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Die Frau. Jean Taylor führt ein ganz normales Leben in einer englischen Kleinstadt: Sie hat ein hübsches Haus und einen netten Ehemann. Glen und sie führen eine gute Ehe. Der Mann. Dann kommt der Tag, der alles ändert: Sie nennen Glen jetzt das Monster. Er soll etwas Unsagbares getan haben. Und Jeans heile Welt zerbricht. Die Witwe. Jetzt liegt Glen auf dem Friedhof, und Jean ist zum ersten Mal allein. Allein und frei. Frei ihre Geschichte zu erzählen. Jean Taylor wird uns sagen, was sie weiß. Perfekt konstruierte psychologische Spannung und komplexe Charaktere, erzählt von einer authentischen Stimme.
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Seitenzahl: 492
Fiona Barton
Die Witwe
Ein liebender Ehemann oder ein kaltblütiger Mörder ... Was weiß sie wirklich?
Roman
Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld
Ihr Verlagsname
Die Frau.
Jean Taylor führt ein ganz normales Leben in einer englischen Kleinstadt: Sie hat ein hübsches Haus und einen netten Ehemann. Glen und sie führen eine gute Ehe.
Der Mann.
Dann kommt der Tag, der alles ändert: Sie nennen Glen jetzt das Monster. Er soll etwas Unsagbares getan haben. Und Jeans heile Welt zerbricht.
Die Witwe.
Jetzt liegt Glen auf dem Friedhof, und Jean ist zum ersten Mal allein. Allein und frei. Frei ihre Geschichte zu erzählen.
Jean Taylor wird uns sagen, was sie weiß.
Perfekt konstruierte psychologische Spannung und komplexe Charaktere, erzählt von einer authentischen Stimme.
Fiona Barton wurde in Cambridge geboren und arbeitete lange bei der «Daily Mail», beim «Daily Telegraph» und bei der «Mail on Sunday». Für ihre Tätigkeit gewann sie den britischen Preis «Reporter of the Year». Viele Jahre war sie als Prozessbeobachterin und Gerichtsreporterin für verschiedene Medien tätig. Heute arbeitet sie als Medientrainerin. «Die Witwe» ist ihr erster Roman.
ich habe viel Zeit damit verbracht, Menschen zuzusehen. Nicht nur in Cafés oder auf Bahnhöfen, sondern auch beruflich. Als Journalistin war ich eine professionelle Zuschauerin – «gelernte Beobachter» nennen wir uns gern im Scherz – und habe gelernt, Körpersprache und verbale Ticks zu deuten, die uns zu Individuen und für andere interessant machen.
Im Laufe der Jahre habe ich Opfer interviewt, Täter, Berühmtheiten, Menschen mit Einfluss und ganz normale Leute, die von Tragödien getroffen oder vom großen Glück gestreift wurden. Doch erstaunlicherweise waren es nicht immer jene im Scheinwerferlicht, die mir im Gedächtnis geblieben sind. Oft waren es eher die am Rande, die Nebenfiguren eines Dramas, die mich nicht mehr losgelassen haben.
Bei den großen Prozessen – den grausamen Kapitalverbrechen, die Schlagzeilen gemacht haben – ertappte ich mich dabei, wie ich die Ehefrau des Mannes auf der Anklagebank beobachtete und mich fragte, was sie tatsächlich wusste – oder sich selbst zu wissen erlaubte.
Sie haben sie bestimmt auch schon gesehen, in den Nachrichten. Mag sein, dass Sie etwas genauer hinsehen mussten, aber sie ist eigentlich immer da. Sie steht auf den Stufen zum Gerichtsgebäude stumm hinter ihrem Mann. Sie nickt, sie drückt leicht seinen Arm, während er lautstark seine Unschuld beteuert, weil sie an ihn glaubt.
Aber was geschieht, wenn die Kameras ausgeschaltet sind und die Welt nicht länger zusieht?
Ich habe ein bleibendes Bild vor Augen; das Bild von zwei Menschen, die beim Hackauflauf sitzen, sie essen zu Abend wie alle anderen Paare in ihrer Straße, aber sie können nicht miteinander sprechen. Das Klappern von Besteck auf Porzellan ist das einzige Geräusch im Raum, während sie sich mit den Zweifeln plagen, die leise unter der Tür ihres Vorstadtreihenhäuschens hereinsickern.
Denn ohne Zeugen und ohne Ablenkung müssen die Masken fallen.
Ich wollte – ich musste – wissen, wie diese Frau mit der Vorstellung zurechtkommt, ihr Mann – der Mann, den sie gewählt hat – könnte ein Monster sein.
Und so nahm Jean Taylor Gestalt an. Sie ist jene stille Frau, die ich so oft auf den Stufen zum Gericht stehen sah, die Ehefrau, die ich dabei beobachten konnte, wie sie regungslos zusah, während ihr Mann seine Aussage machte.
In diesem Roman – es ist mein erster – zeigt uns Jean ihre öffentliche und ihre ganz private Version eines geliebten Ehemannes und einer glücklichen Ehe, die völlig auf den Kopf gestellt wird, als ein Kind verschwindet und plötzlich Polizei und Presse vor ihrer Haustür stehen.
Ich hoffe, Sie finden Gefallen an diesem Roman. Ich habe ihn unglaublich gern geschrieben und kann Jean Taylor – und jenen Frauen, die Patin für sie standen – gar nicht genug danken.
Fiona Barton
Für Gary, Tom und Lucy,
ohne die nichts von Bedeutung wäre
Die Witwe
Ich höre die knirschenden Schritte auf dem Weg. Ein entschlossener Gang auf hohen Absätzen. Sie ist schon fast an der Tür, zögert, streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Hübsches Outfit. Mantel mit großen Knöpfen, darunter ein stilvolles Kleid, die Brille auf den Kopf zurückgeschoben. Keine Zeugin Jehovas und auch nicht von der Labour Party. Muss von der Presse sein, aber keine von der üblichen Sorte Reporter. Sie ist schon der zweite heute – macht diese Woche insgesamt vier, dabei ist erst Mittwoch. Wetten, sie sagt, «Es tut mir furchtbar leid, Sie in dieser schwierigen Situation zu belästigen». Das sagen sie nämlich alle und machen dabei dieses dämliche Gesicht. Als würde die das kümmern.
Ich werde abwarten, ob sie ein zweites Mal klingelt. Der Typ heute Vormittag hat es jedenfalls nicht getan. Manche sind sichtlich genervt. Sie machen auf dem Absatz kehrt, sobald sie den Finger von der Klingel genommen haben, marschieren, so schnell es geht, den Weg zurück, ab ins Auto und nichts wie weg. Dann können sie ihrem Chef sagen, sie hätten’s versucht, aber sie sei nicht da gewesen. Erbärmlich.
Sie klingelt ein zweites Mal. Und klopft dann laut an die Tür, mit Nachdruck. Wie eine Polizistin. Sie sieht mich durch den Spalt in den Gardinen spähen und setzt ein strahlendes Lächeln auf. Hollywood-Lächeln, nennt es meine Mutter. Dann klopft sie wieder.
Als ich die Tür öffne, drückt sie mir die Milchflasche, die auf der Stufe stand, in die Hand und sagt: «Die wollen Sie sicher nicht draußen lassen, sonst wird sie schlecht. Ist es okay, wenn ich reinkomme? Haben Sie Wasser aufgesetzt?» Ich kann nicht atmen und sprechen schon gar nicht. Sie fängt wieder an zu lächeln, hält den Kopf geneigt. «Ich bin Kate», sagt sie. «Kate Waters, Reporterin von der Daily Post.»
«Ich bin …», will ich sagen und merke dann, dass sie nicht gefragt hat.
«Ich weiß, wer Sie sind, Mrs. Taylor», sagt sie. Unausgesprochen bleiben die Worte: Sie sind die Story. «Wir sollten nicht hier draußen stehen bleiben.» Und noch während sie redet, steht sie, ich weiß auch nicht, wie, plötzlich in der Diele.
Ich bin so verblüfft, mir fehlen die Worte und sie interpretiert mein Schweigen als Erlaubnis, mit der Milchflasche in der Hand meine Küche zu betreten und mir Tee zu kochen. Ich gehe ihr nach – die Küche ist nicht besonders groß, und es wird ein bisschen eng, als sie sich zu schaffen macht. Sie setzt Wasser auf und öffnet auf der Suche nach Tassen und Zucker sämtliche Schränke. Ich stehe einfach nur da, lasse sie machen.
Sie plaudert. Macht eine Bemerkung über die Einbauküche. «Was für eine hübsche Küche, das Weiß wirkt so frisch – ich wünschte, bei mir zu Hause sähe es auch so aus. Haben Sie die selbst einbauen lassen?»
