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Zu neuer Verbundenheit finden Der Legende nach war Lilith der erste weibliche Mensch und entsprang demselben Schoß wie der Mann. Eva, angeblich Adams Rippe entnommen, war Adam untertan, Lilith ihm ebenbürtig. Sie repräsentiert seit jeher die authentische weibliche Kraft und ist Inbegriff der emanzipierten Frau. Mit dem Beginn des Patriarchats endete die Zeit Liliths. Die freie und selbstbestimmte Frau wurde in die Wüste verbannt. Nach Jahrtausenden der Männerherrschaft ist Lilith zurück, sie erinnert uns – Frauen wie Männer – daran, woher wir kommen und stellt uns die Frage, welches Leben wir wirklich führen wollen. Damit sich Mann und Frau wie einst auf Augenhöhe begegnen können, müssen sich beide zunächst mit ihren »Schatten«, den dunklen, ungeliebten Aspekten ihrer Persönlichkeit auseinandersetzen, um im nächsten Schritt zu erkennen, wie sehr sie in den Jahrtausenden des Patriarchats irregeleitet waren. Doch wenn wir uns alle auf dieses Wagnis einlassen, können wir zu einem gesunden neuen Miteinander finden, auf persönlicher wie globaler Ebene.
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Seitenzahl: 181
Veröffentlichungsjahr: 2025
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1. eBook-Ausgabe 2025
1. Auflage
© 2025 Scorpio Verlag in der Europa Verlage GmbH, München Umschlaggestaltung: wilhelm typo grafisch, Zollikon
Umschlagmotiv: agsandrew / shutterstock.com
Layout und Satz: Margarita Maiseyeva
Konvertierung: Bookwire
ePub-ISBN: 9783958036161
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Für Deborah
Es kann keinen Frieden in der Welt geben,wenn Krieg in der Liebe ist.
DieterDuhm
Vorwort
Das Ende der Gleichberechtigung
Am Anfang war Lilith
Zeitenwende
Mit starker Hand
Geraubte Schöpferkraft
Wie im Himmel
So auf Erden
Born to be controlled
Unter falscher Flagge
Vom Feminismus zum Gender-Mainstreaming
Von der natürlichen zur künstlichen Vielfalt
Business as usual
Evas Erben
Abgründe der Macht
Mit offizieller Genehmigung
Im Namen des Guten
Dark side of the moon
Vatermangel und Muttergift
Den Schmerz integrieren
Aussteigen statt aufsteigen
Love, love, love
Es ist, was es ist
Bis dass der Tod
Die Rivalität überwinden
Weiche Macht
Let’s talk about Sex
Entfesselte Liebe
Vereint
Paradise found
Im Lebensfluss
Make love not war
Einfach göttlich
Alles in Ordnung
Weiterführende Literatur
Als der Heilige, gelobt sei er, den ersten Menschen allein schuf, sagte er: Es ist nicht gut für den Menschen, allein zu sein. Und er schuf für ihn eine Frau aus Erde wie ihn und nannte sie Lilith. Bald begannen sie, miteinander zu streiten. Sie sagte zu ihm: Ich will nicht unten liegen. Er aber sagte: Ich will nicht unten liegen, sondern oben, denn du bist dazu bestimmt, unten zu liegen. Sie sagte zu ihm: Wir sind beide gleichberechtigt, denn wir sind beide aus Erde geschaffen. Aber sie hörten nicht aufeinander. Als Lilith dies sah, sprach sie den erklärten Namen Gottes aus und flog in die Luft. Adam stand vor seinem Schöpfer im Gebet und sagte: Herr der Welt. Die Frau, die du mir gegeben hast, ist von mir weggegangen.
