Die Wilden Küken 11. Mit Graffitipower! - Thomas Schmid - E-Book

Die Wilden Küken 11. Mit Graffitipower! E-Book

Thomas Schmid

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Beschreibung

Unerhört! Die coole neue Mitschülerin Fanny zieht Grottenolm Oles Aufmerksamkeit auf sich. Insgeheim ist zwar auch Lilly fasziniert von dieser lässigen Graffiti-Sprayerin, sieht allerdings ihre gewohnte Bandenwelt in Gefahr. Doch als plötzlich das Leben von Bandenhund Sneaker auf dem Spiel steht, sind die Streitigkeiten vergessen. Elfter Band der beliebten Kultserie "Die Wilden Küken".

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Über dieses Buch

Lilli weiß nicht genau, wie sie das Mädchen finden soll, das nach den Sommerferien in der Parallelklasse auftaucht. Eigentlich ist Kira ziemlich lässig mit ihrer Lederjacke und ihrem Faible fürs Graffitisprühen. Auch Ole ist ganz fasziniert von der Neuen. Für Lillis Geschmack ein bisschen zu sehr. Zum Glück sind echte Bandenmädchen immer füreinander da. Die Wilden Küken halten zusammen – egal, ob es um Liebeskummer, fremde Hühner, mysteriöse Botschaften oder eine geheime Doppelbandenaktion geht. Und das ist viel cooler als alle Lederjacken und Graffitis der Welt!

 

Der elfte Band der Wilden Küken –

Freundschaft, Spaß und ganz viel Herz

Lilli betrachtete die Fotos an der Wand des Wartezimmers. Niedliche Kätzchen, putzmuntere Wellensittiche, schnuckelige Hamster und süße Hundewelpen. Ihr eigener Hund war im Augenblick weder schnuckelig noch niedlich, kein bisschen süß und schon gar nicht putzmunter. Sneaker kauerte unter Lillis Stuhl und winselte ängstlich. Nicht etwa, weil er krank oder verletzt war, er sollte lediglich geimpft werden. Beruhigend tätschelte Lilli Sneakers Flanke und seufzte innerlich. Bei der letzten Impfung hatte er – angesichts der Spritze – vor lauter Panik um sich geschnappt und der Tierarzthelferin ein Loch in den Kittel gerissen. Inzwischen hatte der Sohn des damaligen Tierarztes die Praxis übernommen, aber die Helferin war noch die gleiche. Sneakers Maul lag auf Lillis Füßen. Die Riemchen ihrer Sandalen waren schon ganz vollgesabbert, als die Tierarzthelferin endlich den Kopf ins Wartezimmer steckte und Lilli aufforderte, ihr mit dem Hund zu folgen. Lilli zog an der Hundeleine. »Sneaker, jetzt sei nicht so ein Feigling! Es ist doch nur ein kleiner Pikser!« Mit einem entschuldigenden Blick zur Helferin ging Lilli vor Sneaker in die Hocke. Die Hühnerfeder, die sie als Bandenzeichen an einem Lederband um den Hals trug, baumelte vor Sneakers Schnauze. Lilli nahm seinen Kopf zwischen die Hände, sah ihm tief in seine treuen Hundeaugen und flüsterte: »Als unser Bandenhund bist du auch ein Wildes Küken – und kein Angsthase!«

Sneaker kläffte und richtete sich auf.

»Am besten, du legst ihm den hier an!« Die Tierarzthelferin reichte ihr einen Maulkorb und machte damit Lillis Hoffnung zunichte, sie würde sich vielleicht gar nicht mehr an die letzte Begegnung erinnern.

Sneaker verdrehte die Augen und fletschte die Zähne, aber nachdem Lilli beruhigend ihr Gesicht an seinen Hals gedrückt hatte, ließ er sich den Maulkorb widerstandslos umschnallen.

Mit gestrecktem Arm und größtmöglichem Abstand zu Sneaker öffnete die Helferin die Tür zum Behandlungszimmer.

Der junge Doktor Lukas hatte keinen Kahlkopf und war nicht ganz so hager und drahtig wie der alte Tierarzt, trotzdem ähnelte er seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.

Er schüttelte Lilli die Hand und fragte mit Blick auf den Maulkorb: »Braucht er den?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, sah er Sneaker kurz prüfend in die Augen und löste den Maulkorb.

Unwillkürlich machte die Helferin einen Schritt zurück und hielt sich schützend die Hände vor den Bauch.

»Er hat Angst vor der Spritze«, murmelte Lilli.

»Komm!« Doktor Lukas setzte sich auf den flauschigen Teppich unterm Fenster. »Mein Sonnenplatz.« Er klopfte einladend neben sich. »Wir nehmen deinen Angsthasen in die Mitte.«

Lilli verkürzte die Leine, bugsierte Sneaker zum Fenster und hockte sich dazu. Sneaker setzte sich auf die Hinterbeine, drehte argwöhnisch die Ohren nach vorne und ließ die Helferin, die eine nierenförmige Metallschale mit Spritze und Desinfektionsmittel vorbereitete, nicht aus den Augen. Bis Doktor Lukas ihm die Hand sanft auf den Nacken legte. Sneaker ließ es zu, streckte sich und schob den Kopf zwischen seine Vorderpfoten. »Du hast einen klugen Hund«, wandte Doktor Lukas sich an Lilli und kraulte wie nebenbei Sneakers Hundefell, während er weiterredete. »Als Kind wollte ich auch immer so einen.«

Das Licht fiel durch den losen Lamellenvorhang. Die Strahlen warfen helle Streifen auf Sneakers Fell und Lillis rotbraune Locken fühlten sich sonnenwarm an.