Ich habe das Gefühl, mich mit einer Freundin zu unterhalten. Mit einer Reporterin zu reden ist anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich dachte, es sei wie eine polizeiliche Befragung. Ich dachte, es sei eine Qual, ein Verhör. Das hat Glen, mein Mann, jedenfalls behauptet. Dabei ist es ganz anders, irgendwie.
«Ja», sage ich, «wir haben uns für weiße Fronten und rote Griffe entschieden, weil das ordentlicher aussieht.» Ich stehe bei mir zu Hause und unterhalte mich mit einer Reporterin über Einbauküchen. Glen würde ausrasten.
«Hier entlang, oder?», sagt sie, und ich öffne die Tür zum Wohnzimmer.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie hier haben will oder nicht – bin mir nicht sicher, was ich fühle. Jetzt zu protestieren käme mir falsch vor – sie sitzt ja nur da, eine Tasse Tee in der Hand, und unterhält sich mit mir. Es ist komisch, aber ich genieße die Aufmerksamkeit. Ich fühle mich in diesem Haus ein bisschen einsam, seit Glen fort ist.
Und sie scheint irgendwie das Kommando übernommen zu haben. Eigentlich richtig schön, dass jemand wieder die Verantwortung hat. Ich habe langsam Panik bekommen, weil ich mich jetzt ganz alleine um sämtliche Angelegenheiten kümmern muss, aber Kate Waters sagt, sie mache das alles.
Ich müsse ihr nur alles über mein Leben erzählen, sagt Kate.
Mein Leben? Sie will doch eigentlich gar nichts über mich wissen. Sie hat nicht an meiner Tür geklingelt, um etwas über Jean Taylor zu erfahren. Sie will die Wahrheit über ihn hören. Über Glen. Meinen Mann.
Mein Mann ist nämlich vor drei Wochen gestorben. Von einem Bus überfahren, direkt vor Sainsbury’s. Eben war er noch da und hat mich angemault, weil ich das falsche Müsli gekauft habe, und eine Sekunde später: tot, mitten auf der Straße, vor dem Supermarkt. Seinen Kopfverletzungen erlegen, hieß es. Jedenfalls tot. Ich stand nur da und sah ihn auf dem Boden liegen. Menschen rannten herum, holten was zum Zudecken, und auf dem Asphalt war ein bisschen Blut. Nicht viel. Glen wäre froh gewesen. Jede Art von Sauerei war ihm zuwider.
Alle waren sehr nett zu mir und versuchten, mich vor dem Anblick seiner Leiche zu bewahren, und ich konnte keinem sagen, wie froh ich war, dass er tot war. Endlich war Schluss mit seinem Unsinn.
Die Witwe
Die Polizei kam ins Krankenhaus, logisch. Sogar DI Bob Sparkes tauchte in der Notaufnahme auf, um über Glen zu sprechen. Ich redete mit keinem, weder mit ihm noch mit den anderen. Sagte, ich hätte ihnen nichts zu sagen, sei zu aufgewühlt, um zu reden. Weinte ein bisschen.
Detective Inspector Bob Sparkes ist schon so lange ein Teil meines Lebens – mehr als drei Jahre sind’s inzwischen –, aber es ist möglich, dass er jetzt gemeinsam mit dir verschwindet, Glen.
Davon erzähle ich Kate Waters nichts. Sie sitzt in dem anderen Wohnzimmersessel, hält ihre Teetasse umfasst und schlenkert mit dem Fuß.
«Jean», sagt sie – Mrs. Taylor ist verschwunden, fällt mir auf –, «die letzte Woche muss hart für Sie gewesen sein. Nach allem, was Sie durchgemacht haben.»
Ich sage nichts, halte den Blick gesenkt. Sie hat keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Wirklich, niemand hat das. Ich konnte es nie jemandem erzählen. Glen meinte, es sei besser so.
Wir sitzen da und schweigen, dann versucht sie es auf einem anderen Weg. Sie steht auf und nimmt ein Foto von uns beiden vom Kamin – wir zwei, wie wir über irgendwas lachen.
«Wie jung Sie aussehen», sagt sie. «War das vor der Hochzeit?»
Ich nicke.
«Kannten Sie sich vorher schon lange? Haben Sie sich in der Schule kennengelernt?»
«Nein, nicht in der Schule. Wir haben uns an einer Bushaltestelle kennengelernt», erzähle ich. «Er sah gut aus, und er hat mich zum Lachen gebracht. Ich war siebzehn, Friseurlehrling in Greenwich, und er hat bei einer Bank gearbeitet. Er war etwas älter als ich, trug einen Anzug und teure Schuhe. Er war anders.»
Ich lasse es wie einen Liebesroman klingen, und Kate Waters saugt jedes Wort begierig auf, kritzelt in ihr Notizheft, wirft mir über ihre kleine Brille Blicke zu und nickt verständnisvoll. Mich täuscht sie nicht.
Eigentlich kam Glen mir am Anfang nicht besonders romantisch vor. Unsere Romanze fand hauptsächlich im Dunkeln statt – im Kino, auf dem Rücksitz von seinem Escort, im Park –, da wurde nicht viel geredet. Aber ich kann mich an das erste Mal erinnern, als er mir sagte, dass er mich liebe. Es kribbelte am ganzen Körper, so als könne ich jeden Millimeter meiner Haut spüren. Ich fühlte mich zum ersten Mal im Leben lebendig. Ich sagte ihm, dass ich ihn auch liebe. Verzweifelt. Dass ich weder essen noch schlafen könne, ohne an ihn zu denken.
Meine Mutter sagte damals, ich sei «becirct», als ich wie ferngesteuert durchs Haus lief. Ich war mir nicht sicher, was das heißen sollte, «becirct», jedenfalls wollte ich jede Sekunde mit Glen zusammen sein, und er sagte damals, ihm gehe es genauso. Ich glaube, Mama war ein bisschen eifersüchtig. Sie war total auf mich fixiert.
«Sie ist viel zu sehr auf dich fixiert, Jeanie», sagte Glen. «Es ist doch nicht normal, überall nur mit der Tochter hinzugehen.»
Ich versuchte, ihm zu erklären, dass meine Mutter Angst habe, allein aus dem Haus zu gehen, aber Glen nannte sie egoistisch.
Er war so fürsorglich, suchte im Pub immer einen Platz weit weg von der Bar für mich («Ich möchte nicht, dass es dir zu laut ist»), und im Restaurant bestellte er für mich, damit ich neue Dinge ausprobieren könne («Das wirst du lieben, Jeanie. Probier’s einfach»). Das tat ich auch, und manchmal schmeckten die neuen Dinge wirklich gut. Und wenn nicht, sagte ich nichts, um seine Gefühle nicht zu verletzen. Wenn ich mich ihm widersetzte, wurde er immer ganz still. Ich hasste das. Ich kam mir dann so vor, als hätte ich ihn enttäuscht.
Mit jemandem wie Glen war ich noch nie zusammen gewesen, mit einem, der wusste, was er vom Leben wollte. Die anderen Jungs waren nicht mehr als das – Jungs.
Als Glen mir zwei Jahre später einen Heiratsantrag machte, ging er dabei nicht auf die Knie. Er zog mich nur ganz nah an sich ran und sagte: «Du gehörst zu mir, Jeanie. Wir gehören zusammen. Lass uns heiraten.»
Meine Mutter hatte er damals längst um den Finger gewickelt. Er brachte ihr Blumen mit – «Eine Kleinigkeit für die andere Frau meines Lebens», sagte er dann, worauf sie kicherte, und sie unterhielten sich über Coronation Street oder das Königshaus. Mama liebte es. Sie sagte, ich sei ein Glückspilz. Dass er mich aus meinem Schneckenhaus gelockt habe. Etwas aus mir machen werde. Sie erkannte, dass er sich um mich kümmern würde. Und das tat er auch.
«Wie war er damals?», fragt Kate Waters und beugt sich aufmunternd zu mir vor. Damals. Vor der ganzen schrecklichen Sache, meint sie.
«Oh, er war ein wunderbarer Mann. Total verknallt, er tat alles für mich», sage ich. «Hat mir immer Blumen und Geschenke mitgebracht. Sagte, ich sei die Eine. Ich war völlig von den Socken. Ich war erst siebzehn.»
Sie liebt es. Schreibt in komischem Gekritzel jedes Wort von mir mit und sieht dann auf. Ich versuche krampfhaft, nicht zu lachen. Ich spüre, wie die Hysterie in mir hochsteigt, aber es kommt als Schluchzer raus, und sie streckt die Hand aus und berührt mich sacht am Arm.
«Nicht», sagt sie. «Es ist vorbei.»
Ja, das ist es. Vorbei mit der Polizei. Vorbei mit Glen. Vorbei mit seinem Unsinn.
Ich weiß nicht mehr, wann ich angefangen habe, es so zu nennen. Es hatte schon viel früher begonnen, lange ehe ich es benennen konnte. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, unsere Ehe zu perfektionieren, angefangen bei der Hochzeit in Charlton House.
