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Das Leben ist nicht, wie oft angenommen wird, aus einem Konkurrenzkampf heraus entstanden, sondern aus Kooperation, Austausch, Zusammenschluss. Aber wo wir auch hinschauen: wir ziehen gegen das "kleine Leben" in den Krieg und zerstören die lebensnotwendige Vielfalt. Auch nützliche Bakterien werden als Feinde betrachtet und mit scharfem Geschütz bekämpft. Dabei wissen wir heute, dass Mikroorganismen, oder kürzer gesagt, Mikroben, nützlich sind und es gut wäre, mit den kleinen Lebewesen Frieden zu schließen, denn sie sind in jeder Hinsicht unsere Verbündeten.
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Seitenzahl: 154
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1. eBook-Ausgabe 2020
© 2020 Scorpio Verlag in Europa Verlage GmbH, München
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München,unter Verwendung eines Motivs von © Susanne Bainton/Getty Images
Satz und Layout: Danai Afrati
Konvertierung: Bookwire
ePub-ISBN: 978-3-95803-331-3
Alle Rechte vorbehalten.
www.scorpio-verlag.de
Für das kleine und das große Leben
Nicht indem wir uns auf das Detail stürzenund es auseinandernehmen,finden wir Antworten auf unsere Fragen und Lösungenfür unsere Probleme.Der erwachende Mensch verbeugt sichvor dem Wunder des zusammenhängenden Ganzen.
FREUND ODER FEIND?
KREATIVES MITEINANDER
Lebendige Vielfalt
Kooperation
Kleine Leibwächter
Interaktionen
GEGEN DAS LEBEN
Zerlegte Körper
Lebensretter in Not
Die Jagd ist eröffnet
Gefährliche Machtspiele
Feindbilder
DIE KLEINE REVOLUTION
Entwicklungshelfer
Auslaufmodelle
Alles ist möglich
Richtungswechsel
Landschaftspflege
Freunde fürs Leben
ZUSAMMEN LEBEN
WEITERFÜHRENDE LITERATUR
Mikroorganismen sind ein hochaktuelles und viel bearbeitetes Feld. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht etwas Neues über das kleine Leben an die Öffentlichkeit gelangt. Über viele Kanäle werden heute Bakterien, Viren und Co. einem immer breiteren Publikum zugänglich gemacht. Die Gefahr globaler Epidemien konfrontiert uns mit einem hochsensiblen Thema. Covid-19 hat uns gezeigt, dass der Umgang mit dem kleinen Leben die gesamte Erde in den Ausnahmezustand versetzen kann. Wie funktionieren die kleinsten und ältesten Bewohner unseres Planeten? Welche Macht haben sie über uns? Wie schaffen wir es, mit ihnen auszukommen und möglichst friedlich mit ihnen zusammenzuleben? Können Mikroorganismen uns helfen, den gigantischen Herausforderungen einer Zeit zu begegnen, in der unser Überleben auf der Erde ungewiss ist?
Es sind die grundsätzlichen Fragen des Lebens, die mich zu diesem Thema inspiriert haben. Als Nicht-Biologin interessieren mich die Zusammenhänge zwischen allen Lebensbereichen: Gesundheit, Ernährung, Zusammenleben. So ist hier nicht ein weiteres Werk zu dem ungeheuer komplexen und wundersamen Verhalten der Mikroben entstanden, sondern ein Überblick über das Wirken des kleinen Lebens, ein kritischer Blick darauf, wie wir damit umgehen, und die Konsequenzen und Möglichkeiten, die sich für uns daraus ergeben. Anhand dessen, was wir heute über Mikroben wissen, wird durchleuchtet, wie wir uns grundsätzlich zu dem Lebendigen stellen. Schützen wir es oder stellen wir uns ihm entgegen? Wirken wir daran mit, die Dinge immer weiter zu spalten oder sie wieder zusammenzubringen? Begegnen wir einander als Feind oder als Freund?
In einer Epoche, von der wir glaubten, alle Krankheiten besiegt und die Geheimnisse des Lebens entschlüsselt zu haben, wird zunehmend deutlich, dass wir uns geirrt haben. Zwar halten viele von uns weiter an dem Traum von der steigenden Lebenserwartung fest, doch bei vielen melden sich Zweifel, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Überall auf der Welt protestieren Menschen gegen zunehmend katastrophale Lebensbedingungen für Pflanze, Tier und Mensch. Sie engagieren sich für den Schutz des Lebendigen und führen der Gesellschaft vor Augen, dass grundsätzlich etwas nicht stimmt.
