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Die beiden Freundinnen Alex und Rosie reisen nach ihrem Abitur nach Bangkok – und verschwinden dort spurlos. Ihre Eltern benachrichtigen Reporterin Kate Waters, die sich aus ganz persönlichen Gründen in den Fall einschaltet. Auch ihr eigener Sohn ist in Thailand unterwegs, lässt aber kaum von sich hören. Als man nach dem Brand in einem Hostel in Bangkok zwei Frauenleichen findet, gibt es bald traurige Gewissheit. Bei den Toten handelt es sich um die Vermissten Alex und Rosie. Und damit nicht genug, erfährt Kate noch etwas: Beide sind schon vor dem Brand ums Leben gekommen. Der einzige Zeuge liegt mit schweren Brandwunden im Krankenhaus, ein junger Mann, der im selben Hostel gewohnt hatte: Kates Sohn. Hat er etwas mit dem Tod der Mädchen zu tun?
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Fiona Barton
Der Trip
Deine Tochter macht die Reise ihres Lebens – bis sie spurlos verschwindet…
Thriller
Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld
Die beiden Freundinnen Alex und Rosie reisen nach ihrem Abitur nach Bangkok – und verschwinden dort spurlos. Ihre Eltern benachrichtigen Reporterin Kate Waters, die sich aus ganz persönlichen Gründen in den Fall einschaltet. Auch ihr eigener Sohn ist in Thailand unterwegs, lässt aber kaum von sich hören. Als man nach dem Brand in einem Hostel in Bangkok zwei Frauenleichen findet, gibt es bald traurige Gewissheit. Bei den Toten handelt es sich um die Vermissten Alex und Rosie. Und damit nicht genug, erfährt Kate noch etwas: Beide sind schon vor dem Brand ums Leben gekommen. Der einzige Zeuge liegt mit schweren Brandwunden im Krankenhaus, ein junger Mann, der im selben Hostel gewohnt hatte: Kates Sohn. Hat er etwas mit dem Tod der Mädchen zu tun?
Fiona Barton wurde in Cambridge geboren und arbeitete lange bei der «Daily Mail», beim «Daily Telegraph» und bei der «Mail on Sunday». Für ihre Tätigkeit gewann sie den britischen Preis «Reporter of the Year». Viele Jahre war sie als Prozessbeobachterin und Gerichtsreporterin für verschiedene Medien tätig. Heute arbeitet sie als Medientrainerin. Ihr Erstling «Die Witwe» landete auf Anhieb auf den internationalen Bestsellerlisten.
Für Beatrice, Arthur, Jemima, Olive und Isabelle
Never let the truth get in the way of a good story. Man sollte sich eine gute Geschichte niemals von der Wahrheit verderben lassen.
Anon
Die Journalistin
Der Anruf kommt um drei Uhr morgens. Der abgehackte Klingelton des Telefons auf dem Nachttisch reißt uns aus dem Schlaf. Ich strecke den Arm aus, um es zum Schweigen zu bringen.
«Hallo?», flüstere ich heiser.
Es flüstert knisternd zurück. Ich presse den Hörer ans Ohr. «Wer ist da?»
Ich spüre, dass Steve sich umdreht und mich ansieht, aber er sagt nichts.
Das knisternde Rauschen verklingt, und ich höre eine Stimme: «Hallo? … Hallo!», tönt es, suchend.
Ich fahre hoch und knipse das Licht an.
Steve reibt sich stöhnend die Augen. «Kate, was ist denn los?», fragt er.
«Wer ist da?», frage ich wieder. Dabei weiß ich, wer dran ist. «Jake?»
«Mum», sagt die Stimme, das Wort durch die schlechte Verbindung gedehnt – oder vom Alkohol. Der Gedanke ist gnadenlos.
«Sorry, dass ich deinen Geburtstag vergessen habe.»
Die Leitung knistert wieder, dann ist er weg.
Ich sehe Steve an.
«War er das?», fragt er.
Ich nicke. «Es tut ihm leid, dass er meinen Geburtstag vergessen hat …»
Es ist der erste Anruf seit sieben Monaten. Es gab drei E-Mails, aber unser Ältester hatte uns von Anfang an klargemacht, dass er telefonisch nicht erreichbar sein würde. Er wolle sich den Stress mit der ständigen Telefoniererei nicht antun, hatte er gesagt. Er würde sich bei uns melden.
Das letzte Mal rief er zu Weihnachten an. Wir hatten gehofft, er wäre bis dahin längst wieder zu Hause, um gemeinsam mit uns Knallbonbons zu zerreißen und seinen berüchtigten Glühwein für uns zu kochen. Wir hatten erst leise Andeutungen gemacht, dann per E-Mail regelrecht gefleht und ihm, als er allem Anschein nach schwach geworden war, sogar einen Flug gebucht. Doch Jake war nicht gekommen, hatte am Weihnachtsmorgen nichts weiter zustande gebracht als ein Zehnminutentelefonat. Steve war ans Telefon gegangen und hatte zuerst mit ihm gesprochen, während ich ihm nicht von der Seite gewichen war, danach hatte Jake mit seinem kleinen Bruder Freddie sprechen wollen und erst ganz zum Schluss mit mir, seiner Mutter.
Ich hatte das Telefon beinahe umarmt, als könnte ich so sein Gewicht, seine Wärme spüren, hatte versucht, ihm zuzuhören und selbst den Mund zu halten. Doch er blieb distanziert, während in einer Telefonzelle irgendwo auf der Welt die gekauften Sekunden herunterzählten, bis bei mir die innere Inquisitorin die Führung übernahm.
«Und, Schätzchen? Wo bist du gerade?»
«Hier», sagte er lachend.
«Immer noch in Phuket?»
«Ja, klar.»
«Und? Arbeitest du?»
«Ja, logo. Mal dies, mal das.»
«Kommst du über die Runden?»
«Ich komme zurecht, Mum. Mach dir keine Sorgen. Mir geht’s gut.»
«Na ja. Solange du glücklich bist …», hörte ich mich sagen. Der feige Ausweg.
«Ja. Bin ich.»
Nachdem ich aufgelegt hatte, drückte Freddie mir ein Glas Prosecco in die Hand und gab mir einen Kuss.
«Na komm, du Übermutter. Ihm geht’s gut. Er macht sich eine super Zeit, aalt sich irgendwo in der Sonne, während wir hier im Regen sitzen.»
Doch mir war tief in meinem Inneren klar gewesen, dass es ihm überhaupt nicht gutging. Seine Stimme hatte argwöhnisch und angespannt geklungen. Und dann dieses nervöse Lachen. Er hatte sich nicht angehört wie mein Jake.
Die Mutter
Lesley überprüfte noch einmal den Posteingang. Nur für den Fall, dass sie was übersehen hatte. Sie wusste, dass da nichts war, aber wenn sie damit aufhörte, bedeutete es, dass sie etwas unternehmen mussten. Da waren sie sich einig. Malcolm stand hinter ihr und beobachtete jeden Handgriff. Sie konnte seine Anspannung spüren.
«Ist was gekommen?», fragte er.
«Nein.»
«Ich rufe jetzt die Polizei an.»
Sie nickte. Sie hatten in ihrem ganzen gemeinsamen Eheleben noch nie die Polizei rufen müssen. Die Polizei gehörte in eine andere Welt – in eine Welt, die sie nur aus dem Fernsehen oder aus der Zeitung kannten –, aber nicht in ihre. Lesley zitterte, als Malcolm zum Hörer griff. Sie hätte es ihm am liebsten verboten. Ihm befohlen, noch einen Tag dranzuhängen. Die Sache noch nicht ins Rollen zu bringen. Nicht in ihr Haus zu lassen.
«Mal», sagte sie, aber er brachte sie, schon wählend, mit einem Blick zum Schweigen. Der Kühlschrank brummte. Draußen fuhr ein Auto vorbei. Das Leben ging weiter.
«Hallo? Ich möchte meine Tochter als vermisst melden», hörte sie ihn sagen.
Damit war ihr altes Leben vorbei.
«Eine Woche. Wir haben von ihr und von der Freundin, mit der sie unterwegs ist, seit einer Woche nichts mehr gehört», sagte er. «Gestern war Notenbekanntgabe, und sie hat sich immer noch nicht gemeldet … Ihr Name ist Alexandra O’Connor … Achtzehn. Seit Mai.»
Lesley erinnerte sich, wie sie den Geburtstagskuchen glasiert hatte. Abgesehen von den roten Haaren sah ihr Kunstwerk Ed Sheeran zwar kein bisschen ähnlich, aber Alex hatte sich trotzdem unglaublich darüber gefreut. Sie kehrte in die Gegenwart zurück und hörte, wie ihr Mann sich entschuldigte.
«Sorry, ich dachte, das hätte ich bereits gesagt. Sie ist in Thailand. Backpacking, zusammen mit ihrer Freundin Rosie Shaw. Bei der letzten SMS waren sie noch in Bangkok.»
Es dauerte noch zwanzig Minuten, bis Malcolm die Situation erklärt, seine Daten genannt und sich die üblichen Ratschläge angehört hatte. Als er auflegte, rieb er sich die Augen und ließ die Hände einen Moment lang, wo sie waren.
«Was? Was haben sie gesagt?» Die Panik machte Lesleys Stimme schrill. Sie klang nicht wie sie selbst. «Mit wem hast du gesprochen. Sag schon!»
Ihr Mann hob ruckartig den Kopf und sah sie an, als müsse er sich vergewissern, dass die kreischende Furie in ihrer Küche tatsächlich seine Frau war.
