Die Wildnis des Lebens - Horacio Quiroga - E-Book

Die Wildnis des Lebens E-Book

Horacio Quiroga

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Beschreibung

In einer intensiven und mitreißenden Weise umkreisen Quirogas Erzählungen oft große, schwere Themen wie Tod, Wahnsinn oder unglückliche Liebe. Tatsächlich war Horacio Quirogas Leben derart geprägt von Tragödien und Verlust, dass es schwerfällt, Leben und Werk nicht miteinander kurzzuschließen. Quiroga erzählt vom Ringen des Einzelnen angesichts eines Daseins, das sich stets als größer als er selbst und letztlich unbezwingbar erweist. Dabei verliert dieses Ringen nie an Spannung – atmosphärisch dicht, psychologisch genau, im Ton bisweilen fast lakonisch entspinnt Quiroga fesselnde Geschichten vom Horror und Mysterium des Auf-der-Welt-Seins. Ein moderner Klassiker der Weltliteratur.

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Seitenzahl: 539

Veröffentlichungsjahr: 2010

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Horacio Quiroga

Die Wildnis des Lebens

Gesammelte Erzählungen

Ausgewählt und aus dem Spanischen übersetzt von Angelica Ammar

Fischer e-books

Inhalt

Eine Jahreszeit der Liebe

I

Frühjahr

Es war Faschingsdienstag. Nébel war in der bereits anbrechenden Dunkelheit soeben in die Promenade eingefahren und öffnete gerade ein Paket Luftschlangen, als er auf die Kutsche vor ihm aufmerksam wurde. Verwundert über ein Gesicht, das er am Vortag nicht in dem Wagen gesehen hatte, fragte er seine Begleiter:

»Wer ist das? Sieht nicht übel aus.«

»Ein Teufelsding! Prachtvoll. Ich glaube, sie ist eine Nichte oder so etwas von Doktor Arrizabalaga. Sie kam wohl gestern an …«

Nébel nahm das berückende Wesen genauer in Augenschein. Es war ein noch junges Mädchen, womöglich nicht älter als vierzehn, und doch schon ganz Frau. Unter dem sehr dunklen Haar schimmerte ihr Gesicht in dem matten, ebenmäßigen Weiß, das nur einer äußerst feinen Haut zu eigen ist. Blaue, mandelförmige Augen, zu den Schläfen hin von schwarzen Wimpern umschattet. Vielleicht etwas zu weit auseinanderstehend, was unter einer glatten Stirn eine sehr edle oder sehr trotzige Ausstrahlung verleiht. Ihr Blick jedoch brachte dieses aufblühende Erscheinungsbild durch seine Schönheit zum Leuchten. Und als Nébel ihn für einen Moment in seinem liegen fühlte, war er wie geblendet.

»Wie entzückend!«, murmelte er, gebannt ein Knie aufs Wagenkissen gezogen. Kurz darauf flogen seine Luftschlangen der Victoria Kutsche entgegen. Bald waren beide Wagen durch die Hängebrücke aus Papier verbunden, und die, für die sie gespannt wurde, lächelte dem galanten jungen Mann hin und wieder zu.

Doch das Ganze artete bereits in eine Respektlosigkeit gegenüber den Insassen, den Kutschern und sogar den Kutschen selbst aus: Ohne Unterlass regnete es Luftschlangen. So sehr, dass die beiden hinten sitzenden Personen sich umdrehten und den verschwenderischen Werfer zwar wohlgesinnt, aber doch eingehend musterten.

»Wer ist das?«, fragte Nébel leise.

»Doktor Arrizabalaga … Den kennst du doch bestimmt. Die andere ist die Mutter deines Mädchens … die Schwägerin des Doktors.«

Da Arrizabalaga und die Frau Mutter auf ihre Prüfung hin angesichts dieses jugendlichen Überschwangs freimütig lächelten, fühlte Nébel sich in der Pflicht, sie zu begrüßen; was das Terzett mit freundlicher Herablassung erwiderte.

Das war der Beginn eines drei Monate währenden Idylls, in das Nébel alle Anbetung legte, zu der seine leidenschaftliche Jugend fähig war. Solange die Kutschenpromenade andauerte, und in Concordia endet sie zu unglaublich später Stunde, hielt Nébel seinen Arm so unaufhörlich nach vorne gestreckt, dass sich seine Manschetten lösten und um die Handgelenke schlenkerten.

Am nächsten Tag wiederholte sich die Szene; diesmal wurde die Spazierfahrt nachts mit einer Blumenschlacht verlängert, und Nébel leerte in einer Viertelstunde vier mächtige Körbe. Arrizabalaga und die Frau Mutter drehten sich immer wieder lachend um, und das junge Mädchen wandte kaum den Blick von Nébel. Dieser sah verzweifelt auf seine leeren Körbe. Doch auf dem Wagenkissen des Vierspänners lag noch ein kleiner Strauß mit Strohblumen und Jasmin aus der Gegend. Nébel sprang damit über das Wagenrad, wobei er sich fast den Knöchel stauchte, lief keuchend, schweißüberströmt und euphorisch zu der Victoria Kutsche, um dem jungen Mädchen den Strauß zu reichen. Dieses begann kopflos, ebenfalls nach einem zu suchen, fand aber keinen. Ihre Begleiter lachten.

»Meine kleine Närrin«, sagte die Mutter und deutete auf die Brust des Mädchens. »Da hast du doch einen!«

Die Kutsche rollte los. Nébel, der niedergeschlagen vom Trittbrett gestiegen war, lief hinterher und bekam den Blumenstrauß zu fassen, den das Mädchen ihm aus der Kutsche gelehnt hinhielt.

Nébel war drei Tage zuvor aus Buenos Aires eingetroffen, wo er die höhere Schule abschloss. Er lebte seit sieben Jahren dort, so dass er mit der gegenwärtigen Gesellschaft Concordias nicht besonders vertraut war. Er sollte zwei Wochen in seiner Heimatstadt verbringen, um dort, wenn nicht seinen Körper, so zumindest seinen Geist zu erholen. Und nun verlor er bereits am zweiten Tag jeden Seelenfrieden. Aber für welch entzückendes Wesen!

»Ein entzückendes Wesen!«, wiederholte er für sich und dachte an jenen Lichtstrahl, jene weibliche Blüte und Gestalt, die sich ihm in der Kutsche dargeboten hatte. Er gestand sich ein, ganz und gar geblendet und selbstverständlich verliebt zu sein.

Und wenn sie ihn auch liebte! … Würde sie ihn lieben? Seine Zweifel wurden Nébel nicht so sehr von dem Strauß an seiner Brust zerstreut als von der verwirrten Hast, mit der das junge Mädchen etwas gesucht hatte, das sie ihm geben könnte. Er rief sich ihre glänzenden Augen hervor, als er der Kutsche hinterhergelaufen war, die Nervosität, mit der sie ihn erwartet hatte; und dann, ein anderer Aspekt, ihre zarte Mädchenbrust beim Hinausreichen des Sträußchens.

Und nun alles vorbei! Am nächsten Tag würde sie nach Montevideo fahren. Was galten ihm alle anderen, Concordia, seine Freunde von früher, selbst sein Vater? Er würde sie zumindest bis nach Buenos Aires begleiten.

Und tatsächlich unternahmen sie die Reise gemeinsam, in deren Verlauf Nébel die höchsten Gipfel der Leidenschaft erklomm, die ein romantischer junger Mann von achtzehn Jahren, der seine Liebe erwidert weiß, erfahren kann. Die Mutter wohnte diesem beinahe kindlichen Idyll wohlwollend bei, und oft lachte sie, wenn sie sah, wie die beiden kaum sprachen, immerzu lächelten und sich unaufhörlich in die Augen blickten.

Der Abschied war kurz, denn Nébel wollte nicht den letzten Rest Verstand verlieren, der ihm noch geblieben war, und verbat sich, ihr hinterherzulaufen.

Sie sollten im Winter nach Concordia zurückkommen, womöglich für die ganze Saison. Ob er auch dort sei?

»Wie sollte ich nicht!« Und während sich Nébel langsam über die Mole entfernte, sich immer wieder umdrehte, lehnte sie mit gesenktem Kopf über der Reling und folgte ihm mit dem Blick; unten auf dem Zwischendeck hoben die Matrosen ihre Blicke fröhlich zu diesem Idyll und dem noch kurzen Kleid der blutjungen Auserkorenen.

Sommer

Am 13. Juni kehrte Nébel nach Concordia zurück, und obwohl er von Anfang an wusste, dass Lidia auch dort war, verging eine ganze Woche, ohne dass ihn dies sonderlich kümmerte. Vier Monate sind mehr als genug für eine jäh entflammte Leidenschaft, und ihr letztes Aufflackern in den schlummernden Tiefen seiner Seele war kaum noch ein kleiner Stich in seiner Eigenliebe. Allerdings war er doch neugierig, sie zu sehen. Und schließlich traf ein winziger Vorfall ihn in seiner Eitelkeit und verdrehte ihm erneut den Kopf. Am ersten Sonntag passte Nébel, wie alle braven jungen Männer des Dorfes, nach der Messe die Kirchgänger ab. Endlich kamen, beinahe zuletzt, Lidia und ihre Mutter sehr aufrecht und mit vorwärts gerichtetem Blick an der Reihe der jungen Männer vorbei.

Als Nébel sie nun wiedersah, weiteten sich seine Augen, um die jäh von neuem angebetete Gestalt ganz zu erfassen. Mit beinahe schmerzhafter Ungeduld sehnte er den Moment herbei, in dem sie ihn mit einem freudig überraschten Aufglänzen ihrer Augen in der Menge ausmachen würde.

Doch ging sie einfach vorbei, mit kühl geradeaus gerichtetem Blick.