»Aber mein Vater meinte«, fuhr Doktor Lukas fort, »dass er in der Praxis genug Tiere hätte, da bräuchten wir zu Hause nicht auch noch welche.«

Die Helferin stellte die Nierenschale auf den Drehstuhl am Schreibtisch, schob ihn Richtung Fenster, wechselte einen kurzen Blick mit ihrem Chef und ging raus.

»Schöne Kette.« Doktor Lukas deutete auf Lillis Bandenfeder.

Lilli musste unwillkürlich lächeln. Sie legte ihre Hand auf die Feder. »Meine Freundinnen und ich, wir sind die Wilden Küken«, sagte sie stolz und Sneaker brummte zustimmend.

Lilli plapperte normalerweise nicht so einfach drauflos, sondern hing lieber ihren Gedanken nach oder ihren Tagträumen. Und natürlich wusste Lilli, dass Doktor Lukas auf seinem Sonnenplatz nur eine entspannte Situation für seinen Hundepatienten schaffen wollte, aber irgendwie funktionierte es auch bei ihr. Sie erzählte von dem alten Schiff auf dem Weiher, das ihr und den anderen Wilden Küken als Bandenquartier diente, und von Ole, Little, Mitch und Erik, die eine Hütte im Mühlenwald hatten und ebenfalls eine Bande waren. »Die Jungs nennen sich die Grottenolme«, erklärte Lilli, »und sie sind unsere Feinde!« Noch während sie das sagte, sah Lilli Oles tiefblaue Augen vor sich und musste lächeln, sodass sich das letzte Wort aus ihrem Mund fast so anhörte wie Freunde.

Doktor Lukas tätschelte Sneaker. »Dann bist du ja ein richtiger Bandenhund und oft draußen an der frischen Luft, im Mühlenwald und auf der Weiherwiese …« Seine andere Hand griff nach der Spritze. »… und wir wollen ja nicht, dass du dir noch die Tollwut einfängst.« Er setzte die Spritze in Sneakers Flanke. Lilli spürte ihren Hund kurz zucken. Das war’s.

Die Arzthelferin öffnete die Tür einen Spaltbreit. »Frau Ponkratz-Pölzel und ihr Pudel sind da!«

Doktor Lukas richtete sich auf, wuschelte Sneaker durchs Fell und verabschiedete sich per Handschlag von Lilli. »Schönen letzten Ferientag noch!«, sagte er und fügte zwinkernd hinzu: »Dir und deinen Wilden Küken!«

»Den werden wir haben«, antwortete Lilli und dachte an die vielen Luftballonschlangen unter ihrem Bett.

 

Draußen vor der Tierarztpraxis schlug Lilli die Plane ihres Fahrradanhängers beiseite. Sneaker blinzelte in die Sonne und sprang hinein. Lilli schwang sich auf den Sattel, die Turmuhr schlug zwölf, und wie auf Kommando knurrte Lillis Magen. Offensichtlich erleichtert, die Tierarztpraxis hinter sich zu lassen, knurrte auch Sneaker. Lilli trat in die Pedale und freute sich aufs Mittagessen. Sie radelte um den Stadtbrunnen und steuerte bereits auf die Nepomukbrücke zu, da bellte Sneaker aufgeregt. Lilli sah sich nach ihm um und hätte fast das Gleichgewicht verloren, so heftig schlingerte der Anhänger plötzlich. Sneaker lehnte sich weit heraus, sprang ab und jagte über die Straße. Ein Lieferwagen hupte, hinter Lilli quietschen Bremsen. Gerade noch rechtzeitig riss Lilli den Lenker herum, nur weg von der Fahrbahnmitte. Ihr Vorderrad prallte hart gegen den Bordstein. Um nicht zu stürzen, sprang Lilli, ohne den Lenker loszulassen, ab und bremste ihr Gefährt im Laufen. Lillis Ellbogen schrammte schmerzhaft das Brückengeländer, dann kam sie zum Stehen.