Wir wollten uns über das Leben erheben, es uns gänzlich untertan machen und werden nun zunehmend mit der Tatsache konfrontiert, dass uns das nicht gelingt. Wir sind heute verletzlicher und krankheitsanfälliger denn je. Jeder Zweite muss damit rechnen, in seinem Leben eine Krebsdiagnose zu bekommen. Herz- und Gefäßkrankheiten, Diabetes, Autismus, Alzheimer, Karies, Gicht, Morbus Crohn, Multiple Sklerose, Neurodermitis, Allergien, Übergewicht, Essstörungen, Depressionen, Burn-out, Angstzustände und Infektionen gehören zu den großen Krankheiten unserer Zivilisation. Gesunde Menschen werden in unserer Gesellschaft zu einer Rarität. Epidemien machen vor keiner Landesgrenze halt und können den gesamten Planeten in Aufruhr bringen.
Vor diesem Hintergrund wage ich mich an ein Thema, das nicht nur hochkomplex ist, sondern auch hochexplosiv. Das ist auch nach meinen Büchern Das Licht fließt dahin, wo es dunkel ist und Die Waffen niederlegen eine ganz besondere Herausforderung für mich. Den Mut dafür trainiere ich mir als ehrenamtliche Autorin für das Internetmagazin Rubikon und Mitverantwortliche für dessen Redaktion Aufwind an. Denn hier geht es darum, auch hinter die Kulissen zu blicken und sich auf neue Wege zu wagen, auf denen wir zunächst alleine sind.
Um den Schleier vor unseren Augen beiseitezuschieben – so die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Apokalypse –, muss ganz genau hingesehen werden. Hierbei können uns die Mikroorganismen helfen. Sie eröffnen uns ebenso erstaunliche wie Hoffnung spendende Perspektiven. Immer wieder zeigen sie uns, dass der Schein oft trügt. Das, was wir bisher als schmutzig, eklig oder überflüssig angesehen haben, erweist sich als absolut lebensnotwendig. Die winzigen Lebewesen, denen wir zu Unrecht immer wieder die Schuld für unsere Krankheiten zuschieben, sind im Grunde unsere besten Freunde. Vor allem gute Freunde können uns ärgern und uns zu schaffen machen. Es geht ihnen dabei nicht darum, uns zu schaden, sondern uns dabei zu helfen, uns zu unserem eigenen Besten weiterzuentwickeln.
Es erfordert Mut, diese Sicht auf die Dinge zuzulassen und das gängige Weltbild damit quasi auf den Kopf zu stellen. So geht es im Folgenden um weit mehr als um eine Darstellung des Nutzens der Mikroorganismen. Es geht darum aufzuzeigen, dass unser bisheriger Umgang mit dem kleinen Leben uns in eine Sackgasse geführt hat. Es wird an den Säulen unserer Vorstellungen zu Gesundheit und Krankheit gerüttelt und schließlich ein ganzes System infrage gestellt. Die Mikroben, diese seit Jahrmillionen trainierten Anpassungs- und Lebenskünstler, weisen uns dabei den Weg. Sie zeigen uns, dass das Leben nicht in seine Einzelteile zerlegbar ist und nur im Zusammenhängenden zu erfassen. Und schließlich konfrontieren sie uns mit der alles entscheidenden Frage: einzeln untergehen oder zusammen leben?
Unser Planet ist wie ein menschlicher Körper,
in dem jeder Mensch einer Zelle ähnelt.
DER DALAÏ LAMA
Mikroben sind die aktuellen Stars der Forschungslabore. Sie beeindrucken durch ihre Winzigkeit, ihre Anzahl, ihre Diversität, ihre ungeheure Anpassungsfähigkeit und ihre Möglichkeiten, auf alles, womit sie in Berührung kommen, Einfluss zu nehmen. Spätestens seit dem Erfolg von Giulia Enders’ Bestseller Darm mit Charme wissen wir, dass sie uns im Prinzip nichts Böses wollen. Zum Wohl aller Beteiligten bilden sie in uns, auf uns und um uns herum Partnerschaften, in denen jeweils alle, Wirt und Gast, auf ihre Kosten kommen. In bunter Vielfalt arbeiten die Mikroorganismen im Interesse des Gesamten zusammen: Sie bilden fruchtbare Lebensgemeinschaften, können sich miteinander verständigen und sich gegenseitig helfen und unterstützen. Jeder hat seinen Platz im Gefüge, und jeder hat seine Rolle zu spielen im Dienst am Leben.