«Sie haben ihre Daten aufgenommen, Liebling. Du hast doch zugehört. Ich habe mit einer Frau gesprochen. Ich habe mir alles notiert.» Er lehnte sich über die Arbeitsplatte und angelte nach einem Klebezettel. «Hier.»
Lesley fegte den Zettel beiseite, und er trudelte auf den Fliesenboden.
«Das ist mir egal. Was hat sie gesagt? Was werden sie unternehmen, um Alex und Rosie zu finden?»
Malcolm beugte sich hinunter, fischte die Notiz vom Boden und legte sie zurück auf die Arbeitsplatte. Lesley hätte ihn am liebsten geschlagen.
«Malcolm!»
«Entschuldige, Liebling, aber den Zettel werden wir brauchen.» Er sprach langsam, wie mit einer alten Tante. «Sie hat gesagt, sie leiten die Informationen an Interpol weiter, und dass wir die britische Botschaft in Bangkok anrufen sollen. Dazu rät sie uns. Aber sie hat auch gesagt, dass so was ständig passiert – junge Menschen gehen auf Reisen und vergessen, sich zu Hause zu melden. Sie sagt, es wäre noch zu früh, und wir sollten versuchen, uns keine Sorgen zu machen.»
«Sie glaubt also, es ist alles in Ordnung?» Lesley wollte ihn zwingen, ja zu sagen, zu nicken. Mach, dass alles gut ist …
Malcolm schüttelte den Kopf. «Sie weiß es nicht, Liebling. Wir sollen sie anrufen, sobald Alex sich meldet – oder falls wir in einer Woche immer noch nichts von ihr gehört haben.»
«Sie wird sich doch melden, oder?»
Malcolm zog sie an sich. «Natürlich meldet sie sich. Sie will doch ihre Noten wissen. Morgen, spätestens übermorgen. Sie taucht wieder auf, ganz bestimmt.»
Lesley wischte sich mit einem Papiertaschentuch die Tränen weg und versuchte, ein hoffnungsvolles Gesicht aufzusetzen.
«Ich rufe mal besser bei Jenny an», sagte sie, dankbar, weil es etwas Praktisches zu tun gab. «Ich habe ihr gesagt, wir würden uns melden, sobald wir mit der Polizei gesprochen haben. Sie war gestern deswegen ein bisschen komisch.»
«Sie ist sicher genauso verzweifelt wie wir. Rosie ist ihr einziges Kind. Und Jenny ist allein.»
Malcolm tippte auf seinem Laptop herum. «Die Polizei will ein Foto. Ich habe gesagt, ich schicke ihnen eins. Und dann besorge ich uns die Telefonnummer der Botschaft.»
Lesley schaute ihm über die Schulter. Er hatte das Bild ausgesucht, das Alex geschickt hatte: sie und Rosie in einem Tuk-Tuk, an dem Tag, als sie in Bangkok angekommen waren, beide breit grinsend, die Umgebung verschwommen.
«Wenigstens sind sie zusammen», sagte Lesley, ließ den Kopf auf die Arme sinken und fing am Küchentisch an zu weinen.
Bangkok, Erster Tag
Alex O’Connor
Sonntag um 05:00
… ist endlich da! Der Hammer! Jetzt geht’s richtig los!
Ihre Finger flogen über die Tastatur ihres Telefons, während sie ihr Selfie auf Facebook postete: Sie vor dem Suvarnabhumi Airport, mit todmüden Augen und einem dämlichen Grinsen im Gesicht. Sie hatte das Foto bereits im Flugzeug geplant, aber sie hatte nicht mit dem Lärm und der Hitze gerechnet, die über sie herfielen, sobald die Türen des Terminals aufglitten. Es rüttelte sie körperlich förmlich durch. Ihr war klar gewesen, dass es heiß sein würde – aber nicht so heiß. Ihr Gesicht war schweißnass, und Haarsträhnen klebten auf ihrer Stirn. Die Luft war so zäh, dass Alex sie auf der Zunge schmecken konnte. Vorsichtig setzte sie den Rucksack ab, sicherte ihn mit den Füßen vor dem Umkippen, reckte die Arme über den Kopf und verspürte eine erste, aufregende Ahnung von Freiheit.
Sie freute sich seit einem Jahr auf diese Reise, hatte, während sie sich auf die Abiturprüfung vorbereitete und im Supermarkt Regale einräumte, um das nötige Geld zusammenzusparen, von Orten, Menschen und Abenteuern geträumt. Sie hatte sich auf jede Einzelheit gefreut, angefangen beim Flug – schon immer hatte sie das Gefühl geliebt, plötzlich über die Startbahn auf etwas ganz Neues zuzurasen. Und als die Motoren bei diesem Flug auf Touren gebracht worden waren, ihrem allerersten Langstreckenflug, der sie ans andere Ende der Welt beförderte, hatte sie genau diese Aufregung wieder verspürt. Doch dann war es mit der Begeisterung ziemlich schnell vorbei gewesen. Elf Stunden Flug auf einem Mittelplatz, permanent bemüht, den Arm des Sitznachbarn nicht zu berühren, unter einer dünnen Decke versteckt wie eine Leiche.
Rosie hatte sich zu ihrem abartigen Flugzeugfraß – «Hühnchen oder Nudeln?» – drei Gläser Wein gegönnt, und Alex hatte sich genötigt gefühlt, sie vor der Gefahr des Dehydrierens zu warnen. Doch Rosie hatte nur die Augen verdreht und total auffällig mit dem Typen auf ihrer anderen Seite geflirtet, ehe sie leise schnarchend weggedämmert war. Alex hatte versucht, ebenfalls zu schlafen, war auf dem engen Sitz herumgerutscht, um irgendwie eine bequeme Position zu finden, die Decke hochgezogen, dabei die Füße entblößt und mit dem Sicherheitsgurt gekämpft, der ihr in die Hüfte schnitt. Schließlich hatte sie es aufgegeben, im Dunkeln dagesessen und auf dem winzigen Bildschirm Filme geschaut, bis ihr die Augen brannten.
Als eine Stunde vor Landung die Kabinenbeleuchtung wieder angegangen war, hatte sie sich abgeschnallt und war auf die Toilette gegangen. Das Gesicht im Spiegel hatte furchtbar ausgesehen: rot geränderte Augen und ein vor Schlafentzug schlaffer Mund. Sie hatte sich selbst angegähnt und dann versucht, die Tür wieder aufzukriegen, in einem plötzlichen Anflug von Panik.
Als sie es endlich geschafft hatte und die Tür mit einem Ruck aufgegangen war, hatte ein Junge wartend davorgestanden. Sie hatte gelacht. «Die Dinger sind ein Albtraum, oder?»
Er hatte ihr schüchtern zugelächelt und sie vorbeigelassen.
Und jetzt war sie hier. In Bangkok. Sie hob den Rucksack vom Boden, setzte ihn mit Schwung wieder auf und geriet ins Schwanken, leicht schwindelig von der plötzlichen Bewegung. Sie fühlte sich steif und benommen, als würden ihre Füße gar nicht richtig den Boden berühren.
Fremde sprachen sie an, wollten, dass sie mitkam. Kleine Männer mit breitem Lächeln und aufdringlichen Händen.
«Brauchst du Taxi?»
«Ich weiß super Guesthouse.»
«Willst du Tempel sehen?»
Sie stand da, und die Angebote prasselten auf ihre Schädeldecke ein. Es war fünf Uhr morgens, dunkel, heiß, und sie wollte sich eigentlich nur noch hinlegen.
Komm schon, Alex. Los geht’s, sagte sie zu sich selbst. Wo ist Rosie?
Ihre Freundin war losgelaufen, um sich etwas gegen ihre Kopfschmerzen zu besorgen.
«Du hättest im Flugzeug nicht so viel Wein trinken sollen. Hast du kein Paracetamol dabei?», hatte Alex gefragt und nach dem Reißverschluss ihrer Tasche gegriffen.
«Nein!», hatte Rosie geschnauzt und war losmarschiert.
Alex hoffte, dass mit ihnen alles gutging. Außerdem war es für Zweifel jetzt sowieso zu spät. Sie waren hier. Und es war genial. Na ja, das würde es sein.
Der Polizist
DS Zara Salmond schlich an diesem Vormittag dermaßen auf Zehenspitzen um DI Bob Sparkes herum, dass er sich vorkam wie unter heimlicher Beschattung. Sie befand sich ständig gerade eben außer Sichtweite und hätte damit gar nicht aufdringlicher sein können. Genauso gut hätte sie ein Neonschild mit der Aufschrift «Die Frau vom Boss liegt im Sterben» hochhalten können.
Vor zwei Monaten war Eileens Krebs zurückgekommen, hatte neue Löcher in sie hineingefressen, und jetzt brachte er sie um. «Wir schaffen das», hatte er zu ihr gesagt, als die jüngsten Ergebnisse gekommen waren. «Wir haben es schon einmal geschafft, und wir schaffen es wieder.» Zu Hause, hinter dem Rücken ihrer Mutter, hatten die Kinder mit ihm geweint.
Sam rief jeden Tag an, bevor sie zur Arbeit ging und wenn sie wieder zu Hause war, und gab sämtliche Neuigkeiten an ihren Bruder weiter. Sie versuchten, füreinander stark zu sein, und die Anstrengung zehrte an den Kräften aller. Manchmal brauchte er morgens seine ganze Energie, nur um aus dem Bett zu kommen.
Im Kommissariat hatten sie sich fantastisch verhalten, seine Vorgesetzten bedrängten ihn, sich so viel Auszeit zu nehmen, wie er brauchte, doch Sparkes kam weder im Krankenhaus noch zu Hause zur Ruhe. Er brauchte dringend etwas zu tun, etwas, das nichts mit Krebs zu tun hatte. Er musste so tun, als wäre ein normales Leben weiterhin möglich, um Eileens willen und zur Ablenkung für sein schmerzendes Herz.
