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Du kannst das Kind begraben – aber die Wahrheit lebt weiter Es ist nur eine winzige Nachricht in der Abendzeitung: «Überreste eines Babys auf Baustelle gefunden», unscheinbar und kaum der Rede wert. Aber drei Frauen lässt die Notiz keine Ruhe: Die eine erinnert sich an das schlimmste Erlebnis ihres Lebens. Die andere hat Angst, dass ihr dunkelstes Geheimnis enthüllt wird. Und die dritte begibt sich auf die Jagd nach der Wahrheit. Sie wird die Geschiche des Kindes erzählen.
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Seitenzahl: 505
Fiona Barton
The Child
Du kannst die Vergangenheit begraben, aber die Wahrheit lebt weiter
Roman
Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld
Du kannst das Kind begraben – aber die Wahrheit lebt weiter
Es ist nur eine winzige Nachricht in der Abendzeitung: «Überreste eines Babys auf Baustelle gefunden», unscheinbar und kaum der Rede wert.
Aber drei Frauen lässt die Notiz keine Ruhe:
Die eine erinnert sich an das schlimmste Erlebnis ihres Lebens.
Die andere hat Angst, dass ihr dunkelstes Geheimnis enthüllt wird.
Und die dritte begibt sich auf die Jagd nach der Wahrheit.
Sie wird die Geschiche des Kindes erzählen.
Fiona Barton wurde in Cambridge geboren und arbeitete lange bei der «Daily Mail», beim «Daily Telegraph» und bei der «Mail on Sunday». Für ihre Tätigkeit gewann sie den britischen Preis «Reporter of the Year». Viele Jahre war sie als Prozessbeobachterin und Gerichtsreporterin für verschiedene Medien tätig. Heute arbeitet sie als Medientrainerin. Ihr Erstling «Die Witwe» landete auf Anhieb auf den internationalen Bestsellerlisten.
Für M & D
Ersetzt Schweigen die Wahrheit,
so wird Schweigen zur Lüge.
Jewgenij Jewtuschenko
Emma
Ich setze mich an den Schreibtisch, und mein Computer zwinkert mir wissend zu. Als ich die Maus berühre, erscheint Pauls Foto auf dem Desktop. Es ist das Bild, das ich während unserer Flitterwochen in Rom von ihm gemacht habe – Campo de’ Fiori, verliebter Blick über einen Tisch hinweg. Ich unternehme den zaghaften Versuch, sein Lächeln zu erwidern, doch als ich mich vorbeuge und mein Spiegelbild auf dem Monitor erblicke, erstarre ich. Ich hasse unvermutete Begegnungen mit mir selbst. Erkenne mich manchmal selbst nicht wieder. Man denkt, man wüsste, wie man aussieht, und dann schaut einen eine Fremde an. Manchmal macht mir das Angst.
Heute nicht. Heute mustere ich das Gesicht der fremden Frau: braune Haare, oben auf dem Kopf zu einem schlampigen Dutt zusammengebunden, hektischer Arbeitsmodus. Ungeschminkte Haut, Schatten und Falten, die auf die Augen zukriechen wie zu einem Krater.
Herrgott! Du siehst schlimm aus, sage ich zu der Frau auf dem Bildschirm. Die Bewegungen ihres Mundes faszinieren mich und ich lasse sie weitersprechen.
Na komm, Emma, an die Arbeit, sagt sie. Ich lächle sie matt an, und sie lächelt zurück.
So benehmen sich Irre, sagt sie mit meiner Stimme zu mir, und ich höre auf.
Gott sei Dank kann Paul mich jetzt nicht sehen, denke ich.
Als Paul am Abend nach Hause kommt, ist er müde und ein bisschen mürrisch nach einem langen Tag mit «dummköpfigen» Studenten und den üblichen Streitereien mit seinem Fachbereichsleiter wegen der Stundenpläne.
Vielleicht liegt es am Alter, jedenfalls scheinen seine beruflichen Herausforderungen ihm inzwischen ernsthaft zuzusetzen. Ich glaube, Paul beginnt, an sich zu zweifeln, sieht in allem und jedem eine Bedrohung für seine Position. Universitätsinstitute sind wie Löwenhöhlen. Lauter eitle Männchen, die sich putzen und herumhuren und sich mit den Wolfskrallen verzweifelt an ihre Überlegenheit klammern. Ich sage die richtigen Dinge und mixe ihm einen Gin Tonic.
Als ich seine Aktentasche vom Sofa räume, entdecke ich darunter den Evening Standard. Wahrscheinlich hat er die Zeitung aus der U-Bahn mitgenommen.
Während Paul sich unter der Dusche die Sorgen des Tages vom Leib spült, setze ich mich hin und fange an zu lesen. Und entdecke sofort die Kurzmeldung über das Baby.
BABYLEICHE GEFUNDEN, lautet die Überschrift. Darunter nur ein paar wenige Zeilen über den Fund einer skelettierten Babyleiche auf einer Baustelle in Woolwich und der Hinweis, dass die Polizei ermittelt. Ich lese die Meldung wieder und wieder, kann sie nicht wirklich erfassen, als wäre sie in einer fremden Sprache geschrieben.
Trotzdem weiß ich genau, was da steht, und eine schreckliche Angst ergreift von mir Besitz. Schnürt mir die Luft ab. Macht mir das Atmen schwer.
Ich sitze noch immer regungslos da, als Paul wieder nach unten kommt, feucht und rosig. Er ruft, irgendetwas würde anbrennen.
Die Schweinekoteletts sind schwarz. Verkohlt. Ich werfe sie weg und öffne das Fenster, damit die Rauchschwaden abziehen. Ich nehme eine Fertigpizza aus dem Tiefkühlfach und schiebe sie in die Mikrowelle. Paul sitzt währenddessen schweigend am Tisch.
Anstatt mich anzuschreien, weil ich beinahe das Haus abgefackelt hätte, sagt er: «Wir sollten einen Rauchmelder installieren. Beim Lesen vergisst man so leicht alles um sich herum.» Paul ist ein wundervoller Mann. Ich habe ihn nicht verdient.
Ich stehe vor der Mikrowelle, sehe der kreisenden Pizza beim Blasenwerfen zu und frage mich zum millionsten Mal, ob er mich nun bald verlassen wird. Das hätte er schon vor Jahren tun sollen. Ich an seiner Stelle hätte es längst getan, wenn ich mich tagtäglich mit meinem Kram, meinen Sorgen hätte rumschlagen müssen. Doch Paul macht keinerlei Anstalten zu gehen. Ganz im Gegenteil. Er weicht mir nicht von der Seite wie ein besorgter Vater, der mich vor allem Unheil bewahren will. Wenn ich in schlechter Verfassung bin, redet er mir gut zu und sorgt dafür, dass ich wieder fröhlich bin. Wenn ich weine, hält er mich im Arm und sagt mir, was für eine geniale, witzige, wunderbare Frau ich bin.
Das ist deine Krankheit, sagt er. Das bist nicht du.
Doch, das bin ich. Paul kennt mich nicht wirklich. Dafür habe ich gesorgt. Und wenn ich vor jeglicher Erwähnung meiner Vergangenheit zurückschrecke, respektiert er meine Intimsphäre. «Du musst es mir nicht erzählen», sagt er. «Ich liebe dich so, wie du bist.»
Der heilige Paul – so nenne ich ihn, wenn er tut, als sei ich keine Belastung für ihn, aber das will er nicht hören.
«Ganz sicher nicht», sagt er.
Gut, dann eben kein Heiliger. Aber wer ist das schon? Überhaupt – seine Sünden sind meine Sünden. Wie heißt es bei alten Paaren? Was deins ist, ist auch meins. Nur für meine Sünden gilt das nicht … die gehören nur mir allein.
«Isst du nichts, Em?», fragt er, als ich ihm den Teller auf den Tisch stelle.
«Ich habe spät zu Mittag gegessen, zu viel zu tun. Ich habe keinen Hunger, ich esse nachher was.» Das ist gelogen. Ich müsste würgen, wenn ich mir jetzt etwas in den Mund steckte. Er bekommt mein schönstes Lächeln – das, das ich für Fotos benutze. «Mir geht’s gut, Paul. Und jetzt iss.»
Ich halte mich auf meiner Tischseite an einem Glas Wein fest und tue so, als würde ich zuhören, während er von seinem Tag erzählt. Seine Stimme hebt und senkt sich, hält inne, während er das widerliche Essen kaut, das ich ihm vorgesetzt habe, und nimmt den Faden wieder auf.
Ich nicke regelmäßig, aber ich höre nichts. Ich frage mich, ob Jude den Artikel gesehen hat.
Kate
Kate Waters langweilte sich. Ein Wort, das sie normalerweise nicht mit ihrem Job in Verbindung brachte, aber heute war sie direkt vor der Nase ihres Chefs an den Schreibtisch gekettet, und auf dem lagen nur die Artikel anderer Leute, die redaktionell überarbeitet werden mussten.
«Jag’s durch deine goldene Schreibmaschine», hatte Terry, der Nachrichtenredakteur, quer durchs Büro gerufen und mit einer schlecht geschriebenen Story gewedelt. «Streu ein bisschen Feenstaub drauf.»
Und das tat sie also.
«Hier geht es zu wie in einem Sweatshop», beklagte sie sich beim Kriminaler gegenüber. «Wir verzieren den immer gleichen alten Mist mit hübschen neuen Rüschen. Woran sitzt du gerade?»