»Sneaker?« Lilli ließ ihr Rad los und lief aufgeregt hin und her. Von ihrem Hund keine Spur. Lilli ließ einige Autos vorbei, preschte durch eine Verkehrslücke und beugte sich auf der anderen Seite übers Brückengeländer. Hallend drang Sneakers Bellen zu ihr herauf. Lilli lief zum Ende der Brücke und bückte sich unter der Absperrung durch. »Sneaker!«, rief sie erneut nach ihrem Hund. Halb lief, halb schlitterte sie die Böschung hinunter, rappelte sich auf und brauchte einen Augenblick, um die Situation zu erfassen. Auf dem schmalen, mit Granitsteinen befestigten Uferstreifen unter der Brücke standen sich Sneaker und eine maskierte Gestalt gegenüber. Mit einer Spraydose in der drohend ausgestreckten Hand hielt die Gestalt Sneaker auf Abstand. »Was soll das?« Lilli schloss neben Sneaker auf, griff nach seinem Halsband und hob beruhigend die andere Hand, um den Maskierten davon abzubringen, sein Pfefferspray einzusetzen. Hin- und hergerissen richtete der Typ die Spraydose abwechselnd auf Lilli und ihren Hund. Für Pfefferspray war die Dose fiel zu groß, schoss es Lilli durch den Kopf, während der Unbekannte sich langsam im Rückwärtsgang entfernte, was Lilli Gelegenheit gab, ihn genauer zu betrachten. Der langbeinige Junge trug eine Atemmaske, wie Lillis Vater sie manchmal bei besonders staubigen Schreinerarbeiten benutzte, die Kapuze seines Pullis hatte er so tief ins Gesicht gezogen, dass Lilli seine Augen nicht erkennen konnte. Auf dem Brückengewölbe über ihnen tanzten vom Fluss gespiegelte Sonnenstrahlen und der Verkehr dröhnte. Lillis Blick blieb an einem halb fertigen Ungeheuer hängen, das in grellen Farben an die Stützmauer der Brücke gesprayt war. Inzwischen hatte der Junge ein paar weitere Schritte von Lilli weg gemacht und sich abgewandt. Lilli erkannte einen Feuer speienden Drachen auf dem Rücken der Lederjacke, die der Junge über dem Kapuzenpulli trug. Er warf das vermeintliche Kampfspray zu weiteren Farbdosen in einen Rucksack, der auf dem Granitpflaster lag, ging geschmeidig in die Knie, raffte alles zusammen und ergriff die Flucht. Lilli starrte noch auf das Blechschild im Maul des Ungeheuers, das jegliche Verunstaltung mit Hinweis auf die Graffitibekämpfungsverordnung der Stadtverwaltung für verboten erklärte, da riss Sneaker sich los und hetzte hinter dem fliehenden Sprayer her.

»Sneaker, hiergeblieben!«, befahl Lilli vergeblich. Sie rannte ebenfalls ans andere Ende der Stützmauer, kämpfte sich durch Brennnesseln die Böschung hoch, wo der Graffitijunge auf dem Boden lag und versuchte, sich den keifenden Sneaker vom Leib zu halten, indem er wie verrückt mit seinen langen, dünnen Beinen strampelte. Von einem Fußtritt getroffen, jaulte Sneaker auf. Wutentbrannt stürzte Lilli sich auf den Jungen, packte ihn an den Schultern und – rutschte ab. Ihren Griff nicht lockernd, kollerte Lilli zusammen mit ihrem Gegner aufs Flussufer zu. Erst in den Binsen, die aus dem Uferschlamm ragten, endete ihre abrupte Talfahrt. Die Atemmaske hing dem Jungen inzwischen um den Hals und Lilli starrte in das von der Kapuze umrahmte blasse Gesicht … eines Mädchens. Lilli war vor Überraschung wie gelähmt. Das nutzte das Mädchen aus und versetzte ihr einen Schubs. Lilli torkelte, glitt im Schlamm aus und klatschte rücklings in den Fluss. Kurz schwappte das trübe Wasser über Lilli zusammen, sie ruderte wild mit den Armen, kam prustend wieder hoch und krabbelte vor Schlamm und Wasser triefend an Land. Das Mädchen wartete ab, bis Lilli wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke, danach ergriff die Sprayerin endgültig die Flucht, und Lilli sah kurz gar nichts mehr, weil Sneaker ihr winselnd übers Gesicht leckte.

Lillis wasserdurchweichte Sandalen quietschten bei jedem Schritt, ihre triefende Kleidung klebte ihr schwer am Leib. Sneaker schnappte sich ein Wurstbrot, das nahe der Stelle lag, wo der Rucksack des Mädchens gestanden hatte, und wetzte die Böschung hoch.

 

Sneaker rülpste, saß zufrieden mit sich und der Welt im Fahrradanhänger und begann zu jaulen, als wollte er Lilli anfeuern. Dabei radelte Lilli schon so schnell sie konnte. Ihre schlammnasse Jeans fühlte sich an wie langsam erstarrender Beton. Lilli fror und schwitzte gleichzeitig, bog von der Nepomukstraße in den Eichenweg und rollte ohne abzusteigen auf dem schmalen Fußweg am Garten der Röhrichs vorbei. Die neue Photovoltaik-Anlage der Nachbarn funkelte wie ein schwarzer Diamant. Lilli fuhr an ihrem eigenen Garten vorbei, trat erneut in die Pedale und passierte das offen stehende Schiebetor mit der Aufschrift Schreinerei Stefan Holler. Der gleiche Schriftzug prangte auf dem Firmenwagen, der in der Einfahrt neben dem roten Kleinwagen parkte. In der Hoffnung, nicht gesehen zu werden und sich die Beantwortung Tausender besorgter Fragen zu ersparen, beugte Lilli sich über den Fahrradlenker, als sie am Werkstattfenster ihres Vaters vorbeifuhr. Sie schwang sich vom Rad, hielt Sneaker die Schnauze zu, der ihre Heimkehr gleich bellend verkünden wollte, und mahnte ihn per Augensprache, leise zu sein. Sneaker verstand und legte sich neben dem Sommerflieder ins sonnenbeschienene Gras. Lilli schlich Richtung Haustür, als drei Stimmen ertönten, die all ihre Hoffnungen zunichtemachten, unbemerkt ins Badezimmer huschen zu können.