Meine Eltern waren der Meinung, ich sei mit neunzehn noch zu jung zum Heiraten, aber wir überredeten sie. Na ja, eigentlich Glen. Er war wild entschlossen, verehrte mich so sehr, dass mein Vater schließlich ja sagte und wir mit einer Flasche Lambrusco feierten.
Sie gaben ein Vermögen für die Hochzeit aus, schließlich war ich ihr einziges Kind. Und ich verbrachte meine Zeit nur noch damit, mir mit Mama Bilder in Hochzeitsmagazinen anzusehen und von meinem großen Tag zu träumen. Wie ich mich daran klammerte! Es war mein ganzer Lebensinhalt.
Glen mischte sich nicht ein. «Das ist deine Abteilung», sagte er und lachte. Das klang so, als habe er auch eine Abteilung. Ich dachte, er meine wahrscheinlich seinen Job damit; er sei der Ernährer, sagte er. «Ich weiß, es klingt altmodisch, Jeanie, aber ich möchte für dich sorgen. Du bist noch so jung, und wir haben noch unser ganzes Leben vor uns.»
Er hatte immer große Pläne und redete mit Begeisterung darüber. Erst wollte er Filialleiter in der Bank werden und dann kündigen, um sich selbständig zu machen. Sein eigener Herr sein und jede Menge Geld verdienen. Ich sah ihn genau vor mir: Maßanzug, eigene Sekretärin, großes Auto. Und ich, ich würde für ihn sorgen. «Bleib bitte, wie du bist, Jeanie. Ich liebe dich genau so», sagte er immer.
Also kauften wir uns ein Haus und zogen nach der Hochzeit ein. Nach all den Jahren sind wir immer noch hier, in der Nummer 12.
Vor dem Haus war ein Vorgarten gewesen, aber den schütteten wir mit Kies auf, «um uns das Rasenmähen zu sparen», wie Glen sagte. Mir hatte der Rasen gut gefallen, aber Glen hatte es gern ordentlich. Das war am Anfang, nachdem wir zusammengezogen waren, ziemlich hart für mich, weil ich schon immer ein bisschen unordentlich gewesen bin. Meine Mutter fand hin und wieder schmutzige Teller und alte Socken zwischen den Flusen unter meinem Bett. Glen wäre tot umgefallen, wenn er das je gesehen hätte.
Ich sehe ihn noch vor mir, die Kiefer zusammengepresst und die Augen ganz schmal, als er mich eines Abends nach dem Abendessen dabei erwischte, wie ich mit der Hand die Krümel vom Tisch auf den Fußboden fegte, noch ziemlich am Anfang unserer Ehe. Ich hatte nicht mal gemerkt, was ich tat – hatte es vorher sicher schon hundertmal gemacht, ohne darüber nachzudenken. Ich tat es nie wieder. In der Beziehung war er wirklich gut für mich, er zeigte mir, was man tun musste, damit es zu Hause immer hübsch war. Er hatte es gern hübsch.
Am Anfang erzählte Glen mir alles über seinen Job bei der Bank – welche Aufgaben er hatte, wie sehr die Jüngeren ihm vertrauten, die kleinen Streiche, die die Angestellten einander spielten, von seinem Boss, den er nicht ausstehen konnte («Hält sich für was Besseres, Jeanie»), und von den Leuten, mit denen er zusammenarbeitete. Joy und Liz in der Verwaltung; Scott vom Schalter mit der schrecklichen Haut, der so leicht rot wurde; May, die Auszubildende, die ständig Fehler machte. Ich liebte seine Geschichten, ich liebte es, von seiner Welt zu hören.
Ich glaube, ich habe ihm auch von meiner Arbeit erzählt, aber unsere Gespräche sind dann immer ganz schnell wieder auf die Bank zurückgekommen.
«Friseuse ist nicht der aufregendste Job der Welt», sagte er dann, «aber du machst das trotzdem ganz toll, Jeanie. Ich bin stolz auf dich.»
Er wolle mein Selbstwertgefühl steigern, sagte er mir. Und das tat er auch. Von Glen geliebt zu werden, gab mir ein Gefühl der Geborgenheit.
Kate Waters sieht mich an und macht wieder diese Bewegung mit ihrem Kopf. Sie ist gut, das muss ich ihr lassen. Ich habe noch nie mit Journalisten gesprochen, sie allenfalls davongejagt; ganz zu schweigen davon, jemanden zu mir ins Haus zu lassen. Sie kommen seit Jahren zu uns an die Tür, immer wieder mal, aber bis heute ist keiner hier reingekommen. Dafür hat Glen gesorgt.
Aber jetzt ist Glen nicht hier. Und Kate Waters scheint anders zu sein als die anderen. Sie spüre zwischen uns eine «echte Verbindung», hat sie zu mir gesagt. Sie habe das Gefühl, wir würden uns seit Jahren kennen. Und ich weiß, was sie damit meint.
«Sein Tod muss ein furchtbarer Schock für Sie gewesen sein», sagt sie und drückt wieder meinen Arm. Ich nicke stumm.
Ich kann ihr nicht erzählen, wie ich nachts immer im Dunkeln lag und mir wünschte, Glen wäre tot. Na ja, nicht direkt tot. Ich wollte ja nicht, dass er Schmerzen hat oder irgendwie leiden muss, ich wollte einfach nur, dass er weg ist. Ich malte mir immer den Augenblick aus, wie es wäre, wenn ich den Anruf von der Polizei bekäme.
«Mrs. Taylor», würde eine tiefe Stimme sagen, «es tut mir sehr leid, aber ich habe schlechte Nachrichten.» Und die Vorahnung des nächsten Satzes brachte mich jedes Mal beinahe zum Kichern. «Mrs. Taylor, es tut mir leid, Ihr Mann ist bei einem Unfall ums Leben gekommen.»
Dann sah ich mich – wirklich, ich sah mich – schluchzen und anschließend den Hörer zur Hand nehmen, um seine Mutter anzurufen. «Mary», würde ich sagen. «Es tut mir so leid, aber ich habe schlechte Nachrichten. Es geht um Glen. Er ist tot.»
Ich konnte den Schock in ihrer Stimme hören. Ihre Trauer fühlen. Ich konnte die Anteilnahme von Freunden spüren, und wie meine Familie sich um mich versammelte. Und dann die heimliche Freude.
Ich, die trauernde Witwe. Dass ich nicht lache!
Als es dann tatsächlich passierte, fühlte es sich viel weniger real an. Seine Mutter klang einen Augenblick lang fast so erleichtert wie ich, weil es endlich vorbei war. Dann legte sie auf und weinte um ihr Kind. Außerdem hatte ich keine Freunde, denen ich es hätte mitteilen können, und die Familie, die sich um mich scharte, war eher ein trauriges Häuflein.
Kate Waters sagt irgendwas von aufs Klo müssen und noch ein Tässchen Tee kochen, und ich lasse sie machen, reiche ihr meine Tasse und zeige ihr das Gästeklo. Als sie weg ist, sehe ich mich eilig im Wohnzimmer um und vergewissere mich, dass nichts von Glen herumliegt. Keine Souvenirs, die sie mitgehen lassen könnte. Glen hat mich gewarnt. Er hat mir alles über die Presse erzählt. Die Klospülung rauscht, und schließlich taucht Kate mit einem Tablett wieder auf und fängt wieder davon an, was für eine bewundernswerte Frau ich sein müsse, so loyal.
Mein Blick wandert ständig zu dem Hochzeitsbild an der Wand über dem Gaskamin. Wir sehen so jung aus, als hätten wir uns mit den Klamotten unserer Eltern verkleidet. Kate Waters folgt meinem Blick und nimmt das Foto von der Wand.
Sie setzt sich zu mir auf die Armlehne, und gemeinsam betrachten wie das Bild. Der 6. September 1989. Der Tag, an dem wir den Bund fürs Leben schlossen. Ich weiß nicht, warum ich anfange zu weinen – meine ersten echten Tränen, seit Glen gestorben ist –, und Kate Waters nimmt mich in den Arm.
Die Journalistin
Kate Waters verlagerte ihr Gewicht. Sie hätte vorhin den Kaffee nicht trinken sollen. Erst der Kaffee und jetzt noch der Tee. Ihre Blase sendete eindeutige Signale, und es konnte passieren, dass sie Jean Taylor mit ihren Gedanken allein lassen musste. In dieser Phase keine gute Idee, vor allem, weil Jean inzwischen wieder etwas still geworden war. Sie nippte an ihrem Tee und starrte ins Leere. Kate bemühte sich verzweifelt, die Beziehung nicht zu zerstören, die sich langsam zwischen ihnen aufbaute. Sie befanden sich in einem sehr heiklen Stadium. Ging der Augenkontakt verloren, konnte die ganze Stimmung kippen.
Steve, ihr Mann, hatte ihren Job mal damit verglichen, sich an ein Tier heranzupirschen. Er hatte auf einer Dinnerparty ein Glas Rioja zu viel getrunken und große Reden geschwungen.