7,5 Milliarden: Etwa so viele Menschen leben heute auf unserem Planeten. Um die 10 Milliarden, so wird geschätzt, werden wir im Jahr 2050 sein. Werden wir alle Lebensraum finden und Nahrung? Werden wir überhaupt noch angemessene Lebensbedingungen vorfinden? Wenn wir so weitermachen, werden in absehbarer Zeit sämtliche Ressourcen erschöpft sein, das Wasser verschmutzt, die Böden ausgelaugt und die Luft kaum noch einzuatmen. Überschwemmungen, Trockenheit, Tornados, Erdbeben, Verwüstungen, Hungersnöte und Kriege vertreiben schon heute so viele Menschen, dass der wohlhabendste Teil der reichen Nationen längst begonnen hat, sich einzumauern und Pläne für die Umsiedlung auf andere Planeten voranzutreiben.1
30 Billionen: Etwa so viele Zellen machen unseren Körper aus. Unablässig erneuern sie sich und halten uns in einem ständigen Prozess des Vergehens und Werdens am Leben. Eine Billarde: Etwa so viele Mikroorganismen helfen ihnen dabei. Unsere Körper werden von Myriaden von Kleinstlebewesen besiedelt: zwischen 10 und 100 Mal mehr als wir menschliche Zellen haben.2 Bereits im Jahr 1683 schrieb der niederländische Naturforscher und Tuchhändler Antoni van Leeuwenhoek: »Es gibt mehr Tiere auf unseren Zähnen als Lebewesen im ganzen Reich.« Mikroorganismen sind überall: im Wasser, in der Luft, in den Wolken, im Boden, im Gestein, im Wüstensand, im Polareis, in Wein und Käse, auf unserer Haut und überall in unserem Körper.3 Selbst in unserer Lunge, in unserem Magen und in unserem Gehirn, die man lange Zeit für mikrobenfreie Territorien gehalten hat, tummeln sie sich zu Milliarden. Zahlenmäßig sind sie uns in jeder Hinsicht überlegen: Während wir 22 000 verschiedene menschliche Gene in unserem Körper tragen, hat eine einzige Bakterie in uns mehr als 1000 Gene. In uns sind somit etwa 3,3 Millionen fremde Gene aktiv, 300 Mal mehr, als wir in unserem Erbgut haben. Selbst in unserer DNA sind Gene von Mikroben eingebaut. Mehr noch: Sie scheint sich aus Viren heraus gebildet zu haben. Damit stehen wir heute vor der unbequemen Frage, was wir biologisch gesehen eigentlich mehr sind: Mensch oder Mikrobe?
Einmal mehr hat unser Selbstbild einen Kratzer abbekommen. Damit haben wir einige Übung. Kopernikus konfrontierte uns einst mit der Tatsache, dass die Erde nicht das Zentrum des Universums ist, Darwin eröffnete uns, dass unsere nächsten Verwandten die Affen sind, Freud zeigte uns, dass wir nicht einmal über uns selbst herrschen, sondern zu einem großen Teil von unserem Unterbewusstsein gelenkt werden, und heute müssen wir nicht nur erfahren, dass es Maschinen gibt, die besser Schach und Go spielen als wir, sondern dass wir zu einem großen Teil aus Mikroorganismen, schlimmer noch: Bakterien, bestehen.
