9,99 €
Mädels, verbündet euch! Deutschlands beliebteste Mädchen-Bande jetzt farbig illustriert. Sprotte und ihre Freundinnen kommen einfach nicht dazu, ihr Bandenleben zu genießen. Melanie befürchtet, schwanger zu sein. Frieda entdeckt, dass ihr Vater eine Freundin hat. Und Wilma will die Schule schmeißen, um Schauspielerin zu werden.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Oberhuhn Sprotte versteht die Welt nicht mehr: Warum hat es Fred auf einmal nur so eilig mit dem ersten Mal? Melanie hat ein Geheimnis, Frieda trennt sich von Maik und verliebt sich neu und Wilma will endlich Schauspielerin werden. Da bleibt für Klassenfahrt und Bandenspaß kaum noch Zeit. Doch als die Wilden Küken den Hühnern das Leben schwer machen, geben sie sich natürlich nicht gleich geschlagen. Und auch gegen die Pygmäen halten sie – meistens zumindest – zusammen. Denn Sprotte, Frieda, Melanie, Wilma und Trude bleiben beste Freundinnen – für immer!!
Die beliebteste Mädchenbande aller Zeiten – jetzt mit vielen farbigen Bildern von Florentine Prechtel
Sprotte kritzelt eine Wolke in ihr Notizbuch. Hühner können ja nicht fliegen, heißt es. Allenfalls flattern. Sprotte schaut aus dem runden Flugzeugfenster. Nichts als blauer Himmel und darunter ein weißes Wolkenbett. Und ob Hühner fliegen können! Sprotte lächelt. Sie als Oberhuhn der Wilden Hühner muss es ja wissen. Die Wilden Hühner waren eine echte Mädchenbande – Freundinnen durch dick und dünn sind sie noch immer: Sprotte, Frieda, Trude, Melanie und Wilma.
Und dann gibt es natürlich noch die Pygmäen. Genauer gesagt, vier: Fred, Willi, Torte und Steve. Früher waren die Pygmäen die ärgsten Feinde und Manchmal-Freunde der Wilden Hühner. Inzwischen sind sie eher die ärgsten Freunde und nur noch manchmal Feinde, dann aber auf alle Fälle Lieblingsfeinde.
Sprotte kritzelt weiter in ihrem Notizbuch. Aus der Wolke wird ein Huhn. Was sonst. Und es kann natürlich fliegen! Sogar über den Atlantik. In elftausend Metern Höhe. Der Pilot hat das vorhin durchgesagt.
Sprotte atmet gegen die Fensterscheibe und malt mit dem Finger ein »F« in den Nebelhauch. Wie damals im Bus.
Aber jetzt sitzt Sprotte erst mal auf ihrem Fahrrad …
Sprotte trat wie wild in die Pedale. Und wenn sie noch so keuchte und ihr jeder Atemzug in die Lunge stach, sie wollte weg. Nur weg. Wegfahren und nirgends ankommen. Einfach nur fahren. Sprotte musste einer dicken Frau auf Rollerblades ausweichen. Ein Auto hupte. Sprotte fuhr vorbei an den Altglascontainern, ein Stück auf dem Gehweg, quer über den Spielplatz und stand schließlich vor ihrer Haustür. Das Fahrrad hatte den Heimweg ganz allein gefunden. Ich hasse die Liebe, dachte Sprotte, als sie ihr Fahrrad abstellte. Und ich hasse Fred. Sprotte verdrehte die Zahlenringe an ihrem Fahrradschloss. Dann bin ich eben eine Jungshasserin, na und?! Sie rannte die Treppe hoch zu ihrer Wohnung. Und ich hasse mich selbst, dachte sie, drückte die Tür auf und hielt die Luft an. Sprotte presste sich an die schmale Wand neben der Küchentür und linste hinein. Und ich hasse, dass ich so schlecht in Englisch bin, murmelte die Stimme in ihrem Kopf. Sprotte atmete durch, schob die Küchentür auf und begrüßte ihre Lehrerin, die mit Sprottes Mutter am Tisch saß. »Hallo, Frau Rose, Mam.«
Frau Rose und Sprottes Mutter sahen sie eine Sekunde wortlos an.
