein wohliger Schauer
Mitspieler in Wirklichkeit, verstrickt in Schuld, Mitwisser von Verbrechen
Brauchen wir die Täuschung loser Stunden Zuschauer nur zu sein
Heinrich Gresbeck bringt das Abendbrot. Ein Teller Suppe, ein Stück Brot, ein Glas Wein.
BISCHOF
Mein Sekretär, der einsilbige und verschlossene Kerl, der mich bedient
Heißt Heinrich Gresbeck
Der einzige, der mir noch treu geblieben ist
Aber ich höre Schritte
Es ist Bernhard Knipperdollinck, der reiche Mann