Gordon Willis, Polizei- und Gerichtsreporter und vom Herausgeber grundsätzlich nur nach seinem Aufgabengebiet benannt – «Setzt den Kriminaler auf die Geschichte an …» –, hob den Kopf aus der Zeitung und zuckte die Achseln. «Ich geh heute Nachmittag mal zum Old Bailey rüber – würde gern ein paar Worte mit dem leitenden Ermittler des Armbrustmordes wechseln. Da geht zwar im Augenblick nicht viel, aber ich hoffe, ich kann mit der Schwester des Opfers reden, wenn alles vorbei ist. Die war offensichtlich mit dem Mörder im Bett. Wäre doch eine Superschlagzeile: ZWEI SCHWESTERN, DIE DEN MÖRDER LIEBTEN.» Er grinste bei der Vorstellung. «Warum? Was hast du am Laufen?»
«Nichts. Ich drösle gerade eine Story auf, die eine der Online-Sklavinnen verbrochen hat.» Kate zeigte auf eine pubertierende Nymphe, die an einem Schreibtisch am anderen Ende des Großraumbüros hektisch auf die Tastatur hämmerte. «Frisch aus der Oberstufe.»
Im selben Moment wurde Kate bewusst, wie verbittert – und alt – sie klingen musste. Sie riss sich zusammen. Der Tsunami der Online-News hatte sie und ihresgleichen an eine ferne Küste fortgespült. Die Reporter, die früher am Ersten Tisch saßen – dem Zeitungsäquivalent zum Siegertreppchen –, waren an den Rand der Nachrichtenredaktion gedrängt worden, vertrieben von den stetig wachsenden Reihen der Online-Malocher, die rund um die Uhr schrieben, um die stets hungrigen Mäuler der Nachrichtenjunkies zu stopfen.
Die Neuen Medien waren längst nicht mehr neu, hatte der Herausgeber seine Leute auf der Weihnachtsfeier belehrt. Sie waren die Norm. Sie waren die Zukunft. Und Kate war klar, dass sie endlich aufhören musste zu meckern.
Das ist hart, sagte sie sich, wenn sich die Storys mit den meisten Klicks auf der aalglatten Webseite der Zeitung um Madonnas äderige Hände oder die Gewichtszunahme eines EastEnders-Stars drehten. Als Nachrichten getarnter Promi-Hass. Der reinste Horror.
«Na ja», sagte sie laut. «Aber das kann warten. Ich geh uns Kaffee holen.» Auch die Zeiten der KQs – der Konferenzquickies – waren längst vorbei, einst zelebriert von den Helden der Fleet Street in den umliegenden Pubs, während die Redaktionsleiter in der Morgenkonferenz saßen. Dem Konferenzquickie folgten traditionsgemäß hochemotionale, alkoholgeschwängerte Auseinandersetzungen mit dem Nachrichtenredakteur – von denen eine der Legende nach damit endete, dass der Reporter, zu betrunken, um zu stehen, seinen Boss in den Knöchel biss und ein zweiter eine Schreibmaschine durchs Fenster auf die Straße pfefferte.
Heutzutage waren die Fenster der Redaktionsräume, inzwischen über einem Einkaufszentrum gelegen, hermetisch verriegelt und doppelt verglast, und Alkohol war strikt verboten. Kaffee war die neue Droge der Wahl.
«Was möchtest du?», fragte Kate.
«Einen doppelten Macchiato mit Haselnusssirup, bitte», sagte Gordon. «Oder braune Brühe. Was immer als Erstes kommt.»
Kate fuhr mit dem Lift nach unten und griff sich im Vorbeigehen das druckfrische Exemplar des Evening Standard vom Schalter des Wachdienstes in der Marmorlobby. Während sie darauf wartete, dass der Barista seine Kunstwerke mit dem Milchschäumer vollendete, blätterte sie müßig in dem Konkurrenzblatt und überflog auf der Suche nach Bekannten die Autorenzeilen.
In der Zeitung drängten sich Berichte über die Vorbereitungen für die Olympischen Sommerspiele, und fast hätte Kate den Text am Ende der Kurzmeldungen übersehen.
Unter der Überschrift BABYLEICHE GEFUNDEN berichtete ein Zweizeiler über den Fund eines Babyskeletts während der Abrissarbeiten auf einer Baustelle in Woolwich, nicht allzu weit entfernt von Kates Wohnort im Osten Londons. Die Polizei ermittelte. Keine weiteren Details. Sie riss sich den Ausschnitt heraus. Der Boden ihrer Handtasche war gefüttert mit zerknüllten Zeitungsausschnitten – mal ganze Geschichten, die es wert waren, weiterverfolgt zu werden, viel öfter nur eine Zeile oder ein Zitat, die bei Kate die Frage provozierten: «Was ist die Geschichte dahinter?»
Kate las die dreißig Wörter ein zweites Mal und stellte sich die Frage nach dem Menschen, der hier offensichtlich fehlte. Die Mutter. Während sie sich mit den Kaffeebechern auf den Rückweg machte, hakte sie im Kopf ihre Liste ab: Wer ist das Baby? Wie ist es gestorben? Wer würde ein Baby verbuddeln?
«Armes Ding», sagte sie laut. Plötzlich war ihr Kopf voll von Erinnerungen an ihre eigenen Kinder – Jake und Freddie, zwei Jahre auseinander und in der Familie nur «die Jungs» genannt – als stämmige Kleinkinder, als Schulkinder im Fußballdress, als übellaunige Teenager und jetzt als Erwachsene. Na ja, fast erwachsen. Sie lächelte. Kate konnte sich bei beiden noch genau an den allerersten Anblick erinnern: rote, glitschige Körper; knittrig, mit zu viel Haut; blinzelnde Augen, die von ihrer Brust zu ihr hochschauten, und das Gefühl, sie schon immer gekannt zu haben. Wie konnte jemand ein Baby ermorden?
Zurück in der Redaktion, stellte sie die Becher ab und trat an Terrys Tisch.
«Hast du was dagegen, wenn ich mir das mal ansehe?», fragte sie den Nachrichtenredakteur und wedelte mit dem winzigen Ausriss vor seiner Nase herum. Er versuchte offenbar gerade, einer Geschichte über irgendwelche europäischen Royals einen Sinn abzugewinnen. Er sah nicht auf, und sie nahm das als Zustimmung.
Ihr erster Anruf galt der Presseabteilung von Scotland Yard. Als sie damals ihre Journalistenlaufbahn begonnen hatte, als Volontärin bei einer Lokalzeitung in Ostengland, hatte sie jeden Tag bei der örtlichen Polizeiwache vorbeigeschaut und sich, an den Empfangsschalter gelehnt, die Einträge im Polizeibericht angesehen, während der diensthabende Sergeant mit ihr flirtete. Heutzutage bekam sie, wenn sie bei der Polizei anrief, nur selten einen Menschen aus Fleisch und Blut ans Telefon. Und wenn doch, meistens nur sehr flüchtig.
«Haben Sie das Band abgehört?», lautete dann die Frage des Pressemitarbeiters, der ganz genau wusste, dass dem nicht so war, und ein paar Sekunden später fand sie sich zu einer blechernen Ansage weitergeleitet, die ihr jeden einzelnen gestohlenen Rasenmäher und jede Wirtshausschlägerei in der Umgebung runterleierte.
Doch diesmal zog sie den Hauptgewinn. Sie landete nicht nur bei einem echten Menschen, sondern sogar bei jemandem, den sie kannte. Am anderen Ende war ein ehemaliger Kollege aus der Zeit ihrer ersten Festanstellung bei einer überregionalen Tageszeitung. Er gehörte zur Kategorie Böcke, die zum Gärtner gemacht wurden, indem sie sich in die sichereren – oder, wie manche auch behaupteten, gesünderen – Gefilde der Öffentlichkeitsarbeit geflüchtet hatten.
«Hallo, Kate. Wie geht’s? Ist lange her …»
Colin Stubbs war zum Plaudern aufgelegt. Er hatte sich als Reporter wacker geschlagen, doch Sue, seine Frau, hatte irgendwann genug von seinem wilden Leben in den Straßen der Großstadt gehabt, und schließlich hatte er sich in dem ständigen Zermürbungskrieg zu Hause geschlagen gegeben. Doch er lechzte immer noch nach Einzelheiten aus der Welt, die er hinter sich gelassen hatte. Er quetschte Kate nach Gerüchten über ehemalige Kollegen aus, während er ihr – und gleichzeitig sich selbst – versicherte, der Abschied von der Zeitungswelt sei die beste Entscheidung seines Lebens gewesen.
«Das ist toll. Du Glückspilz», sagte Kate betont optimistisch. «Ich schlage mich immer noch bei der Post rum. Hör mal, Colin, ich habe da im Standard was über den Fund einer Babyleiche in Woolwich gelesen. Weiß man schon Genaueres? Wie lange das Skelett dort lag zum Beispiel?»
«Ach, das. Warte kurz, ich hol mir die Details auf den Schirm … Ah, ja. Da steht kaum was dazu, und das, was wir haben, klingt ziemlich trostlos. Ein Bauarbeiter hat bei Arbeiten auf einem Abbruchgelände einen alten Pflanztrog verschoben und darunter das winzige Skelett gefunden. Ein Neugeborenes, heißt es. Im Augenblick liegt es in der Gerichtsmedizin, aber hier steht, erste Hinweise deuten darauf hin, dass es bereits seit geraumer Zeit dort lag – könnte sogar ein historischer Fund sein. Die Straße liegt in der Studentengegend, Richtung Greenwich, glaube ich. Wohnst du nicht auch da irgendwo in der Gegend?»
«Ja, nördlich vom Fluss und ein bisschen weiter östlich. In Hackney. Was hast du sonst noch? Irgendwelche Hinweise hinsichtlich der Identifizierung?»