»Es gibt Moussaka«, sagte Sprottes Mutter schließlich und holte eine Aluform aus dem Backrohr. Frau Rose lächelte nur, wie sie immer lächelte, irgendwie klug und geduldig.
»Musst du mir was Unangenehmes beibringen, Mam?« Sprotte redete einfach drauflos. »Oder warum hast du mitten in der Woche Essen beim Griechen geholt?!« Sie verschränkte trotzig die Arme und versuchte, die Anwesenheit ihrer Lehrerin zu ignorieren. »Ich soll Oma wohl wieder mal beim Umgraben helfen? Oder unser Kellerabteil aufräumen? Oder …«
»Das Essen hat Frau Rose mitgebracht.« Sprottes Mutter kramte in der Schublade nach einer Bratschaufel.
Sprotte sah prüfend in Frau Roses Augen. Wahrscheinlich war die Geduld ihrer Lehrerin jetzt gleich aufgebraucht. Sprotte wollte sich nichts anmerken lassen und machte auf lässig. »Die Fünf in Englisch war immerhin schon besser als die Sechs beim letzten Mal.«
Frau Rose nahm schnell ein Küchentuch und hielt damit die heiße Aluform fest, aus der Sprottes Mutter die erste Portion Moussaka hievte.
»Ich brauche keine Nachhilfe, Mam.« Sprotte konnte nicht anders, als ihrer Mutter die Teller anzureichen. »Frieda hilft mir.«
»Es geht gar nicht um Englisch. Auch wenn du dir das mit der Nachhilfe überlegen solltest.« Frau Rose wischte mit dem Küchentuch einen Moussakafleck von der Tischplatte. »Es geht um unsere Klassenfahrt.« Frau Roses Blick wanderte zu Sprottes Mutter. Die drückte Sprotte Besteck in die Hand. »Iss, sonst wird es kalt.«
Sprotte fühlte mit der Hand nach dem kleinen Kompass in ihrer Hosentasche. Ein Kompass soll einem die richtige Richtung zeigen, Sprotte aber war jetzt restlos verwirrt.
»Ich komm mit auf Klassenfahrt.« Ihre Mutter klang begeistert. »Ich fahr den Bus!«
»Wie bitte?«, fragte Sprotte. Dabei hatte sie jedes Wort verstanden. Jedes der Worte, die das Fass in ihr jetzt zum Überlaufen brachten.
Frau Rose rückte mit ihrem Stuhl näher. »Umberto kann uns nicht fahren, er muss zu Hause bleiben.«
»Seine Frau hat gestern ihr Baby drei Wochen zu früh bekommen.« Sprottes Mutter setzte sich jetzt ebenfalls. »Endlich kommt mein Führerschein Klasse D zum Einsatz.«
Als vor zwei Jahren das Taxigeschäft nicht so gut lief, wollte der Boss von Sprottes Mutter auf Kaffeefahrten umstellen und seine Fahrer mussten alle den Busführerschein machen.
Sprotte sah, wie sich der Mund ihrer Mutter bewegte, dann der von Frau Rose, dann beide gleichzeitig, aber Sprotte hörte nur noch das Rauschen in ihren Ohren. Gleich würden ihr die Nerven durchgehen. Sie würde losheulen, rumschreien oder die Moussaka an die Wand knallen.
Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen funktionierten ihre Ohren wieder.
»Fred und du, ihr seid einfach Luft für mich, hörst du, Sprotte?« Ihre Mutter lächelte und hob schwörend die Hand. »Ich werde immer im richtigen Moment wegschauen.«
Sprottes Finger hielten noch immer den Kompass in ihrer Hosentasche umklammert. Fred und ich, dachte sie. Aber ihre Stimme sagte: »Entschuldigung, aber ich muss jetzt in mein Zimmer. Wir haben höllisch viele Hausaufgaben auf. Frag Frau Rose.«
Frau Roses Augen wirkten besorgt, als Sprotte aus der Küche lief.