Aber er hatte offensichtlich vergessen, DS Salmond in seine Pläne einzuweihen.
Er wusste, dass sie das Theater im Einsatzraum von ihm fernhielt, weil sie es gut mit ihm meinte, aber als Sparkes zufällig mitbekam, wie seine Detective Sergeant zu einem Kollegen sagte: «Komm später wieder. Er hat heute keinen guten Tag», platzte ihm der Kragen. «Salmond! Kommen Sie her! Auf der Stelle!», brüllte er.
Als sie ihren ordentlich frisierten Kopf zur Tür hereinstreckte, verging ihr augenblicklich das Lächeln.
«Sie gehen mir auf den Zeiger, Salmond! Hören Sie auf, den Leuten zu sagen, sie sollen mich in Ruhe lassen. Machen Sie zur Abwechslung mal was Sinnvolles. Ich komme mir vor wie unter Quarantäne.»
Salmond versuchte, es mit einem Lachen abzutun, aber Bob wusste, dass er zu hart gewesen war. Er erhob sich und hielt sie auf.
«Tut mir leid. Aber wenn ich Sie über mich reden höre, klingt es, als hätten Sie’s mit einem Brückenspringer zu tun. Mir geht es gut.»
«Okay, Boss. Hab’s kapiert. Ich lasse Sie in Ruhe. Ich muss noch ein paar Berichte schreiben.»
«Erzählen Sie mir, an was Sie gerade dran sind.» Bob deutete auf einen Stuhl.
Salmond setzte sich, die Arme verschränkt.
Immer noch auf Abwehr, dachte Bob. «Kommen Sie schon, Zara. Helfen Sie mir auf die Sprünge.»
«Also. Ich bin gerade dabei, ein bisschen Dampf zu machen wegen der Endergebnisse von der Drogenrazzia draußen in Portsmouth.»
«Das läuft alles ein bisschen zäh, oder?»
«Ja. Na ja, es waren ziemlich viele Leute in Urlaub.»
«Müssen wir uns Sorgen machen?»
«Nein, sieht eigentlich alles sauber aus. Oh, und heute kam eine Vermisstenmeldung rein. Zwei Mädchen aus Winchester.»
«Vermisst? Wie alt?», fragte Bob, sofort in Alarmbereitschaft. «Wann kam das rein? Warum haben Sie mich nicht sofort informiert?»
«Sie sind achtzehn und werden in Thailand vermisst.»
«Ach», murmelte Sparkes, und seine Gedanken schweiften ab zu dem bevorstehenden Gespräch mit Eileens Arzt.
«Nicht ganz unser Revier, aber falls Sie jemanden hinschicken wollen, wäre ich …», sagte DS Salmon einen Tick lauter, um ihm zu signalisieren, dass sein abwesender Blick ihr nicht entgangen war.
«Träumen Sie weiter, Zara. Außerdem sind Sie gerade erst weg gewesen.»
«Das war kein Urlaub, Boss. Als Neil Türkei sagte, dachte ich an Liegestühle. Stattdessen sind wir die meiste Zeit für sein Jahrgangsprojekt durch uralte Latrinen gestapft. Bei vierzig Grad.»
«Latrinen! Klingt super. Gibt es Fotos?»
Salmond lachte. «Neil hat jede Menge. Ich werde ihn bitten, Ihnen eine Auswahl zu schicken.»
«Ja, danke. Keine Eile. Also. Was ist mit diesen Mädchen?»
«Es ist zwar erst eine Woche her, aber die Eltern sind beunruhigt. Die Mädchen sind zum ersten Mal von zu Hause weg und haben sich gestern nicht gemeldet, um ihre Abiturnoten zu erfahren. Der Vater der einen hat heute Morgen angerufen, und ich leite die Daten an Interpol weiter, auch wenn mein persönlicher Tipp lautet, dass die zwei irgendwo am Strand liegen. Die Glücklichen.»
«Ja. Die Glücklichen. Na gut. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie was Neues hören.»
Dann zwinkerte er ihr zu, um ihr zu signalisieren, dass zwischen ihnen alles wieder gut war.
«Kurzes Update, Sir», sagte Salmond zwanzig Minuten später. «Die Pressestelle ist über die Backpacker informiert, und es gibt bereits eine Facebook-Kampagne – auf Initiative der Familie.»
Sparkes verzog das Gesicht.
«Das ist eigentlich eine gute Idee, Sir. So werden die Kids, die vielleicht zufällig neben Alex und Rosie an der Bar sitzen, noch am ehesten aufmerksam.»
«Richtig. Die und alle Spinner und Selbstdarsteller auf dem Planeten, die geheucheltes Mitgefühl und gefakte Sichtungen verbreiten, nur um Teil des Dramas zu sein. Und dann noch die Trolle, die den Eltern die Hölle heißmachen, weil sie ihre Kinder allein verreisen lassen, und die Mädchen als Schlampen und Huren beschimpfen. Gott! Wer hat Leute wie die nur nach ihrer Meinung gefragt? Vor Social Media musste man sich diesen Scheiß wenigstens nicht anhören. Die hocken irgendwo gemütlich in ihrer Stammkneipe oder bei sich im Wohnzimmer und versprühen Gift und Galle.»
«Wie auch immer», sagte Salmond. «Wir machen weiter …»
«Ja. Machen wir.»
Sparkes überflog auf seinem Bildschirm Berichte, aber in Gedanken war er woanders.
Er lehnte sich zurück, streckte die Arme vor, bis er den Computer berührte, und hob sie über den Kopf, bis es in seinem Rücken knackste. Er hatte einen metallischen Geschmack im Mund und kam nicht mehr ohne unfreiwilliges Stöhnen von seinem Stuhl hoch. Er fühlte sich alt. Steinalt.
Eileen hatte gesagt, er bräuchte mehr Schlaf, als er heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit bei ihr vorbeigesehen hatte, doch er hatte ihre Sorgen kleingeredet. «Mir geht es gut, Liebling. Wieso sprechen wir überhaupt über mich? Wir sollten uns lieber auf dich konzentrieren und diese dämliche Infektion loswerden, damit wir mit deiner Behandlung weitermachen können.»
Sie hatte sich zurück in die Kissen sinken lassen. «Ich gebe mir Mühe, Bob.»
Er versuchte, sich auf die Wörter auf seinem Bildschirm zu konzentrieren, doch in seinen Gedanken hatte nur die zunehmende Zerbrechlichkeit Platz, die er in den Augen seiner Frau gesehen hatte. Sie sanken immer tiefer in ihre Höhlen, weg von ihm. Es war, als würde Eileen von innen heraus ausgehöhlt. Er bog und dehnte die Finger.
Nicht jetzt. Ich kann jetzt nicht. Alles wird gut.
Er berührte das Touchpad, um den Bildschirm wieder zum Leben zu erwecken, und ein Foto erschien. DS Salmond hatte die Bilder der vermissten Mädchen hochgeladen und ihm den Link auf die von den O’Connors eingerichtete Facebook-Seite geschickt.
Sparkes betrachtete die Gesichter der Mädchen und seufzte. Er klickte auf den Link und fing an zu lesen. Der Eintrag begann mit Alex’ letztem Post und der E-Mail, die sie am Samstag, den 9. August nach Hause geschrieben hatte.
Alex O’Connor
Samstag um 11:00
… wird schon sehr bald mit ihrer BF die Abiturnoten feiern, und zwar auf Kho Phi Phi, mit Blick auf monumentale Felsen im azurblauen Meer, sagt zumindest Lonely Planet …
Von: Alex O’Connor
An: Les und Mal O’Connor
Betr: Die Noten
Hi, Mum, hi, Dad. Immer noch Bangkok – hier gibt es so viel zu sehen, dass wir beschlossen haben zu verlängern – aber wir wollen rechtzeitig weiter, um unsere Noten zu feiern. Drückt mir die Daumen, dass ich es auf die Warwick schaffe. Ich rufe euch an wie vereinbart, am 14. August um 12:00 eurer Zeit (hier 18:00), dann öffnen wir zusammen den Umschlag. Wie bei den Oscars! Schreibt mir, wenn die Post früher kommt!!! Hab euch lieb! Alex XX
PS: Morgen gehen wir zu den Elefanten. Wieder ein Häkchen auf meiner Wunschliste …
Schließlich schlug Alex O’Connors Bruder Alarm, zuerst noch leise. Eher ein leichter Anstupser.
Hi Alex.
Hab seit ein paar Tagen nichts mehr von dir gehört. Wo seid ihr inzwischen?
Wir können dich telefonisch nicht erreichen. Mum macht sich ein bisschen Sorgen. Kannst du uns bitte schreiben?
Alex?
Alex???
FCK, ALEX! RUF AN!!!!
Der Appell in Großbuchstaben markierte den Wendepunkt, an dem die freundlichen Anfragen sich in einen Panikschrei aus vollem Halse verwandelten.
4 Tage, seit meine Schwester und ihre Freundin gesehen wurden. Bitte teilen und posten.
5 Tage
6 Tage
Und die Facebook-Community war in die Gänge gekommen:
Meldet euch bei euren Familien, Alex und Rosie. Bitte
Wart ihr die Mädels, denen ich gestern Abend bei Oxxi’s einen Drink spendiert habe? Ruft eure Eltern an. Die wollen nur wissen, dass es euch gutgeht.
Was seid ihr für Egoisten! Meldet euch!
Die beiden werden von ihren Eltern einen gehörigen Einlauf bekommen, wenn sie erst wieder auftauchen, dachte Sparkes. So einen Wirbel zu verursachen. Ich wette, die Familien wünschten, sie hätten sie nie gehen lassen.