»Es scheint, sie erinnert sich nicht an dich«, sagte ein neben Nébel stehender Freund, der das Geschehen mitverfolgt hatte.

»Nicht besonders«, sagte dieser lächelnd. »Schade, im Grunde gefiel mir das Mädchen.«

Doch als er allein war, beweinte er sein Unglück. Jetzt, da er sie wiedergesehen hatte! Wie sehr, wie sehr hatte er sie immer geliebt, wie konnte er glauben, sie vergessen zu haben! Und jetzt alles vorbei! Aus, aus, aus!, wiederholte er sich, ohne es zu merken. Aus und vorbei!

Dann plötzlich der Gedanke: ›Und wenn sie mich nicht gesehen haben?‹ Aber natürlich! Seine Miene erhellte sich wieder, und er klammerte sich voller Überzeugung an diese vage Möglichkeit.

Um drei Uhr sprach er im Haus von Doktor Arrizabalaga vor. Sein Plan war einfach: Er würde unter irgendeinem nichtigen Vorwand den Anwalt konsultieren, und vielleicht bekäme er sie dabei zu Gesicht.

Auf sein Klingeln hin hörte man jemanden durch den Innenhof laufen, und Lidia stieß in ihrem Schwung beinahe gegen die Glastür. Sie sah Nébel, stieß einen Schrei aus, kaschierte mit den Armen ihre leichte Bekleidung und stob noch schneller davon.

Kurz darauf ließ ihre Mutter ihn zum Kontor herein, wobei sie ihrem einstigen jungen Bekannten ein noch lebhafteres Wohlwollen entgegenbrachte als vier Monate zuvor. Nébel war außer sich vor Freude, die Dame fragte nicht weiter nach seinen rechtlichen Sorgen, und auch Nébel zog ihre Gesellschaft der des Anwalts tausendmal vor.

Trotz allem ließ ihn die allzu brennende Beglückung auf Kohlen sitzen. Und da er achtzehn Jahre alt war, sehnte er sich vor allem danach, sich wieder zu verabschieden und allein in seinem unendlichen Glück zu schwelgen.

»So rasch!«, sagte die Frau Mutter. »Wir dürfen Sie doch wieder hier begrüßen, nicht wahr?«

»Aber ja, gnädige Frau!«

»Es würde uns alle sehr freuen … Zumindest gehe ich davon aus. Sollen wir uns dessen vielleicht vergewissern?«, fragte sie und lächelte mütterlich neckend.

»Von Herzen gern!«, antwortete Nébel.

»Lidia, komm doch einen Moment! Hier ist jemand, den du kennst.«

Als Lidia ins Zimmer kam, stand Nébel schon. Sie ging mit freudestrahlendem Blick auf ihn zu und reichte ihm mit anrührender Ungeschicktheit einen großen Strauß Veilchen.

»Wenn Sie nichts dagegen haben«, fuhr die Mutter fort, »können Sie jeden Montag kommen … Was meinen Sie?«

»Das ist zu wenig, gnädige Frau!«, erwiderte der junge Mann. »Freitags auch … Erlauben Sie mir das?«

Die Mutter lachte auf.

»Wie stürmisch! Ich weiß nicht … Mal sehen, was Lidia davon hält. Was sagst du, mein Kind?«

Das junge Mädchen antwortete ohne Umschweife »Ja«, den leuchtenden Blick unverwandt auf Nébel gerichtet, da sie schließlich ihm die Antwort schuldig war.

»Also gut, dann bis Montag, Nébel.«

Worauf Nébel einwandte:

»Würden Sie mir nicht erlauben, heute Abend wiederzukommen? Es ist ein so besonderer Tag …«

»Na gut, dann eben auch heute Abend. Begleite ihn nach draußen, Lidia.«

Doch Nébel verspürte das dringende Bedürfnis, sich zu bewegen, und verabschiedete sich gleich von ihr, worauf er mit seinem Strauß, dessen Stiele er schon fast zerfleddert hatte, das Weite suchte, im Himmel der höchsten Glückseligkeit schwebend.

II

Zwei Monate lang beteten sich Nébel und Lidia jeden Augenblick an, den sie sich sahen, und jede Minute, die sie getrennt waren. Für ihn, der so romantisch veranlagt war, dass schon das Grau eines leichten Nieselregens im Hof ihn in einen Zustand schmerzlicher Melancholie versetzte, musste dieses früh erblühte Wesen mit dem engelhaften Antlitz und den blauen Augen so etwas wie einem Ideal denkbar nahe kommen. Für sie erwies sich Nébel als stattlicher, gut aussehender und kluger Verehrer. Das Einzige, was ihre gegenseitige Liebe trübte, war Nébels noch nicht erreichte Volljährigkeit. Der junge Mann scherte sich nicht um Studium, Laufbahn und derlei Oberflächlichkeiten, er wollte heiraten. Nur zwei Dinge sprachen dafür: dass es ihm absolut unmöglich war, ohne Lidia zu leben, und er entschlossen war, sich über alles hinwegzusetzen, was sich ihm in den Weg stellen sollte. Er ahnte – oder fühlte vielmehr –, dass er bitter scheitern würde.

In der Tat holte er sich regelmäßige Tadel seines Vaters ein, der zutiefst verärgert darüber war, dass Nébel nach einer Faschingsliebelei ein ganzes Studienjahr verlor. Ende August nahm er sich seinen Sohn schließlich vor:

»Ich habe gehört, dass du dem Haus Arrizabalaga weiter Besuche abstattest. Stimmt das? Du gedenkst ja offenbar nicht, mir etwas davon zu sagen.«

Nébel merkte, welcher Sturm sich hinter dieser würdevollen Formulierung verbarg, und mit leicht bebender Stimme antwortete er:

»Ich habe dir nichts davon gesagt, Papa, weil ich weiß, dass dir dieses Thema nicht gefällt.«

»Pah! Die Mühe, mir gefallen zu wollen, kannst du dir sparen … Aber ich würde gern erfahren, in welcher Position du dich befindest. Verkehrst du in diesem Haus als Verlobter?«

»Ja.«

»Und du wirst offiziell empfangen?«

»Ich glaube, ja …«

Der Vater musterte ihn starr und trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

»Na so etwas! Fabelhaft! … Aber jetzt hör mir zu, denn es ist meine Pflicht, dich in die richtige Bahn zu bringen. Weißt du, was du da tust? Ist dir klar, wohin das führen kann?«

»Führen? … Was?«

»Wenn du dieses Mädchen heiratest. Überlege doch einmal selbst, alt genug zum Nachdenken bist du schließlich. Weißt du, wer sie ist? Woher sie kommt? Kennst du jemanden, der über ihr Leben in Montevideo unterrichtet ist?«

»Papa!«

»Ja, was sie dort tun und treiben! Pah, mach nicht so ein Gesicht … Ich meine nicht … deine Braut. Die ist noch ein Kind und weiß nicht, was sie tut. Aber weißt du, wovon sie leben?«

»Nein, und es ist mir auch egal. Und auch wenn du mein Vater bist …«

»Pah, pah, pah! Heb dir das für später auf. Ich spreche nicht als Vater zu dir, sondern wie jeder Mann von Ehre es tun würde. Und wenn dich meine Fragen so empören, erkundige dich selbst bei wem auch immer, welcher Art die Beziehung zwischen der Mutter deiner Braut und ihrem Schwager sind.«

»Ich weiß schon, sie war …«

»Ach! Du weißt also, dass sie die Geliebte von Arrizabalaga war? Und dass er oder wer auch immer das Haus in Montevideo unterhält? Und das lässt dich ganz ungerührt!«

»…!«

»Ja, ich weiß. Deine Braut hat damit nichts zu tun! Es gibt keine schönere Geste als deine … Aber sei auf der Hut, du könntest zu spät kommen … Nein, nein, ganz ruhig! Es ist nicht meine Absicht, deine Braut zu beleidigen, wie gesagt glaube ich nicht, dass ihre verdorbene Umgebung schon auf sie abgefärbt hat. Aber wenn die Mutter sie dir, oder vielmehr dem Vermögen, das du nach meinem Tod erben wirst, als Angetraute verkaufen will, dann richte ihr aus, dass sich der alte Nébel zu einem solchen Handel nicht hergibt und eher vom Teufel holen lässt, als seine Einwilligung zu dieser Heirat zu geben. Das ist alles, was ich zu sagen habe.«

Der junge Mann war seinem Vater trotz dessen Temperaments aufrichtig zugetan; er verließ seinen Vater wütend darüber, dass er seinem Zorn keine Luft machen konnte, der umso heftiger war, als er ihn selbst nicht rechtfertigen konnte. Seit einiger Zeit schon war er im Bilde. Lidias Mutter war zu Lebzeiten ihres Mannes und noch vier oder fünf Jahre über dessen Tod hinaus Arrizabalagas Geliebte gewesen. Jetzt sahen sie sich gelegentlich nachmittags, aber der alte Charmeur, inzwischen ein von der Arthritis geplagter, kränklicher Junggeselle, war weit davon entfernt, seiner Schwägerin das zu sein, was man allgemein munkelte; und wenn er Mutter und Tochter mit Apanagen unterstützte, so geschah dies teils aus einer gewissen Dankbarkeit des ehemaligen Geliebten heraus, teils, um dem seiner Eitelkeit schmeichelnden Gerede Nahrung zu geben.

Nébel rief sich die Mutter ins Gedächtnis, und mit dem Schauder eines jungen Mannes, der eine Schwäche für verheiratete Frauen hat, erinnerte er sich an einen Abend, an dem sie gemeinsam eine Zeitschrift durchgeblättert hatten und seine plötzlich angespannten Nerven einen tiefen Hauch des Verlangens von dem reifen Körper ausgehen spürten, der neben ihm über die Illustrierte gebeugt war. Und als er den Kopf hob, sah Nébel, wie sich ihr verschleierter Blick schwer auf ihn legte.