Micro-bios4 – das kleine Leben – ist unauflöslich mit unserer Existenz verwoben. Bakterien, Pilze, Parasiten, Viren – jene winzigen Quälgeister, über die wir die Nase rümpfen, die wir als lästige und gefährliche Verursacher von Krankheiten und Seuchen aller Art bekämpfen, die wir als Verursacher von Missernten im Visier haben und gegen die wir in unserem Alltag schweres Geschütz auffahren – erhalten langsam als unermüdliche Helfer des Lebendigen die ihnen gebührende Anerkennung. Ohne sie könnten wir nicht sein. Mikroben verdauen unsere Nahrung, versorgen uns mit Energie, befreien uns von Abfallprodukten, reinigen unseren Organismus, sorgen für Austausch und Gleichgewicht, produzieren Vitamine, die wir nicht selbst herstellen können, aber zum Leben brauchen, bestimmen unsere Blutgruppe, stimulieren und unterstützen unser Immunsystem, schützen uns vor Krankheitserregern, beeinflussen unser Essverhalten, unsere Sexualität, unsere Hirnfunktionen, unser Sozialverhalten, ja selbst unsere Gefühle und unseren Charakter. Es scheint kaum einen Aspekt unseres Lebens zu geben, an dem Mikroben nicht beteiligt sind.
Als ein kontinuierlich sich entwickelndes Ökosystem fügen sie sich zum Mikrobiom, der Gesamtheit all unserer kleinen Mitbewohner, zusammen. Alle zusammen machen sie unsere Einzigartigkeit aus. Mikrobiell gesehen ist kein Wesen dem anderen gleich. Peer Bork vom European Molecular Biology Laboratory Heidelberg vermutet sogar, dass jeder Bewohner der Erde einen ganz individuellen Mikrobencocktail mit sich herumträgt, der ihn von allen anderen Menschen unterscheidet, so wie unser Genom oder unser Fingerabdruck. Um uns herum bilden die Mikroorganismen, die unsere Haut besiedeln, einen natürlichen Säureschutzmantel. Wo sie siedeln, können Bakterienarten, die nicht dorthin gehören, sich nicht niederlassen. So hindert zum Beispiel Staphylococcus epidermidis seinen uns unangenehm werden könnenden Artgenossen Staphylococcus aureus daran, es sich auf uns gemütlich zu machen.
Die meisten Bakterien leben dort, wo es feucht und warm ist. Auch auf glatten Flächen und in Flüssigkeiten schließen sie sich zu sogenannten Biofilmen zusammen, glitschigen und wasserhaltigen Schleimschichten oder Belägen, denen selbst mit scharfen Mitteln schlecht beizukommen ist. Die Arten variieren von einer Körperzone zur anderen und sind teilweise so verschieden, dass bestimmte Besiedlungen eher der eines anderen Menschen als der eigenen ähneln. Die Übereinstimmung der Bakterienarten auf unseren beiden Händen zum Beispiel beträgt gerade mal 17 Prozent.5 Das liegt vor allem daran, dass wir sie für verschiedene Tätigkeiten einsetzen. Entsprechend formt und verändert sich die Wohngemeinschaft ihrer Siedler.
Pro Stunde verteilen wir etwa 30 Millionen Bakterienzellen um uns herum. Sie fallen uns aus dem Gesicht und vom Körper, wir atmen, niesen, husten und spucken sie aus. So lebt jeder von uns in einer Art Mikrobenwolke und hinterlässt eine unsichtbare Spur hinter sich.6 Nichts hält die Kleinen auf, keine Maske, keine Handschuhe oder Kleidung. Dort, wo wir uns hinsetzen, erwartet uns schon der Mikrobencocktail unseres Vorgängers. So wie wir nicht ins Wasser steigen können, ohne nass zu werden, so können wir es nicht vermeiden, in jedem Augenblick unseres Lebens mit Mikroben in Kontakt zu sein. Und das ist gut so. Denn im Gegensatz zu Louis Pasteur, der so weit ging zu glauben, ein gesunder Körper sei steril, wissen wir seit Langem, dass wir ohne Mikroben sterben. Sie sind allgegenwärtig und bestimmen so gut wie jede unserer Körperfunktionen. Sie sind es auch, die für unseren Körpergeruch verantwortlich sind. Sie ernähren sich von den Aminosäuren, die in unserem Schweiß enthalten sind, und setzen bei den Stoffwechselprozessen mehr oder weniger angenehme Gase frei. Ob wir jemanden »gut riechen« können, liegt also auch an den Mikroben, die seinen Körper besiedeln. Mikroorganismen haben demnach sogar bei der Wahl unseres Partners ihre Finger mit im Spiel.7
Vier Stunden im selben Raum reichen aus, um ein Leben lang den Mikrobenabdruck eines anderen Menschen mit uns herumzutragen. Wenn wir eng zusammenleben oder arbeiten, gleichen sich unsere Mikrobiome einander an. Die Mikroben des einen erfassen die Mikroben des anderen nicht als unliebsame Eindringlinge, sondern heißen sie willkommen und arbeiten mit ihnen zusammen. Gemeinsam entwickeln sie einen stärkeren immunologischen Schutz aller Beteiligten.8 Begegnungen, Austausch und Nähe mit anderen tun uns also nicht nur emotional und seelisch gut, sondern auch unserer körperlichen Gesundheit. Auch aus diesem Grund ist Küssen gesund. Die rund 4000 Bakterien, die dabei ausgetauscht werden, schützen zum Beispiel unsere Zähne vor Karies und Parodontose. Treten wir also zu wenig mit anderen Lebewesen in Kontakt, dann tun wir unserem Mikrobiom und damit unserer Gesundheit und dem Gleichgewicht unseres Organismus keinen Gefallen.