«Nein. Bei Neugeborenen ist das mit der DNA anscheinend heikel, steht hier. Vor allem, wenn sie jahrelang im Boden lagen. Außerdem herrscht in der Gegend eine hohe Fluktuation. Alles Mietwohnungen und möblierte Zimmer. Der leitende Cop ist nicht sehr optimistisch. Ganz abgesehen davon, dass wir alle Hände voll mit dem Olympia-Kram zu tun haben …»
«Ja, natürlich», sagte Kate. «Die Sicherheitsvorkehrungen müssen ein Albtraum sein – ich hab gehört, ihr karrt mit Bussen aus allen Landesteilen Verstärkung an. Und die Sache mit dem Baby klingt nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Also gut, Colin. Danke. Es war schön, mal wieder mit dir zu sprechen. Sag Sue liebe Grüße von mir. Würdest du mich anrufen, falls es in der Sache was Neues gibt?»
Kate legte auf und lächelte. Sie liebte Nadeln in Heuhaufen. Das Glitzern von etwas Unbestimmtem im Dunkeln. Etwas, das sie vollkommen fesselte. Etwas, in das sie ihre Zähne schlagen konnte. Etwas, das ihr die Möglichkeit lieferte, aus der Redaktion rauszukommen.
Sie zog den Mantel an und machte sich auf den langen Weg zum Lift. Sie kam allerdings nicht weit.
«Kate? Hast du gerade was Dringendes?», rief Terry. «Könntest du, bevor du gehst, noch kurz dieses Zeug über die norwegischen Royals entwirren? Bitte? Das macht mir Augenkrebs.»
Angela
Sie wusste, dass sie weinen würde. Sie fühlte es kommen. Es schnürte ihr die Kehle zu, und sie konnte nicht mehr sprechen. Sie setzte sich einen Moment aufs Bett, um den Augenblick hinauszuzögern. Sie hatte im Laufe der Jahre versucht, es sich abzutrainieren – normalerweise weinte sie auch nicht. Sie gehörte nicht zur sentimentalen Sorte.
Nur der 20. März war eine Ausnahme. Jedes Jahr. Der 20. März war Alice’ Geburtstag, und Angela weinte. Wenn die Tränen kamen, musste Angela allein sein; das war ein intimer Moment. Sie käme nie auf die Idee, in der Öffentlichkeit zu weinen, so wie die Leute, die sich mit Absicht heulend vor eine Kamera stellten. Und die vom Fernsehen? Filmten dann einfach weiter, hielten drauf, als wären weinende Menschen Unterhaltung.
«Die sollten die Kameras ausmachen», sagte sie in solchen Situationen zu Nick, doch der brummte nur und sah weiter hin.
Sie fühlte sich angesichts solcher Szenen unwohl, doch es gab offenbar viele Leute, die das freiwillig taten. Leute, die versuchten, Teil der Nachrichten zu werden.
Außerdem bezweifelte Angela, dass jemand verstehen würde, warum sie nach so vielen Jahren immer noch weinte. Nach Jahrzehnten. Wahrscheinlich würden sie sagen, sie hätte das Kind doch kaum gekannt. Alice sei schließlich nur vierundzwanzig Stunden bei ihr gewesen.
«Aber sie war ein Teil von mir. Mein Fleisch und Blut», entgegnete sie den Skeptikern in ihrem Kopf. «Ich habe ja versucht loszulassen, aber …»
Das Grauen begann Jahr für Jahr in den Tagen vor dem Geburtstag des Babys mit Flashbacks der Stille – jener absoluten, eisigen Stille des leeren Zimmers.
An Alice’ Geburtstag selbst wachte Angela dann meistens mit Kopfschmerzen auf, machte Frühstück und versuchte, sich so lange normal zu verhalten, bis sie allein war. Dieses Jahr unterhielt sie sich in der Küche mit Nick über den bevorstehenden Tag. Er hatte sich über den riesigen Papierberg auf seinem Schreibtisch beklagt und über einen der Neuen, der ständig krankmachte.
Er sollte in Rente gehen, das hätte er schon vor zwei oder drei Jahren tun können. Aber er kann die Arbeit nicht loslassen. Wahrscheinlich kann niemand einfach so loslassen. Er sagt, er brauche eine Aufgabe, Routine. Er lässt sich nicht anmerken, dass er weiß, was für ein Tag heute ist.
Früher hat er sich erinnert – am Anfang. Natürlich! Am Anfang haben alle ständig daran gedacht.
Leute auf der Straße hatten sich nach ihrem Kind erkundigt. Wildfremde Menschen waren auf sie zugekommen und hatten ihnen mit Tränen in den Augen die Hand gedrückt. Doch das war längst vorbei. Nick war hoffnungslos, was Jahrestage betraf – mit Absicht, dachte Angela. Er konnte sich nicht mal die Geburtstage seiner beiden Kinder merken, und den von Alice schon gar nicht. Sie hatte es aufgegeben, ihn daran zu erinnern. Sie ertrug den Anflug von Panik in seinem Blick nicht mehr, wenn er gezwungen war, an jenen Tag zurückzudenken. Für Angela war es also ein Akt der Fürsorge, sich allein zu erinnern.
Nick gab ihr einen Kuss auf den Kopf und ging zur Arbeit. Und als sich die Haustür hinter ihm schloss, setzte sich Angela aufs Sofa und ließ den Tränen ihren Lauf.
Sie hatte versucht, die Erinnerungen wegzusperren. Am Anfang fast ohne jede Unterstützung. Da war nur der Hausarzt gewesen – der arme alte Dr. Earnley –, der ihr die Schulter oder das Knie getätschelt und gesagt hatte: «Sie kommen darüber hinweg, meine Liebe.»
Dann, später, kam die Selbsthilfegruppe, doch Angela war es irgendwann leid gewesen, ständig ihrem eigenen Elend und dem anderer Leute zu lauschen. Sie hatte das Gefühl, sie würden sich dort im Kreis drehen, rund um den Schmerz herum, ihn anstupsen, immer wieder neu entfachen. Sie hatte die Gruppe in Aufruhr gebracht, als sie verkündet hatte, ihr helfe die Erkenntnis nicht, dass auch andere Menschen litten. Es nehme nichts von ihrer Trauer – füge ihr nur irgendwie neue Schichten hinzu. Sie hatte sich schuldig gefühlt, weil sie als Krankenschwester früher, wenn jemand gestorben war, den Angehörigen eine Broschüre über Trauerbewältigung in die Hand gedrückt hatte.
Hoffentlich hat es ihnen mehr geholfen als mir, sagte sie sich und stand auf. Sei nicht so hart zu dir. Jeder tut, was er kann.
In der Küche ließ sie Wasser ins Spülbecken laufen und bereitete das Gemüse für den Auflauf vor. Das kalte Wasser machte ihre Hände taub, und sie hatte Schwierigkeiten, das Messer zu halten, trotzdem schabte sie weiter mechanisch die Karotten.
Sie versuchte sich vorzustellen, wie Alice heute aussehen würde, doch es gelang ihr nicht. Sie besaß lediglich ein einziges Foto von ihr. Von sich und Alice. Nick hatte es mit seiner kleinen Instamatic gemacht, und es war unscharf – er hatte zu schnell abgedrückt. Angela stemmte sich gegen den Küchentresen, als könnte körperliche Anstrengung ihr dabei helfen, sich das winzige Gesicht des verlorenen Babys zu vergegenwärtigen. Aber da kam nichts.
Sie wusste von dem Foto, dass Alice einen Schopf dunkler Haare gehabt hatte, genau wie ihr Bruder Patrick. Angela hatte bei der Geburt viel Blut verloren und war noch ganz benebelt von den Medikamenten gewesen, als sie ihr das Kind in die Arme legten. Später – als Alice fort war – hatte sie Nick nach ihr gefragt, doch der konnte ihr auch nicht sehr viel mehr sagen. Er hatte sie nicht so detailliert gemustert, wie Angela es getan hätte, um sich all ihre Eigenschaften einzuprägen. Er sagte, sie sei hübsch gewesen, konnte aber keine Einzelheiten nennen.
Angela glaubte nicht, dass Alice Patrick ähnelte. Er war ein großes Baby gewesen, Alice dagegen so zart. Keine fünf Pfund. Trotzdem hatte sie Paddys Babyfotos studiert und auch die Bilder, die sie gemacht hatten, als zehn Jahre später ihre zweite Tochter Louise zur Welt gekommen war – «Ich nenne sie unser Überraschungsei», erzählte Angela den Leuten immer –, in der Hoffnung, Alice in ihr zu erkennen. Aber dort war sie auch nicht. Louise war blond – sie kam eher nach Nick.
Angela spürte den altvertrauten dumpfen Trauerschmerz zwischen den Rippen und in ihrer Brust und versuchte, glückliche Gedanken zu denken, so wie es in den Selbsthilferatgebern empfohlen wurde. Sie dachte an Louise und Patrick.
«Wenigstens die beiden habe ich», sagte sie zu den Karottenenden, die im schmutzigen Wasser trieben. Sie fragte sich, ob Lou heute Abend anrufen würde. Ihre Jüngste kannte die Geschichte – natürlich kannte sie die –, aber sie sprach nicht darüber.
Außerdem hasst sie es, wenn ich weine, dachte Angela und tupfte sich mit einem Stück Küchenrolle die Augen trocken. Alle hassen es. Sie tun lieber so, als wäre alles in Ordnung. Das verstehe ich. Ich sollte jetzt aufhören. Sollte Alice wieder wegsperren.