Sogleich sandte der Heilige, gelobt sei er, drei Engel hinter ihr her, um sie zurückzubringen. Der Heilige, gelobt sei er, sagte zu ihm: Falls sie zurückkehren will, ist es gut. Wenn nicht, dann muss sie es auf sich nehmen, dass jeden Tag hundert ihrer Kinder sterben. Die Engel gingen zu ihr und fanden sie inmitten der reißenden Wasser, in welchem dereinst die Ägypter ertrinken sollten. Und sie sagten ihr die Worte Gottes. Aber sie wollte nicht zurückkehren. Sie sagten zu ihr: Wir müssen dich im Meer ertränken. Sie sagte zu ihnen: Lasst mich. Denn ich bin nur dazu geschaffen worden, um Kinder zu schädigen acht Tage bei Knaben und zwanzig Tage bei Mädchen nach der Geburt.
Als sie hörten, was sie sagte, bedrängten sie sie noch mehr. Sie sagte: Ich schwöre im Namen des lebendigen Gottes: Wenn ich euch oder eure Gestalt auf einem Amulett sehe, dann werde ich keine Gewalt über das besondere Kind haben. Und sie nahm es auf sich, dass jeden Tag hundert ihrer Kinder sterben würden. Deshalb sagen wir, dass jeden Tag hundert Dämonen sterben. Deswegen schreiben wir ihre Namen auf ein Amulett für kleine Kinder. Und wenn Lilith sie sieht, dann erinnert sie sich ihres Versprechens, und das Kind ist gerettet.
Aus dem Alphabet des Ben Sira1
1Zitiert aus: Hurwitz, Sigmund: Lilith. Die erste Eva. Eine Studie über dunkle Aspekte des Weiblichen, Daimon Verlag 2023
Ich bin nämlich die Erste und die Letzte
Ich bin die Geehrte und die Verachtete
Ich bin die Dirne und die Ehrbare
Ich bin die Frau und die Jungfrau
Ich bin die Unfruchtbare und doch Kinderreiche
Ich bin das Schweigen, das unfassbare
Ich bin das Sprechen meines Namens.
TextderGnosisausDerDonner,VollkommenerVerstand
Lilith: Göttin, Dämonin, schwarze Muse, weise Frau. Als Verführerin der Männer gilt sie, als Schutzgöttin der Dirnen, Albtraum der Wöchnerinnen, Inbegriff der emanzipierten Frau. In vielen Überlieferungen ist sie das Negative schlechthin: dunkel, frustrierend, kriminell, katastrophenhaft, abnormal, vergiftend – eine Übeltäterin im schlimmsten Sinne. Kein Wesen der jüdisch-christlichen Mythologie wird so konträr rezipiert wie die rebellische Vorgängerin Evas. Ihr Mythos ging um die Welt. Sowohl bei semitischen wie auch nichtsemitischen Völkern taucht sie auf, bei Babyloniern und Assyrern, Juden und Arabern, Sumerern und Hethitern. Aus griechisch-byzantinischen, koptischen, äthiopischen, armenischen, syrischen, neugriechischen, südslawischen und russischen Legenden ist sie bekannt, denen allen eines gemeinsam ist: die Erzählung von einem gefährlichen weiblichen Dämon, der von einem oder zwei überlegenen männlichen Heiligen oder von einem Propheten überwältigt, unschädlich gemacht und schließlich vertrieben wird.