Hatte er sich geirrt? Sie war entsetzlich hysterisch, was aber nur selten zum Vorschein kam; ihre wirren Nerven hämmerten auf ihr Inneres ein, weshalb sie ebenso krankhaft auf einer Laune beharren wie jäh eine Überzeugung fallen lassen konnte; und die Vorboten eines Ausbruchs waren eine wachsende, krampfhafte Beharrlichkeit, die sich auf gewaltige Absurditäten stützte. Sie nahm Morphium, aus drängender Notwendigkeit und weil es Stil hatte. Sie war siebenunddreißig Jahre alt, groß und hatte fleischige rote Lippen, die sie unaufhörlich anfeuchtete. Ihre Augen wirkten durch ihre Form und ihre langen Wimpern größer, als sie waren, aber berückend umschattet und glutvoll. Sie schminkte sich. Wie ihre Tochter war sie stets elegant gekleidet, und das war zweifellos ihr größter Reiz. Sie musste einmal eine sehr anziehende Frau gewesen sein, doch inzwischen hatte sich die Hysterie auf ihren Körper ausgewirkt, zudem war sie magenkrank. Wenn der Morphiumrausch nachließ, wurde ihr Blick trübe, und um ihre Mundwinkel und die stark gewölbten Lider zeichnete sich ein feines Faltennetz ab. Doch trotz allem war eben diese Hysterie, die ihre Nerven zersetzte, der beinahe magische Ursprung ihrer Energie.

Sie liebte Lidia aus tiefstem Herzen; und entsprechend der Moral der hysterischen Frauen aus gutbürgerlichen Kreisen hätte sie ihre Tochter sogar korrumpiert, um sie glücklich zu machen, das heißt, um ihr zu verschaffen, was sie selbst für sich als Glück bezeichnet hätte.

Deshalb sah sich Nébel von den Bedenken seines Vaters in den Tiefen seines Verehrerdaseins getroffen. Wie war Lidia dem entkommen? Denn ihre klaren Züge, ihre rückhaltlose, mädchenhafte Leidenschaft, die mit anrührender Offenheit aus ihren glänzenden Augen sprach, waren nicht nur der Beweis für ihre Unschuld, sondern der Schritt zu einer edlen Glückseligkeit, die Nébel triumphierend anstrebte, um der verdorbenen Pflanze die Blüte zu entreißen, die nach ihm verlangte.

Davon war Nébel so überzeugt, dass er sie nicht einmal geküsst hatte. Eines Nachmittags kam er nach dem Mittagessen am Haus von Arrizabalaga vorbei und verspürte eine übermächtige Sehnsucht, sie zu sehen. Sein Glück war komplett, als er sie allein antraf, im Morgenrock, die Löckchen offen in die Wangen hängend. Nébel drängte sie in die Enge, worauf sie sich lachend, aber befangen gegen die Wand lehnte. Und der junge Mann vor ihr, der sie kaum berührte, fühlte in seinen reglosen Händen das unermessliche Glück einer unangetasteten Liebe, die er so leicht hätte beflecken können.

Aber war sie erst einmal seine Frau! Nébel versuchte, die Hochzeit nach Möglichkeit zu beschleunigen. Seine in diesen Tagen erreichte Volljährigkeit erlaubte es ihm, mit dem mütterlichen Erbteil die Kosten zu decken. Fehlte nur die Einwilligung seines Vaters, auf der Lidias Mutter beharrte.

Ihre in Concordia mehr als zweifelhafte Situation bedurfte einer gesellschaftlichen Akzeptanz, die natürlich beim zukünftigen Schwiegervater ihrer Tochter beginnen musste. Vor allem aber wurde sie von dem Verlangen getrieben, die bürgerliche Moral in die Knie vor eben der Unschicklichkeit zu zwingen, die sie mit Verachtung strafte.

Mehrmals hatte sie bereits bei ihrem künftigen Schwiegersohn vorgefühlt, indem sie Anspielungen auf »den Schwiegervater«, »meine neue Familie«, »die Schwägerin meiner Tochter« machte. Nébel sagte nichts dazu, worauf die Augen der Mutter noch glühender funkelten.

Bis das schwelende Feuer eines Tages entflammte. Nébel hatte den 18. Oktober als Hochzeitstermin festgelegt. Es war noch über einen Monat Zeit, aber die Mutter gab dem jungen Mann deutlich zu verstehen, dass sie auf der Anwesenheit seines Vaters an diesem Abend bestand.

»Das wird schwierig sein«, sagte Nébel nach einem betretenen Schweigen. »Es fällt ihm schwer, abends das Haus zu verlassen … Er geht nie aus.«

»Ach!«, rief die Mutter und biss sich rasch auf die Lippen. Es folgte eine weitere, bereits bedeutungsschwere Pause.

»Sie haben doch nicht etwa vor, heimlich zu heiraten, nicht wahr?«

»O nein«, sagte Nébel mit einem gequälten Lächeln. »Das befürchtet mein Vater auch gar nicht.«

»Also?«

Ein erneutes, noch angespannteres Schweigen.

»Bin ich der Grund, dass Ihr Herr Vater nicht kommen will?«

»Aber nein, gnädige Frau!«, rief Nébel ungeduldig aus. »Er ist eben so … Ich werde noch einmal mit ihm sprechen, wenn Sie möchten.«

»Wenn ich möchte?«, sagte die Mutter und lächelte mit aufgeblähten Nasenflügeln. »Tun Sie, was Ihnen gefällt … Und würden Sie jetzt bitte gehen, Nébel? Ich fühle mich nicht wohl.«

Nébel verließ das Haus zutiefst verärgert. Was würde sein Vater sagen? Er weigerte sich weiterhin kategorisch, dieser Ehe seine Einwilligung zu geben, und der Sohn hatte bereits die formalen Schritte eingeleitet, um auf eine solche verzichten zu können.

»Du kannst tun und lassen, was du willst. Aber meine Einwilligung, dass diese Mätresse deine Schwiegermutter wird, bekommst du nie und nimmer!«

Drei Tage später beschloss Nébel, diesem Zustand ein für allemal ein Ende zu bereiten, und nützte dafür einen Moment, in dem Lidia nicht im Zimmer war.

»Ich habe mit meinem Vater gesprochen«, sagte Nébel, »und er hat mir gesagt, es sei ihm ganz unmöglich, bei der Hochzeit anwesend zu sein.«

Die Mutter wurde leicht blass, und ihre aufblitzenden Augen zogen sich zu Schlitzen bis zu den Schläfen.

»Ach! Und warum?«

»Ich weiß nicht«, entgegnete Nébel verhalten.

»Das heißt … Ihr Herr Vater hat Angst, sich zu beschmutzen, wenn er die Füße in dieses Haus setzt.«

»Ich weiß es nicht!«, wiederholte Nébel ebenso beharrlich.

»Das ist eine schiere Beleidigung von Seiten dieses Herrn! Für wen hält er sich eigentlich?«, brachte sie mit belegter Stimme und zittrigen Lippen hervor. »Wer ist er denn schon, um sich das zu erlauben?«

Da fühlte Nébel tief in sich seinen Familienstolz aufwallen.

»Wer er ist, weiß ich nicht!«, entgegnete er mit ebenfalls erregter Stimme. »Jedenfalls will er auf keinen Fall dabei sein und verweigert auch seine Einwilligung.«

»Was? Er verweigert sie? Und warum bitte schön? Wer ist er denn schon? Da redet ja der Richtige!«

Nébel erhob sich:

»Lassen Sie …«

Aber sie war ebenfalls aufgestanden.

»Und ob, und ob! Sie sind ja noch grün hinter den Ohren, aber fragen Sie ihn doch, woher er sein Vermögen hat, seinen Klienten hat er es geraubt! Und dann so fein zu tun! Seine makellose Familie, mit der er den Mund so voll nimmt! Seine Familie! … Sagen Sie ihm, er soll Ihnen erzählen, über wie viele Mauern er klettern musste, um mit seiner Frau zu schlafen, und zwar vor der Hochzeit! O ja, und der kommt mir mit seiner Familie! … Aber gut, dann gehen Sie nur, ich habe die Nase voll von diesen Heucheleien! Möge es Ihnen gut ergehen!«

III

Nébel verbrachte vier Tage in völliger Verzweiflung. Was konnte er sich nach dem Vorgefallenen noch erhoffen? Am fünften Tag erhielt er abends eine Nachricht.

Octavio,

Lidia ist ziemlich krank, nur Ihre Anwesenheit könnte ihr Linderung verschaffen.

María S. de Arrizabalaga

Es war eine List, keine Frage. Aber wenn Lidia wirklich …

Er ging am selben Abend hin, und die Mutter empfing ihn mit einer diskreten Zurückhaltung, die Nébel erstaunte; ohne große Überschwänglichkeit, aber auch nicht wie eine Sünderin, die um Verzeihung bittet.

»Ich bringe Sie zu ihr …«

Nébel folgte der Mutter und erblickte seine Angebetete im Bett, die Beine angezogen und das Antlitz ohne jeden Puder so frisch, wie man es einzig bei einer Vierzehnjährigen findet.

Er setzte sich an ihre Seite, und die Mutter wartete vergebens auf ein Wort zwischen den beiden; sie sahen sich einfach nur an und lächelten.

Da merkte Nébel plötzlich, dass sie alleine waren, und das Bild der Mutter stieg überdeutlich vor ihm auf. ›Sie zieht sich zurück, damit ich in einem Liebesüberschwang den Kopf verliere und zur Heirat gezwungen bin.‹ Doch in dieser Viertelstunde des letzten Genusses, den man ihm zum Preis einer Heirat im Voraus gewährte, empfand der Achtzehnjährige wieder – wie bereits bei dem Zwischenfall an der Wand – das unbefleckte Vergnügen einer reinen Liebe und ihres poetischen Idylls.