Vor Lillis Nase öffnete Luisa die Haustür, gleichzeitig trat Lillis Vater aus der Werkstatt. »Wie siehst du denn aus?«, fragte es aus zwei Richtungen. Und zwischen Luisas Knien streckte Lillis kleine Schwester Marie den Kopf hindurch und brabbelte in Babysprache wohl die gleiche Frage.

»Sneaker ist auf der Nepomukbrücke aus dem Anhänger gesprungen«, erklärte Lilli. »Ich bin ihm nach und in den Fluss geschlittert.« Unterm Sommerflieder hob Sneaker kurz den Kopf, als wollte er gegen die halbe Wahrheit protestieren, die Lilli da erzählte, aber dann gähnte er nur.

Während Lilli die Treppe zum Badezimmer hochlief, folgten ihre Eltern ihr mit einigen Stufen Abstand und zählten alle möglichen schlimmen Folgen ihres Abenteuers auf.

»Wenn dich die Strömung erfasst hätte …« Luisa sah so betroffen aus, als wäre das wirklich passiert.

»Du hättest bis ans Wehr mitgerissen werden können!«, ergänzte Stefan, ebenfalls voller Sorge.

»Wie ist das denn genau passiert?«, fragte Luisa. »Wieso ist Sneaker überhaupt aus dem Anhänger gesprungen? Glaubst du, er hatte Schmerzen wegen der Impfung?«

»Du weißt doch, dass du den Hund im Anhänger anschnallen musst!«, sagte Lillis Vater, und die kleine Marie, die inzwischen schon auf die dritte Stufe gekrabbelt war, fügte hinzu: »Balamuggigucki-Illi…Illi…« Aber da schloss Lilli, genannt Illi, bereits die Badezimmertür hinter sich.

Nachdem sie wiederholt auf einem Bein um die eigene Achse gehüpft war, konnte Lilli sich endlich aus der klebfeuchten Jeans befreien und das Wasser aufdrehen. Wohltuend warm prasselte der Duschregen auf sie herab. Lillis Gedanke an das Verbotsschild im Maul des Ungeheuers löste sich genauso auf wie der Ärger über ihre immer viel zu besorgten Eltern. Luisa und Lillis Vater waren jetzt schon seit einer halben Ewigkeit verheiratet, aber Luisa gab sich noch immer ganz besonders viel Mühe, Lilli eine gute Mutter zu sein. Lillis leibliche Mutter Nadja war Tänzerin. Schon sehr früh hatte sie die Familie verlassen und war um den halben Erdball getingelt – immer von Theater zu Theater. Inzwischen führte sie in Schweden ein Tanzstudio und kam nur viel zu selten zu Besuch.

Lilli wusch sich das Shampoo aus ihren langen Locken. Natürlich hatte es eine ganze Weile gedauert, bis sie sich an Luisa gewöhnt hatte. Nach all den Jahren, die Lilli mit ihrem Vater allein gelebt hatte. Aber spätestens seit Maries Geburt waren sie eine richtige Familie. Auch wenn es Lilli manchmal nervte, wie ihre Eltern ständig einen auf heile Welt machten.

Doch als sie sich in der Küche auf den Stuhl setzte, in dessen Lehne Stefan ihren Namen geschnitzt hatte, strahlte Lilli angesichts der dampfenden Nudelsuppe, die Luisa extra noch rasch aufgewärmt hatte.

»Illi, Illi!«, rief Marie. Sie zog sich die Söckchen von den Füßen und schenkte sie ihrer großen Schwester, obwohl sie Lilli doch viel zu klein waren und sie längst keine kalten Füße mehr hatte.

Nach dem Mittagessen hängte Lilli sich ihre Bandenfeder um den Hals, holte die Tüte mit den Luftballonschlangen unter ihrem Bett hervor und stopfte sie zu den Bibliotheksbüchern, die sie die Ferien über ausgeliehen hatte, in ihren Rucksack. Sie legte den Rucksack in den Lenkerkorb ihres Fahrrads und montierte den Anhänger ab. Aus der offenen Werkstatttür drangen Schleiflärm und eine Wolke aus Staub. Lilli rief ein »Ciao!« durch den Nebel, und ihr Vater, der mit Augen-, Mund- und Ohrenschutz wie ein Roboter aussah, winkte mit dem Schwingschleifer.