Ihr Ruf schwankt zwischen Faszination und Schrecken. Lange war Lilith in Vergessenheit geraten. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurde sie in der Kunst als Personifikation der Sünde und der Verführung wiedererweckt. In den 1960er-Jahren machte sie die jüdische Frauenbewegung zum Emblem der Emanzipation. In Videospielen und Science-Fiction-Filmen taucht sie als furchtlose und erotische Kämpferin auf. Ihr Name wird wieder gern vergeben. Erste schriftliche Zeugnisse stammen aus den sumerisch-babylonischen Kulturen Mesopotamiens. Lil-la oder Lil-lû galt als Windgeist. Im Asyrisch-Babylonischen bedeutet Lilith so etwas wie Teufelin. In der jüdischen Tradition wurde die ursprünglich babylonische Göttin Lilitû zu einer Wüstendämonin. Im Hebräischen und im Arabischen wird sie mit der Nacht assoziiert. Ihr Name steht für Anziehung, Verführung, Erotik, Schöpferkraft, Evolution, Autonomie und Freiheit. Sie wird als Nachtgespenst bezeichnet, als Schreieule, als Phantom des Bösen und der Dunkelheit, als Königin der Hexen, gleichzeitig Kindesmörderin und Geburtshelferin, Weib des Leviathans und Gemahlin Gottes. In ihrer Gegensätzlichkeit haftet ihr etwas Irritierendes an, etwas Verunsicherndes, Herausforderndes. Sie ist das eine und das andere: Nähe und Distanz, Leidenschaft und Kühle, Forderung und Verweigerung. In Zeiten tiefster Spaltung taucht sie am Himmel auf, um uns zu helfen, uns in unserer Komplexität und Widersprüchlichkeit zu verstehen und um unserer Sehnsucht nach Versöhnung und der Überwindung von Gegensätzen Ausdruck zu verleihen.
In der Astronomie ist Lilith als ein unerklärlicher Schatten bekannt, der vor der Sonne vorüberzieht. Ihr astrologisches Zeichen – ein Kreis, der in der Mitte durch eine horizontale Linie geteilt wird – symbolisiert einen Geist, der sich entlang eines Weges manifestiert. Dieser Weg ist kein leichter. Lilith gilt als die dunkle Seite des Mondes. Mond und schwarzer Mond repräsentieren zusammen die Dialektik von Sein und Nicht-Sein, Leben und Tod, Anpassung und Wildheit.
Auch wenn er nicht von der Sonne beschienen wird und wir ihn nur als Sichel sehen: Der Mond ist ganz. Im patriarchalen Weltbild jedoch wurde nur der helle Mond beibehalten und seine dunkle Seite verteufelt und ausgegrenzt. Was ursprünglich zusammengehörte, wurde zerteilt. Der Mond wurde mit der Frau assoziiert und die Sonne mit dem Mann. So gilt die Frau bis heute als passiv und dunkel und der Mann als aktiv und hell. Lilith hingegen ist eine astronomische Besonderheit. Sie ist ein sensitiver Punkt auf der Mondbahn, der nicht der Abhängigkeit von der Sonne und somit dem männlichen Prinzip unterliegt. Lilith ist frei, autonom, unabhängig. Sie repräsentiert eine Ebene, auf der die Frau nicht als das »schwache Geschlecht« gilt. Lilith fordert heraus. Sie initiiert. Wo wir einseitig sind und unsere Kreativität und unsere Leidenschaft einengen, durchkreuzt sie unsere Pläne. Wo wir glaubten, die Kontrolle zu haben, entgleitet sie uns. Was wir für wahr hielten, zieht sie in Zweifel. Lilith ist der fallende Vorhang im Welttheater. Sie kann uns ins Chaos stürzen. Doch wer sich auf sie einlässt, dem bietet sie die Chance, ganz zu werden und heil.
In der jüdisch-christlichen Mythologie beginnt Liliths Geschichte im Garten Eden. Sie war die erste Frau Adams und wie er aus der Mutter Erde erschaffen. Anders als Eva war sie dem Manne ebenbürtig. Lilith repräsentiert eine Zeit, in der Frauen und Männer gleichberechtigt miteinander lebten und sich gegenseitig ergänzten. Diese Zeit endete mit der Geschichte von einer Rippe.
Anders als Lilith hatte Eva keine Mutter. Sie wurde gewissermaßen künstlich erschaffen, erfunden von einem männlichen Geist, hervorgegangen aus einem männlichen Körperteil. Auch wenn heute kaum noch jemand an die Geschichte mit der Rippe glaubt und immer mehr Menschen sich von den christlichen Religionen abwenden: Wie keine andere hat diese Erzählung den Verlauf der Menschheitsgeschichte geprägt. Das Christentum bleibt die mit Abstand am weitesten verbreitete Religion in der Welt. Erst danach folgen Islam, Hinduismus, Buddhismus und Judentum.