Er hatte nie vor solchen Entscheidungen gestanden. Seine Kinder waren beide keine Abenteurer gewesen. Er konnte sich noch nicht mal an Diskussionen über eine Auszeit nach dem Schulabschluss erinnern. Jim wollte unbedingt sofort auf die Universität und danach als Wirtschaftsprüfer Karriere machen, und seine Tochter Sam hatte sich gerade verliebt; die würde also nirgendwo hingehen.
Ich frage mich, ob sie sich anders entwickelt hätten, wenn sie nach Thailand gegangen wären, dachte er und scrollte träge durch die Posts.
So wie der Sohn von Kate Waters. Das hatte sie ihm anvertraut, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, um einen Fall zu besprechen. Er ließ sich mit Journalisten eigentlich nie auf Privatgespräche ein, aber Kate hatte offensichtlich dringenden Redebedarf gehabt und ihm schließlich von Jakes monatelangen Sendepausen erzählt. Und von ihrer heimlichen Angst, dass es ihm nicht gutging, die sie ihrem Mann gegenüber nicht eingestehen wollte.
Sparkes hingegen hatte nicht zugeben wollen, dass er sich insgeheim Sorgen machte, sein Sohn werde alt, ohne jemals jung gewesen zu sein. Obwohl Jim erst Anfang dreißig war, bekam er bereits schütteres Haar und trug im Haus Pantoffeln.
«Sie haben Eichenparkett», hatte Eileen gesagt, als Bob mit ihr darüber geredet hatte. «Alles gut.»
Aber Jim würde nie auf eine Vollmondparty gehen.
Vielleicht waren er und Eileen auch einfach nur davongekommen. Er kam wieder zu sich und betrachtete die lachenden Gesichter der vermissten Mädchen. Junge Gesichter. Vermisste Kinder.
Wo waren sie? Er würde Kate anrufen und ihr von der Geschichte erzählen. Bewegung in die Sache bringen.
Die Journalistin
Joe Jackson sitzt auf meinem Platz, weil er freien Blick auf den Redaktionsfernseher haben will, und ich versetze ihm im Vorbeigehen einen Hieb auf die Schulter.
«He, Jackson! Weg da!»
Er grinst zu mir hoch, drückt sich vom Schreibtisch ab, rollt von mir weg, und ich sehe plötzlich Jake beim Herumblödeln vor mir, der mich mit frechem Blick durch seine Ponyfransen auf den Arm nimmt.
«Geh an die Arbeit!», knurre ich.
«Ich bin am Telefonieren!» Joe zeigt mir zum Beweis sein Handy, springt auf und schiebt meinen Stuhl zurück an den Platz. «Viel ist es noch nicht, aber bis zur Vorplanungssitzung ist noch ein bisschen Zeit. Ich hoffe nur, Terry zieht den Termin nicht vor.»
Wie durch ein Wunder taucht der Nachrichtenredakteur aus seinem Goldfischglas auf, dem gläsernen Bürokäfig inmitten der Redaktion.
«Der hat doch unsere Schreibtische verwanzt!», raunt Joe, und ich nicke.
«Was gibt’s denn da zu flüstern?», ruft Terry zu ihnen rüber. «Hoffentlich eine Story. Ihre Trefferquote ist ein Witz, Jackson.»
Als jüngster fester Reporter in der Nachrichtenredaktion ist Joe Jackson ein leichtes Ziel für sogenanntes Geplänkel. Eigentlich ist es Schikane. Joe und ich hatten einen etwas holprigen Start, als er mir damals als Praktikant zugewiesen wurde – ich hatte Terry gesagt, ich hätte keine Zeit für die Redaktionskinderkrippe, doch der Chefredakteur hatte darauf bestanden –, aber inzwischen ist Joe Jackson mir ans Herz gewachsen. Ich weiß, dass die anderen Reporter ihn «Kates Kleinen» oder «Schoßhündchen der Chefreporterin» nennen, aber das ignoriere ich, und er tut das hoffentlich auch. Ich versuche, ihm klarzumachen, dass es denen früher oder später langweilig wird und sie sich ein anderes Spielzeug suchen.
«Hier. Bring ihm das», sage ich und schiebe einen Zeitungsausschnitt über den Tisch. «Da steht dick und fett Nachverfolgung drauf.»
«Danke. Ich schulde dir schon wieder was.»
«Ich setz es auf die Rechnung. Und jetzt halt dich ran, damit es nachher wenigstens so klingt, als wüsstest du, wovon du sprichst.»
Ich werfe Terry einen kurzen Blick zu – er hat alles mitgekriegt. Terry kriegt grundsätzlich alles mit. Er verzieht das Gesicht. Viel zu weich, sagt seine Miene. Ich zucke die Achseln und greife zum Hörer, um nicht mit ihm sprechen zu müssen.
Auf der Suche nach einem geeigneten Ziel scrolle ich durch meine Kontakte und bleibe bei DI Bob Sparkes hängen. Seinen Namen lese ich fast jeden Tag – ich habe ihn unter seinem Vornamen abgelegt, damit er oben auf der Liste bleibt. Aber diesmal lese ich nicht darüber hinweg, sondern öffne die Karteikarte. Ich brauche heute Morgen eine nette Stimme, und vielleicht hat er ja eine Story für mich.
Bob Sparkes und ich haben jene Art erzwungener Intimität genossen – er würde vielleicht eher erduldet sagen –, die die Arbeit an schwierigen Fällen mit sich bringt. Es ist nun mal eine Tatsache, dass Polizisten und Reporter auf der Suche nach Fakten immer wieder an dieselben Türen klopfen und einander ständig in denselben Pubs, Gerichtssälen und Cafés über den Weg laufen.
Für manche Polizeibeamte sind Reporter ein notwendiges Übel, und sie lassen uns für jedes Fitzelchen Information bluten, doch Sparkes ist ein großherziger Bulle. Er weiß, was wir brauchen, um eine Geschichte zu erzählen, und tut uns im Normalfall gern den Gefallen. Er spielt keine Spielchen.
«Eine Zusammenarbeit ist für uns alle von Vorteil», sagte er einmal zu mir. «Die Polizei bekommt die für die Ermittlungen notwendige Öffentlichkeit – und etwas Anerkennung für ihre Arbeit –, und Sie kriegen Ihre Story.»
Und wenn einer Anerkennung verdient hat, dann er. Bob Sparkes reißt sich den Arsch auf, um seine Fälle zu lösen.
Ich habe ihn dabei erlebt. Vor acht Jahren hat er im Bella-Elliott-Fall jede wache Minute nach dem vermissten Kleinkind gesucht und an nichts anderes gedacht. Er habe sogar von ihr geträumt, erzählte er mir einmal. Und er hat mir bei Fällen geholfen, die gar nicht unter seiner Leitung standen. Als ich versuchte, der Identität eines Babys auf die Spur zu kommen, dessen Überreste 2012 auf einer Londoner Großbaustelle gefunden worden waren, war Bob Sparkes mein heißer Draht. Obwohl er nicht dazu verpflichtet gewesen wäre, stand er mir mit Rat und Tat zur Seite, als ich mich zu sehr in die Geschichte verrannte. Als ich zu dicht dran war, um zu erkennen, was ich direkt vor der Nase hatte.
Wir sind zwar nicht gerade Morse und Lewis, aber wir kommen miteinander aus.
Andererseits bedeutet das natürlich, dass er viel zu viel über mich weiß. Mir ist bewusst, dass ich ab und zu zur Redseligkeit neige und ihm auch meine Probleme und intimsten Gedanken anvertraue, aber genau das ist der Punkt: Ich vertraue ihm.
Das Telefon klingelt. «Kate!», sagt eine strenge Stimme, und ich zucke zusammen.
«Grundgütiger, Bob! Haben Sie jetzt auch noch telepathische Fähigkeiten? Ich wollte Sie gerade anrufen.»
«Ach, was! Da haben wir wohl im gleichen Moment aneinander gedacht.»
Ich spüre, wie ich rot werde. Um Himmels willen, reiß dich am Riemen, Mädchen! «Sie haben an mich gedacht? Was Nettes? Oder haben Sie mich innerlich verflucht?»
«Was Nettes, Kate», antwortet er ungerührt. Bob Sparkes flirtet nicht. Er war wahrscheinlich noch nie ein Frauenheld.
Ich versuche, nicht zu lächeln – er würde es hören. «Na dann. Was haben Sie denn gedacht?»
«Ich habe eine Anfrage, bei der Sie vielleicht helfen können. Zwei weibliche Teenager, in Thailand mit dem Rucksack unterwegs, wurden von ihren Familien als vermisst gemeldet. Sie haben seit einer Woche keinen Kontakt mehr, es ist also noch ziemlich früh, aber gestern haben sie nicht angerufen, um ihre Abiturnoten zu erfahren, und die Eltern sind sehr beunruhigt. Meine DS ist der Meinung, die beiden tauchen irgendwann mit einem Riesenkater wieder auf, aber vielleicht lockt sie eine Story in der Zeitung ja aus ihrer Spelunke raus. Jedenfalls sind Sie mir eingefallen. Und Jake.»