«Alles Gute zum Geburtstag, mein liebes Mädchen», flüsterte sie.
Emma
Das Baby hat mich fast die ganze Nacht um den Schlaf gebracht. Ich hatte die Meldung aus der Zeitung gerissen und wollte sie wegwerfen, doch dann landete sie in meiner Strickjackentasche. Ich weiß selbst nicht, wie. Dabei hatte ich beschlossen, nichts zu unternehmen. In der Hoffnung, es würde wieder weggehen.
Nicht wie beim letzten Mal, flüsterte eine Stimme in mir.
Und heute ist das Baby immer noch da. Beharrlich. Fordert Aufmerksamkeit.
Paul döst nur noch, ist schon fast wach, fängt an, die Beine zu bewegen, als wollte er testen, ob sie noch da sind. Ich warte darauf, dass er die Augen aufschlägt.
Mir graut davor. Mir graut vor dem Anblick der Enttäuschung und Erschöpfung auf seinem Gesicht, wenn er merkt, dass meine schlechten Tage zurück sind.
So nennen wir es, «meine schlechten Tage», damit es nicht so klingt, als sei es meine Schuld. Die letzte Phase liegt lange zurück, und mir ist klar, dass Paul dachte, es wäre vorbei. Er wird nach Kräften versuchen, sich bei meinem Anblick nichts anmerken zu lassen, und dann muss ich auch noch seine Besorgnis mittragen. Manchmal habe ich das Gefühl, unter der Last in Stücke zu brechen.
Was dich nicht umbringt, macht dich nur stärker, heißt es. Das sagt man, wenn jemand Furchtbares durchgemacht hat. Einer der Sprüche meiner Mutter Jude. Aber das stimmt nicht. Es bricht dir die Knochen, und die Splitter werden mit schmuddeligen Verbänden aus vergilbtem Tesafilm dürftig zusammengeflickt. Mit knarzenden Bruchlinien. Fragil und nur mit Mühe zusammenzuhalten. Und manchmal wünscht man sich, es hätte einen umgebracht.
Paul erwacht und holt mir wortlos meine Tabletten und ein Glas Wasser aus dem Bad. Dann streichelt er mir übers Haar und bleibt neben mir sitzen, während ich die Pillen schlucke. Dabei summt er leise vor sich hin, als wäre alles ganz normal.
Ich versuche, Alles geht vorüber zu denken, aber Das hört nie auf durchbricht die Barrikaden.
Das Problem an der Sache ist, dass ein Geheimnis im Laufe der Zeit ein Eigenleben entwickelt. Früher habe ich geglaubt, wenn ich nicht an das denke, was geschehen ist, würde es von selbst verdörren und sterben. Hat es aber nicht getan. Es sitzt in der Mitte eines stetig wuchernden Gewirrs aus Erfindungen und Lügen wie eine im Spinnennetz gefangene Fliege. Wenn ich jetzt etwas sage, hieße das, alles auseinanderzureißen. Also darf ich nichts sagen. Ich muss es beschützen. Das Geheimnis, meine ich. Solange ich mich erinnern kann, habe ich genau das getan. Das Geheimnis behütet.
Wir sitzen am Frühstückstisch. Paul spricht mit mir, aber ich habe es nicht mitbekommen.
«Tut mir leid, Liebling, was hast du gesagt?» Ich versuche mich auf ihn zu konzentrieren, da drüben, auf der anderen Seite des Tisches.
«Wir haben fast kein Klopapier mehr. Hast du Zeit, einkaufen zu gehen?»
Ich kann mich nicht konzentrieren. Irgendwas mit Zeit… Zeitung. O Gott! Hat er es gelesen?
«Was?», sage ich zu laut.
«Klopapier, Emma», antwortet er ruhig. «Ich wollte dich nur erinnern, sonst nichts.»
«Gut. Gut. Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich darum. Mach du dich lieber für die Arbeit fertig, und ich trinke meinen Kaffee aus.»
Er lächelt mir zu, küsst mich im Vorbeigehen und kramt zehn Minuten lang in seinem Arbeitszimmer herum, während ich mein Frühstück in den Müll werfe und die Arbeitsfläche wische. Ich putze viel in letzter Zeit. Weg mit dir, verdammter Fleck.
«Also», sagt er an der Küchentür. «Bist du sicher, dass es dir gutgeht? Du siehst wirklich blass aus.»
«Mir geht’s gut», sage ich und stehe auf. Komm schon, Paul. Verschwinde. «Einen schönen Tag, Liebling. Und sei nett zu deinem Chef. Du weißt, dass alles andere unklug wäre.» Ich wische einen Fussel von der Schulter seines Mantels.
Er seufzt und greift zu seiner Aktentasche. «Ich werd’s versuchen. Hör mal. Ich könnte mich krankmelden und bei dir bleiben», sagt er.
«Sei nicht albern, Paul. Ich lasse es heute langsam angehen. Versprochen.»
«Okay. Aber in der Mittagspause rufe ich dich an. Ich liebe dich», sagt er.
Ich winke ihm vom Küchenfenster nach, so wie immer. Er schließt das Gartentor, wendet sich ab, und ich sinke auf die Knie. Zum ersten Mal, seit ich die Meldung gelesen habe, bin ich allein, und so zu tun, als sei alles in Ordnung, ist anstrengend gewesen. Wohin ich auch sehe, die kleine Schlagzeile blinkt mir entgegen wie Neonreklame. Ich brauche jetzt einfach fünf Minuten, um mich wieder zu sammeln. Ich weine. Es ist ein einziges Heulen und Zähneklappern. Völlig außer Kontrolle. Kein vornehm britisches Weinen, das man unterdrückt, das man herunterschluckt. Es dauert, bis alles draußen ist. Danach bleibe ich still auf dem Fußboden sitzen, regungslos.
Das Telefon klingelt, und mir wird klar, dass eine ganze Stunde vergangen ist. Als ich versuche aufzustehen, sind meine Beine eingeschlafen, und mich piken und stechen tausend Stecknadeln. Ich muss weggedriftet sein. Ich liebe das Bild, das mein Kopf sich dazu ausdenkt: Ich, in einem Boot, auf der Strömung treibend. Wie Ophelia auf dem Gemälde. Aber die war verrückt oder tot. Hör auf. Geh ans Telefon.
«Hallo, Emma. Hier ist Lynda. Sitzt du am Schreibtisch? Kann ich auf einen Kaffee vorbeikommen?»
Ich will nein sagen zu der grässlichen Lynda, aber heraus kommt «ja». Wieder mal setzt sich tief eingefleischte Höflichkeit durch.
«Schön! Ich bin in zehn Minuten da.»
«Ich setze schon mal Wasser auf», höre ich mich antworten wie in einem Theaterstück.
Ich reibe mir die Knie, um wieder Gefühl in die Beine zu kriegen, und hole eine Haarbürste aus der Tasche. Ich muss vorzeigbar aussehen, sonst merkt sie was.
Lyndas Mann lehrt an derselben Uni wie Paul – in einem anderen Department, aber unsere beiden Männer nehmen morgens oft dieselbe Bahn. Offensichtlich macht uns das zu Genossinnen, Lynda und mich.
Ich mag sie trotzdem nicht. Sie hat nach innen geneigte Zähne wie ein Hai und eine aufdringliche Art. Sie und die anderen AKWs – Akademikerweiber habe ich sie getauft, als ich in ihre Kreise kam – lästern über mich. Das weiß ich. Aber ich kann nichts dagegen tun. Kann sie nur ignorieren. Die Ruhe bewahren und weitermachen.
Lynda stürmt herein, sobald ich die Tür aufmache. Wieder mal voller Elan heute Morgen. Wahrscheinlich gibt es gute Nachrichten von Derek. Ich will, dass sie wieder geht.
«Du siehst müde aus, Emma. Hast du schlecht geschlafen?», fragt sie und fegt damit all meine vergeblichen Versuche, meinen Zustand aufzuhübschen, vom Tisch. Sie übernimmt das Kaffeekochen – mich lässt sie wie ein nutzloses Ersatzteil in meiner eigenen Küche stehen.
«Hm. Nicht besonders. Ich hänge gerade an einer ziemlich kniffeligen Stelle in dem Buch, das ich lektoriere», sage ich.
Lynda zuckt zusammen. Sie hasst die Tatsache, dass ich arbeite. Fasst jede diesbezügliche Erwähnung als persönliche Beleidigung auf. Lynda arbeitet nicht. «Ich habe zu Hause wirklich genug zu tun», sagt sie, wenn jemand sie fragt. Normalerweise mit einem spröden Lachen.
Jedenfalls beschließt sie, die angedeutete Kränkung zu ignorieren, und platzt mit ihren Neuigkeiten heraus: Derek erhält einen neuen Posten – offensichtlich inklusive Beförderung. Das bedeutet mehr Einfluss und etwas mehr Geld. Sie ist außer sich. Selbstgefälligkeit sickert aus jeder Pore.
«Der Direktor seines Departments will, dass er mehr Verantwortung übernimmt. Ab dem nächsten Semester ist Derek stellvertretender Direktor für Studentenangelegenheiten (Bachelorstudenten)», verkündet sie, als würde sie eine Pressemitteilung verlesen.
«Studentenangelegenheiten? Gott bewahre, dann steckt er künftig knietief in Drogenthemen und Geschlechtskrankheiten», sage ich und weide mich an der Vorstellung, wie Derek, der Welt größter Wichtigtuer, sich künftig mit defekten Kondomautomaten herumschlägt.
Sie erstarrt bei der Erwähnung von Sex, und ich bemühe mich, mir mein Vergnügen an diesem winzigen Triumph nicht anmerken zu lassen.