Adam und Eva. Fast jeder kennt die Geschichte von einer Frau, die dem Manne untertan ist. So steht es geschrieben. So soll es von Anfang an gewesen sein. So soll es bleiben. So ist es bis heute. Bis heute verdienen Frauen auch in den Industrienationen für dieselbe Arbeit teilweise deutlich weniger als Männer. An die wichtigen Posten kommen Frauen auch heute nur selten heran. Weltpolitik wird trotz ein paar herausragender, sich dominant gebärdender Frauengestalten fast ausschließlich von Männern gemacht. Es sind die Frauen, die am schwersten an der Doppelbelastung Familie und Beruf zu tragen haben. Alleinerziehende Mütter gehören zu den am meisten benachteiligten Menschen der Gesellschaft. Wesentlich häufiger als Männer sind Frauen Opfer männlicher Gewalt. Heute wie zu Evas Zeiten: Die weibliche Hälfte der Menschheit spielt per se die zweite Geige. Bis heute verstecken sich Frauen hinter Männern und überlassen ihnen die großen Entscheidungen. Bis heute stehen die Männer vorne, während Frauen weiterhin die Arbeiten machen, die man nur sieht, wenn sie nicht gemacht werden.
Lilith betritt die Bühne in einem Moment, in dem die Menschheit an einem Scheideweg steht. Als Gaias verborgene Schwester repräsentiert sie die dunklen Anteile in uns, in denen sich gleichzeitig unsere Kraft und unsere Kreativität verbergen. Die ursprüngliche Schöpferin allen Lebens entfaltet ihre formgebende, kreative Kraft dort, wo der Schmerz am tiefsten ist. Sie steht dafür, uns vom Urteil anderer zu lösen, uns unabhängig von äußeren Realitäten zu machen und unseren tiefen Wunsch nach Selbstbestimmung zu leben.
Lilith ist kein Symbol für einen Gott oder eine Göttin. Sie steht für die Fähigkeit des Menschen, nicht nur seine Götter zu erschaffen, sondern selber zum Schöpfer zu werden. Sie repräsentiert eine Zeit, in der das Mütterliche im Mittelpunkt stand und die Gebärkraft der Frauen als eine göttliche Kraft verehrt wurde, eine Zeit, in der der Schutz des Lebens die höchste und wichtigste Aufgabe des Menschen war und in der es anstelle eines alleinherrschenden Vatergottes eine allumfassende Mutter gab, die alle ihre Kinder liebte und nährte.
Wer ist diese Frau, die das Gegensätzliche in sich vereint und das Dunkle nicht flieht? Wer ist die Frau, die jeden Tag hundert ihrer Kinder opferte, die den Namen Gottes kennt und nicht fürchtet? Wer ist die, die nicht als Messias daherkommt, sondern als Teufelsweib, das sich nicht davor scheut, dem Allerhöchsten die Stirn zu bieten? Wer ist die Widerspenstige, die für ihren Ungehorsam aus dem Paradies verbannt wurde? Wer ist dieser Stachel im Fleische eines Patriarchats, das uns glauben macht, die Welt sei schon immer von Männern beherrscht worden und es habe schon immer Kriege gegeben?