Bob Sparkes weiß über Jake Bescheid. Dass er das Studium geschmissen hat, und auch was danach bei uns los war – ich hatte es ihm erzählt, als wir uns nach dem Abschluss des Baustellen-Baby-Falls auf ein paar ruhige Drinks getroffen hatten. Bob hat selbst zwei erwachsene Kinder. Er weiß, wie gotterbärmlich man sich manchmal als Elternteil fühlt, und er kann gut zuhören. Bob hört immer gut zu, er hat ein geschultes Ohr. Aber von Eileens Krankheit hat er mir nichts erzählt. Nur durch Zufall habe ich von einem anderen Cop von ihrem Krebs erfahren. Ich war schockiert – wenn ich ehrlich bin, mehr über die Tatsache, dass Bob mir nichts erzählt hatte, als über den Krebs selbst. Ich habe seitdem schon öfter versucht, es aus ihm herauszulocken, und mehr als einmal nebenbei erwähnt, dass Steve Onkologe ist. Doch Bob Sparkes hat meine Köder nie geschluckt.
«Klar. Wie alt sind die Mädchen? Gibt es Fotos? Woher sind sie? Kann ich mit den Eltern sprechen?»
«Menschenskinder, Kate! Immer langsam mit den jungen Pferden. Sie sind ja wie ein tollgewordener Windhund! Beide achtzehn Jahre alt und aus Winchester. Ich schicke Ihnen gleich im Anschluss rüber, was ich habe.»
«Toll. Machen Sie die Sache öffentlich?» Ich muss das fragen.
«Ja, die Pressestelle schreibt gerade die Info für die Bandansage.»
«Gibt es irgendeine Chance auf ein paar Stunden Vorsprung, Bob?»
Er antwortet nicht gleich. Ich warte geduldig.
«Na gut», sagt er. «Ist ja schließlich keine Eilmeldung. Ich werde die Kollegen bitten, mit der Veröffentlichung bis heute Nachmittag zu warten.»
«Großartig. Danke, Bob.»
«Übrigens, wie geht’s Jake?»
Ich hatte meinen Sohn kurz vergessen, ihn in der Hektik beiseitegedrängt, um über die Kinder anderer Leute zu schreiben. Was bist du eigentlich für eine Mutter? «Äh, ich weiß es nicht. Er hat vor ein paar Wochen mitten in der Nacht angerufen – zum ersten Mal seit Monaten –, aber es klang wie von irgendeinem Dschungelaußenposten, und dann ist die Verbindung abgerissen.»
«Das ist schade. Wenigstens hat er angerufen.»
«Ja, stimmt. Ich denke, ich sollte dafür dankbar sein, oder?»
«Die Eltern von Alex O’Connor und Rosie Shaw wären dankbar, Kate.»
Ich höre eine Ahnung von Tadel in seiner Stimme und versuche, nicht darauf zu reagieren. Hastig notiere ich mir die Namen. «Ja, also dann … Okay, schicken Sie mir die Daten der vermissten Mädchen, so schnell Sie können. Das kriege ich sicher bei uns unter. Es passiert gerade nicht viel. Ach, und danke für den Vorsprung, Bob. Ich weiß es zu schätzen.»
Ich klappe meinen Laptop auf und warte auf seine E-Mail. Mein Posteingang ist schon wieder randvoll. Erst vor einer halben Stunde habe ich die Flut an Mails aus der letzten Nacht bearbeitet, trotzdem sind schon wieder ein gutes Dutzend großmäulige Pressemitteilungen über Fernsehsendungen und von Ghostwritern geschriebene Memoiren irgendwelcher Promis mit der Ankündigung «unglaubliche Enthüllungen» bei mir gelandet.
Ich habe keine Ahnung, warum ich so viel Society-Müll bekomme, beschwere ich mich regelmäßig bei Joe. Dabei weiß ich es ganz genau: Mein Name steht inzwischen auf der Liste von Schreiberlingen, die Promi-Geschichten machen. Ich bin eine gebrandmarkte Frau. Ich war mal eine seriöse Reporterin, was auch immer das heutzutage heißen mag. Den gestrigen Nachmittag habe ich damit verbracht, eine «herzerwärmende» – in meiner Vorstellung setze ich ironische Anführungszeichen in die Luft – Geschichte über einen Hund zu schreiben, der Entenküken adoptiert hat.
«Wahrscheinlich hat er sie gefressen, sobald der Fotograf wieder weg war», hatte ich zu Steve gesagt, als ich nach Hause gekommen war. «Gott. Ich hasse den August. Dämliches Sommerloch. Wir sitzen fest in der nachrichtenfreien Zone und graben verzweifelt nach irgendwelchen Stories, während das ganze Land in die Ferien gefahren ist. Heute Nachmittag hat mir der Chef eine Uraltgeschichte von mir zurückgegeben. Die hat er wahrscheinlich die ganze Zeit irgendwo in der Schublade aufgehoben. Wollte, dass ich sie abstaube, damit er sie mit reinnehmen kann. Ich musste mich vergewissern, dass inzwischen niemand gestorben ist.»
Steve hatte mir noch ein Glas Sauvignon eingeschenkt und mitfühlend mit mir angestoßen.
Ich lösche die beleidigenden E-Mails ungelesen, den Blick automatisch auf der Suche nach irgendwas von Jake.
Seine E-Mails kommen nie als Antwort auf die Nachrichten, die ich oder Steve ihm regelmäßig schicken. Wenn was kommt, dann immer kurz und auf den Punkt – zwei oder drei Sätze, eher Telegramm als Brief –, um uns zu sagen, dass er noch am Leben ist und, so viel steht fest, seine Gedanken nicht an uns verschwendet. Und wir vertiefen uns in jedes einzelne Lebenszeichen von ihm und sezieren jedes einzelne Wort auf der Suche nach einem tieferen Sinn.
Es ist jetzt zwei Jahre her, seit er sich auf die Reise gemacht hat, um in Südostasien «sich selbst zu finden». Dieses Jahr hätte er für sein Examen büffeln sollen. Er hatte sich an der Uni so leichtgetan … wir hatten uns für ihn eine Karriere als Strafverteidiger erträumt. Wie enthusiastisch wir gewesen waren! Im Rückblick betrachtet, waren wir wahrscheinlich immer sehr viel enthusiastischer als er. Jake war eher der entspannte, coole Typ. Damit hat er mich zum Wahnsinn getrieben. Er war ein echtes Glückskind – mit Glück und mit Hirn –, aber er nahm seine Talente für selbstverständlich. Vielleicht hatte er es zu leicht gehabt. Im Gegensatz zu seinem kleinen Bruder hatte Jake sich nie anstrengen müssen, um gute Noten zu bekommen. Freddie war derjenige, um den wir uns immer Sorgen machten – auch wenn Steve und ich uns bemühten, uns nichts anmerken zu lassen. Die selbstquälerischen Diskussionen über seine Zukunft schoben wir auf, bis er ins Bett gegangen war. Armer Freddie. In der Schule permanent im Schatten seines Bruders.
Und dann, völlig aus dem Nichts, war Jake eines Tages nach Hause gekommen und hatte verkündet, er habe das Studium geschmissen und wolle auf Reisen gehen. Hatte irgendwas von einem Schildkrötenprojekt auf Phuket erzählt, dem er sich anschließen wolle, und damit einen riesigen Familienkrach vom Zaun gebrochen. Ich hatte ihn angeschrien, ihm vorgeworfen, sein Leben zu ruinieren, und danach hatten wir vor seiner Abreise nach Thailand kaum noch ein Wort miteinander gewechselt.
Im ersten Monat hörten wir gar nichts von ihm, und daran gab Steve mir die Schuld. «Er glaubt, du bist immer noch sauer», sagte er.
«Ich bin immer noch sauer», hatte ich zurückgeblafft.
«Du musst aufpassen, Kate, sonst verlierst du ihn.»
Wie verliert man einen Sohn?, hätte ich am liebsten geschrien. Er ist seit zweiundzwanzig Jahren ein Teil von mir. Ich werde immer seine Mutter sein. Doch ich behielt es für mich. Ich ließ mir nicht anmerken, wie verletzt ich war, und tat, als mache mir sein Schweigen nichts aus. Doch heimlich schlug die Angst in mir Wurzeln und zeichnete entsetzliche Bilder von Jake, der bei einem Motorradunfall ums Leben kam oder brutal überfallen wurde.
Ich bin Reporterin. Ich weiß, dass diese Dinge jedem Menschen passieren können.
Die Journalistin
Schon fünf Minuten, und noch immer keine E-Mail. Ich sitze da, spiele mit meinem Telefon herum und überlege, ob ich Bob Sparkes zurückrufen und ihn fragen soll, wann er gedenkt, auf den Sende-Button zu drücken. Er sagte, er würde die Informationen sofort schicken. Andererseits wird es ihm nicht gefallen, wenn ich ihm auf die Pelle rücke. Ich lege das Telefon wieder weg. Mache ich mich eben selbst auf die Suche. Steht sowieso alles im Netz.
Und sobald ich die Begriffe «Mädchen vermisst Thailand» in die Suchzeile tippe, sind die vermissten Mädchen auch schon da.
Bingo. Allerdings in einem Blog. Ich hasse Blogs.
«Als Journalismus verkleidetes Blabla», sagte ich irgendwann mal in einem unbedachten Moment zu Joe.
«Gott, Sie klingen wie meine Mum», antwortete er. Joes Mutter, eine kürzlich «pensionierte» Verlegerin, war von der boshaften Pressezunft allgemein als Fleet-Street-Dinosaurier bezeichnet worden. Das brachte mich sofort zum Schweigen. Ich hatte keine Lust, mich gemeinsam mit ihr vom Tisch fegen zu lassen.
Bei dem Blogger handelt es sich um einen anderen Backpacker, der die Alarmglocken läutet und die beiden Mädchen, Alex und Rosie, bekniet, sich bei ihren Familien zu melden.
Ich frage mich, wie viele der unzähligen Teenager, die sich nach der Schule ein Jahr Auszeit gönnen, als vermisst gelten. Heutzutage, mit Smartphones und weltweitem WLAN sicher nicht mehr so viele wie früher. Aber trotzdem.