Nébel allein wusste, wie groß sein wiedererlangtes Glück nach dem erlittenen Schiffbruch war. Auch ihm waren die diffamierenden Ausbrüche der Mutter ein Gräuel, ihr wütender Drang, andere unverdient zu beschimpfen. Aber er hatte die kühle Entscheidung getroffen, die Mutter nach ihrer Hochzeit auf Distanz zu halten. Die Erinnerung an seine zarte, lachende Verlobte im Bett, dessen eines Eck man für ihn frei gemacht hatte, entflammte die Verheißung einer uneingeschränkten Sinnlichkeit, der er nicht den kleinsten Diamanten vorzeitig geraubt hatte.

Als Nébel am nächsten Abend beim Haus der Arrizabalagas ankam, stand er vor einem dunklen Eingang. Nach einer langen Weile öffnete das Dienstmädchen ein Fenster.

»Sind die Damen ausgegangen?«, fragte Nébel verwundert.

»Nein, sie sind auf dem Weg nach Montevideo. Sie wollen in Salto auf dem Schiff übernachten.«

»Ach!«, murmelte Nébel erschrocken. Doch er hatte noch eine Hoffnung.

»Ist der Doktor da? Kann ich mit ihm sprechen?«

»Er ist nach dem Abendessen in den Club gegangen.«

Wieder zurück auf der Straße, ließ Nébel mutlos die Arme sinken. Alles vorbei! Sein Glück, seine einen Tag zuvor wiedererkämpfte Glückseligkeit, erneut und für immer verloren! Er ahnte, dass es diesmal keine Rettung gab. Die Nerven waren mit der Mutter durchgegangen, und er konnte rein gar nichts mehr tun.

Er ging bis zur nächsten Ecke, blieb unter der Straßenlaterne stehen und betrachtete wie vor den Kopf geschlagen das rosafarbene Haus. Nie mehr, nie mehr wieder!

Bis halb zwölf rührte er sich nicht von der Stelle. Dann ging er nach Hause und lud seinen Revolver. Nur eine Erinnerung hielt ihn noch zurück: Monate zuvor hatte er einem deutschen Zeichner versprochen, dass er ihm, sollte er sich eines Tages umbringen wollen – Nébel befand sich schließlich in seinen Sturm- und Drang-Jahren –, vorher einen Besuch abstatten würde. Eine alte Freundschaft, gefestigt durch lange philosophische Gespräche, verband ihn mit dem alten wilhelminischen Soldaten.

Am nächsten Morgen in aller Frühe suchte Nébel ihn in seinem kargen Zimmer auf. Seine Miene sprach für sich.

»Ist es so weit?«, fragte ihn der väterliche Freund und drückte ihm fest die Hand.

»Still! Ach, ist ja alles egal! …«, erwiderte der junge Mann und wandte den Kopf ab.

Da erzählte ihm der Zeichner ruhig seine eigene tragische Liebesgeschichte.

»Gehen Sie nach Hause«, sagte er abschließend, »und wenn Sie um elf Uhr nicht die Meinung geändert haben, kommen Sie, und wir essen gemeinsam zu Mittag, wenn wir etwas auftreiben. Danach können Sie tun, was Sie wollen. Versprechen Sie mir das?«

»Versprochen«, sagte Nébel, und während er den festen Händedruck erwiderte, stiegen ihm fast die Tränen in die Augen.

Zu Hause erwartete ihn eine Karte von Lidia.

Angebeteter Octavio,

meine Verzweiflung könnte nicht größer sein; aber Mama hat erkannt, dass mir großer Schmerz bevorsteht, wenn ich Sie heirate; wie sie habe ich eingesehen, dass es das Beste ist, wir gehen getrennte Wege; ich schwöre Ihnen, dass ich Sie nie vergessen werde.

Ihre Lidia

»So musste es ja kommen!«, rief der junge Mann und erblickte gleichzeitig voller Entsetzen sein fahles Gesicht im Spiegel. »Diesen Brief hat ihr die Mutter vorgegeben, in ihrem verfluchten Wahn! Lidia konnte nicht anders, als ihn schreiben, und das arme Mädchen hat sich beim Schreiben die Seele aus dem Leib geweint. Ach, könnte ich sie doch nur einmal wiedersehen, ihr sagen, wie sehr ich sie geliebt habe, wie sehr ich sie noch immer liebe, Geliebte meines Herzens!«

Zitternd ging er zum Nachttisch und holte den Revolver hervor; doch da erinnerte er sich an sein soeben gemachtes Versprechen, und eine sehr lange Weile blieb er so stehen und rieb zerstreut mit dem Fingernagel an einem Fleck auf der Revolvertrommel.

Herbst

Eines Nachmittags war Nébel in Buenos Aires gerade in die Trambahn eingestiegen, als er merkte, dass diese etwas länger hielt als üblich, so dass er von seiner Lektüre aufsah. Eine Frau ging langsam und beschwerlich zwischen den Sitzbänken hindurch. Nach einem kurzen Blick auf die schwerfällige Person las Nébel weiter. Die Dame setzte sich neben ihn, wobei sie ihren Nachbarn aufmerksam ansah. Obwohl Nébel den fremden Blick von Zeit zu Zeit auf sich liegen spürte, unterbrach er seine Lektüre nicht; bis es ihm schließlich doch zu viel wurde und er irritiert den Kopf hob.

»Dachte ich mir doch, dass Sie es sind«, rief die Dame aus. »Aber ganz sicher war ich mir noch nicht … Sie erinnern sich nicht an mich, nicht wahr?«

»Sehr wohl«, entgegnete Nébel, und seine Augen weiteten sich. »Señora de Arrizabalaga …«

Beim Anblick von Nébels Überraschung lächelte sie wie eine alte Kurtisane, die immer noch versucht, einem jungen Mann zu gefallen.

Von ihrer einstigen Person – wie Nébel sie elf Jahre zuvor gekannt hatte – waren nur noch die Augen übrig, wenn auch erloschen und in tiefen Höhlen. Sie hatte eine gelbe, in den Schatten grünliche Haut, von Furchen durchzogen, in denen sich der Puder sammelte. Ihre Wangenknochen hoben sich jetzt stark ab, und die immer noch fleischigen Lippen bemühten sich, ein vom Karies zersetztes Gebiss zu kaschieren. In ihrem ausgemergelten Körper sah man durch die erschöpften Nervenbahnen und verwässerten Adern förmlich das Morphium fließen, das die elegante Frau, die einst neben ihm eine Zeitschrift durchgeblättert hatte, zum Skelett gemacht hatte.

»Ja, ich bin alt geworden … und krank; meine Nieren machen mir zu schaffen … Aber Sie«, fügte sie mit einem zärtlichen Blick auf ihn hinzu, »ganz der Alte! Nun sind Sie ja noch nicht einmal dreißig … Lidia hat sich auch nicht verändert.«

Nébel sah auf.

»Unverheiratet?«

»Allerdings … Wie wird sie sich freuen, wenn ich ihr das erzähle! Warum der Armen nicht die Freude machen? Wollen Sie uns nicht besuchen kommen?«

»Sehr gern …«, murmelte Nébel.

»Ja, kommen Sie recht bald; denken Sie daran, was wir für Sie bedeutet haben … Nun ja, wir wohnen jedenfalls Boedo 1483, Wohnung 14 … Unsere Situation ist so erbärmlich …«

»O«, bemerkte er dazu und erhob sich. Er versprach, sie bald zu besuchen.

 

Zwölf Tage später musste Nébel in die Zuckerfabrik zurück, aber vorher wollte er seinem Versprechen nachkommen. Er begab sich also zu ihnen – in eine ärmliche Vorstadtwohnung. Señora de Arrizabalaga empfing ihn, während Lidia sich ein wenig zurechtmachte.

»Ganze elf Jahre!«, sagte die Mutter wieder. »Wie doch die Zeit vergeht! Und Sie könnten schon etliche Kinder mit Lidia haben!«

»Zweifellos«, sagte Nébel lächelnd und sah sich um.

»Ach, wir sind hier gar nicht gut untergebracht! Erst recht im Vergleich mit Ihrem Haus … Ich höre immer von Ihrer Zuckerplantage … Ist das Ihre einzige Besitzung?«

»Ja … Mit der in Entre Ríos …«

»Sie Glücklicher! Könnte man doch … Immer diese Sehnsucht, ein paar Monate auf dem Land zu verbringen, aber es muss wohl bei der Sehnsucht bleiben!«

Sie verstummte mit einem flüchtigen Blick auf Nébel. Dieser durchlebte beklommenen Herzens wieder die Gefühle, die er elf Jahre lang in die Tiefen seiner Seele verbannt hatte.

»Und alles nur, weil wir keine Verbindungen haben … Es ist so schwierig, unter diesen Umständen auf einen Freund zählen zu können!«

Nébels Herz zog sich immer mehr zusammen, da kam Lidia herein.

Sie hatte sich auch sehr verändert, denn die bezaubernde Frische und Unbefangenheit einer Vierzehnjährigen finden sich nicht mehr in der Frau von sechsundzwanzig. Aber sie war immer noch schön. Sein männlicher Instinkt erspürte in ihrem weichen Ausschnitt, der sanften Ruhe ihres Blicks und in all dem Undefinierbaren, das einem Mann die bereits vollzogene Liebe verrät, dass er die Erinnerung an die Lidia, die er einst gekannt hatte, für immer in sich begraben musste.