Ein paar Schritte kam ihre Mutter ihr nach. »Sprotte, ich versteh ja, dass dir das nicht recht ist, die eigene Mutter mit auf Klassenfahrt, aber …«
Den Rest hörte Sprotte nicht mehr, weil sie ihre Tür zuknallte.
Sprotte hockte auf ihrem Bett und starrte auf den Kompass. Er war aus Messing, schon etwas nachgedunkelt, in den Fugen fast schwarz. Die abgegriffenen Stellen aber waren blank und golden. Die Kompassrose sah aus wie ein Stern. Die Richtungen waren abgekürzt. »W« wie Westen, »N« wie Norden, »O« wie Osten, »S« wie … Sprotte. Weinte sie jetzt tatsächlich? War das nicht total albern und dumm? Hier auf ihrem Bett zu hocken und zu heulen, weil es so viele Richtungen auf der Welt gab, dass sie sich selbst mit einem Kompass in der Hand nicht mehr zurechtfand? Weil die eigene Mutter mit auf Klassenfahrt ging? Und weil sie es nicht fertigbrachte, mit ihr darüber zu reden, obwohl man mit Sprottes Mutter eigentlich über alles reden konnte? Wenn jetzt wenigstens ihr Vater da gewesen wäre. Sprotte holte ihre selbst bemalte Keksdose unterm Bett hervor. Sie machte den Deckel auf. Da war der Bernstein drin, der gar kein Bernstein war und den sie auf ihrer allerersten Klassenfahrt am Strand gefunden hatte. Und da war auch die Strähne aus der Mähne von Snegla, dem Islandpferd, das Sprotte nie in ihrem Leben vergessen würde. Sie schob ihr Notizbuch und den Füller mit unsichtbarer Tinte beiseite und nahm die Kette heraus, die ihr Vater ihr vor ewigen Zeiten geschenkt hatte. Langsam, fast andächtig ließ sie die winzigen silbernen Blätter durch ihre Finger gleiten. Die Kette war wohl eher ein Abschiedsgeschenk gewesen. Sprottes Vater war nie für sie da gewesen und würde es wohl auch nie sein. Nicht, als sie ein Baby war, nicht, als sie ein Kind war, und jetzt, wo sie erwachsen … Sprottes Gedanken stolperten. War sie jetzt erwachsen? War das Erwachsenwerden? Da konnte sie echt drauf pfeifen. Sprotte legte die Kette zurück und wollte eben auch den Kompass in die Keksdose packen, aber er lag so schön und schwer zugleich in ihrer Hand, dass sie ihn nicht loslassen konnte. In welcher Richtung wohl Australien lag? Sprotte drehte sich ein Stück. Die Kompassnadel zitterte, behielt aber ihre Richtung bei. Sprottes Vater fotografierte jetzt für irgendein Reisemagazin. Wüsten oder Wasserfälle. Menschen bei der Arbeit oder Städte bei Nacht. Weit weg in Südost. Die letzte Nachricht hatte Mam aus Sydney bekommen. Dass er doch noch länger bleibt als geplant. Bevor er dann den Fototrip nach New York macht. So war das immer.
Auf dem Kompass gab es auch Zwischenrichtungen. »SSO« für Südsüdost zum Beispiel. Oder »NNW« – für nie, nie wieder?!
»Damit wir uns nicht verlieren«, hatte Fred gesagt und ihr den Kompass geschenkt. Und wenn das Verlieren genau damit angefangen hatte? Eine Träne tropfte auf das Notizbuch in der Keksdose und Sprottes Gedanken wanderten ein paar Stunden zurück.
Sprotte wartete neben dem Wohnwagen und zählte die Hühner im Pferch. Emma, Isolde, Huberta, Dolli, Klara, Kokoschka die Zweite, auch Chagall genannt … Alle da.
Der Wohnwagen war das Bandenquartier der Wilden Hühner. Aber von den echten Hühnern im Pferch einmal abgesehen, war Sprotte heute das einzige Wilde Huhn hier. Keine Frieda, keine Melanie, keine Trude und keine Wilma. Nur Sprottes Rad lag auf der Wiese. Und daneben das von Fred. Sprotte schloss die Augen und roch die Wiese, den Sommer und die Blumen. Hahnenfuß, Schafgarbe und verblühten Löwenzahn. Und auf Friedas Gemüsebeeten wuchsen Salat und Schalotten, Schnittlauch und Rosmarin, der allein so duften konnte wie ein ganzes Pinienwäldchen am Mittelmeer.