Lilli fuhr über die Nepomukbrücke und musste an die Graffitiungeheuer denken, die unter ihr übers Gewölbe krochen. Lilli trat gleichmäßig in die Pedale, die Tretkurbeln drehten das Kettenrad und die Kette den hinteren Zahnkranz. Die Reifen rollten leise säuselnd über den Asphalt und in Lillis Gedanken drehte sich die Drachenkämpferin Lilliana von Königslund mit dem Schwert in der Hand um die eigene Achse. Die Ungeheuer hatten Lilliana eingekreist. Die Lage war aussichtslos. Immer weniger gelang es der Kämpferin, die Monster auf Abstand zu halten, immer näher rückten sie ihr und immer enger wurde der Kreis. Als würde die Zeit sich dehnen, verlangsamte sich Lillianas Herzschlag. Nie wieder würde sie die Wiesen und Felder und das kleine Haus neben der Schreinerei in Königslund sehen. In wenigen Augenblicken würden die Ungeheuer ihr Drachenfeuer auf sie speien und mit Lillianas Gehirn ihren letzten Gedanken verschmoren, den Gedanken an Ole, den Anführer der Grottenolme aus dem Mühlenwald. Doch genau in diesem Augenblick wichen die Drachen zurück, und Lilliana erkannte Ole, der seine Klinge aus Meteoritenerz über dem Kopf schwang. Ihr Retter öffnete den Mund und – ein Hupen ertönte. Lilli trat mit voller Kraft auf die Rücktrittbremse und kam knapp vor einer dunklen Limousine zum Stehen, die gerade vom Parkplatz heraufkam.

Der Fahrer winkte Lilli ungeduldig vorbei.

Der Beifahrersitz war leer, aber durch das offene Seitenfenster sah Lilli eine Frau auf der Rückbank. Ohne von ihrem Tablet aufzublicken, fuhr sie die Scheibe hoch. Der Fahrer setzte den Blinker und ordnete sich in den Verkehr ein.

Lilli rollte die Auffahrt hinunter, stellte ihr Rad in einen der Fahrradständer und begab sich ins Kulturzentrum.

Die Bibliothek befand sich im Dachgeschoss des Gebäudes, eine Glastür führte hinaus auf eine Dachterrasse. Durch diese Glastür schob Frau Finkenzeller, die Bibliothekarin, einen kleinen Bücherwagen herein, während Lilli am Empfangstresen ihren Büchereiausweis und die ausgeliehenen Bücher hervorkramte.

»Immer wieder lassen sie einfach die Bücher und Zeitschriften draußen liegen …«, schimpfte sie vor sich hin, da entdeckte sie Lilli. »Hast du alle gelesen?«, fragte Frau Finkenzeller, während sie erst Lillis Ausweis und dann die Buchsignaturen scannte. Lilli nickte.

Frau Finkenzeller wuchtete den Stapel auf den Bücherwagen und zeigte auf ein Plakat, das die Stirnseite eines der vielen Regale zierte und für die Jubiläumsfeierlichkeiten zum 850-jährigen Bestehen des Stadtturms warb. »Morgen ist der letzte Anmeldetag für den Festumzug.« Sie setzte die Brille auf, die an einer Kordel um ihren Hals baumelte. »Wäre das nichts für dich und deine Wilden Küken?«

Lilli zögerte.

»Frau Fürstenberg, die neue Landrätin, sponsert jeden Festwagen aus ihrem Privatvermögen«, sagte die Bibliothekarin.

Lilli warf einen Blick auf das Plakat des alten Stadtturms, der Augen und einen Lachmund hatte.

»Bis morgen Nachmittag um fünf kann man sich noch in die Liste eintragen!« Frau Finkenzeller sah Lilli über ihre Brillenränder hinweg abwartend an.

»Ich kann die anderen ja mal fragen!« Lilli lieh sich noch rasch den zweiten Band eines Buches aus und verabschiedete sich.

 

Lilli war noch keine vier Warterunden um den Stadtbrunnen geradelt, da tauchten ihre Freundinnen nacheinander aus verschiedenen Richtungen auf.

»Ciao, Lilli!«, rief Bob und strampelte auf ihrem selbst bemalten Flohmarktfahrrad auf den Brunnen zu. Auf ihrer Kurzhaarfrisur thronte trotz der spätsommerlichen Hitze eine bunte Strickmütze und natürlich trug Bob ihre obligatorische ärmellose Fransenweste. Eigentlich hieß Bob nicht Bob, sondern Roberta. Ihre Mutter war Italienerin und führte gemeinsam mit Bobs Oma die Gelateria Cantarella. Lilli fand, die Nonna, wie Bob ihre Oma nannte, machte das beste Pistazieneis auf der ganzen Welt. Wie eine Artistin ließ Bob den Lenker los und fuhr mit weit von sich gestreckten Armen ein Stück freihändig hinter Lilli her.

Gleich nach Bob kam Very angesaust. »Na, Mädels!« Ihre blonden Haare glänzten mit den goldpolierten Speichen ihres Designerfahrrads um die Wette. Sie legte sich elegant in die Kurve und reihte sich hinter Bob ein.

»Letztes Bandentreffen in den Ferien!«, ertönte Enyas Stimme aus einer Seitenstraße. Mit den langen schwarzen Zöpfen, dem leicht olivfarbenen Teint und ihren dunkel schimmernden Augen sah Enya fast ein wenig indianisch aus. Mit surrendem Freilauf schloss sie zu Lilli auf, bremste und ließ sich dann bis hinter Very zurückfallen. Die vier Wilden Küken drehten noch eine Ehrenrunde um den Brunnen und fuhren dann stadtauswärts Richtung Landstraße.