Sie sprachen mit der Verständigkeit erwachsener Menschen von ganz banalen Dingen. Als Lidia für einen Moment das Zimmer verließ, bemerkte ihre Mutter:

»Ja, sie ist ein wenig schwach … Wenn ich daran denke, dass sie sich auf dem Land sofort erholen würde … Sehen Sie, Octavio, darf ich offen mit Ihnen sprechen? Sie wissen, dass Sie für mich wie ein Sohn waren … Könnten wir nicht eine Zeitlang auf Ihrer Zuckerplantage verbringen? Wie gut würde das Lidia tun!«

»Ich bin verheiratet«, sagte Nébel.

Das Gesicht der Mutter verzog sich verstimmt, und einen Augenblick lang war ihre Enttäuschung echt; aber sogleich legte sie ihre Hände drollig übereinander:

»Sie, verheiratet! Ach, wie schade, wie furchtbar schade! Verzeihung, aber Sie können sich ja denken … Ich weiß nicht, was ich rede … Und Ihre Frau lebt mit Ihnen auf der Plantage?«

»Ja, meistens … Gerade ist sie in Europa.«

»Nein, wie schade! Das heißt … Octavio!«, unterbrach sie sich und riss mit Tränen in den Augen die Arme auf. »Ihnen kann ich es ja bekennen, Sie waren fast wie ein Sohn für mich … Wir sind so gut wie mittellos! Warum laden Sie uns nicht ein? Ich werde Ihnen ein mütterliches Geständnis machen müssen«, dabei senkte sie mit einem süßlichen Lächeln die Stimme. »Sie kennen Lidias Herz doch gut, nicht wahr?«

Sie wartete auf eine Antwort, aber Nébel blieb stumm.

»Natürlich kennen Sie es! Und glauben Sie, eine Frau wie Lidia ist in der Lage, eine Liebe zu vergessen?«

Dieses Mal hatte sie die Anspielung mit einem langsamen Augenzwinkern untermalt. Da erkannte Nébel schlagartig, in welchen Abgrund er beinahe gefallen wäre. Sie war immer noch dieselbe Mutter, aber abgestumpft von ihrer eigenen gealterten Seele, dem Morphium und der Armut. Und Lidia … Bei ihrem erneuten Anblick war ein jähes Verlangen für die gegenwärtige Frau mit der vollen, bereits erbebten Brust in ihm aufgewallt. Und so ging er auf den Handel ein, den man ihm vorschlug, und überließ sich den Armen dieser ungewöhnlichen Eroberung, die ihm das Schicksal bot.

»Stell dir vor, Lidia«, verkündete die Mutter ihrer Tochter bei deren Rückkehr freudig. »Octavio lädt uns ein, eine Zeitlang auf seine Plantage zu kommen. Was sagst du dazu?«

Lidia zog rasch ihre Augenbrauen zusammen, dann zeigte sie sich wieder vollkommen ruhig.

»Wie schön, Mama …«

»Ach, und weißt du, was er mir gesagt hat? Er ist verheiratet! So jung! Aber wir gehören ja beinahe zur Familie …«

Da drehte sich Lidia zu Nébel und blickte ihn einen Augenblick mit schmerzlichem Ernst an.

»Schon lange?«, murmelte sie.

»Seit vier Jahren«, antwortete er leise. Trotz allem fehlte ihm der Mut, sie dabei anzusehen.

Winter

Sie legten die Reise wegen eines letzten Skrupels von Seiten Nébels, den man auf dieser Bahnstrecke gut kannte, nicht gemeinsam zurück, aber am Bahnhof stiegen alle in die wartende Kutsche ein. Wenn Nébel allein auf der Plantage war, blieb vom Personal nur eine alte Indiofrau zurück, denn abgesehen davon, dass er selbst wenig brauchte, nahm seine Frau alle übrigen Dienstboten mit. Und so stellte er seine Begleiterinnen der treuen Eingeborenen als eine alte Tante mit ihrer Tochter vor, die zur Erholung gekommen waren.

Das war allerdings durchaus glaubhaft, denn die Mutter verfiel zusehends. Sie war aufgelöst, unsicheren Schrittes und ihre Mitreisenden plagend angekommen, und in ihrem angstvollen Gesicht verlangte das Morphium, von dem sie auf Nébels Bitte hin vier Stunden lang Abstand genommen hatte, schreiend danach, wieder durch die Adern dieses wandelnden Leichnams zu schießen.

Nébel hatte nach dem Tod seines Vaters sein Medizinstudium abgebrochen, wusste aber ausreichend Bescheid, um eine nahende Katastrophe vorauszusehen; stark angegriffene Nieren neigen zu gefährlichem Versagen, die das Morphium noch beschleunigt.

Bereits im Wagen hatte die Dame es nicht mehr ausgehalten, und mit erschöpft gequältem Blick zu Nébel gesagt:

»Wenn Sie erlauben, Octavio … Ich kann nicht mehr. Lidia, setz dich vor mich.«

Ruhig verdeckte die Tochter ihre Mutter ein wenig, und Nébel hörte das hastige Rascheln, mit dem das Kleid gerafft wurde, um die Spritze in den Oberschenkel zu setzen.

Ihre Augen flackerten auf, und das todbleiche Gesicht wurde von einer Maske regen Lebens überzogen.

»Jetzt geht es mir wieder gut … Welch ein Glück. Ich fühle mich gut.«

»Sie sollten das lassen«, sagte Nébel hart mit abgewandtem Blick. »Es wird Ihnen damit nur noch schlechter gehen.«

»O nein! Lieber sterbe ich auf der Stelle.«

Nébel war den ganzen Tag über verstimmt und beschloss, sein Leben wie gehabt fortzuführen und Lidia und ihre Mutter nach Möglichkeit nur als zwei arme Kranke zu betrachten. Doch als die Dämmerung hereinbrach, die Stunde, zu der die wilden Tiere ihre Krallen wetzen, regten sich die dumpfen Schauer männlichen Verlangens in seinen Leisten.

Sie aßen früh zu Abend, denn die Mutter war abgekämpft und wollte endlich zu Bett gehen. Sie war nicht einmal dazu zu bewegen gewesen, auch nur ein Glas Milch zu trinken.

»Igitt, wie ekelhaft! Die bringe ich nicht herunter. Soll ich die letzten Jahre meines Lebens opfern, jetzt, wo ich zufrieden sterben könnte?«

Lidia zuckte nicht mit der Wimper. Sie hatte kaum ein paar Worte mit Nébel gewechselt, und erst nach dem Kaffee begegneten sich ihre Blicke; aber Lidia senkte ihren sofort.

 

Vier Stunden später öffnete Nébel lautlos die Tür zu Lidias Zimmer.

»Wer ist da?«, ertönte eine erschrockene Stimme.

»Ich bin es«, murmelte Nébel beinahe unhörbar.

Eine Bewegung in den Laken, als setze sich jemand jäh im Bett auf, folgte auf seine Worte, dann herrschte wieder Stille. Doch als Nébels Hand im Dunkeln einen glatten Arm ertastete, wurde der ganze Körper von einem tiefen Beben ergriffen.

Später, reglos neben jener Frau liegend, die die Liebe bereits ohne ihn erfahren hatte, stieg aus den verborgensten Winkeln von Nébels Seele der selige Stolz seiner Jugend auf, das Wesen, das ihn voll strahlender Unschuld angeblickt hatte, nie berührt, ihm nicht einmal einen Kuss geraubt zu haben. Er dachte an den Satz von Dostojewskij, den er bis zu diesem Moment nicht verstanden hatte: »Nichts ist schöner, nichts stärkt das Leben mehr als eine reine Erinnerung.« Nébel hatte sie bewahrt, diese unbefleckte Erinnerung, die unangetastete Unschuld seiner achtzehn Jahre, und nun lag sie dort, auf einem Dienstbotenbett, über und über besudelt.

Da fühlte er zwei schwere, stumme Tränen auf seinen Hals tropfen. Sie mochte sich ebenfalls erinnern … Und Lidias Tränen fielen weiter auf ihn herab, begossen, als wäre es ein Grab, das schäbige Ende ihres einzigen Traums vom Glück.

IV

Zehn Tage setzte sich das gemeinsame Leben fort, allerdings verbrachte Nébel einen Großteil des Tages außer Haus. Im stummen Einverständnis sahen Lidia und er sich so gut wie nie allein; und suchte er sie auch weiterhin nachts auf, sprachen sie bei diesen Gelegenheiten doch nicht viel.

Lidia hatte ihrerseits genug damit zu tun, sich um ihre Mutter zu kümmern, die schließlich das Bett hüten musste. Da es keine Möglichkeit gab, wiederherzustellen, was zerstört war, überlegte Nébel, das Morphium abzusetzen. Aber er nahm davon Abstand, als er eines Morgens unverhofft ins Speisezimmer trat und Lidia überraschte, die hastig ihren angehobenen Rocksaum losließ. Sie hielt eine Spritze in der Hand und starrte Nébel aus aufgerissenen Augen an.

»Tust du das schon lange?«, fragte er sie schließlich.

»Ja«, murmelte Lidia und verbog mit einer heftigen Handbewegung die Nadel.

Nébel sah sie weiter an, dann zuckte er die Achseln.

Da die Mutter die Injektionen jedoch mit einer erschreckenden Häufigkeit vornahm, um ihre Nierenschmerzen zu unterdrücken, und das Morphium sie umzubringen drohte, entschloss Nébel sich schließlich doch, eine Rettung der Unglücklichen zu versuchen, indem er ihr die Droge entzog.

»Octavio! Das bringt mich um!«, rief sie heiser flehend. »Octavio, mein Sohn! Ich könnte keinen Tag länger leben!«

»Sie werden keine zwei Stunden mehr leben, wenn ich es Ihnen lasse!«, erwiderte Nébel.

»Das macht nichts, Octavio! Gib mir das Morphium, gib es mir!«

Nébel ignorierte die nach ihm ausgestreckten Arme und ging mit Lidia hinaus.

»Weißt du, wie ernst der Zustand deiner Mutter ist?«

»Ja … die Ärzte haben es mir gesagt.« Er sah sie fest an.