»Sprotteeee!«
Sprotte pustete die Reste der Rosmarinnadel, die sie zwischen ihren Händen zerrieben hatte, ins Gras. Ihr Herz klopfte. »Ja?!«
»Kannst jetzt kommen!« Die Wohnwagentür ging auf, Fred streckte ihr seine Hand entgegen, Sprotte ergriff sie und wurde in den Wohnwagen gezogen.
»Alles Gute zu unserem Jahrestag.« Fred ließ ihre Hand auch drinnen nicht los.
Ein Kuchen mit zwei Kerzen stand da und es roch nach Sprottes Lieblingstee Dschungelfeuer.
»Ein Zehntel Hühnerleben.«
Fred ließ ihre Hand los und zündete schnell noch die Kerzen an. Er lächelte sein wunderbares Fredlächeln. »Wie? Ein Zehntel Hühnerleben?«
»Oma sagt, dass Hühner zwanzig Jahre alt werden können. Und wir sind jetzt …«
»… genau zwei Jahre zusammen.« Fred holte unter der Decke, die über die Liegefläche gebreitet war, ein Päckchen hervor und überreichte es Sprotte. »Aber erst musst du die Kerzen auspusten.«
Sprotte pustete die Kerzen aus und wünschte sich, diesen Augenblick nie zu vergessen. Und dann packte sie gleichzeitig das Päckchen aus, mampfte Kuchen, trank Tee und ließ sich von Fred küssen.
»Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie’s ohne dich ist«, flüsterte sie.
Während Freds Finger durch ihre Haare strichen, wickelte Sprotte die letzte Schicht Geschenkpapier von dem Päckchen und hielt einen kleinen, altmodischen Kompass in der Hand.
»Den hab ich von meinem Opa«, sagte Fred. »Die blaue Spitze zeigt nach Norden und die rote …«
»Ich weiß, wie ein Kompass funktioniert«, unterbrach ihn Sprotte.
Aber Fred ließ sich nicht beirren. » … und die rote zeigt auf mich.« Er stellte sich vor Sprotte und den Kompass. »Damit wir uns nicht verlieren.«
Sprotte sah ihr Spiegelbild in seinen Pupillen. Fred zog Sprotte auf die Liegefläche und küsste sie. Plötzlich krabbelte seine Hand unter ihr T-Shirt. Sprotte musste prustend loslachen und fing an, ihn ebenfalls zu kitzeln. Aber Fred lachte nicht. Er hob den runtergefallenen Kompass auf, steckte ihn in Sprottes Hosentasche und nestelte dann an ihrem Hosenbund rum.
»Hey.« Sprotte zog die Knie an.
Freds Hand rutschte zwischen ihre Knie. »Was ist denn?«
»Hier sind überall Kuchenkrümel.« Sprotte wischte unsichtbare Kuchenkrümel von der Decke.
Fred hielt ihre Hände fest. »Als du vorhin die Kerzen ausgepustet hast. Da hab ich mir was gewünscht.«
Sprotte schwieg. Ihr Herz klopfte – aber ganz anders als vorhin.
»Ein Zehntel Hühnerleben ist doch eigentlich lang genug, um …« Fred redete nicht weiter, aber Sprotte wusste genau, was er meinte. »Jetzt? Sofort?«
»Komm, das passt doch heute total!«, flüsterte Fred und zog sie näher an sich.
In Sprotte spannte sich ein Bogen – aber dann sauste nicht ein Pfeil davon, sondern Sprotte.