Der Weg, den wir hier beschreiten, ist kein leichter. Wie im »Königsweg« liegt eine Heldenreise vor uns.2 Auch dieses Mal geht es ums Ganze, um die Bereitschaft, uns auch mit den Schatten auseinanderzusetzen, bevor das Licht am Ende des Tunnels sichtbar werden kann. Wer könnte uns besser begleiten als Lilith? Wie keine andere hat sie erfahren, was es bedeutet, alles zu verlieren. Sie wurde vertrieben, verdammt und verteufelt. Alles wurde ihr genommen: ihre Kinder, ihr Zuhause, ihr guter Ruf. Und doch ist sie da. Durch nichts hat sie sich unterkriegen lassen. Bis heute hat sie sich ihre Ursprünglichkeit und ihre Echtheit bewahrt und die Erinnerung an die Zeit der Großen Göttin, aus der einst alles entsprang. Nicht als Jungfrau fein kommt sie daher, sondern als eine starke, sinnliche und erotische Frau, die es wagt, zu fluchen und Fehler zu machen. Nicht als brave Tochter ist sie gekommen, als Papas Liebling und Mamas Zierde, als perfekte Ehefrau und Mutter, sondern als eine, die es nicht darauf anlegt, es allen recht zu machen. Lilith eckt an. Sie hält es aus, unbequem zu sein und den Erwartungen anderer nicht zu entsprechen. Wer besser als sie wäre dazu geeignet, Antworten auf die Fragen unserer Zeit zu finden, die nicht dort ansetzen, wo die Probleme entstanden sind, sondern viel früher?
2Chavent, Kerstin: Der Königsweg, Scorpio 2024
Der Krieg ist der Vater aller Dinge.
Heraklit
Die Frauenbewegung steht heute vor einer ernüchternden Tatsache: In keinem Land der Welt wurde die Gleichstellung der Geschlechter erreicht. In Deutschland tötet jeden dritten Tag ein Mann seine Partnerin oder Ex-Partnerin. Alle vier Minuten wird ein Mann seiner Frau gegenüber gewalttätig.3 Frauen verdienen in Deutschland im Schnitt achtzehn Prozent weniger Lohn als Männer und erzielen ein halb so hohes Lebenseinkommen.4 Seit den Covid-Lockdowns ist der Anteil von Frauen an Firmengründungen noch tiefer gesunken.5 Frauen werden auch in hoch entwickelten Ländern schlecht behandelt. Soweit wir zurückdenken können, hatten Frauen die schlechteren Karten. Doch geht es uns im Vergleich zu früher heute nicht zumindest besser? So begnügen sich viele Frauen mit den Häppchen, die ihnen zugeworfen werden, und bleiben weiterhin dort, wo sie glauben hinzugehören: im Hintergrund.
»Wer ist Lilith?«, fragt Dr. Faust in Goethes Drama seinen Begleiter Mephisto. »Adams erste Frau. Nimm dich in Acht vor ihren schönen Haaren, vor diesem Schmuck, mit dem sie einzig prangt. Wenn sie damit den jungen Mann erlangt, so lässt sie ihn sobald nicht wieder fahren.«6 Vamp, Hure, Dämonin der Lust, zügellose Verführerin, Königin des Unreinen – seit Jahrtausenden geistert Lilith durch die Fantasien und Schlafzimmer der Menschen. Als verleugnete Schwester Evas taucht sie auf, die sich nicht verbiegen lässt, als Sirene, die Odysseus in der Tiefe zu verschlingen droht, als Dalila, die Samson seiner Kraft beraubt, als Judith, die den Holofernes enthauptet, als Salomé, die das Haupt Johannes’ des Täufers trägt.
Ursprünglich ist sie das Relikt eines frühen rabbinischen Versuches, die sumerisch-babylonische Göttin Belet-ili oder Belili in die jüdische Mythologie zu integrieren. Auf einer Tafel aus der Zeit um 2000 Jahre vor Christus wird sie mit dem Namen Lillake angesprochen. In der Bibel wird sie nur einmal erwähnt, in Jesaja 34,14: »In seinen Palästen werden Dornen wachsen, Nesseln und Disteln in seinen Bergen, sodass sie eine Wohnstatt für Schakale werden, und ein Gehöft für die Strauße. Da stoßen Wüstenwölfe auf Hyänen und ein Sa’ir auf den anderen. Nur dort wird Lilith rasten und findet eine Ruhestätte für sich.«
Liliths Verteufelung begann, als Adam versuchte, sie sich unterlegen zu machen. Doch Lilith wollte nicht unten liegen. Seitdem gilt sie als Archetyp des weiblichen Bösen. Als Rebellin wird sie oft Luzifer gleichgestellt, einst strahlendster Stern am Himmel, der sich wie Lilith der Autorität eines eifersüchtigen Alleinherrschers widersetzte. Heimlich soll sie sich des Nachts in die Häuser der Menschen schleichen, Frauen und Neugeborene im Kindbett töten und Männer zu verbotener Liebe verführen. Sie sauge den Männern das Blut aus und zeuge mit deren Samen ihre geifernden Höllenwesen. Die einen bringe sie dazu, homosexuell zu werden, die anderen liebe sie zu Tode.