»Es geht ihr wesentlich schlechter, als du dir vorstellst.«

Lidia wurde bleich, wandte den Blick ab und biss sich auf die Lippen, um ein Schluchzen zu unterdrücken.

»Gibt es hier keinen Arzt?«, murmelte sie.

»In einem Umkreis von gut fünf Kilometern nicht, nein. Aber wir werden einen holen.«

Am selben Nachmittag, als beide allein im Speisezimmer waren, kam die Post, und Nébel öffnete einen Brief.

»Neuigkeiten?«, fragte Lidia besorgt und sah zu ihm auf.

»Ja«, antwortete Nébel, noch lesend.

»Vom Arzt?«, fragte Lidia nach einer Weile noch banger nach.

»Nein, von meiner Frau«, entgegnete er ohne aufzusehen mit harter Stimme.

Um zehn Uhr abends kam Lidia in Nébels Zimmer gerannt.

»Octavio! Mama stirbt!«

Sie liefen zu der Kranken. Ihr Gesicht war bereits totenblass. Ihre Lippen waren blau angelaufen und aufgeschwemmt, und wie aus vollem Mund entwichen ihnen gutturale Laute:

»Pla … pla … pla …«

Nébels Blick fiel sofort auf das fast leere Fläschchen Morphium, das auf dem Nachtkästchen stand.

»Kein Zweifel, sie stirbt! Wer hat ihr das gegeben?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht, Octavio! Vor einer Weile habe ich ein Geräusch gehört … Bestimmt hat sie es aus deinem Zimmer geholt, als du gerade weg warst … Mama, arme Mama!« Schluchzend warf sie sich über den ausgezehrten Arm, der auf den Boden hing.

Nébel fühlte den Puls; das Herz schlug kaum noch, und die Körpertemperatur fiel. Kurz darauf hörten die Lippen auf mit ihrem Pla, pla, und violette Flecken zeichneten sich auf der Haut ab.

Um ein Uhr morgens starb sie. Nachmittags nach der Beerdigung, während die Arbeiter die Koffer in den Wagen luden, wartete Nébel, bis Lidia sich fertiggemacht hatte.

»Hier«, sagte er, als sie neben ihm stand, und hielt ihr einen Scheck über zehntausend Pesos hin.

Lidia zuckte zusammen, und ihre geröteten Augen richteten sich auf Nébel. Aber er hielt ihrem Blick stand.

»Nimm schon!«, forderte er sie verwundert nochmals auf.

Lidia nahm den Scheck und griff nach ihrem Handköfferchen. Da beugte Nébel sich über sie.

»Verzeih«, sagte er. »Urteile nicht schlechter über mich, als ich es verdiene.«

Am Bahnhof blieben sie eine Weile schweigend vor dem Trittbrett zum Abteil stehen, da der Zug noch nicht abfuhr. Als die Glocke ertönte, reichte Lidia ihm die Hand, und Nébel hielt sie einen Moment lang stumm fest. Und ohne sie loszulassen, umfasste er plötzlich Lidias Taille und gab ihr einen langen Kuss auf den Mund.

Der Zug fuhr ab. Regungslos schaute Nébel dem sich entfernenden Fenster nach.

Doch Lidia sah nicht hinaus.

Der Solitär

Kassim war ein kränklicher Mann, Juwelier von Beruf, wenn auch ohne eigenen Laden. Er arbeitete für große Juweliergeschäfte, seine Spezialität war das Fassen von Edelsteinen. Nicht viele Hände wussten so geschickt wie seine mit feinen Fassungen umzugehen. Bei etwas mehr unternehmerischem Geist und Geschäftssinn hätte er reich werden können. Aber mit fünfunddreißig Jahren arbeitete er noch immer in seinem Zimmer vor sich hin, an einer Werkbank unter dem Fenster.

Kassim, der von kleiner Statur war, mit einem blassen, von einem spärlichen schwarzen Bart umschatteten Gesicht, hatte eine schöne und überaus leidenschaftliche Frau. Sie war von einfacher Herkunft, doch ihre Schönheit hatte sie als junges Mädchen eine bessere Verbindung anstreben lassen. Bis sie zwanzig war, wartete sie und forderte mit ihrem Körper Männer und Nachbarinnen heraus. Dann wurde sie doch ängstlich, und hastig nahm sie Kassims Antrag an.

Mit ihren Träumen von Luxus war es damit jedoch vorbei. Ihr geschickter Mann – immerhin ein Künstler – hatte keinerlei Ader, um an Geld zu kommen. Weshalb sie dem Juwelier, wenn er über seine Pinzetten gebeugt war, mit aufgestützten Ellbogen lange, bedeutungsschwere Blicke zuwarf, um dann jäh aufzuspringen und durchs Fenster dem stattlichen Passanten nachzusehen, der ihr Gatte hätte sein können.

Und doch war alles, was Kassim verdiente, für sie bestimmt. Er arbeitete selbst sonntags, um ihre kleinen Capricen befriedigen zu können. Wenn es María nach einem Schmuckstück verlangte – und wie leidenschaftlich war jedes Verlangen in ihr! –, legte er eine Nachtschicht ein. Davon bekam er Husten und ein Stechen in den Rippen; aber María hatte ihre Brillantsplitter.

Der tägliche Kontakt mit den Steinen nahm sie langsam für die Arbeit des Kunsthandwerkers ein, und gebannt verfolgte sie die delikaten Feinheiten beim Schmieden der Fassung. Doch wenn das Schmuckstück fertig war – es wurde weggegeben, es war nicht für sie –, wuchs die Enttäuschung über ihre Heirat noch an. Sie probierte das Stück, blieb lange vor dem Spiegel stehen. Schließlich legte sie es zurück und ging ins Schlafzimmer. Kassim stand auf, wenn er ihr Schluchzen hörte, und dann lag sie auf dem Bett und weigerte sich, ihm zuzuhören.

»Aber ich tue doch, was ich kann«, sagte er traurig …

Das Schluchzen wurde damit nur umso lauter, und der Juwelier begab sich langsam wieder an seine Werkbank.

Diese Szenen wiederholten sich so oft, dass Kassim schon gar nicht mehr aufstand, um sie zu trösten. Sie zu trösten! Worüber denn? Trotzdem arbeitete er noch länger in die Abende hinein, um ihre Capricen befriedigen zu können.

Er war ein zaghafter, unentschlossener und schweigsamer Mensch. Und die Blicke seiner Frau legten sich immer schwerer auf seine stumme Ruhe.

»Du willst ein Mann sein!«, murmelte sie.

Kassims Finger bewegten sich unermüdlich über den Edelsteinfassungen.

»Du bist nicht glücklich mit mir, María«, sagte er nach einer Weile.

»Glücklich! Du wagst es, mir das zu sagen! Wer könnte schon glücklich mit dir sein? … Nicht einmal die letzte aller Frauen! … Geizhals!« Und mit einem nervösen Lachen verließ sie das Zimmer.

In dieser Nacht arbeitete Kassim bis um drei Uhr morgens, was seiner Frau neue Brillantsplitter verschaffte, die sie mit zusammengepressten Lippen einen Augenblick musterte.

»Was für ein ungewöhnliches Diadem! Wann hast du es gemacht?«

»Am Dienstag habe ich angefangen.« Er sah sie mit blasser Zärtlichkeit an. »Nachts, während du schliefst …«

»Ach, du hättest dich ruhig hinlegen können! Was für riesige Brillanten!«

Denn ihre Leidenschaft waren die großen Edelsteine, die Kassim einfasste. Sie verfolgte seine Arbeit in dem verrückten Verlangen, er möge sie endlich abschließen, und kaum war das Stück vollendet, lief sie damit zum Spiegel. Dann schluchzte sie los:

»Jeder andere Mann würde ein Opfer bringen, um seiner Frau eine Freude zu bereiten! Aber du … du … Ich habe ja nicht einmal ein anständiges Kleid zum Anziehen!«

Ist erst einmal eine gewisse Grenze des fehlenden Respekts gegenüber dem Ehemann überschritten, vermag eine Frau ihm ganz unglaubliche Dinge an den Kopf zu werfen.

Kassims Frau überschritt diese Grenze mit mindestens ebensolcher Leidenschaft, wie sie die Brillanten in ihr hervorriefen. Eines Nachmittags bemerkte Kassim beim Verwahren seiner Schmuckstücke, dass eine Brosche fehlte, zwei Solitärbrillanten zu fünftausend Pesos. Er suchte seine Schubladen noch einmal durch.

»María, hast du die Brosche gesehen? Ich habe sie hierhin gelegt.«

»Ja, ich habe sie gesehen.«

»Und wo ist sie?«, wandte er sich erstaunt nach ihr um.

»Hier!«

Mit funkelnden Augen und spöttisch verzogenen Mundwinkeln streckte seine Frau die Brust mit der angesteckten Brosche vor.

»Sie steht dir sehr gut«, sagte Kassim nach einem Moment. »Aber jetzt räumen wir sie weg.«

María lachte.

»O nein!, die gehört mir.«

»Soll das ein Scherz sein?«

»Ja, ein Scherz! Ein Scherz, jawohl! Wie sehr schmerzt dich doch der Gedanke, sie könnte mir gehören! … Morgen gebe ich sie dir zurück. Heute gehe ich damit ins Theater.«

Kassim wich alle Farbe aus dem Gesicht.

»Das wäre unrecht … Man könnte dich sehen. Man würde alles Vertrauen in mich verlieren.«

»O!«, beendete sie wütend die Diskussion und schlug die Tür hinter sich zu.

Nach dem Theater legte sie das Schmuckstück auf den Nachttisch. Kassim stand auf und schloss es in seiner Werkbank ein. Als er zurückkam, saß seine Frau aufrecht im Bett.