Die Hühnerfedern, die die Freundinnen als Bandenzeichen um den Hals trugen, flatterten im Fahrtwind. Lilli gab Handzeichen und bog von der Landstraße ab auf den Feldweg. Die Schatten der Mädchen huschten über das rostige Schild mit der Aufschrift Privatgrundstück und kurz darauf preschten alle vier zwischen duftenden Heubahnen über die frisch gemähte Wiese.

Unter der alten Weide, fast am Weiherufer angekommen, ließen Lilli, Bob, Very und Enya ihre Räder neben dem leeren Hühnerfreilauf ins Stoppelgras fallen und hielten kurz inne. Vor ihnen auf dem Weiher erhob sich die Mystery. Das bunt bemalte Huhn, das am Bug angebracht war, leuchtete in der Sonne. Lilli hatte die Galionsfigur eigenhändig in der Schreinerwerkstatt ihres Vaters geschnitzt und gemeinsam mit den anderen bemalt. Obwohl Hühner nicht fliegen können, sah das Wahrzeichen des Schiffes mit seinen ausgebreiteten Flügeln so aus, als würde es sich jeden Moment in die Lüfte erheben. Seit jeher war das schwimmende Bandenquartier der Wilden Küken fest am Steg vertäut, und doch beschlich Lilli beim Anblick des alten Schiffes das Gefühl, die Mystery würde abenteuerlustig an den Tauen zerren und jeden Augenblick in See stechen. Lilli hörte das Schnaufen ihrer Freundinnen, das leise Glucksen der sich auf dem Weiher kräuselnden Wellen und das Gackern ihrer Hühner aus der Kajüte der Mystery.

Es war schon eine halbe Ewigkeit her, dass die Wilden Küken das kleine Schiff von ihrem selbst verdienten Geld bei einem Schrotthändler unten am Fluss gekauft hatten. Dank der Hilfe von Lillis Vater hatten sie den maroden Kahn hierher auf die Wiese von Verys Opa transportiert und wieder auf Vordermann gebracht.

Enya und Lilli öffneten die Gitter des Hühnerfreilaufs, während Very und Bob an Bord der Mystery kletterten und die Hühner aus der zum Stall umfunktionierten Kajüte holten. Bob beugte sich über die Reling und reichte Lilli ihr Huhn Flocke nach unten. Very übergab Enya die schwarze Ines. Nachdem sie ihre eigenen Hühner abgesetzt hatten, brachten Lilli und Enya rasch Bobs Bussi und Verys Birdie in den Hühnergarten. Anschließend schlossen sie die Gitter wieder, die ihre fröhlich im Gras scharrende Hühnerschar vor Raubvögeln schützten.

An Bord der Mystery angelangt, stieg Lilli auf die Deckelkiste, stemmte sich von dort aufs Dach der Kükenkajüte und ließ ihren Blick über die Weiherwiese, den Obstgarten von Gut Feldberg und den schmalen Streifen des größtenteils gerodeten Keltenwalds schweifen. Nichts regte sich. Weder auf der Weiherwiese noch auf der Hahnenfußwiese dahinter. Lilli beschattete ihr Gesicht mit der flachen Hand, orientierte sich an der hohen Buche, deren Wipfel aus dem Mühlenwald herausragte, und erkannte einen winzigen Farbfleck zwischen den Tannen. Das war der Wimpel der Grottenolme, der über ihrer Olmburg wehte. Burg war eigentlich etwas übertrieben. Beim Bandenquartier der Grottenolme handelte es sich eher um eine kleine Waldhütte. »Keine Spur von den Jungs!« Lilli sprang vom Kajütendach auf die Deckplanken.

Bob zuckte mit den Schultern. »Ich sag doch, die haben Basketballtraining.«

»Dann kommen sie heute garantiert nicht mehr in die Olmburg«, sagte Enya.

Very ergänzte grinsend: »Also haben wir freie Bahn!«

»Habt ihr an alles gedacht?!«, fragte Lilli ihre Freundinnen und griff sich ihren Rucksack.

»Certo!«, sagte Bob, »aber sicher!« Sie kramte zwei Päckchen Mehl aus ihrem Deckelkorb.

Lilli legte die Tüte mit den Luftballonschlangen daneben.

Enya fingerte eine Rolle durchsichtiger Nylonschnur aus ihrer Häkeltasche. »Mein Bruder sagt, damit kann man sogar große Barrakudas fangen!«

»Kleine Grottenolme reichen«, sagte Very, »auch als Schwanzlurche bekannt!« Kichernd zog sie ein Männermagazin aus einer Tüte vom Bahnhofskiosk und warf es auf die Deckplanken.

Die Wilden Küken steckten die Köpfe zusammen, blätterten sich durch die Bilder der nackten Frauen in der Zeitschrift, giggelten und tippten sich empört über die Dummheit der Männer an die Stirn.

Unten auf der Weiherwiese gackerten Bussi, Birdie, Flocke und Ines so aufgeregt mit, als wüssten sie davon ebenfalls ein Lied zu singen.