Mit Eva betrat ein neuer Frauentyp die Bühne. Sie wurde nicht auf natürlichem Wege geboren. Mit ihrer Erschaffung kam der Gedanke in die Welt, dass nicht die Frau die Schöpferin neuen Lebens ist, sondern der Mann. Entsprechend war Eva anders als Lilith. Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin war sie bereit, dem Manne zu Diensten zu sein und ihm ihre Schöpferkraft zur Verfügung zu stellen. Im Vergleich mit der selbstbewussten Lilith war Eva folgsam und unterwürfig. Sie kannte es nicht anders. Man hatte ihr erzählt, sie habe keine andere Wahl. Es gäbe keine Alternativen. Es sei schon immer so gewesen.
Sie hat es geglaubt. Doch etwas machte ihren Glauben wanken: die Schlange. Ursprünglich ein Symbol der Weisheit, der Wiedergeburt und der Unsterblichkeit, überredete die Schlange Eva, die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen, die den Menschen verwehrt war. Unwissend sollten sie bleiben und einem gestrengen Herrgott gehorchen. Auf manchen Abbildungen hat der obere Teil der Schlange die Gestalt einer Frau: Lilith. Sie soll es gewesen sein, die Eva die Frucht der Erkenntnis reichte. Doch Eva war nicht reif dafür. Der Apfel, ursprünglich ein Symbol für Fruchtbarkeit und Liebe, wurde zum Sinnbild der Sünde und die Schlange zum Symbol des Bösen.
Mit dieser Verdrehung war Eva doppelt gestraft. Als schamlose Verführerin galt fortan auch sie, als Gliedschüttlerin, als Hure, als bloßes Auffangbetten für den männlichen Samen. Einen freudlosen Beischlaf ließ sie sich aufzwingen. Zur Sklavin ließ sie sich machen, die sich vorschreiben ließ, was sie zu tun und zu lassen hatte. Nur ganz wenige Frauen erlangten Bedeutung in einer Geschichte, die ausschließlich von Männern geschrieben wurde. Während man von Lilith hinter vorgehaltener Hand sprach, wurde von den Nachkommen Evas fast überhaupt nicht geredet. Vielen dürften auf Anhieb nicht mehr als zehn Frauen einfallen, die es zu geschichtlichem Ruhm gebracht haben.
Eine dieser Frauen war Olympe de Gouges. Sie gilt als erste moderne Kämpferin dafür, die Stimmen der Frauen in politische Entscheidungen mit einzubeziehen. Schon früh verfasste sie eine Denkschrift gegen die Sklaverei. Sie kritisierte die Behandlung unverheirateter Mütter und ihrer »Bastarde« und schrieb über das Recht, sexuelle Beziehungen auch außerhalb der Ehe zu führen. Während der Französischen Revolution wurde sie zu einer leidenschaftlichen Verfechterin der Menschenrechte der Frau, denn die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 schloss Frauen, Juden, schwarze Menschen und das gesamte Proletariat aus. Den Revolutionären ging es durchaus nicht um die Rechte aller Menschen, sondern um die Privilegien wohlhabender weißer Männer.
Erst lange nachdem Olympe de Gouges das Schafott bestiegen hatte, wurden Frauen dieselben Rechte zugestanden wie Männern. Seit 1918 dürfen sie in Deutschland wählen. 1958 trat in Deutschland das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts in Kraft. 1962 konnte die erste Frau in Deutschland ihr eigenes Bankkonto eröffnen. 1977 wurde das Gesetz geändert, nach dem die Frau die Erlaubnis ihres Mannes braucht, um arbeiten zu gehen.