«Das ist toll, Lynda», sage ich. «Die Milch steht schon draußen – auf dem Abtropfgestell.»
Wir sitzen am Küchentisch, und ich höre zu, während sie sich über die Vorgänge in der Fakultät auslässt. Ich weiß, dass sie früher oder später auf Pauls ‹kleine Problemchen› anspielen wird – die Streitereien mit seinem Vorgesetzten –, aber von mir bekommt sie keine Hilfestellung. Ich schweife immer wieder vom Thema ab – die aktuelle Weltlage, Verspätungen im Bahnverkehr, die Kaffeepreise – in der Hoffnung, sie zu ermüden. Doch Lynda ist heute unermüdlich.
«Und? Läuft es zwischen Paul und seinem Direktor wieder besser?», fragt sie und unternimmt den Versuch eines freundlichen Lächelns.
«Das ist nur ein Sturm im Wasserglas», sage ich.
«Ach so? Ich habe gehört, Dr. Beecham wollte die Sache eskalieren?»
«Das ist alles ziemlich albern. Dr. Beecham möchte die Mittel für Pauls beliebtestes Seminar kürzen, um sich für sein eigenes mehr Spielraum zu verschaffen. Er ist, ehrlich gesagt, ein ziemlicher Arsch.»
Lynda macht kugelrunde Augen. Arsch ist eindeutig kein Begriff, den sie für den Direktor eines Departments verwenden würde.
«Na ja, manchmal muss man eben Kompromisse machen. Vielleicht ist Pauls Seminar ja inzwischen ein bisschen fade geworden?»
«Das mit Sicherheit nicht, Lynda. Möchtest du ein Ingwerplätzchen?»
Beschwichtigt futtert sie den Teller leer. Wir sind inzwischen bei ihrer Tochter Joy – «Sie ist unser ganzer Stolz und unsere Freude, deshalb haben wir sie so genannt» – und deren Kindern angelangt, offenbar eine ziemliche Rasselbande. Mir fällt auf, dass Lynda es immer dann vermeidet, sie als ihre Enkelkinder zu bezeichnen, wenn sie deren Fehler und Vergehen auflistet. Sie sind anscheinend «zu unabhängig» – eine schwere Sünde in Lyndas streng abgezirkelter Welt.
«Josie hat neulich tatsächlich zu mir gesagt, ich soll mich um meinen eigenen Kram kümmern», sagt sie noch immer empört. «Neun Jahre alt und sagt ihrer Großmutter, sie soll sich um ihren eigenen Kram kümmern!»
Ich denke Weiter so, Josie! und sage: «Du Ärmste.» Immer schön opportunistisch.
«Du hast solche Sorgen natürlich nicht», sagt Lynda. «Du hast ja keine Kinder.»
Ich muss schlucken und wage nicht zu antworten. Stattdessen werfe ich einen Blick auf die Uhr und murmle: «Tut mir leid, Lynda. Es war schön, dass du vorbeigekommen bist, aber ich habe bald Abgabe und muss zurück an meinen Schreibtisch.»
«Ach, ihr berufstätigen Frauen», sagt sie abfällig. Sie sieht enttäuscht aus, aber sie setzt ihr Großes Weißes Strahlen auf, legt mir die Hände auf die Schultern und küsst mich zum Abschied auf beide Wangen. Sie macht einen Schritt zurück und sagt mit übertriebener Fürsorge in der Stimme: «Du solltest wieder ins Bett gehen, Emma.»
Ich wehre sie und ihre falsche Sorge mit einer Geste ab.
«Richte dem neuen stellvertretenden Direktor der Studentenangelegenheiten Klammer auf Abteilung Bachelorstudenten Klammer zu unsere Glückwünsche aus», sage ich und scheuche sie zur Haustür hinaus. «Schönen Tag noch», füge ich hinzu.
Hör auf damit, denke ich. Wie eine Verkäuferin, die so tut, als ob. Ich gehe nach oben in mein Arbeitszimmer und sitze reglos da, das Baby aus der Zeitung in meinem Kopf, in meinem Schoß, auf meinen Schultern.
Kate
Die Howard Street am Rande von Woolwich hatte schon bessere Tage gesehen. Eine Armada aus schwerem Gerät machte Häuser dem Erdboden gleich und schickte dicke Wolken aus Rauch und Staub in die Luft, während sie die Transformation des Londoner Stadtteils in ein «urbanes Dorf» erzwang.
Kate stand am Ende der Straße, wie eine dem Büro entwischte Gefangene.
Sie konzentrierte sich auf die Häuser, die offensichtlich noch bewohnt waren. Es waren nicht mehr als zwei oder drei übrig. Aus dem Stadtteilblatt wusste sie, dass die Grundstücke nach langwierigen Planungsstreitereien zwangsverkauft worden waren. Inzwischen hatten die Abrissarbeiten begonnen, und die Straße sah aus wie eine retuschierte Postkarte vom Blitzkrieg. Kate war froh, dass ihr eigenes Ostlondoner Stadtviertel der Aufmerksamkeit der Stadtplaner, die es darauf anlegten, die Hauptstadt als Ensemble kleiner Dörfer neu zu erfinden, bis jetzt entgangen und ihre eigene Häuserzeile unberührt geblieben war.
Sie und Steve hatten das ehemalige Arbeiterhäuschen in Hackney Anfang der Neunziger gekauft und waren damals die ersten Neuzugänge in der Straße gewesen. An dem Abend, als sie eingezogen waren, hatte Bet von nebenan ihnen eine Leberkasserolle vorbeigebracht – in einer geblümten Plastikdose, wie Kates Großmutter sie früher benutzt hatte. Bet hatte in der Küche gestanden, alles in sich aufgenommen – den Kessel und den Toaster im selben Design, die Kühlschrankmagnete mit den witzigen Sprüchen – und jede Menge neugierige Fragen gestellt. Doch seitdem trafen ihre zwei Welten bis auf ein freundliches «Hallo, wie geht’s?» nur selten wirklich aufeinander.
Wenn Kate und Steve ihre Freunde zu geräuschvollen Grillfesten oder feuchtfröhlichen Abendessen mit Korkenknallen im Garten einluden, hatten sie immer das Gefühl gehabt, die Nachbarn hielten die Luft an. Doch im Laufe der Zeit waren andere Leute von ihrem Schlag dazugekommen, angelockt von den bezahlbaren Preisen, und irgendwann hatte dann auch ihre Straße die erste schwarze Hochglanzhaustür mit eingetopftem Buchsbaum neben der Schwelle. Der Buchsbaum wurde schon in der zweiten Nacht geklaut, doch die Botschaft blieb.
Umringt von Formschnittbäumchen und Plisseerollos, hatten von den Alten nur Bet und ein uraltes Ehepaar am Ende der Straße den Wandel überlebt. Die jüngste Eröffnung einer Filiale von Marks and Spencer Food Emporium an der Ecke, wo sich früher die Videothek befunden hatte, machte der alten Nachbarschaft dann endgültig den Garaus.
Bloß gut, dass wir uns nicht mit so was wie hier rumschlagen müssen, dachte Kate und sah sich musternd um. Vor ihr lagen die bloßgelegten Innereien dreistöckiger Häuser wie lebensgroße Puppenstuben. Vorhänge flatterten traurig im Wind. Das einzige Anzeichen menschlicher Besiedelung war das Licht in einem Küchenfenster der noch unversehrten Häuser, das durch die Düsternis leuchtete.
Kate ging zur Haustür und betätigte die unterste von drei Klingeln. Daneben stand, mit Kugelscheiber gekritzelt, der Name Walker.
Eine ältere Frau öffnete die Tür einen Spalt und spähte nervös hinaus.
«Hallo. Mrs. Walker?» Kate schlug ihren Profitonfall an. «Bitte verzeihen Sie die Störung, ich komme von der Daily Post und schreibe einen Artikel über die Veränderungen in dieser Gegend.» Sie hatte beschlossen, nicht sofort mit der Tür ins Haus zu fallen. Immer sachte voran.
Die Frau musterte sie gründlich, dann zog sie die Haustür auf.
«Miss, nicht Mrs. Rein mit Ihnen. Schnell. Sonst kommt der ganze schreckliche Staub ins Haus.» Sie ging voraus in die Erdgeschosswohnung, schob einen mottenzerfressenen Jack Russell vom Sofa und bedeutete Kate mit einem Nicken, sich zu setzen. «Tut mir leid. Shorty haart», sagte sie und fegte mit der Hand die Hundehaare vom Kissen. «Welche Zeitung war das noch mal?»
«Die Daily Post.»
«Ach, die. Die kaufe ich auch. Lese ich ganz gern.»
Kate entspannte sich. Eine Leserin – Heimspiel.
Die beiden Frauen unterhielten sich über die Bauarbeiten vor dem Fenster. Sie mussten die Stimmen erheben, als draußen ein Lastwagen mit röhrendem Motor die Steigung nahm.
Kate nickte mitfühlend und lenkte ihr Gegenüber behutsam in Richtung Baustellengrab.
«Ich habe gehört, die Bauarbeiter haben auf der Baustelle eine Leiche gefunden?»
Die Frau schloss die Augen. «Ja, ein Baby. Was für eine grauenvolle Geschichte!»
«Grauenvoll», echote Kate und schüttelte synchron mit Miss Walker den Kopf. «Der arme Kerl, der es gefunden hat. Da kommt er sicher nicht so schnell drüber weg.»
«Nein», stimmte Miss Walker ihr zu.
«Ich frage mich, was mit der Mutter ist», sagte Kate. «Wer sie wohl war, meine ich.» Den Notizblock hatte sie absichtlich neben sich aufs Sofa gelegt, um zu signalisieren, dass sie «nur redeten».