Enya öffnete die Deckelkiste und nahm den Trichter heraus, der auf dem Hühnerfutter lag. Lilli stülpte einen der Ballons über die Tülle und gemeinsam füllten sie ganze zwei Kilo Mehl in die Luftballonschlangen.

Als Bob den letzten Ballon zuknoten wollte, rutschte er ihr aus der Hand. Mit einem dumpfen Ploff plumpste er auf die Planken und Mehl stob durch die Luft. Erschrocken hüpften die Wilden Küken beiseite und starrten auf die weiße Wolke, die zwischen ihnen waberte. »Ziemlich explosiv, diese Mehlwürmer!«, sagte Bob und sofort bekamen die vier Freundinnen einen Lachanfall.

Wenig später wanderten Lilli, Bob, Enya und Very mit einem Dutzend praller Mehlwürmer auf drei Tüten und Enyas Tasche verteilt über die Hahnenfußwiese Richtung Mühlenwald.

Bei jedem Schritt achteten Lilli, Bob und Very angespannt darauf, die Tüten nicht gegen ihre Knie zu schlenkern. Enya trug ihre Häkeltasche wie ein schlafendes Baby vorm Bauch.

Lilli schwitzte unter ihren sonnenwarmen Locken und war froh, als sie und ihre Freundinnen endlich in den kühlen Waldschatten traten.

Sie überquerten die kleine Lichtung, in deren Mitte die hohe Buche ihre dicken Astarme gen Himmel reckte. Im Vorbeigehen tätschelte Lilli die silbergraue Rinde des mächtigen Baums, wie Ole es manchmal tat. Lilli blickte kurz nach oben. Schon oft waren sie und Ole hinaufgeklettert und haben nebeneinander in der Astgabel gesessen. Zwei Baumfreunde. Und natürlich Erzfeinde! Sie, das Oberküken, und er, der Olmboss. Lillis Herz klopfte nicht nur aufgrund der explosiven Mehlwürmer in ihrer Tüte, auch nicht allein aus vorauseilender Schadenfreude über ihren nächsten Coup – es pochte auch wegen des Glücks, das Lilli über das wilde Bandenleben empfand. Dass dieses Leben wild war, hatte mit Ole und seinen Jungs zu tun, die das Spiel mitspielten. Lilli berührte den Silberstamm und sprang so schnell hinter ihren Freundinnen her, dass die Mehlwürmer in ihrer Tüte quietschten. Die Bandenmädchen stiegen über Brombeerranken, kletterten über umgefallene Baumstämme, duckten sich unter tief hängenden Zweigen hindurch und näherten sich schließlich vorsichtig dem Hauptquartier der Grottenolme. Mit etwas Abstand warteten sie in der Deckung dicht stehender Tannenbäumchen kurz ab. Nichts regte sich. Fern ertönte mehrmals hintereinander ein Vogelruf.

»Eichelhäher«, wisperte Enya und fischte ihr kleines Vogelnotizbuch aus der Gesäßtasche. Während Enya noch mit einem Bleistiftstummel in ihr Büchlein kritzelte, lugten Lilli, Bob und Very durch die Zweige hinüber zur Olmburg. An der Spitze des kahlen Fahnenmasts, der neben der stabil gezimmerten Hütte aufragte, hing schlaff der Wimpel mit dem aufgestickten Olm. Gelb auf die schon etwas verwitterte Bretterwand gepinselt, leuchteten die senkrecht nach unten geschriebenen Namen der vier Jungs. Ole, Little, Mitch und Erik. Quer gelesen ergaben die vier dicker gemalten Anfangsbuchstaben das Wort OLME.

Schon so oft hatten sich die Grottenolme und die Wilden Küken gegenseitig ausspioniert, sich Streiche gespielt und einander Fallen gestellt – und doch erfasste Lilli immer wieder ein angenehmer Schauder, wenn sie sich auf gegnerisches Terrain wagte.

Obwohl die Luft rein war und die Grottenolme mit ziemlicher Sicherheit kilometerweit entfernt im Sportzentrum Basketball spielten, pirschten sich die Wilden Küken fast lautlos und auf alles gefasst an die Hütte heran.

»Mist!« Lilli starrte auf das Zahlenschloss, das den Riegel vor der Hüttentür sicherte. »Seit wann haben sie das denn?«

»Kein Problem!« Very drehte an den Zahlenringen.

»Du kennst die Kombination?«, fragte Bob verblüfft, und auch Lilli und Enya sahen Very mit offen stehenden Mündern dabei zu, wie sie den Code einstellte.

»Mitch, das Mathegenie, kann sich doch keine Zahlen merken«, nuschelte Very. »Und neulich im Schwimmbad hab ich zufällig gesehen, dass er sich eine Vierer-Kombination auf die Sohle seiner Turnschuhe notiert hat!« Das Schloss in ihrer Hand klickte leise, Very öffnete den Riegel und schob die Hüttentür auf. »Darf ich bitten, die Damen?!«

»Vorsicht …«, mahnte Lilli, »nicht dass sie irgendeine Stolperleine oder sonst eine Alarmanlage für ungebetene Gäste haben!« Lilli tastete sich aufmerksam vor, und nacheinander folgten ihr die anderen Wilden Küken in die Höhle des Löwen, besser gesagt, der Grottenolme.