«Sie schleicht sich immer näher an ihr Opfer heran, füttert es mit kleinen Häppchen Nettigkeit und Humor, mit einem Hinweis auf Geld, auf die Chance, die eigene Seite der Geschichte zu erzählen, bis man ihr schließlich aus der Hand frisst. Das ist wahre Kunst», hatte er der Gästeschar erzählt, die um ihren Esstisch versammelt war.
Sie hatten seine Kollegen aus der Onkologie zu Gast gehabt, und Kate hatte dabeigesessen, ihr professionelles Lächeln aufgesetzt und gemurmelt: «Ach, komm, Schatz, du solltest mich eigentlich besser kennen», während die Gäste verlegen lachten und an ihren Weingläsern nippten. Später, beim Abwasch, war sie außer sich gewesen. Das Spülwasser war auf den Boden gespritzt, so heftig hatte sie die Töpfe ins Becken geknallt, aber Steve hatte sie in die Arme genommen und sie einfach geküsst, bis sie wieder versöhnt war.
«Du weißt, wie sehr ich dich bewundere, Kate», hatte er gesagt. «Du bist großartig in dem, was du tust.»
Sie hatte den Kuss erwidert, doch Steve hatte recht. Manchmal war es tatsächlich wie ein Spiel oder ein koketter Tanz, so spontan eine Verbindung zu einem misstrauischen – sogar feindseligen – fremden Menschen aufzubauen. Sie liebte diesen Part. Liebte den Adrenalinkick, wenn sie als Erste den Fuß auf eine Türschwelle setzte, vor der restlichen Meute; wenn sie klingelte und im Haus Geräusche vernahm; wenn sie durch die Milchglasscheibe sah, wie das Licht sich veränderte, weil jemand sich der Haustür näherte, und sie dann, sobald die Tür aufging, noch einen Gang hochschaltete und alles gab.
Reporter hatten auf der Türschwelle völlig unterschiedliche Taktiken: Ein Freund, mit dem sie geübt hatte, setzte immer seinen «Letzter Welpe im Korb»-Blick auf, um Sympathien zu wecken; eine Freundin schob grundsätzlich ihrem Chefredakteur die Schuld in die Schuhe, weil der sie zwang, schon wieder anzuklopfen; und eine hatte sich sogar einmal ein Kissen unter den Pullover gestopft, so getan, als sei sie schwanger, und darum gebeten, das Klo benutzen zu dürfen.
Nicht Kates Stil. Sie hatte ihre eigenen Regeln: immer lächeln, nie zu dicht vor der Haustür stehen, nie mit einer Entschuldigung anfangen und immer versuchen, von der Tatsache abzulenken, dass man hinter einer Story her ist. Die Nummer mit der Milchflasche hatte sie schon mal abgezogen, aber leider waren Milchmänner eine aussterbende Spezies. Sie war sehr zufrieden, weil sie so offensichtlich mühelos durch die Tür gekommen war.
Dabei hatte sie überhaupt nicht kommen wollen. Sie musste dringend in die Redaktion und ihre Spesenabrechnung fertig machen, ehe die Kreditkartenabrechnung ihr Konto killte.
Doch ihr Nachrichtenredakteur hatte nichts davon hören wollen. «Sie fahren bei der Witwe vorbei und klopfen mal an – liegt doch sowieso auf dem Weg», hatte Terry Deacon in den Hörer gebellt, über die Radionachrichten im Hintergrund hinweg. «Wer weiß? Heute könnte doch Ihr Glückstag sein.»
Kate hatte geseufzt. Sie hatte sofort gewusst, wen Terry meinte. Es gab nur eine Witwe, von der diese Woche jeder ein Interview wollte, aber sie wusste auch, wie breitgetrampelt dieser Pfad inzwischen war. Drei ihrer Kollegen von der Post hatten es bereits probiert – und sie war sich sicher, dass sie die letzte Reporterin im ganzen Land war, die noch nicht an diese Tür geklopft hatte.
So gut wie.
Als sie die Abzweigung zu Jean Taylors Straße erreichte, hielt sie automatisch nach Kollegen Ausschau und sah sofort den Mann von der Times neben einem Wagen stehen. Langweilige Krawatte, Ellbogenflicken, Seitenscheitel. Der Klassiker. Sie fuhr langsam weiter, blieb im zähen Verkehrsfluss auf der Hauptstraße, behielt den Feind aber weiter im Auge. Sie würde noch einmal um den Block fahren müssen und ein wenig warten, in der Hoffnung, dass er, wenn sie wiederkäme, verschwunden wäre.
«Scheiße!», murmelte sie, setzte den Blinker und bog in eine Seitenstraße ab, um zu parken.
Fünfzehn Minuten und einen kurzen Blick in die Tageszeitungen später schnallte Kate sich wieder an und startete den Motor. Ihr Telefon klingelte, und sie kramte in ihrer Handtasche, um es zu finden. Beim Rausangeln sah sie Bob Sparkes’ Namen auf dem Display und stellte den Motor wieder ab.
«Hallo, Bob! Wie geht es Ihnen? Was gibt’s denn?»
Detective Inspector Bob Sparkes wollte etwas von ihr, so viel stand fest. Er gehörte nicht zu den Typen, die nur anriefen, weil sie Lust zu plaudern hatten, und sie wettete mit sich selbst, dass das Gespräch keine sechzig Sekunden dauern würde.
«Hallo, Kate. Gut, danke. Ganz schön was los – Sie wissen ja, wie das ist. Hab ein paar Fälle auf dem Tisch, aber nichts Spannendes. Hören Sie, Kate, ich hab mich gefragt, ob Sie eigentlich immer noch an der Glen-Taylor-Sache dran sind.»
«Himmel, Bob, lassen Sie mich etwa beschatten? Ich wollte eben bei Jean Taylor an die Haustür klopfen.»
Sparkes lachte. «Keine Sorge, soweit ich weiß, stehen Sie noch nicht auf der Liste.»
«Irgendwas, das ich wissen sollte, ehe ich zu ihr gehe?», fragte Kate. «Irgendwelche neuen Erkenntnisse, seit Glen Taylor gestorben ist?»
«Nein, im Grunde nicht.» Sie merkte seiner Stimme an, dass er enttäuscht war. «Ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht was gehört haben. Außerdem würde ich mich über eine kleine Vorwarnung freuen, sollte Jean tatsächlich was sagen.»
«Ich rufe Sie hinterher an», sagte sie. «Aber wahrscheinlich knallt sie mir die Türe vor der Nase zu. So war es zumindest bei sämtlichen Kollegen.»
«Okay. Bis später.»
Ende. Sie warf einen Blick aufs Display und grinste. Einundvierzig Sekunden. Neuer Rekord. Das musste sie ihm unbedingt unter die Nase reiben, wenn sie sich das nächste Mal sahen.
Fünf Minuten später hatte sie langsam Jean Taylors inzwischen pressefreie Straße wieder durchquert und war den Weg zur Haustür hochgegangen.
Und jetzt wollte sie die Story!
Reiß dich zusammen, Himmel noch mal!, dachte sie und grub sich die Fingernägel in die Handfläche, um sich abzulenken. Nein – keine Chance.
«Sorry, Jean, aber dürfte ich kurz Ihre Toilette benutzen?», fragte sie und lächelte entschuldigend. «Tee läuft einfach direkt durch, oder? Wenn Sie wollen, mache ich uns noch einen.»
Jean nickte und stand auf. «Hier entlang», sagte sie und trat zur Seite, um Kate den Weg zur pfirsichfarbenen Gästetoilette zu weisen.
Während Kate sich mit der parfümierten Gästeseife die Hände wusch, blickte sie auf und fing ihr Gesicht im Spiegel ein. Sie sah ein bisschen müde aus, fand sie, strich sich die widerspenstigen Haare glatt und klopfte mit den Fingerspitzen zart über die Tränensäcke, wie von der jungen Frau empfohlen, bei der sie sich hin und wieder eine Kosmetikbehandlung gönnte.
Weil sie unbeobachtet war, überflog sie kurze Zeit später in der Küche ganz nebenbei die Notizen und Magnete auf dem Kühlschrank, während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte. Einkaufszettel und Urlaubssouvenirs – hier gab’s für sie nicht viel zu holen. Ein Foto von den Taylors, aufgenommen in einem Strandrestaurant, zeigte das Paar lächelnd und in die Kamera prostend. Glen Taylor, zerzauste dunkle Haare und ein Urlaubslächeln, und Jean, dunkelblond, die Haare sorgfältig geföhnt und ordentlich hinter die Ohren geschoben, das Abend-Make-up in der Hitze leicht verlaufen und dazu dieser Seitenblick auf ihren Ehemann.
Bewundernd oder ängstlich?, fragte Kate sich.