Die Frau war jünger, als Kate zuerst gedacht hatte. Um die sechzig vielleicht, aber sie wirkte verlebt. Sie hatte etwas Zirkusartiges an sich: bunte Farben, die von einem müden Gesicht ablenken sollten. Kate registrierte den leichten Ingwerton selbstblondierter Haare, und in den Falten um die Augen sammelte sich der Lidschatten.
«Haben Sie Kinder?»
«Nein», sagte Miss Walker. «Keine Kinder. Hier leben nur Shorty und ich. Wir leisten uns Gesellschaft.»
Stumm streichelte sie ihr Haustier, und der Hund erbebte vor Freude.
«Ein netter Hund», sagte Kate. Das war gelogen. Sie hasste Hunde. Sie hatte zu viele Begegnungen auf Türschwellen mit geifernden Biestern gehabt, die hechelnd und an ihrem Halsband zerrend nach Kates Knöcheln schnappten, von den Besitzern mühevoll im Zaum gehalten. Der Spruch war immer derselbe: «Keine Angst. Der tut nichts.» Doch die Augen der Tiere sprachen eine andere Sprache. Dieser hier beäugte sie neugierig, und Kate versuchte, ihn zu ignorieren.
«Na ja, niemand weiß, wann es da begraben wurde, nicht wahr?», sagte Miss Walker. «Ich habe gehört, das könnte genauso gut schon Hunderte Jahre her sein. Wir werden es vielleicht nie erfahren.»
Kate legte nickend den Kopf schief. Das war nicht, was sie hören wollte. «Wann haben Sie denn davon gehört? Sie wohnen ja direkt gegenüber der Baustelle – Sie bekommen hier doch bestimmt einiges mit, oder?»
«Ich bin doch keine Tratschtante», erwiderte Miss Walker entrüstet. «Ich stecke meine Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten.»
«Natürlich nicht!», beschwichtigte Kate. «Aber die vielen Polizisten und das alles konnte man doch wahrscheinlich gar nicht übersehen. Also, ich wäre gestorben vor Neugierde, wenn das vor meiner Haustür passiert wäre. Ich hätte unbedingt wissen wollen, was da los ist.»
Die Frau war ausreichend besänftigt. «Also, ich habe schon gesehen, wie die Polizei gekommen ist, und später hat mir John, der Polier, erzählt, was sie da entdeckt haben. Er war ganz durcheinander. Es muss schrecklich sein, so einen Fund zu machen. Ein fürchterlicher Schock. Ich habe ihm gleich eine Tasse süßen Tee gemacht.»
«Das war nett von Ihnen», sagte Kate. «Vielleicht weiß Ihr Freund John ja mehr darüber, wann das Baby vergraben wurde. Vielleicht hat die Polizei ihm was erzählt?»
«Kann ich nicht sagen. John hat es gesehen – das Kind, meine ich. Er sagt, da war nichts als winzige Knochen übrig. Fürchterlich.»
Miss Walker ging in die Küche hinüber, um eine Tasse Tee zu machen, und Kate nahm ihren Block vom Sofa und notierte sich den Namen des Poliers und das Zitat über die winzigen Knochen.
Zwanzig Minuten und eine Tasse Tee mit zwei Stück Zucker später spazierte sie zum Büro des Vorarbeiters im ersten Stock eines Bürocontainers, von wo aus man einen herrlichen Panoramablick über das Chaos hatte.
Ein untersetzter Mann in Jeans fing sie am Eingang ab. «Kann ich Ihnen helfen?»
«Hallo. Ich suche den Polier. Sind Sie John? Ich komme gerade von Miss Walker da drüben, und sie meinte, ich sollte mich mal mit Ihnen unterhalten.»
Das Gesicht des Mannes öffnete sich ein wenig. «Nette Frau. Sie war früher mal Model oder so was. Ist allerdings schon eine ganze Weile her. Sie kommt jeden Tag mit ihrem Hund hier vorbei und wir unterhalten uns ein bisschen. Manchmal bringt sie mir auch ein Stück Kuchen mit. Muss hier ziemlich einsam geworden sein, seit alle weg sind.»
Kate nickte. «Mit Sicherheit. Es ist hart, alt zu werden, wenn sich alles um einen rum verändert.»
Das Geplänkel hatte lang genug gedauert, und Kate hatte Angst, der Polier würde sich verabschieden und gehen.
«Entschuldigen Sie», sagte sie. «Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Kate Waters.» Sie streckte ihm die Hand hin. Wenn Leute einem erst mal die Hand gegeben haben, fällt es ihnen nicht mehr so leicht, unhöflich zu werden.
«John Davies», antwortete er automatisch. «Was kann ich für Sie tun?»
«Ich bin Reporterin und schreibe über den Leichenfund auf Ihrer Baustelle.» Der Mann machte Anstalten, sich abzuwenden. «Das muss ein schrecklicher Schock für Sie gewesen sein. Sie Ärmster», fügte sie eilig hinzu.
Er drehte sich wieder zu ihr um. «Ja, war es. Tut mir leid, wenn ich unhöflich bin, aber wir hatten die ganze Zeit die Polizei auf dem Gelände. Sie haben den Tatort abgeriegelt und unsere Abbrucharbeiten gestoppt. Die Männer haben es mit der Angst zu tun bekommen, und wir sind allmählich ernsthaft in Verzug.»
«Klingt nach einem Albtraum», sagte Kate.
«Allerdings», sagte Davies. «Hören Sie, ich sollte besser nicht mit der Presse sprechen. Wenn mein Boss davon Wind bekommt, macht er mich einen Kopf kürzer.»
Kate lächelte ihn an. «So einen Boss hab ich auch. Wie wär’s? Wir gehen auf ein Bier in den Pub, ich lade Sie ein – es ist sowieso gerade Mittag, und ich möchte auch nur ein paar Hintergrundinfos. Ich muss Sie ja nicht zitieren.»
Davies sah sie skeptisch an.
«Kommen Sie. Ich möchte der Sache auf den Grund gehen. Rausfinden, wer dieses Baby gewesen ist. Ein namenloses Grab für ein Kind ist so was Schreckliches. Wie früher die Armenbegräbnisse.»
«Na gut. Aber nur auf ein Bier», sagte er und sperrte das Baustellengitter hinter sich zu.
«Toll!» Kate strahlte ihn an.
Etwas befangen lief er neben ihr her an Miss Walkers Haus vorbei, und Kate winkte ihrer neuen Freundin am Küchenfenster fröhlich zu.
Kate
Im Pub wimmelte es bereits von Arbeitern, und der intensive Geruch nach nassem Zement vermischte sich mit dem schalen Biergestank vom Vorabend. Kate drängelte sich mit einer Zehnpfundnote wedelnd zum Tresen vor.
«Für mich eine Weißweinschorle», sagte sie. «John? Was trinken Sie?»
«Ein Pint Bitter Shandy, bitte.»
Der Wirt, dessen Augen hinter dicken Brillengläsern versteckt lagen, schob ihnen die randvollen Gläser über die Theke und gab Kate wortlos eine Handvoll Kleingeld zurück.
«Nicht gerade ein Charmebolzen, der Typ», sagte Kate und stellte die Gläser auf einem klebrigen Tisch ab.
«Der ist schon in Ordnung», erwiderte John ein wenig schroff und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. «Sein Pub muss als Nächstes dran glauben; sobald die zweite Bauphase genehmigt ist. Das ist bestimmt nicht gerade angenehm, uns bedienen zu müssen, die Vollstrecker der Zerstörung.»
«Ja, das stimmt. Seit wann sind die Arbeiten denn schon im Gange?»
«Seit Monaten. Mir kommt’s wie Jahre vor.»
Kate nippte an ihrer Weinschorle. Der ruppige Wirt hatte den Wein statt mit Wasser mit Limonade gemischt, und die pappige Süße ging ihr durch und durch. «Klingt nach richtig harter Arbeit.»
«Und dann auch noch diese Geschichte letzte Woche. Einfach beschissen.» John stierte in sein Glas.
«Kann ich mir vorstellen. Haben Sie die Leiche entdeckt?»
«Nein. Einer meiner Leute. Armer Teufel. Er ist erst neunzehn. Ist seitdem krankgeschrieben.»
«Was genau ist passiert?»
John Davies leerte sein Glas.
«Ich hole Ihnen noch eins», sagte Kate.
Als sie zurückkam, popelte er gedankenversunken an seinem Bierdeckel herum.
«Peter sollte in den Gärten hinter den Häusern den Schutt aus dem Weg räumen, damit die Maschinen ranfahren konnten.» John hielt den Blick gesenkt. «Er versuchte, einen alten Betontrog zu versetzen. Die Dinger, in die man Blumen pflanzt, Sie wissen schon. Beim Verrutschen hat sich die darunterliegende Erde gelöst. Und dann hat er einen Knochen gesehen. So klein, dass Peter ihn für einen Tierknochen gehalten hat. Er hat ihn aufgehoben, um nachzusehen. Aber da waren noch mehr. Als er kapierte, mit was er es da möglicherweise zu tun hat, hat er angefangen zu plärren wie verrückt. Ich dachte, der Kerl hätte sich das Bein abgehackt. So einen Schrei habe ich noch nie gehört.»
«Was für ein Schock für ihn! Für Sie alle», murmelte Kate ermutigend.