Licht fiel nur durch die Tür und in feinen Streifen durch die Ritzen der Bretterwand. Enya spreizte die Tür mit einem geschnitzten Wanderstab auf und murmelte: »Erik kann echt gut schnitzen.«

»Woher weißt du denn jetzt schon wieder, dass der Stecken Erik gehört?«, fragte Very. Allerdings mehr mit neckendem Unterton als eine Antwort erwartend. Auch wenn Enya selten davon erzählte, wussten alle, dass sie und Erik sich manchmal fürs Schwimmbad verabredeten, dass Enya Erik, der im Ruderclub aktiv war, manchmal zu seinen Trainingsstunden auf dem Fluss begleitete oder dass die beiden einfach mal zusammen ins Kino gingen. Aber alle wussten auch, dass Enya Erik trotzdem nie und nimmer Kükengeheimnisse verraten würde – und Erik sie umgekehrt nicht in geheime Olmpläne einweihte.

Lilli ließ ihren Blick durch die Hütte schweifen. An einer Wand hing das aus mehreren Wasserpistolen bestehende Waffenarsenal der Grottenolme. Am Boden vor der Waffenwand stand die mit drei kleinen Vorhängeschlössern gesicherte Geheimkiste der Jungs, auf deren Deckel ein Totenkopf gemalt war.

»Den hier hatten sie bei unserem letzten Besuch noch nicht!« Very lenkte den Blick der anderen Mädchen auf den kleinen Bluetooth-Lautsprecher neben dem Feldbett. Sie wischte ein paarmal über ihr neues Smartphone und schon dröhnte ihr Lieblingssong durch die Olmburg.

Lilli, Bob und Enya legten gleichzeitig ihre Zeigefinger an die Lippen und pschteten wie drei Giftschlangen.

Very tippte achselzuckend auf den Touchscreen, die Musik verstummte und die Wilden Küken machten sich an die Arbeit. Es erforderte einige Geduld, die Mehlwürmer mit der Angelschnur aneinanderzuknüpfen, bis sie endlich wie zwölf Weintrauben an der Rebe am Boden lagen. Enya warf das Ende der Schnur über den obersten Querbalken unterm Hüttendach. Bob fing es auf und zog vorsichtig daran. Langsam hob sich die Mehlwurmrebe vom Boden ab, schwebte Zug um Zug höher hinauf, bis sie unterm Dach baumelte.

Lilli schlug das Männermagazin in der Mitte auf, wickelte das Schnurende mehrmals um den Heftrücken und machte einen Knoten. »Wir brauchen noch was zum Beschweren …« Lilli hatte ihren Satz kaum beendet, da war Very schon vor die Hütte gesprungen und mit einem Stein von der Grillstelle der Olme zurückgekehrt. Bob hielt noch immer die Schnur, Enya und Lilli platzierten das präparierte Männermagazin auf den Deckel der Totenkopfkiste und Very hievte den schweren Stein drauf. Vorsichtig und langsam ließ Bob die sich unterm Gewicht der Mehlwurmrebe spannende Nylonschnur los, das Bündel senkte sich ab, schwang langsam aus und hing schließlich reglos im Gebälk.

Die transparente Angelschnur war nur noch mit Mühe zu erkennen. Bob kniff die Augen zusammen: »Ein bisschen sieht man sie schon noch!«

»Wenn man danach sucht«, sagte Enya.

»Und nicht von nackten Busen abgelenkt ist!«, kicherte Very. Lilli warf einen Kontrollblick von der Totenkopfkiste zu den direkt über ihr schwebenden Luftballonschlangen und grinste zufrieden. »Ole und seine Olme kommen rein und …«

»… entdecken das Männermagazin!«, ergänzte Enya und fuhr mit tiefer Stimme fort: »›Gehört das einem von euch, Jungs?‹, fragt Erik.«

»Und Mitch kriegt sich gleich gar nicht mehr ein … und sagt irgendwas wie …« Very ahmte jetzt Mitchs Tonfall nach: »Is’ ja voll geil, voll die vollbusigen Busen!«

»Little sagt nix«, fügte Bob hinzu.

»Und Ole«, meinte Lilli, »der sagt was wie: ›Vorsicht, Mitch, das könnte eine Falle sein‹ …«

»Aber da hat Mitch schon den Stein von der Nackten weggehoben, es reißt ihm die Zeitschrift aus der Hand und … die Mehlwü-wü-wü …« Very konnte vor Prusten nicht mehr weiterreden.

»… und die Mehlwürmer sausen auf die Grottenolme herunter«, vervollständigte Lilli den Satz, »und – peng!«

Bob legte anerkennend ihre Hand auf Lillis Schulter. »Guter Plan, Oberküken!«

»Die perfekte Begrüßung im neuen Schuljahr!«, sagte Enya.

Ein paar Sekunden lang blickten die Wilden Küken fast andächtig ins Gebälk, dann verließen sie die Olmburg, legten das Zahlenschloss wieder vor und machten sich aus dem Staub.