Je vielfältiger die Besiedlung, desto mehr Schutz bietet sie. Darin sind sich die Forscher einig. Mücken zum Beispiel scheinen sich eher für Menschen mit einseitiger Besiedlung zu interessieren. In einer holländischen Studie konnte nachgewiesen werden, dass Menschen, die viele verschiedene Bakterienarten auf der Haut tragen, seltener vom Malariaüberträger Anopholes gambiae heimgesucht werden.9 Insgesamt scheint zu gelten: Je mehr unterschiedliche Mikroben es gibt, desto besser funktioniert die Zusammenarbeit. Diese Erkenntnis macht sich heute bereits die Kosmetikindustrie zunutze. Es gibt zunehmend Pflegeprodukte, die auf der Basis von Mikroben hergestellt werden. Eine bis vor Kurzem noch unvorstellbare Neuerung. So vergleicht Caroline Nègre aus der Forschungsabteilung von Biotherm die aktuellen Entdeckungen zu der Kooperation Mensch – Mikrobe sogar mit einer Mondlandung.10 Sie revolutionieren nicht nur unser Verhältnis zu unserem eigenen Körper, sondern auch zu anderen Lebewesen und damit letztlich auch zum Leben. Das, was vor Kurzem noch als ekelhaft galt, benutzen wir heute als teure Pflegeprodukte. Das, von dem wir bisher glaubten, es mache uns krank, trägt in Wirklichkeit zu unserer Gesundheit bei.
Auch die Medizin nutzt diese Erkenntnisse. Junge Start-up-Unternehmen entwickeln eine ganz neue Art von Medikamenten, die auf dem Zusammenwirken von Bakterien basieren. Ein Team an der Technischen Hochschule Zürich arbeitet beispielsweise daran, mit sogenannter Bakterientinte medizinisch nutzbares Gewebe herzustellen.11 Erst jetzt beginnen wir zu erkennen, wie wichtig die Rolle ist, die Mikroben für unser Leben und unsere Gesundheit spielen. Es wird daran geforscht, wie bestimmte Kombinationen von Mikroorganismen fehlerhafte Vorgänge regulieren und gestörte Balancen wiederherstellen können. Im Fokus stehen in diesem Fall nicht Chemikalien und synthetisch hergestellte Wirkstoffe, sondern lebendige Organismen, die dem Körper auf natürliche Weise helfen können.
Einer der aktuellen Höhepunkte der Mikrobenforschung ist die Stuhltransplantation. Es handelt sich dabei nicht um den Umzug von Möbeln. Um den sich rasant ausbreitenden Störungen und Erkrankungen des Darms wie Reizdarm, Morbus Crohn, Glutenunverträglichkeit, Nahrungsmittelallergien, Übergewicht, Diabetes, chronischer Verstopfung und auch Nervenerkrankungen wie Multipler Sklerose entgegenzuwirken, injiziert man Menschen mit kranker und verarmter Darmflora verdünnte Fäkalproben gesunder Menschen. Die Idee für diese Art von Therapie ist nicht neu. Sie wird seit Langem zum Beispiel in der chinesischen Medizin angewendet und existiert bei uns bereits seit den 50er-Jahren. Sie erhielt jedoch erst nach der Veröffentlichung einer Studie im renommierten The New England Journal of Medicine im Jahr 2013 besonderes Interesse. Erstmals war es Ärzten gelungen, das hartnäckige, oft tödliche und vor allem in Krankenhäusern grassierende Clostridium difficile, das sich nach einer Antibiotikabehandlung und aufgrund fehlender Konkurrenz in der Darmflora ausgebreitet und zu einer lebensgefährlichen Durchfallerkrankung geführt hatte, endgültig zu vertreiben.