»Du hast also Angst, dass ich sie dir stehle! Du hältst mich für eine Diebin!«

»Schau mich nicht so an … Du warst einfach nur unvorsichtig.«

»Ach! Und dir vertrauen sie so etwas an! Dir, ausgerechnet dir! Und wenn deine Frau dich um etwas Schönes bittet, das sie gern hätte … nennst du mich eine Diebin. Du Schuft!«

Schließlich schlief sie ein. Kassim machte in dieser Nacht kein Auge zu.

Kurz darauf wurde Kassim ein Solitär zum Einfassen gegeben, der herrlichste Brillant, den er je in den Händen gehalten hatte.

»Schau mal, María, was für ein Stein. Noch nie habe ich so etwas Schönes gesehen.«

Seine Frau sagte nichts; aber Kassim merkte, wie sie sich nach dem Solitär verzehrte.

»Lupenrein …«, fuhr er fort. »Der ist neun- oder sogar zehntausend Pesos wert.«

»Ein Ring!«, wisperte María endlich.

»Nein, das ist für einen Herrn … eine Anstecknadel.«

Während Kassim an der Fassung des Solitärs arbeitete, verzehrte sich seine Frau hinter seinem fleißigen Rücken vor Erzürnung und verhindertem Kokettieren. Zehn Mal pro Tag unterbrach sie ihren Mann, um sich mit dem Brillanten vor den Spiegel zu stellen. Dann probierte sie ihn mit verschiedenen Kleidern an.

»Könntest du das bitte später tun«, wagte Kassim eines Tages einzuwenden. »Es ist ein dringender Auftrag.«

Vergebens wartete er auf eine Antwort; seine Frau machte gerade die Balkontür auf.

»María, man kann dich sehen!«

»Da hast du deinen Stein!«

Jäh vom Kleid gerissen, rollte der Solitär über den Boden.

Bleich hob Kassim ihn auf, untersuchte ihn und blickte vom Boden zu seiner Frau auf.

»Was schaust du mich denn so an? Hat sich dein Stein etwas getan?«

»Nein«, antwortete Kassim. Und er setzte seine Arbeit unverzüglich fort, zitterten seine Hände auch mitleiderregend.

Schließlich musste er aufstehen, um nach seiner Frau zu sehen, die im Schlafzimmer eine Nervenkrise erlitt. Ihr Haar hatte sich gelöst, und ihre Augen traten aus den Höhlen.

»Gib mir den Brillanten!«, rief sie. »Gib ihn mir! Wir laufen damit weg! Er ist für mich! Gib ihn mir!«

»María …«, stammelte Kassim und versuchte sich loszumachen.

»Ah«, ächzte seine Frau in ihrem Wahn. »Du bist der Dieb, der Lump! Du hast mir mein Leben geraubt, du Dieb, du Dieb! Und du hast wirklich geglaubt, ich würde es dir nicht heimzahlen … schau doch nur deine Hörner! Ach!« Sie griff sich mit beiden Händen um den Hals und rang nach Luft. Doch als Kassim gehen wollte, sprang sie aus dem Bett, fiel hin, bekam ihn aber noch an einem Stiefel zu fassen.

»Ganz egal! Aber gib mir den Brillanten! Das ist alles, was ich will! Er gehört mir, Kassim, du gemeiner Kerl!«

Fahl half Kassim ihr auf die Beine.

»Du bist krank, María. Wir reden später … leg dich jetzt hin.«

»Mein Brillant!«

»Na gut, wir sehen, was sich machen lässt … aber jetzt leg dich hin.«

»Gib ihn mir.«

 

Kassim nahm die Arbeit am Solitär wieder auf. Da seine Hände mit mathematischer Präzision funktionierten, fehlten ihm nur noch wenige Stunden, um fertig zu werden.

María stand zum Abendessen auf, und Kassim zeigte sich ihr gegenüber aufmerksam wie stets. Am Ende des Mahls sah seine Frau ihm in die Augen.

»Es war gelogen, Kassim«, sagte sie.

»Na, na«, entgegnete Kassim lächelnd. »Ist schon alles gut.«

»Ich schwöre dir, es war gelogen«, beharrte sie.

Kassim lächelte erneut, tätschelte ihr unbeholfen die Hand und stand auf, um seine Arbeit fortzusetzen. Seine Frau sah ihm nach, das Gesicht in die Hände gelegt.

»Das ist alles, was du mir zu sagen hast …«, murmelte sie. Und in tiefer Abscheu für dies klebrige, teigige, antriebslose Exemplar von Gatten ging sie ins Schlafzimmer.

Sie schlief unruhig. Spätnachts wachte sie auf und sah Licht in der Werkstatt; ihr Mann arbeitete noch. Eine Stunde später hörte Kassim einen Schrei.

»Gib ihn mir!«

»Ja, er ist für dich, María; er ist fast fertig«, antwortete er hastig und stand auf. Doch seine Frau war nach ihrem Albtraumschrei wieder eingeschlafen.

Um zwei Uhr morgens konnte Kassim seine Arbeit als vollendet betrachten; der Brillant glitzerte fest und männlich in seiner Fassung. Leisen Schrittes betrat er das Schlafzimmer und zündete die Nachttischlampe an. María schlief auf dem Rücken, im kühlen Weiß von Nachthemd und Laken.

Er ging noch einmal in die Werkstatt und kehrte wieder zurück. Eine Weile verharrte sein Blick auf der entblößten Brust, dann zog er das Nachthemd mit blutleerem Lächeln noch ein wenig weiter auf.

Seine Frau merkte es nicht.

Das Licht war diffus. Plötzlich wurde Kassims Gesicht hart wie Stein, einen Augenblick lang hielt er das Schmuckstück über die nackte Brust, dann stach er die Nadel fest und gerade wie einen Nagel in das Herz seiner Frau.

Ein jäher Augenaufschlag folgte, dann senkten sich die Lider langsam wieder. Ihre Finger verkrampften sich, sonst nichts.

In dem Zucken des verletzten Lymphknotens erbebte das Schmuckstück kurz. Kassim wartete einen Moment; als der Solitär schließlich keine Regung mehr zeigte, zog er sich zurück und schloss leise die Tür hinter sich.

Das geschächtete Huhn

Den ganzen Tag über saßen auf einer Bank im Hof die vier schwachsinnigen Söhne des Ehepaars Mazzini-Ferraz. Sie hatten die Zunge zwischen den Lippen und drehten mit dumpfem Blick und offenem Mund den Kopf hin und her.

Der Hof hatte einen Lehmboden und war nach Westen hin durch eine Backsteinmauer begrenzt. Die Bank stand fünf Meter davor, und auf ihr saßen reglos die Jungen und starrten auf die Backsteine. Wenn die Sonne hinter der Mauer unterging, war es für die Schwachsinnigen ein Fest. Erst zog das blendende Licht ihre Aufmerksamkeit auf sich, dann belebten sich ihre Blicke nach und nach, und schließlich lachten sie schallend auf, hochrot vor begieriger Heiterkeit, während sie mit animalischem Frohsinn in die Sonne schauten, als hätten sie etwas Essbares vor sich.

Andere Male waren sie auf ihrer Bank aufgereiht und ahmten stundenlang das Sirren der elektrischen Trambahn nach. Laute Geräusche rissen sie aus ihrer Benommenheit, und dann rannten sie blökend und sich auf die Zunge beißend rings im Hof umher. Doch den Großteil des Tages dämmerten sie in der düsteren Lethargie der Schwachsinnigen dahin, ließen reglos die Beine von der Bank hängen und besabberten ihre Hosen mit klebrigem Speichel.

Der Älteste war zwölf Jahre alt, die beiden jüngsten acht. In ihrem ganzen schmutzigen, heruntergekommenen Äußeren machte sich das Fehlen jeder mütterlichen Fürsorge bemerkbar.

Und doch waren diese vier Schwachsinnigen eines Tages die Freude ihrer Eltern gewesen. Drei Monate nach ihrer Hochzeit richteten Mazzini und Berta ihre begrenzte Liebe zwischen Mann und Frau, zwischen Frau und Mann auf eine wesentlich lebendigere Zukunft: ein Kind. Gibt es ein größeres Glück für zwei Verliebte als diese respektable Weihe ihrer Innigkeit, befreit von dem schäbigen Egoismus einer gegenseitigen Liebe ohne jedes Ziel und, was für die Liebe selbst noch schlimmer ist, ohne mögliche Hoffnung auf Erneuerung?

So empfanden es Mazzini und Berta, und als das Kind nach vierzehn Monaten Ehe kam, hielten sie ihr Glück für komplett. Der Kleine wuchs hübsch und fröhlich heran, bis er eineinhalb Jahre alt war. Doch mit zwanzig Monaten wurde er eines Nachts von schrecklichen Krämpfen geschüttelt, und am nächsten Morgen erkannte er seine Eltern nicht mehr. Der Arzt untersuchte ihn mit einer fachkundigen Gewissenhaftigkeit, die den Grund des Übels ganz offensichtlich in den Krankheiten der Eltern suchte.

Nach einigen Tagen kam wieder Bewegung in die gelähmten Gliedmaßen des Kindes; doch sein Verstand, seine Seele, selbst sein Instinkt waren ausgelöscht. Vollkommen schwachsinnig, sabbernd und für immer wie abgestorben hing es schlaff auf den Knien seiner Mutter.

»Mein Sohn, mein geliebter Sohn!«, schluchzte diese angesichts der entsetzlichen Verheerung ihres Erstgeborenen.

Der erschütterte Vater begleitete den Arzt zur Tür.