Erst an ihrem Rad holte Fred sie ein. »Was soll das, Sprotte? Wieso nicht?«
Letzten Freitag, nach dem Kino, als sie den Bus verpasst hatten und Fred sie die zwei Stunden zu Fuß nach Hause begleitet hatte, da hatte sie sich gewünscht, dass er noch mit rauf in ihr Zimmer käme. Sprottes Mutter fuhr mit dem Taxi Nachtschicht. Aber Fred wollte sich bloß ihr Rad ausleihen, um schneller zu Hause zu sein. Oder neulich, als sie und Fred allein im Baumhaus der Pygmäen waren. Da hatte Fred Bammel davor. Das hatte Sprotte genau gespürt und es war auch in Ordnung gewesen. Aber jetzt …
Jetzt hielt Fred ihr Fahrrad fest. »Du hast Schiss, oder?«
Sprotte wollte all das sagen, aber was sie herausbrachte, war bloß Gestotter: »Ich … ich, hätte mich nur gern, also … Wenn ich das gewusst hätte …«
»Wenn du es gewusst hättest?« Freds Fredlächeln war verschwunden, als hätte es nie existiert. »Hättest du noch in der Bravo gelesen, oder was?«
Sprottes Eingeweide verknoteten sich. »Ich hab meiner Mam versprochen, pünktlich zu Hause zu sein.« Sie schwang sich auf ihr Rad.
»An unserem Jahrestag willst du zu deiner Mutter? Super!« Beleidigt kickte Fred eine Kleeblüte durch die Luft. »Vielleicht stimmt es ja, was die andern sagen.«
Schon im Fahren drehte Sprotte sich um. »Was sagen denn die andern?«
»Dass du eine Jungshasserin bist.«
Sprotte trat wie wild in die Pedale.
Und jetzt hockte sie auf ihrem Bett, sah dabei zu, wie eine Kompassnadel nach Norden zeigte, und wartete darauf, dass das Telefon klingelte. Tat es aber nicht.
Nur ihre Mutter steckte den Kopf rein. Einen Augenblick lang befürchtete Sprotte tausend Fragen, aber ihre Mutter sagte bloß Bescheid, dass sie ihre zweite Schicht mit dem Taxi fahren würde. Sprotte holte das Telefon. Erst wollte sie Freds Nummer wählen, wählte aber dann die von Oma Slättberg, um sie zu fragen, ob sie sich während der Klassenfahrt um Sprottes Hühner kümmern könnte, aber Oma Slättberg ging wieder mal nicht ran. Sicher war sie im Garten und hörte das Telefon nicht. Also beschloss Sprotte, zu ihr hinzufahren.
Als sie die Abkürzung am Wäldchen vorbei nahm, hörte Sprotte Stimmen vom Badeweiher her. Das waren die Pygmäen. So konnte nur Torte lachen. Und jetzt hörte sie Willi. »Mann, Steve, wo wirfst du denn hin?!«
Sprotte schob ihr Rad zwischen die Bäume und schlich sich weiter durchs Unterholz. Die Pygmäen standen alle im seichten Wasser und spielten Wasserball. Auch Fred war dabei. Er reckte die Hände in die Luft. »Zu mir, Torte, ich bin frei!«
»Wer mit dem Oberhuhn geht, ist niemals frei!« Torte warf.
Unwillkürlich drückte Sprotte sich tiefer ins Gebüsch.
Eben versuchte Willi, Fred den Ball abzujagen. »Wieso bist du denn überhaupt hier? Ihr habt doch heute Silberhochzeit?!«
Sprotte hörte ihren eigenen Atem.
Fred antwortete nicht.
»Kann es sein, Boss, dass du und Steve die einzigen Jungfrauen hier im Wasser seid?« Torte kriegte sich nicht mehr ein vor lauter Kichern. Bis Steve ihn unter Wasser tauchte. »Angeführt von Oberjungfrau Torte.«
Aber da tauchte Torte auch schon wieder auf und prustete: »Wisst ihr eigentlich, dass die Frauen in Skandinavien viel lockerer sind?«
»Als wer?« Willi drehte den Ball jetzt auf seinem Finger.
»Als Sprotte zum Beispiel.« Torte spritzte Fred Wasser ins Gesicht. »Hab ich recht, Boss?«
Fred nahm Willi den Ball weg und schleuderte ihn Torte an den Kopf. »Muss ja nicht unbedingt Sprotte sein.«
Sprotte blieb die Luft weg. Hatte Fred das jetzt wirklich gesagt?