Die letzten Jahre hatten an der Frau auf dem Bild eindeutig ihre Spuren hinterlassen. Die Jean im Wohnzimmer hockte in Cargohose, Schlabbershirt und Strickjacke da. Die Haare lösten sich aus dem unordentlichen Pferdeschwanz. Steve zog sie immer mit ihrer Detailgenauigkeit auf, aber genau darin bestand ihr Job – auf die kleinen Dinge zu achten. «Ich bin eine gelernte Beobachterin», pflegte sie zu scherzen. Sie liebte es, ihren Lesern von den winzigen, verräterischen Details zu erzählen. Jeans raue, rissige Hände waren ihr sofort aufgefallen – Friseusenhände, hatte sie gedacht – und die vom nervösen Kauen ausgefranste Nagelhaut.
Die Fältchen um die Augen der Witwe sprachen ihre eigene Sprache.
Kate holte ihr Telefon raus und fotografierte den Urlaubsschnappschuss. Sie bemerkte, dass in dieser Küche alles völlig makellos war. Anders als bei ihr, wo ihre beiden Teenager-Söhne mit Sicherheit nach dem Frühstück wieder eine Spur der Verwüstung hinterlassen hatten – schmutzige Kaffeebecher, saure Milch, eine angebissene Scheibe Toast, ein aufgeschraubtes Marmeladenglas, in dem noch ein Messer steckte. Und auf dem Fußboden das obligatorische, vor sich hingammelnde Fußballtrikot.
Der Wasserkocher – und mit ihm sämtliche Gedanken an zu Hause – schaltete sich ab, sie goss den Tee auf und trug die Tassen auf einem Tablett nach drüben.
Jean starrte in die Luft, die Zähne machten sich am Daumen zu schaffen.
«Besser», sagte Kate und ließ sich in den Sessel plumpsen. «Bitte entschuldigen Sie. Wo waren wir gleich wieder stehengeblieben?»
Sie musste sich eingestehen, dass sie sich langsam Sorgen machte. Sie hatte jetzt fast eine Stunde mit Jean Taylor verbracht, hatte ein Notizheft voller Häppchen über ihre Kindheit und die frühen Tage ihrer Ehe. Aber das war alles. Sobald sie der Geschichte ein winziges bisschen näher auf den Leib gerückt war, hatte Jean augenblicklich das Thema gewechselt und sich auf sicheres Terrain zurückgezogen. Irgendwann zwischendurch hatten sie sich lang und breit über die Herausforderungen unterhalten, die Kinder mit sich bringen, bis sie kurz unterbrochen worden waren: Kate war schließlich doch irgendwann ans Telefon gegangen, um auf die hartnäckigen Anrufe aus der Redaktion zu reagieren.
Terry war außer sich, als er hörte, wo Kate war. «Großartig», brüllte er ins Telefon. «Gut gemacht! Was sagt sie? Wann kannst du liefern?»
Von Jean Taylor eindringlich beobachtet, murmelte Kate: «Warte bitte kurz, Terry. Ich habe fast keinen Empfang.» Sie verzog sich nach hinten in den Garten, nicht ohne Jean mit theatralischem Kopfschütteln noch schnell zu verstehen zu geben, wie genervt sie war.
«Himmel noch mal, Terry! Ich saß direkt neben ihr! Ich kann jetzt nicht sprechen!», zischte sie. «Ehrlich gesagt, läuft hier alles ein bisschen sehr zäh, aber ich glaube, sie fängt langsam an, mir zu vertrauen. Lass mich einfach machen.»
«Hat sie schon was unterschrieben?», fragte Terry. «Du nimmst sie jetzt erst mal unter Vertrag, danach haben wir alle Zeit der Welt, sämtliche Einzelheiten aus ihr rauszukitzeln.»
«Ich will sie aber nicht verschrecken, indem ich sie bedränge, Terry. Ich tue, was ich kann. Bis später.»
Kate drückte das Gespräch entschieden weg und überlegte den nächsten Schritt. Vielleicht genügte es ja, einfach sofort Geld ins Spiel zu bringen. Tee und Mitgefühl waren abgehakt und langsam wurde es Zeit, nicht mehr länger um den heißen Brei herumzureden.
Es war gut möglich, dass es bei Jean finanziell eng wurde, seit ihr Mann tot war.
Er war schließlich nicht mehr da, um für sie zu sorgen. Oder um ihr den Mund zu verbieten.
Die Witwe
Sie ist immer noch hier, seit einer Stunde. Gestern hätte ich sie noch rausgeworfen. Ich hatte noch nie ein Problem damit, den Pressefritzen, die an die Tür klopfen, zu sagen, sie sollen verschwinden. Ist ja auch einfach, wenn sie so unhöflich sind. Gerade, dass sie noch kurz «hallo» sagen, ehe sie mit ihren Fragen rausplatzen. Schreckliche, aufdringliche Fragen. Kate Waters hat mir noch keine einzige harte Frage gestellt. Noch nicht.
Wir haben uns über alles Mögliche unterhalten: wann Glen und ich das Haus gekauft haben, über die Grundstückspreise in unserer Gegend, was wir am Haus gemacht haben, was Wandfarbe kostet, über die Nachbarschaft, wo ich aufgewachsen und wo ich zur Schule gegangen bin. Und sie stimmt mir in allem zu, was ich sage. «Ach, auf so einer Schule war ich auch. Ich habe die Lehrer gehasst, Sie nicht?» Solche Sachen. Fühlt sich an, wie mit einer Freundin zu reden. Als wäre sie wie ich. Schlau eigentlich, aber vielleicht macht sie das immer so, wenn sie ein Interview führt.
Eigentlich ist sie gar nicht übel. Ich glaube, ich könnte sie mögen. Sie ist witzig und wirkt nett, aber vielleicht ist das auch alles nur gespielt. Sie redet über ihren Mann – ihren ‹alten Herren›, wie sie ihn nennt – und sagt, sie dürfe nicht vergessen, ihn anzurufen, um ihm zu sagen, dass sie vielleicht später nach Hause komme. Warum, ist mir nicht ganz klar – es ist ja noch nicht mal Mittag, und sie wohnt nur eine halbe Stunde weit entfernt, an der South Circular. Trotzdem sage ich ihr, sie solle ihn besser gleich anrufen, damit er sich keine Sorgen mache. Glen hätte sich Sorgen gemacht. Er hätte mir die Hölle heißgemacht, wenn ich weggeblieben wäre, ohne ihm was zu sagen. «Das ist unfair mir gegenüber, Jeanie», hätte er gesagt. Aber das erzähle ich ihr nicht.
Kate lacht und sagt, ihr alter Herr sei längst daran gewöhnt, aber er würde sich mit Sicherheit trotzdem beschweren, weil er sich um die Kinder kümmern müsse. Sie habe zwei Teenager, erzählt sie mir, Jake und Freddie, zwei Jungs ohne Manieren und ohne Respekt.
«Er wird das Abendessen machen müssen», sagt sie. «Aber ich wette, er bestellt Pizza. Die Jungs lieben das.»
Die Jungs treiben sie und ihren alten Herren anscheinend zum Wahnsinn, weil sie nie ihre Zimmer aufräumen.
«Die hausen im reinsten Schweinestall, Jean», sagt sie. «Sie würden nicht glauben, wie viele Müslischalen ich schon in Jakes Zimmer gefunden habe. Damit könnte man einen Partyservice bestücken. Und sie verschlampen jede Woche ihre Socken. Unser Haus ist das Bermudadreieck der Fußbekleidung.» Und dann lacht sie wieder, weil sie ihre Kinder nämlich liebt, Schweinestall hin oder her.
Alles, was ich denken kann, ist: Jake und Freddie, was für schöne Namen. Die hebe ich mir für später auf, für meine Sammlung, und ich nicke, als wisse ich, wie es ihr gehe. Doch das stimmt nicht. Ihre Probleme hätte ich liebend gerne gehabt. Ich hätte es geliebt, einen Teenager zu haben, der mich nervt.
Jedenfalls höre ich mich laut sagen: «Glen konnte ein bisschen schwierig werden, wenn ich es im Haus habe unordentlich werden lassen.» Ich will ihr nur zeigen, dass ich auch so meine Probleme hatte, dass ich bin wie sie. Eigentlich dumm. Wie könnte ich jemals so sein wie sie? Oder wie irgendwer? Ich.
Glen hat immer gesagt, ich sei anders. Wenn wir ausgingen, gab er immer mit mir an, erzählte seinen Kumpels, ich sei was Besonderes. Das habe ich eigentlich nie ganz verstanden. Ich arbeitete in einem Salon namens Hair Today – kleiner Scherz von Lesley, der Besitzerin – und verbrachte meine Zeit damit, Frauen in der Menopause die Haare zu waschen und Kaffee zu kochen. Ich hatte gedacht, beim Friseur zu arbeiten sei schön – sogar glamourös. Ich dachte, ich würde Haare schneiden und neue Looks kreieren, aber mit siebzehn stand ich eben ganz unten auf der Leiter.