Ich starre auf den Bildschirm und habe das Gefühl, mein Herz würde jeden Moment den Brustkorb sprengen. Mein Kind ist auch verschollen. Zu Hause tun wir so, als wäre alles in bester Ordnung; schließlich ist er erwachsen, lebt sein eigenes Leben, trifft seine eigenen Entscheidungen. Dabei wissen wir nicht mal mit Sicherheit, in welchem Land er sich aufhält. Wie oft ich schon die Flugpreise nach Thailand recherchiert habe! Nur mal so, versuche ich mir einzureden. Außerdem habe ich in den letzten zwei Jahren Dutzende von Umweltprojekten in Phuket angeschrieben und mich nach Jake erkundigt, aber er war bei keinem einzigen registriert. Er könnte sonst wo sein. Doch auch das habe ich für mich behalten. Steve zu beunruhigen, hat keinen Sinn. Manchmal frage ich mich, ob er es genauso macht und seine Sorgen vor mir verheimlicht.
Ich schreibe Jake sofort eine Mail.
Hi, hab gerade an dich gedacht und frage mich, wo du wohl steckst und was du machst. Danke für deinen Anruf neulich – es war schön, deine Stimme zu hören. Wir vermissen dich. Freddie hat endlich den Führerschein!!! Melde dich, wenn du das liest. M X
Ich weiß zwar nicht, wann ihn meine Mail erreicht, aber wenigstens ist sie da, wenn er sich das nächste Mal einloggt.
«Kate», sagt Joe. «Kate? Ich habe gefragt, wo Sie den Ausschnitt herhaben. Bitte. Terry pfeift uns jeden Moment zur Sitzung zusammen.»
«Was? Kannst du nicht online nachsehen? Ich glaube, aus einer der Sonntagsbeilagen. Ist es Hochglanz? Ach, sag einfach aus dem Sunday Express. Den liest sowieso keiner.»
«Kommen Sie mit?»
«Wie spät ist es jetzt in Bangkok, Joe?»
«Äh, Nachmittag oder Abend, glaube ich. Die sind uns voraus, oder? Warum?»
Aber ich wähle bereits die Telefonnummer unseres ehemaligen Südostasienkorrespondenten und scheuche Joe von meinem Schreibtisch weg.
«Ich komme gleich nach. Muss nur schnell was nachprüfen.»
Don Richards geht beim ersten Klingeln ran.
«Ja!», bellt er dem Anrufer entgegen, der es wagt, ihn zu stören.
«Don? Kate Waters hier. Von der Post.»
Die Stimme wird einen Hauch sanfter. «Ah, die entzückende Kate. Wie geht’s dir? Himmel, wann haben wir uns eigentlich das letzte Mal gesehen? Ist sicher zehn Jahre her – damals, als du hier warst, um über den Tsunami zu berichten. Das war eine höllische Geschichte, was? Hat für einen neuen Bungalow gereicht.»
Ich beiße mir auf die Zunge. Dons Feingefühlschalter ist schon vor einer Ewigkeit kaputtgegangen – «Das passiert, wenn man hier draußen lebt», hatte er mir damals irgendwann gestanden, als wir nach Wochen entsetzlicher Bilder und Geschichten hundemüde und betrunken gewesen waren. «Man stumpft ab. Ich bin zu einem widerlichen alten Kolonialklischee geworden.» Ich hatte uns die nächste Runde Bier besorgt und ihn thematisch sanft zu seinen Glanzzeiten zurückgelenkt.
«Unglaublich, ist das schon wieder zehn Jahre her?», sage ich. «Wir werden alt, Don. Hör mal, ich weiß, dass du beschäftigt bist, also mache ich’s kurz: Ich habe mich gefragt, ob du zufällig an zwei vermissten britischen Mädchen dran bist. Alex O’Connor und Rosie Shaw?»
«Na ja, jedenfalls sind die zwei Thema im Backpacker-Network. Aber das passiert hier ständig – die Botschaft kriegt jeden Tag ein bis zwei Vermisstenmeldungen rein. Dämliche, hirnlose Teenager. Die Familie versucht eine Woche lang, Kontakt herzustellen, aber die Kids lassen sich einfach seelenruhig treiben. Lernen in einer Bar irgendwen kennen, hören von einem neuen Hotspot, und schon sind sie weg. Die Mädels haben sich wahrscheinlich irgendwo mit zwei Jungs eingenistet und keinen Bock, irgendwem zu erzählen, wie gut es ihnen gerade geht. Weshalb fragst du? Schicken sie dich, um die Sache zu covern?»
Ich lächle. Don kann Geld riechen.
«Nein, dazu ist es sicher noch zu früh, aber ich werde auf alle Fälle mit Terry drüber sprechen – könnte eine gute Story werden. Der Albtraum aller Eltern, gerade jetzt, wo sich wieder jede Menge Kids ein Jahr Auszeit nehmen. Und sonst ist hier im Augenblick so gar nichts los.»
«Ich schick dir was. Und du machst ein Honorar locker, ja?»
Der Ruf des Rotschwanz-Freelancers: Ho-no-rar.
«Klar, Don. Schick mir, was du hast, und ich weise eine Zahlung an. Hattest du schon Kontakt zu den Angehörigen? Ich werde sie nachher anrufen.»
«Nur via Facebook. Die O’Connors brüllen am lautesten.»
Terry streckt den Kopf zur Tür des Konferenzzimmers raus. «Schwing deinen Hintern her, Kate. Du bist die Chefreporterin. Du musst mit gutem Beispiel vorangehen, Himmel, Arsch und Zwirn!»
Bangkok, Erster Tag
Alex O’Connor
27. Juli um 08:30 h
… wohnt im Penthouse von Bates Motel. YOLO
An einem riesengroßen Verkehrskreisel, der eine mehrspurige Autobahn mitten in der Stadt im Klammergriff hielt, waren sie und Rosie aus dem Bus gestolpert.
Dass sie ihre Haltestelle erreicht hatten, wussten sie nur durch den Fahrer. «Demokratiedenkmal», hatte er gesagt. «Khao San Road.»
Als sie an der vierspurigen Straße standen, war auch das letzte bisschen Hochgefühl in Alex’ Bauch verflogen. Das hatte sie sich anders vorgestellt. Sie hatte Bilder der Altstadt gesehen, und die war definitiv woanders. Wo waren die kleinen Straßen und Gassen?
Rosie sah sie erwartungsvoll an. «Wo ist unser Hotel?», fragte sie.
«Hostel», korrigierte Alex sie mit Blick auf die Buchungsbestätigung auf ihrem Telefon. «Es heißt Green Paradise und ist laut Wegbeschreibung nur fünfzehn Minuten von hier entfernt.»
«Und in welche Richtung?»
Sie war sich nicht sicher und viel zu müde, um einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Sie hatte den Weg zum Hotel mit Hilfe des Telefons finden wollen, aber vergessen, am Flughafen eine thailändische SIM-Card zu kaufen. Also lief sie drauflos und versuchte dabei, auszusehen, als wüsste sie, was sie tat – und Rosie folgte ihr.
«Hier lang», sagte sie und schickte sicherheitshalber noch ein gemurmeltes «glaub ich» hinterher.
Es war die falsche Richtung. Und offensichtlich verstand sie niemand, als sie nachfragten und den Leuten den Namen des Hostels zeigten.
«Das ist der reinste Albtraum», sagte Rosie, und Alex beschleunigte ihre Schritte, um sie nicht mehr hören zu müssen.
Endlich stolperten sie dann doch irgendwann in die Khao San Road hinein. Ein Laden reihte sich an den anderen, auf Holzfeuern und Gasöfen wurden riesige Töpfe mit Wasser erhitzt, kleine Kinderplastikstühlchen in Rot und Grün standen dicht an dicht am Straßenrand, bereit für die erste Kundschaft des Tages. Doch von ihrem Hostel war immer noch weit und breit nichts zu sehen.
Rosies üble Laune hatte sich in lautstarkes Maulen verwandelt, als Alex in einer Nebenstraße Mama’s Paradise Bar and Guesthouse erblickte.
«Das stand auch auf meiner Liste», log sie. Na ja, wenigstens hat es auch was mit Paradies im Namen. «Wir vergessen das andere und fragen hier.»
«Na gut», sagte Rosie.
«Sieht ganz okay aus», sagte Alex, als sie in die Düsternis hinter der Bar spähten.
Sie und Rosie bekamen ein Zimmer im obersten Stockwerk.
Eine eigentümliche Gestalt in fließendem Kaftan, mit platinblonder Perücke und breitem Lächeln ragte über ihnen auf. «Ich bin Mama», sagte sie. «Das hier ist mein Laden. Ich gebe euch Privatzimmer ganz oben.» Es klang wie die Königssuite.
War es nicht. Es kam Alex eher vor wie eine Billigabsteige. Nicht dass sie jemals in einer gewesen wäre, aber sie hatte für ihre Seminararbeit Erledigt in Paris und London gelesen und fand, dass das Zimmer zu Orwells Beschreibungen passte.
Sie schleppten ihre Rucksäcke über eine dunkle Betontreppe nach oben, Alex voran, den Zimmerschlüssel wie einen Glücksbringer umklammernd. Die Zimmernummern waren mit schwarzer Farbe an die Wand gemalt, und als sie die Tür aufmachte, trieb sie der Gestank nach alten Turnschuhen rückwärts zurück auf den Flur.
«Ernsthaft?», sagte Rosie.
«Es ist billig», blaffte Alex, zu müde für den gärenden Streit. «150 Bhat die Nacht. Drei Pfund. Dafür kann man kaum mehr erwarten. Außerdem bleiben wir ja nicht lang.»