»Wie meinst du das?«, fragte Willi.
»Erzähl, wir wollen alle heißen Details.« Torte pustete auf seine Finger, als hätte er sie sich eben verbrannt. Und Steve bekam den Mund nicht mehr zu.
Aber anstatt zu antworten, warf Fred den Ball ans Ufer. »Wer als Erster an der Sumpfinsel ist!« Gefolgt von den anderen Pygmäen schwamm er los.
Einen ewigen Augenblick lang stand Sprotte nur da und versuchte sich einzureden, dass Fred das bloß so dahingesagt hatte, um vor den andern gut dazustehen, und dass sie nicht schon wieder eifersüchtig werden müsste und dass ihr das kein bisschen was ausmachte. Aber irgendwie glaubte sie sich das alles selbst nicht. Sie wollte schon zurück zu ihrem Rad, da blieb ihr Blick an dem Kleiderhaufen der Pygmäen hängen.
Sprotte hörte Bella schon freudig bellen, noch bevor sie in den Weg zum Häuschen ihrer Oma einbog. Schon komisch, das Herz konnte ihr noch so schwer sein, wenn Bella sich so freute, freute Sprotte sich mit.
»Wie siehst du denn aus?«, moserte Oma Slättberg, kaum dass Sprotte das quietschende Gartentor hinter sich geschlossen hatte, wobei Bella ihr um die Beine strich. »Hat deine Mutter dir nicht beigebracht, dich zu kämmen?«
»Doch.« Sprotte fuhr sich durch die Haare. Ihre Haarspange war weg. Auch das noch.
Oma Slättberg schüttelte den Kopf. »Dass Sybille dich so aus dem Haus lässt?!«
Auf diese Art wurde man meistens von ihr empfangen. Kein Ach, wie schön, dich zu sehen, Sprotte. Kein Wie geht es dir denn? Alles klar bei dir und deiner Mutter? Kein Wohin geht eigentlich eure Klassenfahrt?
»Hilf mir lieber, bevor du hier nur wieder mit dem Hund rumtobst!« Oma Slättberg warf Sprotte eine kleine Gartenharke hin und zeigte auf das Unkraut zwischen ihren Salatpflänzchen. Oma Slättberg fand solche Hilfe mehr als selbstverständlich.
»Das Leben muss mühsam und freudlos sein, sonst stimmt was nicht!« So fasste Sprottes Mam die Philosophie ihrer eigenen Mutter immer zusammen.
Sprotte fing an, Unkraut zwischen den Salatpflänzchen zu zupfen, und spielte ihrer mürrischen Oma eine nette Oma vor. »Hallo, Sprotte«, säuselte sie mit verstellter Omastimme. »Wie schön, dich zu sehen, wie geht es dir denn? Na, alles klar bei deiner Mutter und dir? Wohin geht eigentlich eure Klassenfahrt?!«
Aber Oma Slättberg deutete ungerührt auf das Grünzeug in Sprottes Hand. »Jetzt hast du ein Salatpflänzchen mit ausgezupft. Das musst du mir ersetzen.«
Sprotte setzte das Salatpflänzchen wieder ein und drückte es behutsam in der Erde fest. »Oma, kannst du vielleicht auf unsere Hühner aufpassen, während wir auf Klassenfahrt sind?«
Oma Slättberg zielte mit ihrem knochigen Zeigefinger auf Unkraut, das Sprotte zupfen sollte. »Erst klaut ihr sie mir und jetzt soll ich mich auch noch um sie kümmern?!«
»Mama kann doch nicht, weil sie mitfährt.«
Oma Slättberg bekam ganz schmale Augen. »Du und deine Hühnerfreundinnen, habt ihr auf einmal keine Angst mehr, dass ich sie schlachten und einfrieren könnte, während ihr weg seid?«
Sprotte richtete sich auf. Der Rücken tat ihr schon weh vom Bücken. Kurz standen sich Oma und Enkelin Auge in Auge gegenüber, schwiegen und kämpften nur mit Blicken. Dann warf Sprotte das Unkraut in ihren Händen Oma Slättberg vor die Füße. »Ich soll dir immer helfen, aber du kannst nicht mal eine Woche unsere Hühner füttern!« Sprotte drehte sich weg und stapfte Richtung Gartentor. »Okay, vielen Dank für deine Hilfe!«
»Ich hab keinen Platz für eure Hühner. Meine eigenen sind ja auch noch da.« Omas Stimme klang etwas weicher. Trotzdem dachte Sprotte nicht daran, stehen zu bleiben.