Diese Errungenschaften haben nichts daran geändert, dass nach wie vor vor allem Frauen Opfer von Misshandlungen sind. In Deutschland erlebt alle vier Minuten eine Frau Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner.7 Laut des Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen für Frauen wird jede dritte Frau in ihrem Leben einmal vergewaltigt, geschlagen oder zu Sex gezwungen. Doch die Gewalt kommt nicht nur von Männern. Auch Frauen tun sich untereinander Gewalt an und verletzen sich gegenseitig. Viele sehen sich als Konkurrentinnen und treten in Zickenkriege, in denen die eine sich die andere unterlegen machen will. Anstatt aus der Unterdrückung auszusteigen, ringen sie darum, in den patriarchalen Hierarchien aufzusteigen. Eine umfassende Frauensolidarität, bei der Frauen sich mit ihren vielfältigen und verschiedenen Erfahrungshintergründen gegenseitig zuhören und unterstützen, gibt es viel zu wenig. Viele Frauen respektieren sich selber nicht und haben wenig Selbstvertrauen. Die meisten sind mit ihrem Körper unzufrieden. Viele fürchten sich vor dem Alter und geben Vermögen dafür aus, sich künstlich attraktiv zu machen. Manch eine würde lieber früher sterben als dick werden.
Mit Lilith hat die Frau die Bühne verlassen, die sich ihrer erotischen Kraft und ihrer Schönheit bewusst ist und in der sich das Sinnliche und das Göttliche vereinen. In den Jahrtausenden der Unterdrückung durch einen alleinherrschenden allmächtigen Vatergott und seine jeweiligen Stellvertreter auf Erden haben Evas Töchter das Bewusstsein ihrer Schöpferkraft und ihrer Würde verloren. Aus einstigen Göttinnen waren Gattinnen geworden, Ehefrauen, Hausfrauen, Mütter und Musen berühmter Männer, alleinerziehende Mütter und schließlich Eizellenspenderinnen, die heute durch »gebärende Personen« verdrängt werden.
Es war Liliths Entscheidung, zu gehen. Nicht mit gebeugtem Rücken und eingezogenen Schultern ist sie geflohen, sondern mit erhobenem Haupt. Sie zog sich in die Wüste zurück, dorthin, wo einst alles begonnen hatte, als die Erde noch wüst und leer war. Hier ist alles noch ursprünglich und ungestaltet. Hier würde sie gut aufgehoben sein. In der Wüste hat Lilith gelernt, lange Durststrecken zu überwinden. Mit den Ausgestoßenen hat sie sich angefreundet, mit all jenen, die sich die männliche Herrschaftswut nicht unterwerfen konnte.
Lilith hatte erkannt, dass die Zeit der ursprünglich freien und gleichberechtigten Frau zu Ende war. Sie kannte ihre Grenzen und wusste, dass sie den unerbittlichen Adam nicht würde umstimmen können. Er würde sich eines Tages aus sich selbst heraus ändern müssen, wenn er es so entschied. Bis dahin würde sie ihn in seinen Träumen besuchen. Nachts, wenn alles schlief, würde sie sich zu ihm legen und ihn daran erinnern, wie es einmal war. Nicht müde würde sie werden, im Unterbewusstsein der Menschen an eine Zeit zu erinnern, in der sich die weibliche Kraft nicht vor der männlichen beugte. Viele Jahrtausende lang würde sie das alte Wissen bewahren, die Weisheit, die sie selber gekostet und verkörpert hatte. Kein Fluch konnte sie vergessen machen. Keine Erniedrigung, keine schlechte Nachrede konnte verhindern, dass es einmal eine Zeit gegeben hat, in der das Männliche und das Weibliche einander nicht ausschlossen, sondern sich gegenseitig ergänzten und schützten.