«Eher nicht.»
«Wir verbuchen es als Erfahrung», sagte Alex.
«Ja.»
«So schlecht ist es doch gar nicht», fügte Alex mit dünner Stimme hinzu, als sich ihr der Horror in seinem ganzen Ausmaß präsentierte. «Außerdem sind wir sowieso kaum auf dem Zimmer.»
«Zum Glück», nuschelte Rosie und starrte die mit Mückenleichen übersäten beigen Wände an. Alex trat ans Fenster zum Flur, um die dünnen Vorhänge zu schließen, aber es blieb eine Lücke – es gab nicht genug Häkchen.
In dem Zimmer war definitiv auf jeglichen überflüssigen Komfort verzichtet worden. Es gab einen Ventilator, einen einzelnen Plastikstuhl und ein schmales Doppelbett. Das Betttuch trug die Spuren von Generationen schwitzender Touristen und war zur Mitte hin dunkler als an den Rändern.
«Hübsche Kissen», sagte Rosie, die immer noch keinen Schritt ins Zimmer getan hatte. Die schemenhaften Abdrücke von Zeichentrickkätzchen starrten ihnen entgegen, die riesigen, einst niedlichen Augen nach unzähligen Wäschen kaum noch erkennbar.
«Komm schon», murmelte Alex. «Auf welcher Seite willst du schlafen?» Sie hatte nicht damit gerechnet, sich mit Rosie das Bett zu teilen, und wusste aus dem Flugzeug, dass sie schnarchte.
«So weit entfernt vom Mückenfriedhof wie möglich», sagte Rosie mürrisch. «Ich hoffe nur, du schnarchst nicht …» Sie ließ den Rucksack auf den Boden plumpsen und setzte sich schwerfällig aufs Bett.
Alex tat dasselbe. Im Moment wollte sie nur noch nach Hause. «Ich gehe duschen.» Sie versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken, und fing an, nach Zahnbürste und Seife zu graben.
Rosie machte große Augen. «Wer weiß, wie’s da aussieht! Kakerlakenhausen.»
«Ich habe noch nie eine Kakerlake gesehen», sagte Alex. «Wieder was fürs Erfahrungskonto.»
Plötzlich bemerkten sie draußen auf dem Gang zwei Thailänderinnen, die durch die Lücke zwischen den Vorhängen spähten und jede ihrer Bewegungen beobachteten.
«Dusche?» Alex öffnete die Tür und imitierte mit der Hand Regen über dem Kopf.
Die Frauen deuteten wortlos den Flur hinunter.
Die Mädchen drückten sich an den beiden vorbei und inspizierten einen winzigen Raum mit gefliestem Boden, einem Abflussloch und einem tröpfelnden Duschkopf. An einem Haken hingen schlaffe, ausgebleichte Handtücher. «Okay. Ich gehe rein!», sagte Alex mit übertrieben amerikanischem Akzent. «Wenn ich in fünf Minuten nicht zurück bin, rufst du den Klempnernotdienst.»
Und Rosie lachte.
Gott sei Dank!, dachte Alex.
Als sie etwas später mit noch nassen Haaren unten an der Bar saßen, tauchte Mama aus der Düsternis auf und trat vor die Tür.
Rosie stieß Alex in die Seite. «Die könnte fürs englische Rugby-Team spielen.»
Mama musterte sie, und Alex hatte Angst, sie könnte ihre Bemerkung gehört haben, aber dann fegte sie weiter den Müll vor ihrer Tür zusammen.
«Dirty people!», zischte sie einem Fußgänger zu, der einen Kaugummi auf die Straße spuckte. Ihr Lippenstift hatte auf den Zähnen einen roten Fleck hinterlassen.
Für die Backpacker-Horden war es wahrscheinlich noch zu früh – es war erst Mittag, und die Überbleibsel der Exzesse vom Vorabend hingen in sämtlichen Grautönen in den Gesichtern derjenigen, die es doch schon aus dem Bett geschafft hatten. Ein Junge in ihrem Alter schlurfte nur mit einer kurzen Hose bekleidet an ihnen vorbei. Dünn. Gelblicher Teint und uralte Augen. Er zog an einer Zigarette, als wäre es sein allerletzter Atemzug.
Gerade als Alex sagen wollte, wie krank er aussah, zwitscherte Rosie: «Sieht aus, als könnte man sich hier echt gut amüsieren.»
Die Journalistin
Terry musste zu der Geschichte nicht groß überredet werden. Die Nachrichtenlage war eher dünn. «Wie ich sehe, haben Sie heute Morgen beschlossen, Wünsch dir was zu spielen, Herr Nachrichtenredakteur. Ich kann hier nur leider keine Story entdecken», rief Simon Pearson, der Chefredakteur, Terry von seiner Bürotür aus zu und wedelte dabei mit dem beleidigenden Dokument. Terry grinste, als hätte Simon einen Witz gemacht. Aber wir wussten alle, dass er einen Einlauf kriegen würde, sobald die Tür ins Schloss gefallen war.
Als er wieder rauskommt, macht er ein tapferes Gesicht, aber er hält die Nachrichtenliste zerknüllt in einer Hand. «Die vermissten Mädchen werden der Aufmacher», sagt er, als wäre es seine Idee gewesen.
«Das ist ein bisschen dünn für den Titel», entgegne ich. Es stimmt. Mädchen schreiben ihren Eltern aus dem Urlaub keine E-Mail ist kaum eine Schlagzeile.
«Dann lass dir was einfallen und koch die Geschichte ein bisschen hoch, Kate. Was anderes haben wir heute nicht.»
Ich beobachte, wie er sich in seinem Glaswürfel verbarrikadiert und Löcher in die Luft starrt. Ich frage mich, wie lange er es noch mitmacht, sich zwölf Stunden täglich dem Beschuss auszusetzen. Er behauptet immer, er liebt es – er liebt das Sirren, immer im Zentrum des Geschehens zu sein –, trotzdem sieht er von Tag zu Tag mehr aus wie ein Opfer häuslicher Gewalt.
Ich fürchte, ich muss dafür sorgen, dass die Geschichte funktioniert.
Malcolm O’Connor hebt beim ersten Klingeln ab.
Der Mann sitzt offensichtlich direkt neben dem Telefon.
«Hallo, Mr. O’Connor? Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber ich rufe wegen Ihrer Tochter an, Alex. Ich arbeite für die Daily Post und möchte Ihnen helfen, sie zu finden.»
Ich versuche, mir den Mann am anderen Ende der Leitung vorzustellen. Mittelalt, langsam schütter werdendes Haar? Auf alle Fälle verzweifelt. Ich hatte gehofft, die Mutter ans Telefon zu kriegen. Mit Frauen lässt sich leichter über Trauer, Gefühle und Verlust reden. Männer, auch Väter, tun sich schwer damit, Worte zu finden. Und ein tapferes Gesicht klingt schwarz auf weiß gedruckt immer so kalt.
Am anderen Ende herrscht Schweigen.
«Mr. O’Connor?»
«Entschuldigung, ja. Ich glaube, Sie sprechen besser mit meiner Frau.»
Aus einem anderen Zimmer sind Stimmen zu hören, das Rascheln von Bewegung, dann wird der Hörer wieder aufgenommen.
«Hallo? Wer ist da?»
«Kate Waters, Mrs. O’Connor. Ich habe ihrem Mann gerade schon erklärt, dass ich für die Daily Post arbeite und ich Ihnen dabei helfen will, Alex zu finden.»
«Die Post? Die lesen wir eigentlich nicht, aber … haben Sie irgendwas gehört? Was hat man Ihnen gesagt? Sie wissen sicher mehr als wir.»
«Ich weiß vermutlich genauso viel wie Sie, Mrs. O’Connor.» Weniger, wenn ich ehrlich bin. «Ich stehe im Kontakt zur Polizei in Hampshire und zu unserem Korrespondenten in Bangkok, aber bis jetzt gibt es kaum Informationen. Erzählen Sie mir doch erst mal, was Sie gehört haben.»
«Nur dass man Interpol informiert hat. Und wir haben Kontakt zur Botschaft in Bangkok aufgenommen. Die sagen, wir müssen warten. Ich weiß nicht, wie lange wir das noch können.» Ihre Stimme kippt, und ich weiß, dass der Zusammenbruch nicht mehr fern ist.
«Über Facebook zu gehen, ist eine gute Idee gewesen», sage ich, um sie abzulenken. Sie muss mit mir reden. «Damit erreichen Sie da drüben mit Sicherheit Tausende von Backpackern und Touristen.»
«Genau dasselbe sagt Dan auch, unser Sohn», antwortet sie leise. «Ich bin erst bei Facebook, seit Alex unterwegs ist. Sie hat gesagt, so kann ich ihre Fotos immer sofort sehen. Dass wir so lesen können, was sie unternimmt. Aber seit einer Woche herrscht Funkstille. Niemand hat etwas von ihr gehört. Niemand weiß irgendwas. Also haben wir gewartet. Wir dachten, sie wären vielleicht für ein paar Tage zu einem Trip aufgebrochen, aber wir hatten vereinbart, dass sie sich meldet, wenn die Noten bekanntgegeben werden. Das war gestern. Ihre Abiturnoten. Sie wollte so dringend wissen, ob sie zum Studium zugelassen ist. Ihr war klar, dass sie sich nach einer Alternative umhören muss, falls sie es nicht geschafft hat.»