»Ihnen gegenüber kann ich offen sein: Meines Erachtens ein hoffnungsloser Fall. Eine Besserung mag eintreten, er wird sich entwickeln, so weit sein Schwachsinn es erlaubt, aber mehr nicht.«

»Ja … Ja«, nickte Mazzini. »Aber sagen Sie mir eines: Glauben Sie, es ist Vererbung, dass …?«

»Zum väterlichen Erbe habe ich Ihnen ja schon etwas bei der Untersuchung Ihres Sohnes gesagt. Was die Mutter betrifft, so gibt es da einen Lungenflügel, der nicht richtig arbeitet. Mehr kann ich nicht feststellen, aber da ist dieses Rasseln. Lassen Sie sie eingehend untersuchen.«

Die Seele zerfressen von Gewissensbissen, verdoppelte Mazzini seine Liebe zu seinem Sohn, dem kleinen Schwachsinnigen, der für die Exzesse seines Großvaters büßte. Gleichzeitig musste er ohne Unterlass Berta trösten und aufrichten, die von diesem Fehlschlag ihrer jungen Ehe zutiefst getroffen war.

Verständlicherweise legte das Ehepaar seine ganze Liebe in die Hoffnung auf ein weiteres Kind. Dieses kam zur Welt, und seine Gesundheit und sein klares Lachen entfachten die erloschene Zukunft von neuem. Doch mit achtzehn Monaten wiederholten sich die Krämpfe des Erstgeborenen, und am folgenden Morgen wachte der zweite Sohn schwachsinnig auf.

Dieses Mal verfielen die Eltern der tiefsten Verzweiflung. Dann war also ihr Blut, ihre Liebe verflucht! Vor allem ihre Liebe! Er achtundzwanzig Jahre alt, sie zweiundzwanzig, und all ihre leidenschaftliche Zärtlichkeit reichte nicht aus, um ein Atom normalen Lebens zu schaffen. Sie wünschten sich schon nicht mehr Schönheit oder Intelligenz, wie bei ihrem Erstgeborenen; nur ein Kind, ein Kind wie jedes andere!

Die erneute Katastrophe brachte neue Knospen schmerzerfüllter Liebe, die unbändige Sehnsucht, ein für allemal Erlösung für ihre heilige Zärtlichkeit zu finden. Es überlebten Zwillinge, und Punkt für Punkt wiederholte sich der bei den beiden Älteren eingetretene Verlauf.

Doch trotz ihrer Bitterkeit hegten Mazzini und Berta tiefes Mitgefühl für ihre vier Söhne. Es galt, wenn schon nicht ihre Seelen, so doch wenigstens ihren zerstörten Instinkt dem Bereich des abgründig Animalischen zu entreißen.

Sie konnten nicht schlucken, sich nicht von der Stelle bewegen, sich nicht einmal allein hinsetzen. Endlich lernten sie laufen, stießen aber überall an, weil sie keine Hindernisse wahrnahmen. Wenn man sie wusch, brüllten sie, bis ihnen das Blut zu Kopfe stieg. Nur beim Essen wurden sie lebhafter, oder wenn sie glänzende Farben sahen und es donnern hörten. Dann lachten sie mit heraushängenden Zungen und herablaufendem Speichel, strahlten vor primitiver Erregung. Sie hatten eine gewisse Fähigkeit zum Nachahmen; aber mehr war nicht aus ihnen herauszuholen.

Mit den Zwillingen schien die erschreckende Nachkommenschaft ein Ende genommen zu haben. Doch drei Jahre später wünschten sich Mazzini und Berta erneut sehnlichst ein Kind, darauf vertrauend, dass die inzwischen verstrichene Zeit das Schicksal besänftigt haben möge.

Ihre Hoffnung erfüllte sich nicht. Und in diesem brennenden Verlangen, das nicht fruchten wollte und immer unerträglicher wurde, verbitterten sie. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte jeder den Teil auf sich genommen, der ihm am Unglück der Söhne zukam; aber die Aussichtslosigkeit jeder Erlösung angesichts der vier Tiere, die sie hervorgebracht hatten, erzeugte ein übermächtig niedriges Bedürfnis, den anderen zu beschuldigen.

Es begann mit den Personalpronomen: deine Söhne.

Und da die Verunglimpfungen von Niedertracht begleitet waren, wurde die Atmosphäre immer gespannter.

»Ich finde«, sagte eines Abends Mazzini, der gerade hereingekommen war und sich die Hände wusch, »du könntest die Jungen sauberer halten.«

Berta las weiter, als hätte sie nichts gehört.

»Es ist das erste Mal«, sagte sie nach einer Weile, »dass du dich um das Wohlergehen deiner Söhne sorgst.«

Mazzini wandte sich ihr mit einem gequälten Lächeln halb zu.

»Unserer Söhne, meinst du wohl …«

»Na gut, unserer Söhne. Besser?« Sie sah auf. Worauf Mazzini ganz unumwunden sagte:

»Du willst doch wohl nicht andeuten, dass es meine Schuld ist, oder?«

»O nein!« Berta lächelte, sehr blass. »Aber meine ja wohl auch nicht … Das fehlte noch«, murmelte sie.

»Was fehlte noch?«

»Wenn jemand Schuld hat, dann sicher nicht ich, merk dir das! Das wollte ich nur klarstellen.«

Ihr Mann blickte sie einen Moment mit dem heftigen Drang an, sie zu beschimpfen.

»Lassen wir das«, brachte er schließlich hervor und trocknete sich die Hände ab.

»Wie du willst; aber wenn du meinst …«

»Berta!«

»Wie du willst!«

Das war der erste Zusammenstoß, und weitere folgten. Aber in den unvermeidlichen Versöhnungen vereinten sich ihre Seelen in einer umso ekstatischeren Sehnsucht nach einem weiteren Kind.

So kam ein Mädchen zur Welt. Zwei Jahre lang lebten sie in ständiger Angst, immer auf eine erneute Katastrophe gefasst. Aber es trat keine ein, und die Eltern behandelten das Mädchen mit so viel Nachsicht, dass die Kleine fast allzu verwöhnt und verzogen wurde.

Hatte Berta sich bis dahin immer noch um ihre Söhne gekümmert, vergaß sie nach der Geburt von Bertita die anderen beinahe komplett. Schon der Gedanke an sie entsetzte sie, als erinnerte er sie an eine schreckliche Untat, die zu begehen man sie gezwungen hatte. Mazzini ging es ähnlich, wenn auch in geringerem Maße.

Doch das hieß nicht, dass Frieden in ihre Seelen einzog. Die geringste Unpässlichkeit ihrer Tochter brachte jetzt in der Angst, sie zu verlieren, den Groll über ihre verrottete Nachkommenschaft zutage. Ihre Erbitterung hatte sich so lange angestaut, dass der Krug bis zum Rand gefüllt war und sein Gift bei der geringsten Erschütterung überschwappte. Seit ihrer ersten gehässigen Auseinandersetzung hatten sie den Respekt füreinander verloren; und gibt es etwas, wozu der Mensch sich mit grausamer Lust hingezogen fühlt, so ist es die vollständige Erniedrigung des anderen, hat man erst einmal damit begonnen. Früher hatte es ihnen Einhalt geboten, dass keiner von ihnen einen Erfolg vorweisen konnte; jetzt, da es einen solchen gab, schrieb ihn jeder sich selbst zu und empfand umso größer die Schmach der vier Missgeburten, die der andere ihm aufgezwungen hatte.

Diese Gemütslage machte jede Zuneigung für die vier älteren Kinder unmöglich. Das Dienstmädchen zog sie mit unverhohlener Grobheit an, gab ihnen zu essen und legte sie schlafen. Gewaschen wurden sie so gut wie nie. Fast den ganzen Tag verbrachten sie auf ihrer Bank gegenüber der Mauer, ohne jede noch so kleine zärtliche Geste.

So wurde Bertita vier Jahre alt; an ihrem Geburtstagsabend hatte das Kind wegen der Süßigkeiten, die ihre Eltern ihr nicht hatten vorenthalten können, etwas Schüttelfrost und Fieber. Und die Befürchtung, sie könnte sterben oder schwachsinnig werden, riss die alte Wunde wieder auf.

Seit drei Stunden sprachen sie nicht miteinander, bis, wie fast immer, Mazzinis feste Schritte Anlass gaben.

»Mein Gott! Kannst du nicht leiser auftreten? Wie oft …?«

»Schön, ich vergesse es eben; aber ich tue es ja nicht absichtlich, also hör schon auf!«

Sie lächelte verächtlich.

»Nein, das glaube ich dir nicht!«

»Und ich hätte dir nie glauben dürfen … du Schwindsüchtige … !«

»Was? Was hast du gesagt?«

»Nichts.«

»O doch, ich habe etwas gehört! Ich weiß nicht, was es war, aber eines sage ich dir, alles immer noch besser, als einen Vater wie deinen gehabt zu haben!«

Mazzini wurde blass.

»Endlich!«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Endlich hast du gesagt, was dir auf der Zunge lag, du Schlange!«

»Ich eine Schlange, meinetwegen! Aber meine Eltern waren wenigstens gesund! Hörst du? Gesund! Mein Vater ist nicht im Delirium gestorben! Ich hätte Kinder wie alle anderen gehabt! Das sind deine Kinder, deine vier Söhne!«

Jetzt ging Mazzini in die Luft.

»Du Schwindsüchtige! Das habe ich gesagt, das wollte ich dir sagen! Frag doch den Arzt, frag ihn nur, wer mehr Schuld hat an der Meningitis deiner Söhne, mein Vater oder deine schwache Lunge, du Schlange!«

Sie beschimpften sich immer heftiger, bis ein Wimmern Bertitas sie jäh zum Schweigen brachte. Gegen ein Uhr morgens war die leichte Verdauungsstörung vorüber, und wie bei allen jungen Ehepaaren, die sich einmal sehr geliebt haben, war die Versöhnung umso leidenschaftlicher, als die Beleidigungen niederträchtig gewesen waren.