«Jean», rief Lesley quer durch den Laden, «kannst du meiner Kundin die Haare waschen und dann den Boden fegen?» Kein Bitte und kein Danke.
Die Kundinnen waren in Ordnung. Sie erzählten mir gern ihre Geschichten und Probleme, weil ich zuhörte und nicht versuchte, ihnen Ratschläge zu geben, so wie Lesley. Ich nickte und lächelte und träumte vor mich hin, während sie redeten und redeten. Über den klebstoffschnüffelnden Enkel oder die Nachbarin, die ihre Hundehaufen einfach über den Zaun wirft. Ganze Tage konnten vergehen, ohne dass ich irgendwas von mir gab – außer vielleicht «das ist ja toll» oder erfundene Urlaubspläne, damit das Gespräch nicht ganz abriss. Aber ich ließ nicht locker. Ich belegte Kurse, lernte zu schneiden und zu färben und bekam bald meine eigenen Kundinnen. Ich verdiente nicht besonders gut, aber für was anderes war ich eben nicht geschaffen. In der Schule hatte ich nie was getan. Meine Mutter erzählte den Leuten, ich sei Legasthenikerin, aber in Wahrheit hatte ich einfach keine Lust.
Dann tauchte Glen auf, und plötzlich war ich was «Besonderes».
Im Salon änderte sich nicht viel. Allerdings ging ich nie mit den anderen drei Mädels aus, weil Glen nicht wollte, dass ich allein unterwegs war. Er sagte, die anderen drei seien Singles und nur auf Sex und Saufen aus. Nach allem, was sie montagmorgens immer erzählten, hatte er wahrscheinlich recht, jedenfalls hatte ich immer eine Ausrede, und irgendwann fragten sie mich nicht mehr.
Ich mochte meine Arbeit. Ich konnte meinen Gedanken nachhängen und hatte nie Stress. Meine Arbeit gab mir ein sicheres Gefühl – die Gerüche von Chemikalien und geföhntem Haar, die Geräusche von Geplauder und laufendem Wasser, das Brummen der Trockenhauben, und wie vorhersehbar alles war. Die Termine, mit stumpfem Bleistift ins Buch eingetragen, bestimmten meinen Tagesablauf.
Alles war vorgeschrieben, sogar die Uniform aus schwarzer Hose und weißem Oberteil – außer samstags, wenn wir alle Jeans tragen mussten. «Das ist erniedrigend für jemanden mit deiner Erfahrung. Du bist Stylistin, Jeanie, kein Lehrling», hatte Glen später gesagt. Trotzdem, für mich bedeutete das, dass ich mir so gut wie nie Gedanken darüber machen musste, was ich anziehe – oder was ich tun soll. Kein Kopfzerbrechen.
Alle liebten Glen. Wenn er mich samstags abholte, stand er oft über den Schalter gebeugt und unterhielt sich mit Lesley. Was der alles wusste, mein Glen! Kannte sich echt gut aus mit geschäftlichen Dingen. Und er konnte die Leute auch dann zum Lachen bringen, wenn er sich über ernste Dinge unterhielt.
«Der ist vielleicht klug, dein Mann!», sagte Lesley immer. «Und so gutaussehend. Du bist ein Glückskind, Jean.»
Ich verstand, dass sie nicht fassen konnte, wieso Glen sich ausgerechnet für mich entschieden hatte. Mir ging es ja manchmal genauso. Wenn ich ihm das sagte, lachte er und zog mich an sich. «Du bist alles, was ich will», sagte er dann. Er half mir dabei, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Ich glaube, er half mir, erwachsen zu werden.
Als wir heirateten, hatte ich keine Ahnung von Geld oder von Haushaltsführung, also gab Glen mir jede Woche Haushaltsgeld und ein Notizheft, in das ich alles eintrug, was ich ausgab. Dann setzten wir uns zusammen, und er rechnete alles aus. Ich habe so viel von ihm gelernt.
Kate sagt irgendwas, aber ich habe den Anfang verpasst. Irgendwas von einer «Vereinbarung». Außerdem spricht sie über Geld.
«Entschuldigung», sage ich. «Ich war gerade gedanklich woanders.»
Sie lächelt geduldig und beugt sich wieder zu mir vor. «Ich weiß, wie schwer das ist, Jean. Die ganze Zeit die Presse vor der Tür, Tag und Nacht. Aber mal ehrlich: Ein Interview ist die einzige Möglichkeit, sie endlich loszuwerden. Dann verlieren die das Interesse und lassen Sie endlich in Ruhe.»
Ich nicke, um ihr zu zeigen, dass ich zuhöre, aber sie gerät völlig aus dem Häuschen, glaubt, ich würde einwilligen. «Moment», sage ich leicht panisch. «Ich sage nicht ja und nicht nein. Ich muss zuerst nachdenken.»
«Wir zahlen natürlich ein Honorar – um Sie für den zeitlichen Aufwand zu entschädigen und Sie in diesen schweren Zeiten zu unterstützen», sagt sie eilig. Lustig, oder? Wie die immer wieder versuchen, die Dinge zu verkleiden. Entschädigung! Sie meint, sie bezahlen mich dafür, die Katze aus dem Sack zu lassen, aber sie will das Risiko nicht eingehen, mich zu verärgern.
Ich habe im Laufe der Zeit viele Angebote bekommen, Summen, die man sonst nur beim Lotto gewinnt. Was da für Briefe von den Reportern durch den Briefschlitz ins Haus geflattert sind! So falsch, dass man beim Lesen rot anlief. Trotzdem immer noch besser als die Hassbriefe, die mit der Post kommen.
Manche Leute reißen einen Zeitungsartikel über Glen aus und schreiben in Großbuchstaben MONSTER quer über den Text, mehrfach unterstrichen. Manchmal unterstreichen sie das Wort so fest, dass das Papier zerreißt.
Die Reporter machen genau das Gegenteil. Aber schlecht wird einem genauso.
«Liebe Mrs. Taylor» – manchmal auch nur «Jean» –, «ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich mich in dieser schwierigen Situation schriftlich an Sie wende, bla, bla, bla. Es wurde so viel über Sie geschrieben, wir würden Ihnen gerne die Gelegenheit geben, endlich Ihre Seite der Geschichte zu erzählen. Bla, bla, bla.»
Glen hat die Briefe immer mit seiner lustigen Stimme vorgelesen, wir lachten und stopften die Briefe dann in eine Schublade. Aber das war, als Glen noch am Leben war. Jetzt ist niemand mehr da, mit dem ich über dieses Angebot reden könnte.
Ich betrachte den Tee in meiner Tasse. Er ist kalt geworden, und auf der Flüssigkeit schwimmt eine dünne Haut. Das kommt von der Vollmilch, auf die Glen besteht. Bestanden hat. Jetzt kann ich fettarme Milch kaufen. Ich muss lächeln.
Kate, die gerade mit großem Tamtam dabei ist, sich anzupreisen, mir erzählt, wie einfühlsam und verantwortungsbewusst ihre Zeitung handelt und Gott weiß was noch alles, sieht mein Lächeln und deutet es wieder als positives Signal. Sie schlägt vor, mich ein paar Nächte lang in einem Hotel unterzubringen. «Um von den anderen Reportern und dem ganzen Druck wegzukommen», sagt sie. «Um Ihnen eine kleine Auszeit zu gönnen, Jean.»
Ja, ich brauche eine Auszeit, glaube ich.
Wie aufs Stichwort klingelt es an der Haustür. Kate späht durch die Gardine und zischt: «Scheiße, Jean, da steht ein Typ vom Lokalfernsehen vor der Tür. Verhalten Sie sich ganz still, dann haut er wieder ab.»
Ich tue, was man mir sagt. Wie immer. Es ist nämlich so, dass Kate da weitermacht, wo Glen aufgehört hat. Die Verantwortung übernimmt. Mich vor der Pressemeute da draußen beschützt. Tja, mit dem kleinen Unterschied, dass sie auch von der Presse ist. O Gott, ich hocke hier Seite an Seite mit dem Feind.
Ich drehe mich zu ihr um und will gerade etwas sagen, als es wieder klingelt und der Deckel vom Briefschlitz nach oben klappt. «Mrs. Taylor?», schallt eine Männerstimme durch die leere Diele. «Mrs. Taylor? Mein Name ist Jim Wilson, von Capital TV. Haben Sie eine Minute Zeit für mich? Nur ganz kurz. Sind Sie da?»
Kate und ich sitzen da und schauen uns an. Sie wirkt sehr angespannt. Es ist seltsam, jemand anderen zu sehen, der dasselbe durchmacht wie ich jeden Tag zwei- oder dreimal. Ich möchte ihr sagen, dass ich gelernt habe, einfach still zu bleiben. Manchmal halte ich sogar die Luft an, damit sie denken, im Haus sei keine Menschenseele. Aber Kate kann nicht still sitzen. Plötzlich nimmt sie ihr Handy aus der Tasche.