»Und außerdem kann man Hühner nicht so einfach verpflanzen.«
Jetzt drehte Sprotte sich doch um. »Weiß ich ja. Aber wo Huberta und Isolde und all die andern schon mal hier gelebt haben …«
Zumindest bis die Wilden Hühner sie zusammen mit den Pygmäen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion befreit und so vor dem kühlen Grab in Form von Oma Slättbergs Gefriertruhe gerettet hatten. Noch immer, wenn Sprotte an dieses Abenteuer dachte, schlichen sich zwei Gefühle in ihr Herz. Eine gehörige Portion Stolz auf sich und ihren mutigen Dickkopf und zugleich der erste Tropfen Liebe zu Fred, dem Boss der Pygmäen. Aus diesem ersten Tropfen war ein ganzer See geworden und jetzt stiegen Sprotte plötzlich Tränen in die Augen. Wieso musste Fred vorhin vor den andern Pygmäen so über sie reden? Und wieso war sie im Wohnwagen so zickig gewesen und dann so sauer, wo Freds Kuchen doch so süß war? Sprotte schluckte die Tränen runter. Wenn ich und Fred uns nicht bald wieder vertragen, ertrinke ich in dem See, dachte sie. Aber ihre Stimme sagte: »Die Hühner könnten ja im Pferch beim Wohnwagen bleiben. Du müsstest sie nur einmal am Tag füttern und ein bisschen mit ihnen reden.«
»Und wie soll ich mit meinen Hüften da überhaupt hinkommen?« Wie zum Beweis bückte sich Oma Slättberg ächzend und hob einen an der Scheunenwand stehenden Korb mit Äpfeln hoch. »Klaräpfel.«
»Wir könnten zum Beispiel deinen Nachbarn Herrn Feistkorn bitten, dass er dich fährt.« Sprotte ließ nicht locker.
Oma Slättberg sortierte einen angefaulten Apfel aus und warf ihn auf den Komposthaufen. Werfen konnte sie noch ziemlich gut, aber dafür brauchte sie ja schließlich auch nicht ihre Hüften. »Die kann man schlecht lagern.« Sie reichte Sprotte den Korb. »Dein Freund Fred kann sich doch um deine Hühner kümmern. Ihr seid doch immer so verliebt.«
Sprotte schwieg. Der Korb wurde plötzlich so schwer, als wollte er sie zu Boden ziehen.
»Das seid ihr doch – verliebt, oder?«
»Erstens ist Fred mit auf Klassenfahrt, und zweitens …« Sprottes Hände ließen den Korb los. Er landete im Gras.
Oma Slättbergs Mund klappte auf, als wollte sie gleich losschimpfen. Tat sie aber nicht. Erst klappte ihr Mund wieder ein Stück zu, dann suchten ihre trüben Augen Sprottes Blick. »Hab ich’s mir doch gleich gedacht, bei deiner schlechten Laune. Du hast Liebeskummer, was?«
Sprotte starrte auf den Korb vor ihren Füßen.
»Ich rede mit dir!«
Sprotte starrte weiter auf den Korb. In ihrem Kopf versanken alle Worte und Gedanken in einem schwarzen Loch.
»Du bist genau wie deine Mutter: bei Liebeskummer unausstehlich.«
Das schwarze Loch in Sprotte explodierte und ließ ihren Fuß gegen den Korb schnellen. Die Äpfel kullerten ins Gras und die Worte nur so aus ihr heraus. »Du hast doch von Liebe überhaupt keine Ahnung, Oma! Du bist einfach nur alt und stur und verbittert. Für dich darf doch das Leben nur freudlos und mühsam sein, sonst stimmt was nicht. Wie kann so jemand denn überhaupt mal verliebt gewesen sein?« Je mehr Sprotte ihre Worte bereute, desto wütender wurde sie. »Außerdem gibt es keinen Mann auf der Welt, der eine Schreckschraube wie dich lieben könnte!«
Sprotte kickte einen der im Gras liegenden Äpfel weg, wie vor gar nicht langer Zeit Fred die Kleeblüte.