Ihr Gesprächspartner nickte erschöpft. «Peter ist ziemlich religiös. Kommt irgendwo aus Osteuropa. Außerdem hat er es ständig mit Geistern und so Zeug. Jedenfalls bin ich zu ihm gerannt, um nachzusehen. Es war winzig. Sah fast aus wie ein Vogel. Es war in irgendwas eingewickelt, Plastik und Papier klebten daran. Ich habe die Polizei gerufen und dann ging’s los.»
«Wo genau war das?»
«Hinter der Häuserzeile, die wir vor ein paar Monaten abgerissen haben. Große runtergekommene Mietshäuser, manche mit vier Stockwerken. Möblierte Zimmer und Apartments. Die wären früher oder später auch ohne unsere Hilfe in sich zusammengestürzt.» Er stand auf. «Ich muss zurück an die Arbeit. Danke für den Drink, Miss. Und nicht vergessen: Sie halten mich da raus.»
Sie schüttelte ihm lächelnd die Hand. «Natürlich. Danke für das Gespräch. Sie waren mir eine große Hilfe. Glauben Sie, Peter würde mit mir reden? Ich würde gern noch ein paar Einzelheiten mit ihm abklären.»
«Eher nicht», sagte John.
«Wissen Sie was? Sie könnten ihm doch meine Nummer geben, für den Fall, dass er sich bei mir melden möchte.» Sie reichte ihm ihre Karte.
John Davies schob die Visitenkarte in die Hosentasche. Er nickte zum Abschied, und fast wie aufs Stichwort leerte sich der Pub.
Kate blieb in der plötzlich verwaisten Kneipe sitzen und brachte ihre Notizen zu Papier. Doch die friedliche Stille hielt nicht lange an. Der Wirt kam hinter dem Tresen hervor, um die Gläser einzusammeln, und unterbrach ihre Gedanken.
«Hab gehört, Sie sind Reporterin?»
Sie sah lächelnd zu ihm auf. «Ja. Ich bin Kate von der Daily Post», sagte sie.
«Graham», antwortete er. Er klang fast kumpelhaft, jetzt da der Mittagsandrang vorbei war. «Und über was berichten Sie?»
«Über das tote Baby auf der Baustelle.»
Der Wirt setzte sich ihr gegenüber auf den Lederhocker an der Bar. «Ach so. Schlimm, ein Baby im Garten verscharren», sagte er. «Da fragt man sich schon, was dem armen Wurm passiert ist, oder? Ich meine, könnte doch sein, dass jemand es umgebracht hat.»
Kate ließ den Stift sinken und sah ihn an. «Das habe ich mich auch gefragt», sagte sie. «Wer würde ein Baby umbringen? Die Vorstellung ist unerträglich.»
Einen Augenblick saßen sie schweigend da.
«Kannten Sie die Leute aus den Häusern?», fragte Kate. «Die Polizei ist jetzt sicher auf der Suche nach denen.»
«Na, da haben die aber viel zu tun! Lauter Mietwohnungen, und alle fünf Minuten neue Mieter. Die übliche Geschichte: Der Eigentümer lebte irgendwo anders – dem gehörten hier jede Menge Immobilien, und er hat billig vermietet. Die möblierten Zimmer waren die reinsten Löcher. Da will man so schnell wie möglich wieder raus. Jedenfalls wurde das Baby schon vor Längerem vergraben. Das hat mir einer von den Cops erzählt, als er rumgefragt hat. Gut möglich, dass es vierzig oder fünfzig Jahre lang dort gelegen hat.»
«Tatsächlich? Ich frage mich, woher die das wissen wollen? Das wäre ja dann lange vor Ihrer Zeit gewesen.»
Der Wirt grinste, sichtlich geschmeichelt, auch wenn er sich das nicht anmerken lassen wollte. «Na ja», antwortete er. «Möchten Sie noch eine?» Er deutete auf den klebrigen Rest in Kates Glas.
«Danke, nein. Diesmal lieber Wasser. Ich bin mit dem Auto da.»
«Okay.» Sie folgte ihm an die Bar, die Nase dicht an der Fährte, fest entschlossen, jetzt nicht locker zu lassen. «Und wer führte damals den Pub? In den Siebzigern und Achtzigern? Der müsste die Leute aus der Straße ja eigentlich gekannt haben, oder?»
«Genau genommen meine Schwiegereltern», sagte er. «Wir haben die Kneipe von ihnen übernommen. Toni könnte Ihnen vielleicht helfen, aber sie ist bei der Arbeit.»
«Das macht nichts», sagte Kate. «Ich kann ja wiederkommen.»
Emma
Es ist Mittag. Ich liege immer noch im Bett, so, wie Paul mich heute Morgen zurückgelassen hat. Die Glückspillen wirken Wunder. Angenehme Taubheit hat sich in mir breitgemacht, und ich zwinge mich aufzustehen. Ich kann den ranzigen Geruch alter Bettwäsche an mir riechen und stelle mich unter die Dusche, bis meine Finger runzlig werden. Dann werfe ich mir ein weites Strickkleid über, um meinen Köper zu verstecken.
Ich habe die Beruhigungstabletten zurück in den Badezimmerschrank gestellt und die Tür zugemacht. Ich hasse die Pillen – sie repräsentieren mein Versagen. Ich würde sie am liebsten in den Mülleimer werfen, aber was, wenn ich ohne sie nicht kann?
Vielleicht versuche ich diesmal, mir anderweitig Hilfe zu holen – Hilfe abseits der Chemie. Bei der Vorstellung muss ich beinahe lachen. Das hieße reden. Jemandem von meinen Gedanken erzählen. Warum ich so am Ende bin. Was alldem zugrunde liegt. Es hieße, den losen Dreck beiseitezufegen und die dichte, undurchlässige Tonschicht aufzugraben, unter der meine Erinnerungen liegen.
Meine Mutter Jude hat mal den Vorschlag gemacht, ich solle eine Therapie machen – damals, ganz zu Beginn der schlimmen Zeit –, aber als sie mich zum Therapeuten fahren wollte, weigerte ich mich, ins Auto zu steigen. Das führte zu einer schrecklichen Szene mitten auf der Straße. Sie schrie mich an, und ich krallte mich mit beiden Händen an der Autotür fest. O Gott! Bin das wirklich ich gewesen? Die Sache ist die: Ich wusste damals schon, dass Schweigen die einzige Option war – ist.
Ich weiß, dass ich heute nichts anders machen würde. Es ist zu spät. Ich werde einfach alles verdrängen, meine Pillen nehmen, bis ich die Lage wieder unter Kontrolle habe und mit meiner Arbeit weitermachen kann. Mein Leben mit anderen Dingen füllen, um das Grauen auszublenden, so wie normalerweise.
Meine Normalität.
Jedenfalls werde ich rausgehen – zum Metzger, Fleisch kaufen –, um Paul für das verbrannte Abendessen und die Tiefkühlpizza zu entschädigen. Das Wort Fleisch bleibt in meinem Kopf hängen. Fleisch und Blut. Ich möchte mich übergeben.
Hör auf!, sage ich und kneife mir durch das Kleid in die Haut an meinem Bauch.
Sobald ich die Metzgerei betrete, steigt mir der Blutgeruch in die Nase, metallisch, verstopft mir die Kehle. Ich spüre Panik aufkommen und bleibe still in der Schlange stehen, mache meine Yoga-Atemübung. Ein durchs rechte Nasenloch, aus durch den Mund. Oder war es aus durchs linke Nasenloch?
«Mrs. Simmonds», sagt der Metzger ziemlich laut. «Was darf’s heute sein?»
Aus der Meditation geschreckt, stammle ich: «Äh, Steak bitte. Lende, ein Stück.» Ich werde Salat essen.
Er mustert mich unbeeindruckt. «Nur eins? Essen Sie heute Abend allein?» Er lacht. Knallrotes Gesicht unter einem albernen Strohhut.
Ich sehe ihn herausfordernd an und versuche mitzulachen, um den anderen Frauen zu zeigen, dass ich den Witz verstanden habe. Aber es klingt unecht. «Ja, leider. George Clooney hat mich schon wieder versetzt», sage ich.
Ich stecke das Päckchen in die Einkaufstasche, bezahle den überteuerten Preis und gehe nach Hause in der Hoffnung, arbeiten zu können.
Es ist fünf Uhr. Paul kommt bald nach Hause. Ich tippe schneller. Ich werde noch eine Stunde arbeiten, dann widme ich mich meinen häuslichen Pflichten. Ich kann jetzt noch nicht aufhören. Muss weitermachen. Wenn ich aufhöre, kommt das Baby zurück. Ich muss mich ablenken. Ablenken. Ablenken.
Meistens danke ich Gott für meine Arbeit. Ich habe vor etwa zehn Jahren damit angefangen, Texte zu lektorieren. Eine gute Freundin arbeitet bei einem Verlag. Eines Tages bat sie mich bei einem Notfall um Hilfe, weil sie übers Wochenende einen ewig langen Text umschreiben musste. Ich hatte schon immer geschrieben, für mich selbst und auf dem College, aber hier ging es um hemdsärmelige Knochenarbeit: die Verwandlung der reichlich adoleszenten Ergüsse eines Fußballspielers in herzzerreißende Prosa. Wie sich herausstellte, hatte ich Talent, und meine Freundin verschaffte mir weitere Aufträge.