Mikroben sind uns also vor allem eins: nützlich. Unsere heute immer noch weitverbreitete Angst vor ihnen ist in den allermeisten Fällen unbegründet. Nur etwa ein Prozent aller Arten kann dem Menschen unter bestimmten Umständen gefährlich werden. Normalerweise haben wir von ihnen nichts zu befürchten.12 Ein intaktes Immunsystem sorgt immer wieder für Gleichgewicht und ist dazu in der Lage, eventuell auftretende Fehlbesiedlungen auszugleichen. Über Entzündungen, Schwellungen, Schmerz und Funktionseinschränkungen spüren wir dann, dass unser Körper gerade dabei ist, sich von seinen unliebsamen Gästen zu verabschieden. Fieber, Husten, Schnupfen oder Wundsekrete sind Zeichen dafür, dass die Entsorgung funktioniert. Die Selbstheilungskräfte unseres Körpers sind so angelegt, dass pathogene Erreger ganz von selbst wieder ausgeschwemmt werden. Die subtilen und perfekt aufeinander abgestimmten Prozesse in unserem Körper sind stets darauf ausgerichtet, uns so lange wie möglich unter besten Bedingungen am Leben zu halten. Dem können wir vertrauen. Denn wäre dies nicht so, würden wir heute nicht leben.
Auch wenn es uns immer wieder anders weisgemacht wird: Leben entsteht weniger aus Konkurrenz heraus, sondern vielmehr aus einem fruchtbaren und abwechslungsreichen Miteinander. Nur wenn Lebewesen miteinander teilen und sich austauschen, kann sich immer wieder Neues bilden. So ist es mit allem, was wir bisher erforscht haben, seitdem vor mehr als 4,5 Milliarden Jahren die Erde aus einer gigantischen Gaswolke heraus entstand. Es dauerte noch fast eine Milliarde Jahre, bevor sich aus der brodelnden Ursuppe heraus die ersten kernlosen Einzeller entwickelten. Vor etwa drei Milliarden Jahren tauchten erste Bakterien auf, die die Basis aller höher entwickelten Lebensformen wurden. Aus ihnen ging alles weitere Leben hervor. Mit dem Freisetzen von Sauerstoff schufen sie die Bedingungen für das heutige Leben auf der Erde. Nachdem sich das Leben lange zunächst nur im Wasser entwickelt hatte, begannen vor etwa 500 Millionen Jahren Algen und Insekten, das Land zu besiedeln. Vor ungefähr 200 Millionen Jahren entstanden erste Säugetiere und vor etwa 300 000 Jahren, kaum auf der Zeitleiste erkennbar, der Frühmensch Homo sapiens, »der mit Weisheit begabte Mensch«.
Die Evolution schafft ständig Neues, ohne dass das Alte dabei zwangsläufig verschwindet. Auch wenn die einen Nahrung für die anderen sind, so ist das Prinzip des Lebendigen keineswegs Kampf, Töten und Vernichten, sondern ein immerwährendes Streben nach Verbindung und Zusammenschluss. Seine Antriebskraft ist die Symbiose: zusammen für das Leben.13 Aus der Symbiose von ein- oder wenigzelligen Bakterien und Archaeen – sogenannte Prokaryoten mit Zellen ohne Zellkern – haben sich vor 1,7 Milliarden Jahren die Eukaryoten entwickelt, Einzeller mit Zellkern. Aus ihnen entstanden später, so die Evolutionstheorie, Pflanzen, Vögel, Reptilien, Säugetiere und schließlich auch wir. Die Voraussetzung für die Entstehung komplexer Lebensformen war die Einwanderung von Bakterien in einen Vorgänger der eukaryotischen Zellen, aus denen sich die Mitochondrien gebildet haben, die kleinen Kraftwerke innerhalb unserer Zellen, die Sauerstoff in Energie verwandeln und damit die Zellen und den gesamten Organismus erst lebensfähig machen.