Als wäre sie eine Marionette mit durchtrennten Schnüren, hingen Oma Slättbergs Arme schlaff von den Schultern. Eine Marionette, die nie im Licht der Bühne tanzte.
Sprotte warf das Gartentor hinter sich ins Schloss, stieg aufs Rad und fuhr, ohne sich noch ein einziges Mal umzudrehen, zum Wohnwagen.
Als Sprotte das Gatter an der wilden Wiese öffnete, ging ein Heidenlärm los.
»Alarmanlage funktioniert!« Frieda kam hinter den Weiden hervor und begann, die an einem Bindfaden befestigten Blechdosen wieder auf den Turm aus alten Blumenkästen zu stellen.
Sprotte schob ihr Rad neben Frieda. »Wegen der Eierdiebe?!« Sie achtete darauf, die vom Gatter zu den Dosen gespannte Schnur nicht zu berühren.
»Was ist denn mit dir los?« Frieda musterte Sprotte.
»Nix.« Sprotte war klar, dass ihre beste Freundin wusste, dass das nicht stimmte. Sie berührte mit der Fußspitze eine Kleeblüte und versuchte, nicht an Fred zu denken. »Und ihr meint, die Eierdiebe lassen sich von ein paar Blechdosen abschrecken?«
Bevor Frieda antworten konnte, rannte das Huhn Huberta flügelschlagend und gackernd an ihnen vorbei. Gefolgt von Trude und Wilma.
»Melanie hat vergessen, den Pferch zu schließen!«, erklärte Trude mit rotem Kopf und schwer atmend.
»Pfosten stürzen, Fenster klirren«, Wilma hechtete hinter der Haken schlagenden Huberta her. »Kinder jammern, Mütter irren!« Sie verfehlte Huberta um Haares-, besser gesagt, um Federnbreite und landete vor Sprottes Füßen. »Tiere wimmern unter Trümmern …«
Frieda versperrte dem Huhn den Fluchtweg und scheuchte es zurück. Fast hätte die am Boden robbende Wilma es erwischt. »Alles rennet, rettet …«, keuchte Wilma, aber Huberta flatterte über sie hinweg und Wilma kriegte nur noch eine winzige durch die Luft schwebende Feder zu fassen. »Mist … Und flüchtet!«
»Wilma hat wieder ihre theatralische Phase«, sagte Frieda.
Sprotte ließ ihr Rad fallen, bückte sich, und schon hatte sie Huberta im Arm.
»Friedrich Schiller. Das Lied von der Glocke.« Wilma streckte erschöpft alle viere von sich.
Sprotte setzte Huberta zurück in den Hühnerpferch und blickte rüber zu Melanie, die neben dem Wohnwagen im Liegestuhl saß, als würde sie das alles nichts angehen, und angewidert auf ihr angebissenes Marmeladenbrot stierte.
Frieda blies die Backen auf. »Das Schweigen der Lämmer.«
»Jetzt lach doch mal, Melli!« Wilma klopfte sich den Staub aus den Klamotten. »Das war voll die Slapstick-Nummer.«
Melanie verzog das Gesicht zu einem müden Lächeln und verdrückte sich in den Wohnwagen.
»Sie spricht nicht mehr mit uns«, beantwortete Frieda Sprottes fragenden Gesichtsausdruck.
»Vielleicht wegen ihres Vaters«, meinte Wilma.
Trude biss von einem Apfel und bot auch den andern welche an. »Ich glaub, er hat schon wieder seinen Job verloren.«
»Vielleicht ist es auch wegen Willi. Bei den beiden kriselt es ganz schön in letzter Zeit.« Noch während sie das sagte, bekam Sprotte einen Kloß im Hals.
»Das mit Willi ist ihre Privatsache.« Friedas Augen wurden ganz dunkel, fast böse. »Das geht uns nichts an.«