«Wollen Sie eine Freundin anrufen?» Ich will mit der Frage die Spannung lösen, aber natürlich hört mich der Fernsehfritze.
«Mrs. Taylor, ich weiß, dass Sie da sind. Bitte kommen Sie an die Haustür. Ich verspreche, es dauert nur einen winzigen Moment. Ich möchte nur kurz mit Ihnen reden. Wir möchten Ihnen eine Plattform geben …»
«Verpiss dich!», schreit Kate auf einmal. Ich starre sie an. Glen hätte einer Frau niemals erlaubt, in seinem Haus dieses Wort in den Mund zu nehmen. Sie schaut mich an, sagt lautlos «Sorry!» und legt sich dann den Finger an die Lippen. Und der Fernsehfritze verpisst sich tatsächlich.
«Also das funktioniert offensichtlich», sage ich.
«Entschuldigung, aber das ist die einzige Sprache, die diese Typen verstehen», sagt sie und lacht. Es ist ein schönes Lachen, es klingt echt, und ich habe in letzter Zeit nicht oft jemanden lachen gehört. «Also dann, lassen Sie uns das mit dem Hotel erledigen, ehe der nächste Reporter aufkreuzt.»
Ich nicke nur. Ich war zum letzten Mal in einem Hotel, als Glen und ich übers Wochenende nach Whitstable gefahren sind. Das ist jetzt ein paar Jahre her. 2004. Zu unserem fünften Hochzeitstag.
«Ein Meilenstein, Jeanie», hatte er gesagt. «Das ist mehr, als die meisten Bankräuber kriegen.» Glen machte ab und zu gern mal einen Witz.
Whitstable war zwar nur eine Stunde von zu Hause entfernt, aber wir wohnten trotzdem in einem hübschen Hotel am Meer, aßen teure Fish and Chips und spazierten am Kiesstrand entlang. Ich sammelte flache Steine für Glen, er ließ sie übers Wasser flitzen, und zusammen zählten wir, wie oft sie sprangen. Die Maste der kleinen Segelboote klirrten, und der Wind brachte meine Haare völlig durcheinander, aber ich glaube, ich war richtig glücklich. Glen sagte nicht viel. Er wollte einfach nur laufen, und ich war froh, seine ganze Aufmerksamkeit für mich zu haben.
Glen verschwand nämlich bereits damals aus meinem Leben. Er war anwesend und gleichzeitig auch nicht, falls das logisch klingt. Der Computer war für ihn inzwischen mehr seine Ehefrau als ich. In jeder Beziehung, wie sich dann herausstellte. Er hatte so ein Kamerading, damit die Leute ihn sehen konnten und er sie, während sie sich unterhielten. Die Belichtung von den Dingern macht, dass man aussieht wie tot. Wie ein Zombie. Ich habe ihn einfach gelassen. Ihn seinen Unsinn machen lassen.
Wenn ich ihn fragte: «Was tust du eigentlich den ganzen Abend vor dem Ding?», zuckte er nur die Achseln und sagte: «Ach, mit Freunden reden. Nicht viel.» Aber er konnte Stunden mit dem Kasten verbringen. Stunden.
Manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf, und er war nicht da, lag nicht neben mir im Bett. Dann hörte ich ihn im Gästezimmer leise murmeln, aber ich war klug genug, um ihn nicht zu stören. Er mochte meine Gesellschaft nicht, wenn er am Computer war. Wenn ich ihm abends ab und zu noch eine Tasse Kaffee brachte, musste ich immer anklopfen, ehe ich das Zimmer betrat. Er sagte, ich würde ihn erschrecken, wenn ich einfach unangemeldet hereinkäme. Also klopfte ich an, er schaltete den Bildschirm aus und nahm mir die Tasse aus der Hand.
«Danke», sagte er dann.
Wenn ich ihn fragte: «Irgendwas Interessantes im Computer?», antwortete er immer: «Nein, nur das Übliche.» Ende des Gesprächs.
Ich habe den Computer nie benutzt. Das war absolut seine Abteilung.
Aber ich glaube, ich wusste immer, dass da drinnen irgendetwas vor sich ging. Damals fing ich auch an, es «seinen Unsinn» zu nennen. Weil es damit einen Namen bekam und ich es ansprechen konnte. Es gefiel ihm zwar nicht, dass ich es so nannte, aber was sollte er dagegen sagen? Es war ein so harmloses Wort. Unsinn. Etwas und gleichzeitig nichts. Aber es war nicht nichts. Es war Dreck. Dinge, die niemand sehen dürfte, ganz zu schweigen davon, Geld zu bezahlen, um sich diese Dinge anzusehen.
Als die Polizei den Dreck auf seinem Computer fand, sagte Glen mir, das sei nicht von ihm.
«Sie haben Sachen gefunden, die ich nicht runtergeladen habe – furchtbares Zeug, das sich einfach auf die Festplatte draufschmuggelt, während man sich ganz was anderes ansieht», sagte er. Ich hatte keine Ahnung vom Internet und von Festplatten. Das hätte doch sein können, oder? «Da werden ganz viele Leute grundlos verdächtigt, Jeanie», sagte er. «Das steht jede Woche in der Zeitung. Jemand klaut Kreditkarten und benutzt sie, um solches Zeug zu kaufen. Ich war das nicht. Das habe ich der Polizei auch schon gesagt.»
Und als ich darauf nichts antwortete, sprach er weiter. «Du weißt nicht, wie es ist, wegen so etwas beschuldigt zu werden, obwohl man gar nichts getan hat. Das zerreißt einen innerlich.»
Ich streckte die Hand aus, streichelte seinen Arm, und er griff nach meiner Hand.
«Lass uns eine Tasse Tee trinken, Jeanie», sagte er. Und wir gingen in die Küche und setzten das Wasser auf.
Als ich die Milch aus dem Kühlschrank nahm, blieb ich stehen und sah mir die Fotos an der Tür an – wir beide an Silvester, feingemacht; wir beide beim Streichen der Wohnzimmerdecke, von oben bis unten mit Farbe bekleckert; wir beide im Urlaub, wir beide auf dem Volksfest. Wir beide waren ein Team.
«Mach dir keine Sorgen. Du hast mich, Jeanie», sagte er immer, wenn ich nach Hause kam und einen schlechten Tag hinter mir hatte. «Wir beide sind ein Team.» Und das waren wir auch. Es stand zu viel auf dem Spiel, um sich zu trennen.
Außerdem steckten wir beide viel zu tief drin. Ich hätte ihn nicht verlassen können. Ich hatte für ihn gelogen.
Und nicht zum ersten Mal. Es hatte damit angefangen, dass ich in der Bank anrief, um ihn krankzumelden, als er keine Lust hatte, zur Arbeit zu gehen. Dann, als er sagte, wir seien in finanziellen Schwierigkeiten, die Lüge von der verlorenen Kreditkarte, damit die Bank ein paar von den Abbuchungen übernahm.
«Das tut doch keinem weh, Jeanie», sagte er. «Bitte, nur dieses eine Mal.»
Natürlich war es nicht nur dieses eine Mal.
Ich vermute, das sind die Dinge, die Kate Waters gerne von mir wissen würde.
Ich höre, wie sie draußen im Flur meinen Namen sagt, und als ich nachsehen gehe, telefoniert sie. Sie bittet irgendwen darum, vorbeizukommen und uns in Sicherheit zu bringen.
Glen nannte mich ab und zu seine Prinzessin, aber ich bin mir nicht sicher, ob heute jemand auf einem weißen Pferd angeritten kommt, um mich zu retten.
Ich gehe zurück und setze mich wieder hin und warte ab, was als Nächstes passiert.
Der Polizist
Als Bob Sparkes zum ersten Mal Bella Elliotts Namen hörte, lächelte er. Bella, so hatte seine Lieblingstante geheißen – eine aus der Schar jüngerer Geschwister seiner Mutter; der Spaßvogel der Horde. Es sollte für viele Wochen sein letztes Lächeln sein.
Der Notruf war um 16:38 Uhr reingekommen. Die Frauenstimme klang atemlos vor Angst.
«Sie ist entführt worden», sagte sie. «Sie ist erst zwei. Jemand hat sie mitgenommen …»
Auf der Aufzeichnung, die sie im Verlauf der folgenden Tage immer und immer wieder abspielten, ertönt der beruhigende Bass des Telefonisten im quälenden Duett mit dem schrillen Sopran der Anruferin.
«Wie heißt Ihre kleine Tochter?»
«Bella – sie heißt Bella.»
«Und mit wem spreche ich?»
«Ich bin ihre Mama. Dawn Elliott. Sie war im Vorgarten. Vor unserem Haus. Manor Road 44a. Westland. Bitte helfen Sie mir!»