«Ja. An die Zeit erinnere ich mich auch noch», sage ich. Jake wurde an der Uni seiner Wahl auf Anhieb angenommen, aber ich kann mich noch sehr gut an den Tag erinnern, als Freddie die demütigenden Telefonate führen musste, während ich neben ihm in der Aula stand, ihm nickend und aufmunternd zulächelte und er eine Absage nach der anderen kassierte. Schließlich nahm er das Angebot für den Studienplatz in Medienwissenschaften in Birmingham an. Meine Wahl wäre das nicht gewesen – drei Jahre, während der er Journalist spielte und einen Haufen Schulden machte –, aber ich war zu erschöpft von dem Prozedere, um mit ihm zu streiten. Er sagt, es macht ihm Spaß.
«Was ist mit Rosie?», frage ich.
«Auch nichts. Aber bis jetzt kamen die Nachrichten eigentlich immer von Alex. Rosie war nicht so … Sie wissen schon.»
«Ja, ich habe selbst so einen. Hören Sie, wäre es vielleicht möglich, dass ich bei Ihnen vorbeikomme, Lesley? Darf ich Lesley zu Ihnen sagen? Damit wir uns richtig unterhalten können? Ich finde das am Telefon eher schwierig, meinen Sie nicht? Wenn Sie wollen, könnte ich sofort zu Ihnen kommen.»
Es folgt eine kurze Pause, und ich kann Lesley O’Connor mit ihrem Mann flüstern hören. Sie will zu uns kommen, um mit uns zu sprechen.
Ich kann die Antwort zwar nicht hören, aber ein paar Sekunden später sagt Lesley: «Okay. Haben Sie unsere Adresse?»
Mick Murray fährt. So ist es ihm lieber. «Ich habe meine gesamte Ausrüstung im Kofferraum – es ist einfacher, wenn wir mit meinem Wagen fahren. Abgesehen davon fährst du wirklich miserabel Auto.»
Ich nehme auf dem Beifahrersitz Platz, kicke mit dem Schuh leere Cola-Flaschen und uralte Junkfood-Tüten beiseite und versuche, den überquellenden Aschenbecher zu ignorieren. Aber Mike bemerkt meinen Blick.
«Tut mir leid, hab’s diese Woche nicht in die Waschanlage geschafft.»
«Diese Woche? Dieses Jahrhundert, wolltest du sagen. Die Big-Mac-Schachteln da unten sind älter als meine Kinder.»
«Sieht vielleicht aus wie eine rollende Müllkippe, ist aber mein Zuhause.» Er lacht und zündet sich eine Zigarette an.
«Also … Terry ist fest entschlossen, die Story auf die Titelseite zu bringen. Ein bisschen dünn, wenn du mich fragst, aber es ist August.»
«Die Bildredaktion ist genauso verzweifelt. Wir kriegen das schon hin. Das sind hübsche Mädchen – auf der Facebook-Seite des Bruders gibt es ein paar Fotos von ihnen vor irgendeinem Tempel.»
«Ich hoffe, dass Mum und Dad uns noch ein bisschen mehr Stoff liefern. Die Armen. Sie klingen, als wären sie nette Leute.»
Mick nickt, wirft die Kippe zum Fenster raus und angelt sich sofort die nächste Zigarette aus dem Päckchen auf dem Armaturenbrett. Er zündet sie an und inhaliert tief.
«Scheiße, Mick, mach das Fenster auf. Ich rauche das Ding für dich mit.»
Er lacht und bekommt einen Hustenanfall, der klingt, als würde er jeden Moment sterben. «Ex-Raucher sind die schlimmsten Nichtraucher. Genieß es. Die ist umsonst …»
Ich öffne das Fenster und mache mir Gedanken über das bevorstehende Interview.
Wir halten vor der angegebenen Adresse, einem Haus in einer Reihe roter Backsteinhäuser am Rand der wohlhabenden Kleinstadt. Ich nehme sämtliche Einzelheiten in mich auf und versuche, mich zu sammeln, doch als ich aus dem Wagen steige, klingelt mein Telefon. Es ist Steve, aber er ist durch den Verkehrslärm kaum zu verstehen.
«Entschuldige, Liebling, ich stehe irgendwo auf dem Bürgersteig. Bin auf dem Sprung zu einem Interview. Können wir später reden?»
«Ich wollte dich nur an heute Abend erinnern. Wir sind mit Henry und Deepika zum Tapas-Essen verabredet. Weißt du noch?», ruft er.
«Ja, ja.» Das hatte ich vergessen. Mit Absicht, würde Steve behaupten, aber ich habe momentan zu viel im Kopf. Außerdem kann ich Henry nicht ausstehen. Er ist zwar ein Kollege von Steve, aber trotzdem ein Arschloch. Er gehört zu der Sorte Männer, die es witzig finden, ihre Frau vor anderen niederzumachen, und sobald andere irritiert reagieren, «War nur ein Witz!» zu rufen. Deepika, Partnerin in einer Anwaltskanzlei, macht sein Verhalten offenbar nichts aus. Sie lacht nur, wenn er sie als «meine oberste Heeresleitung» und seine Ehe als «lebenslänglich» bezeichnet, aber mir geht sein Verhalten mächtig gegen den Strich.
Bei unserer letzten Begegnung hatte ich mir als Reaktion noch ein Glas Wein bestellt, obwohl Steve mich mit seinem «Es reicht»-Blick bedacht hatte.
«Sag ihm, wenn er heute Abend wieder den Bernard Manning raushängen lässt, ramme ich ihm eine extrascharfe Peperoni ins Nasenloch», rufe ich zurück.
«Katie, du benimmst dich! Okay?» Steve lacht, aber ich höre die Anspannung in seiner Stimme.
«Vielleicht. Ich lieb dich. Bis dann.»
«Auf wen willst du mit einer Chilischote losgehen?», fragt Mick und schultert die Kameratasche.
«Geht dich gar nichts an. Los. Greifen wir an.»
Die Journalistin
Das Wohnzimmer der O’Connors ist ein Hindernisparcours aus Möbeln und Schnickschnack, und ich muss einen gepolsterten Schemel, eine zitternde Riesenorchidee und einen scharfkantigen Couchtisch umrunden, um zu dem Sessel zu gelangen, den Lesley mir anbietet. Auf dem Sofa sitzt noch eine Frau, einen Becher Tee in den Händen.
«Das ist Jenny, Rosies Mum. Wir haben sie angerufen und ihr gesagt, dass Sie kommen, und sie wollte mit dabei sein», sagte Lesley eilig.
Aber begeistert bist du nicht, denke ich. Ich frage mich, warum.
Jenny nickt mir wortlos zu und trinkt einen Schluck Tee.
«Hallo, Mrs. Shaw. Ich bin Kate, und das ist Mick, mein –»
Mick schneidet mir mit einem giftigen Blick das Wort ab. «Ich bin der Fotograf, der zusammen mit Kate an dieser Geschichte arbeitet.»
Er wird in letzter Zeit immer ekelhafter, wenn ich ihn versehentlich als «meinen Fotografen» bezeichne.
«Ich bin nicht dein verfluchtes Äffchen!», zischt er.
Lesley O’Connor tut, als würde sie nichts bemerken. «Tee?», fragt sie in die plötzliche Stille hinein, und als ich nicke, ruft sie «Noch zwei Tee, Malcolm» nach draußen.
Lesley ist ungefähr in meinem Alter – Anfang fünfzig würde ich sagen. Sie trägt unmodische Billigjeans, hansaplastfarbene Sandalen und ein langes T-Shirt. Kein Make-up. Keine Ohrringe. Unauffällig knöpfe ich das Jackett auf und lege es beiseite. Ich will auf keinen Fall zu förmlich wirken.
«Lesley», sage ich, doch sie fällt mir ins Wort.
«Haben Sie gut hergefunden?», fragt sie.
Sie zögert den schlimmen Moment hinaus. Den Moment, wenn sie es aussprechen muss. «Wunderbar. Ganz problemlos. Vielen Dank, dass wir herkommen durften.» Ich beuge mich vor, um Blickkontakt herzustellen. «Erzählen Sie mir doch ein bisschen über Alex, Lesley. Sie hat sich bestimmt furchtbar auf diese Reise gefreut.» Lesley lächelt mich dankbar an. Genau das will sie: sich an die glücklichen Zeiten erinnern, die vor der letzten Woche lagen.
«Und wie. Sie haben sich beide so gefreut, nicht wahr, Jenny?»
Jenny Shaw sieht nicht von ihrer Teetasse auf. Ich kann spüren, wie die Anspannung im Raum sich ein winziges bisschen steigert. Nur Lesley merkt offensichtlich nichts davon und spricht ahnungslos weiter.
«Alex kannte kein anderes Thema mehr. Sie wollte ursprünglich mit ihrer besten Freundin Mags verreisen, aber das fiel ins Wasser, und dann ist Rosie eingesprungen. Alex hat Stunden im Internet verbracht, sich die Inseln angesehen, recherchiert, wie man dorthin kommt, Sie wissen schon, Busrouten, Fähren, all so was, und die Unterkünfte. Sie hat alles genau geplant. Sie wollten erst mal für drei Monate weg und dann weitersehen. Vielleicht sogar noch nach Australien, falls sie dort Arbeit finden.»
«Ziemlich große Pläne. Waren die beiden vorher schon mal weg?»
«Nein», sagt Jenny Shaw. Ihr erstes Wort.
«Nein, das stimmt», sagt Lesley schnell. «Sie sind beide das erste Mal weg von zu Hause. Aber das sind zwei vernünftige Mädchen, haben alles genau geplant. Alex hat sogar eine Tabelle angelegt.»
Ich meine, von Jenny Shaw ein Prusten zu hören. «Verzeihung Jenny, ich habe Sie nicht verstanden», sage ich.
«Ich habe nichts gesagt.»
«Jenny ist ziemlich außer sich», sagt Lesley entschuldigend. «Wie wir alle.»