Jetzt gerade stecke ich mitten in einer Scheidung, dirigiere Trauer, Schuld und Erleichterung einer jungen Schauspielerin durch die Trennung von ihrer Sandkastenliebe und ihren (wie sich herausstellen wird, unangebrachten) Optimismus angesichts ihrer ersten «Branchen»-Ehe. Den Protagonisten dieser Texte selbst begegne ich nie. Das ist Aufgabe der Ghostwriter. Handelt es sich um große Stars, verbringen sie Stunden – manchmal Wochen – mit ihnen, kitzeln Geschichten und Gefühle aus ihnen heraus. Ich spiele in einer anderen Liga. Ich kümmere mich eher um X-Factor-Gewinner und dergleichen. Ich vermute, der Großteil der Texte ist ein Zusammenschnitt aus Zeitungsberichten und Reportagen – Stroh, das ich zu Gold spinne, bis es sich wie ein Märchen liest. Befriedigend ist das Ergebnis nur selten, aber bei eiligen Aufträgen mit einem unerwarteten Nachrichtenaufhänger – Tod, Skandal, Erfolg – geht es eben nicht anders.
Es ist harte Arbeit, und manchmal, wenn ich um jedes Wort ringe, verfluche ich die Millionen Leser, die sich nur Promi-Biographien kaufen, um sich die Bilder anzusehen.
Dafür ist das Ganze ordentlich bezahlt, und das Geld gehört mir. Paul ist der Meinung, ich würde mich unter Wert verkaufen, aber ich kann von zu Hause aus arbeiten und bleibe anonym.
Keiner weiß, wer Emma Simmonds ist, obwohl meine Sätze auf der ganzen Welt gelesen werden, übersetzt in zig verschiedene Sprachen. Mein Name steht auf keinem Cover. Genau so soll es auch bleiben. Paul findet, meine Arbeit hätte Anerkennung verdient – darüber kann ich nur lachen.
Lachen funktioniert immer. Er hat selbst genug um die Ohren mit Mr. Beecham und dessen Intrigen. Paul ist besorgter, als er zugibt, und ich versuche, ihm Selbstvertrauen zu geben. Erzähle ihm, was für ein wunderbarer Lehrer er ist und wie sehr seine Studenten ihn schätzen.
Wenn das nicht funktioniert, erzähle ich ihm, dass er mir das Leben gerettet hat, als er sich auf mich eingelassen hat, und das bringt ihn immer zum Lächeln. Ich frage mich, ob er sich noch an unsere Anfänge erinnert, damals in den Neunzigern, als ich versuchte, mein Leben auf die Reihe zu kriegen. Ich war älter und zu anders als die anderen Studenten, um ihre Spielchen mitzuspielen. Und dann war da Paul. Ich hatte seit dem ersten Semester ein Auge auf ihn geworfen, aber es dauerte bis zu meinem letzten Jahr, ehe er sich in mich verliebte. Es war kompliziert. Er war mein persönlicher Betreuer, doch das war mir damals egal. Ich glaubte, Dr. Paul Simmonds wäre die Lösung für alle meine Probleme.
Er war zwanzig Jahre älter als ich, wundervoll klug und auf diese trockene, akademische Weise humorvoll. Ein eingefleischter Junggeselle mit ungebügelten Hemden und seltsamen Socken – und völlig von seiner Arbeit absorbiert.
«Du hast mich fasziniert», sage ich ihm immer, und er lacht.
«Ich? Ich war nie faszinierend», lautet seine Antwort.
Aber es ist die Wahrheit. Wenn Paul über Dinge sprach, konnte er einen fesseln. Mich jedenfalls. Ich hatte immer das Gefühl, er meinte direkt mich mit dem, was er sagte. Seine Vorlesungen über die Psychologie der tragischen Heldinnen Shakespeares handelten alle von mir. Und ich saß da und wusste, da war einer, der mich und mein verwirrtes Herz verstand. Ich dachte tatsächlich, er sei in der Lage, mir zu helfen. Armer Paul. Was für eine Verantwortung.
Er behauptet, er habe sich sofort in mich verliebt, aber ich glaube, wir wissen beide, dass er die ganze Geschichte im Nachhinein verklärt hat. In Wahrheit war er zuerst geschmeichelt von meinem Interesse an seinen Vorlesungen und dann wohlwollend hinsichtlich meiner Bemühungen, was Aufsätze und das College-Leben betraf. Er nahm mich unter seine Fittiche, mich, das Problemkind der Fakultät. Armer Paul. Er hatte keine Ahnung, worauf er sich einließ. Ich fing an, ihm nachzulaufen, setzte mich in all seinen Seminaren nach hinten in die letzte Reihe, nur um ihn zumindest von weitem zu sehen. Die Studenten in meinem Jahrgang bekamen sofort mit, was los war, rempelten einander an, wenn sie mich entdeckten, und tuschelten einander ihre gehässigen Kommentare zu.
Schließlich merkte sogar Paul, dass die Sache aus dem Ruder lief. Er versuchte, mit mir über mein Verhalten zu sprechen, verwies auf seine Verantwortung und bedrängte mich, mir einen Freund in meinem Alter zu suchen. Süß.
«Emma», sagte er. «Ich bin so alt, ich könnte Ihr Vater sein.»
Hätte ich Jude davon erzählt, hätte sie gesagt, genau das sei der Punkt. Tat ich aber nicht. Meine Mutter war damals kein Teil meines Lebens. Ich musste niemandem erzählen, dass ich in Paul meinen Rettungsanker sah und nicht bereit war, ihn je wieder loszulassen. Später verriet er mir, der entscheidende Punkt sei meine Verletzlichkeit gewesen. Er sagte, ich hätte ihn mehr gebraucht als jede andere Frau, die er je kannte.
Wie romantisch. Im Gegensatz zu unserer ersten verstohlenen Verabredung bei einem schmuddeligen Inder mit grellen Tapeten und schriller Sitarmusik, in der unsere Liebeserklärungen untergingen. Paul musste fast schreien.
Wir warteten, bis ich mit dem Studium fertig war, ehe wir unsere Beziehung öffentlich machten, aber es wussten sowieso alle Bescheid. Zwei Semester lang sorgten wir an der Fakultät für empörtes Geflüster, und Paul schlug vor, sich woanders zu bewerben, damit wir gemeinsam neu anfangen konnten.
«Und wir erzählen niemandem, dass du noch studiert hast, als wir uns verliebt haben», sagte er. «Das ist besser. Mea culpa, Emma, aber du weißt ja. Schlafende Hunde und so …»
Ich fand das Sprichwort schon immer komisch. Schlafende Hunde soll man nicht wecken. Irgendwann werden alle schlafenden Hunde wieder wach.
Kate
Am nächsten Morgen rief Peter sie an. Seine Stimme klang zögerlich, er hatte Mühe, sich in der fremden Sprache auszudrücken.
«Miss Waters?», sagte er. «Ich bin Peter von der Baustelle. John hat gesagt, Sie wollen mich sprechen?»
Kate umklammerte den Hörer. Sie hätte nicht gedacht, dass er sich tatsächlich melden würde.
«Peter! Vielen Dank für Ihren Anruf. Ich weiß, Sie stehen noch furchtbar unter Schock …»
«Ja. Großer Schock», sagte er. «Woher wissen Sie von mir?»
«Na ja, die Polizei hat mir ein paar Einzelheiten über den Fund genannt», antwortete sie schnell. Der Mann am anderen Ende war eindeutig nervös, und sie wollte ihn auf keinen Fall verschrecken. Es wäre einfacher, wenn sie sich treffen könnten. Von Angesicht zu Angesicht konnte sie ihren Charme leichter spielen lassen. «Ich finde das schwierig am Telefon», sagte sie. «Sich über so ein heikles Thema zu unterhalten. Können wir uns treffen, Peter? Ich komme gerne zu Ihnen.»
Er zögerte. «Gut», sagte er schließlich. «Aber nur kurz. Ich wohne bei einem Freund. In Shepherd’s Bush. Können wir uns da treffen? Im Café an der U-Bahn?»
«Natürlich. Das ist gar nicht weit von mir. Ich könnte in einer halben Stunde da sein. Ist das okay?»
Noch während des Telefonats nestelte sie ihre Handtasche von der Stuhllehne. Gordon Willis sah auf. Er lauschte grundsätzlich. Ein Automatismus. Außerdem hatte sie die Polizei erwähnt – sein eifersüchtig bewachtes Hoheitsgebiet.
«Was hast du?», fragte er. «Irgendwas, von dem ich wissen sollte?»
«Nein, Gordon. Nur ein totes Baby in Woolwich. Stand neulich im Standard.» Sie spielte die Sache so gut es ging herunter, um jegliche Einmischung zu unterbinden. Der Polizeireporter war ein berüchtigter Autorenzeilenjäger und immer auf der Suche nach einer Gelegenheit, seinen Namen unter anderer Leute Arbeit zu setzen.
«Ja, hab ich gesehen.» Gordon winkte ab. «Der zuständige Ermittler meint, es sei alt – wahrscheinlich sogar steinalt.»
«Ich dachte, ich schau’s mir mal an. Vielleicht springt ja was für die Tränendrüse dabei raus.»
«Mädchenkram.» Gordon wandte sich wieder seinem Kreuzworträtsel zu.
Peter saß am Tisch, vor ihm eine Cola. Kate trat zu ihm. Er war spindeldürr und so blass, dass die Adern unter seiner Haut durchschimmerten. Als sie näher kam, hob er den Blick, stand auf und gab ihr seine eiskalte, zitternde Hand.
«Vielen Dank, dass Sie sich mit mir treffen, Peter. Ich weiß das sehr zu schätzen», sagte sie warmherzig, während sie sich setzten. «Mir liegt sehr daran, nichts Falsches zu schreiben – dem Baby zuliebe.»
Sie hatte die richtige Saite angeschlagen. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und er senkte den Blick.
«Es war so winzig. Fast gar nicht da in dem ganzen Dreck», murmelte er. «Ich wusste nicht, was es ist. Dann habe ich gesehen …»