«Das werden wir, Dawn. Ich weiß, das ist jetzt sehr schwer für Sie, aber wir benötigen noch einige Angaben, damit wir Bella finden können. Wann haben Sie Ihre Tochter zuletzt gesehen? War sie allein im Vorgarten?»
«Sie hat mit der Katze gespielt. Alleine. Nach dem Mittagschlaf. Sie war nicht lange vor der Tür. Nur ein paar Minuten. Etwa um halb vier bin ich rausgegangen, um sie zu holen, und da war sie weg. Wir haben überall gesucht. Bitte helfen Sie mir. Sie müssen sie finden.»
«Okay. Nicht auflegen, Dawn. Können Sie Bella beschreiben? Was hat sie an?»
«Sie hat blonde Haare – heute einen Pferdeschwanz. Sie ist noch so klein. Sie ist doch noch ein Baby … Ich weiß gar nicht mehr, was sie anhat. Ein T-Shirt und eine Hose, glaube ich. O Gott, ich kann nicht denken. Sie hatte ihre Brille auf. Eine kleine runde Brille mit rosarotem Gestell – sie schielt doch auf einem Auge. Bitte, Sie müssen sie finden. Bitte!»
Exakt dreißig Minuten später, nachdem zwei uniformierte Beamte aus Hampshire losgeschickt worden waren, um Dawn Elliotts Angaben zu überprüfen und eine erste Hausdurchsuchung durchzuführen, vernahm Detective Inspector Sparkes zum ersten Mal Bellas Namen.
«Vermisstenmeldung. Ein zweijähriges Mädchen, Bob», meldete sein Sergeant und kam in Sparkes’ Büro gestürmt. «Bella Elliott. Wurde vor knapp zwei Stunden zuletzt gesehen. Hat im Vorgarten gespielt, dann war sie weg. Eine Siedlung mit Sozialwohnungen am Stadtrand von Southampton. Die Mutter ist völlig durch den Wind – der Arzt ist inzwischen bei ihr.»
Sergeant Ian Matthews legte seinem Chef eine dünne Mappe auf den Tisch. Der Name Bella Elliott war mit schwarzem Edding auf den Deckel geschrieben und das Foto eines kleinen Mädchens mit einer Büroklammer darangeheftet. Sparkes tippte mit dem Zeigefinger auf das Foto und betrachtete es kurz. Dann schlug er die Akte auf. «Womit fangen wir an? Wo suchen wir? Wo ist der Vater?»
Sergeant Matthews ließ sich auf den Stuhl sinken. «Wir waren im Haus, in der Wohnung, im Garten, bis jetzt. Sieht nicht gut aus. Keine Spur von ihr. Der Vater kommt aus den Midlands, vermutet die Mutter – eine kurze Affäre, war vor Bellas Geburt schon wieder beendet. Wir versuchen, ihn aufzuspüren, aber die Mutter ist nicht kooperativ. Sie sagt, es geht ihn nichts an.»
«Und was ist mit ihr? Wie ist sie? Was hat sie gemacht, während ihre zweijährige Tochter allein draußen gespielt hat?», wollte Sparkes wissen.
«Bella das Abendbrot machen, hat sie gesagt. Die Küche geht zum Garten hinter dem Haus raus, sie konnte das Kind von dort aus also nicht sehen. Vorne gibt’s nur eine niedrige Mauer, im Grunde kaum der Rede wert.»
«Ein bisschen unvorsichtig, ein Kind in diesem Alter unbeaufsichtigt zu lassen», sagte Sparkes nachdenklich und versuchte, sich an seine beiden eigenen Kinder in dem Alter zu erinnern. James war inzwischen dreißig – Buchhalter, ausgerechnet –, und Samantha war sechsundzwanzig und frisch verlobt. Hatten er oder Eileen sie als Kleinkinder je allein im Garten gelassen? Er konnte sich, ehrlich gesagt, nicht erinnern. Wahrscheinlich war er damals so gut wie nie zu Hause gewesen, ständig beruflich unterwegs. Er würde Eileen fragen, wenn er heute Abend nach Hause käme – falls er heute Abend nach Hause käme.
Sparkes griff nach seinem Mantel am Haken hinter sich und angelte den Autoschlüssel aus der Tasche. «Ich glaube, ich fahr mal da raus und schau mich selbst um, Matthews. Atmosphäre schnuppern, mit der Mutter sprechen. Sie bleiben hier und bereiten alles vor, falls wir einen Einsatzraum brauchen. Ich melde mich noch vor neunzehn Uhr bei Ihnen.»
Auf der Fahrt nach Westland schaltete er das Autoradio ein, um die Lokalnachrichten zu hören. Bella war das große Thema, doch der Reporter wusste nichts, was Sparkes nicht auch schon wusste.
Wenigstens etwas, dachte er. Er hegte, was die Lokalpresse betraf, entschieden gemischte Gefühle.
Als das letzte Mal ein Kind vermisst worden war, war es in dem Moment hässlich geworden, als die Presse anfing, auf eigene Faust zu ermitteln, und dabei sämtliche Spuren zertrampelte. Laura Simpson, fünf Jahre alt, aus Gosport, war schließlich aufgefunden worden, schmutzig und verängstigt, versteckt in einem Schrank im Haus ihres Stiefonkels – «Eine dieser Familien, die nur aus entfernten Onkeln und Cousins zu bestehen scheinen», hatte er Eileen erzählt.
Bedauerlicherweise hatte einer der Reporter das Fotoalbum der Familie aus der Wohnung der Mutter mitgehen lassen, sodass die Polizei das Foto von Onkel Jim – einem registrierten Sexualstraftäter aus der Gegend – niemals zu Gesicht bekommen hatte und seine Verbindung zu dem vermissten Mädchen viel zu lange unentdeckt blieb.
Er hatte versucht, das Kind zu vergewaltigen, was ihm jedoch nicht gelungen war. Sparkes war davon überzeugt, dass er sie früher oder später getötet hätte, weil die Kriminalpolizei ihn immer enger einkreiste, manchmal nur ein paar Meter vom Gefängnis der Kleinen entfernt – wenn nicht zufällig ein anderes Familienmitglied aus der entfernten Verwandtschaft betrunken seinen Namen ausposaunt hätte. Laura konnte befreit werden, ihr blieben nur die Wunden an Leib und Seele. Sparkes sah noch immer ihre Augen vor sich, so, wie sie ihn in dem Augenblick angeschaut hatte, als er den Schrank aufmachte. Blankes Entsetzen – es gab keinen anderen Ausdruck dafür. Entsetzliche Angst davor, er könne sein wie Onkel Jim. Er hatte eine Beamtin dazugerufen, die Laura schließlich in die Arme nahm. Endlich in Sicherheit. Sie hatten alle Tränen in den Augen gehabt, alle außer Laura. Sie war völlig betäubt.
Er war das Gefühl nie losgeworden, sie im Stich gelassen zu haben. Dass er sie früher hätte finden müssen. Andere Fragen hätte stellen müssen. Der Polizeichef und die Presse hatten Lauras Auffinden gefeiert wie einen Sieg, doch Bob Sparkes hatte nicht mitfeiern können. Nicht nach diesem Blick in ihren Augen.
Wo sie jetzt wohl ist?, dachte er. Wo Onkel Jim jetzt wohl ist?
In der Manor Road wimmelte es von Reportern, Nachbarn und Polizeibeamten, die sich in einer akustischen Orgie gegenseitig befragten.
Sparkes bahnte sich seinen Weg durch das Gedränge zum Gartentor von Hausnummer 44a und nickte den Journalisten zu, die er kannte.
«Bob!», rief ihm eine Frauenstimme zu. «Hallo! Was Neues? Irgendeine Spur?» Kate Waters drängelte sich nach vorne und schenkte ihm ein gespielt erschöpftes Lächeln. Er war ihr während eines grausamen Mordfalls im New-Forest-Nationalpark zum letzten Mal begegnet. Sie hatten damals im Laufe der Wochen vor der Festnahme des Ehemanns ein paar Mal etwas zusammen getrunken und sich gegenseitig auf den neusten Stand gebracht.
Sie kannten sich schon lange, liefen sich bei diversen Fällen immer wieder einmal über den Weg und nahmen den Faden dort wieder auf, wo sie ihn beim letzten Mal hatten fallen lassen. Eine richtige Freundschaft ist das eigentlich nicht, dachte Bob. Es ging zwischen ihnen definitiv nur um Berufliches, aber Kate war in Ordnung. Beim letzten Mal hatte sie die Veröffentlichung einer Spur, über die sie bei ihren Recherchen gestolpert war, so lange zurückgehalten, bis er den richtigen Zeitpunkt für gekommen gehalten hatte, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Er war ihr also was schuldig.
«Hallo, Kate. Bin gerade erst angekommen, aber vielleicht weiß ich nachher was zu berichten», sagte er und drückte sich an dem uniformierten Polizisten vorbei, der die Haustür bewachte.