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Walther Kabels 'Die Wolkenkönigin' ist ein fesselnder Abenteuerroman, der die Leser in eine fantastische Welt entführt. Das Buch erzählt die Geschichte von einem tapferen Abenteurer, der sich auf die Suche nach der legendären Wolkenkönigin begibt, um sein Volk vor einer drohenden Gefahr zu retten. Kabels Schreibstil ist packend und voller bildhafter Beschreibungen, die die Leser in die Welt der Wolkenkönigin eintauchen lassen. Der Roman hebt sich durch seine innovativen Ideen und unerwarteten Wendungen von anderen Abenteuergeschichten ab und bietet ein einzigartiges Leseerlebnis. Walther Kabel zeigt sein Talent als Geschichtenerzähler und entführt die Leser in eine atemberaubende Welt voller Magie und Abenteuer.
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Seitenzahl: 1287
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Books
Im fernen Asien, – dort, wo das Wunderland Indien mit seinen phantastischen Prachtbauten und seinen tausend Geheimnissen einer uralten Kultur sich zu den Füßen der gewaltigen Bergketten des Himalaya gen Süden erstreckt bis hinab zu der Zauberinsel Ceylon, – dort, wo des Himalaya schneegekrönte Riesenhäupter sich dem Himmel entgegenrecken, – dort wars, wo das Unerhörte, Unfaßbare begann …
Die Mächtigen der Erde, die Lenker der Geschicke all der zahllosen Völker der Welt, hatten mehr denn je ihr ganzes Sinnen und Trachten auf freventlichen Kampf um Erweiterung ihrer Machtbereiche eingestellt …
Ein neuer Kampf aller gegen alle drohte … Die Erde schien wieder nach Blut zu lechzen … Haß, Neid, Rachsucht zerfleischten die Herzen der Menschen. Das, was dem Einzelnen bisher einen moralischen Halt gegeben, war ins Wanken geraten oder kläglich zusammengestürzt. Halb unbewußt ging da durch die Seelen der Millionen und Abermillionen von Erdenbewohnern eine tiefe, tiefe Sehnsucht nach dem großen Wunder – nach etwas, wofür niemand ein treffendes Wort zu finden vermochte. Aber – dieses Sehnen war da, wurde am stärksten empfunden von wenigen Auserlesenen …
Das Wunder kam …
Über den Schneefeldern der unzugänglichen Himalayakette zeigte sich, thronend auf zarten Wolkengebilden … die Wolkenkönigin …
Die Kunde hiervon flog von Land zu Land …
Die Auserlesenen sammelten sich …
Die Gewaltigen der Erde, die ehrgeizigen Spieler im Riesensaal politischen Intrigenhazards, – sie begannen das Wunder zu fürchten.
Und zart wie die Wolken, auf denen die neue Göttin thronte, spann sich die Liebe zwischen zwei Menschen, denen es vergönnt war, einzudringen in die tiefsten Geheimnisse der Eiswüsten jener fernen asiatischen Gebirgswelt …
Unerhörtes, Unfaßbares geschah … – Hoffnung erfüllte die Herzen der Völker. Eine neue Zeit schien zu dämmern … Bis – – all das Herrliche durch menschliche Schuld wieder in Nichts zerfloß, bis das Land der Seligen wieder erstarrte in Nacht und Eis …
Nur eins blieb: die Liebe, die hehre, große, selbstlose Liebe der beiden Erwählten …
Nur … die Liebe blieb …
Der Nachtzug Haidarabad-Dschaipur lief in den Bahnhof des Städtchens Balmir ein. Drei strahlende Riesenkugeln bewegte der Regenwind an ihren Masten träge hin und her. Auf dem Bahnsteig warteten nur wenige Reisende; ein paar englische Offiziere, zwei hochgewachsene Brahmanen, vier Europäer in langen Gummimänteln und ärmeres eingeborenes Volk für die billigste Wagenklasse.
Im Schatten eines der Masten der Bogenlampen stand ein schlanker Mensch in graugrünem Sportanzug, eine kleine Reisetasche in der Linken. Diese Bogenlampe war nicht eingeschaltet. Wenn ihre Nachbarin ein wenig stärker pendelte, traf der Lichtschein doch zuweilen das bartlose, hagere, leicht gelblichbraune Gesicht dieses Reisenden, der Grund zu haben schien, erst im letzten Augenblick den Zug zu besteigen.
Der Mann ahnte nicht, daß er beobachtet wurde.
Links von ihm hinter einem Wellblechhäuschen duckte sich ein anderer Mann in das Dunkel hinein: klein, mager, langer Kopf, vorgebautes Kinn, dicke blonde Brauen, darunter halb zugekniffene Augen, kurze Nase, bartlos. – Er hatte den Kragen der Ölpelerine hochgeschlagen, trat nervös von einem Fuß auf den anderen, murmelte im Selbstgespräch: „Verdammt, – was das Weib nur von ihm will!! Seit gestern ist sie hinter ihm drein …“
Und hinter dem Mann im Sportanzug, dem der feine Sprühregen nur angenehm war mit seinen die Aussicht hindernden Schleiern, lehnte wieder im Schatten eines Pfeilers der Vorhalle eine Frau, von der nichts zu sehen war als der seidene Regenmantel, der weiche schwarze Lackhut, darunter ein dicker Knoten blonder Haare, über den hinweg ein weißer Schleier sich bis zum Kinn hinab zog. Vor der Frau stand ein einfacher Koffer. Sie verhielt sich ganz regungslos. Ihre Augen hafteten wie gebannt auf der Gestalt dessen, der vielleicht dorthin unterwegs war, wo ihre einzige Sehnsucht weilte.
Die Bremsen des Zuges kreischten. Braune Schaffner öffneten faul die Türen. Die Wartenden verschwanden in den Wagen.
Hinten am Zuge befanden sich die beiden Schlafwagen.
Der Mann im Sportanzug bestieg den einen, reichte dem Beamten ein Trinkgeld, sprach einige Worte. Ein Abteil mit tadellos weißem Bett nahm den Mann auf. Ihm folgte der andere im Ölumhang. Auch er flüsterte etwas, zeigte dem Schaffner eine zerdrückte, abgerissene Karte, auf der links ein kleines Lichtbild aufgeklebt war. Der Beamte dienerte sofort unterwürfig.
„Sehr wohl, Herr Inspektor. Also das Abteil nebenbei. – Bitte.“
Auch dieser Mann zog hinter sich die Tür zu, war allein.
Als letzte betrat die Frau den Wagen. Abermals erhaschte der Schaffner ein Trinkgeld. Und die Frau erhielt die Kabine links neben dem Gelbbraunen. Sie setzte ihren Koffer ab, stellte sich an das Gangfenster.
Der Zug glitt weiter – schneller und schneller, hinein in die Ebenen, Dschungel, Wälder und Klüfte Radschputanas.
Eine Laderampe flog vorüber. Zahme Elefanten beluden bei elektrischem Licht Plattformwagen mit schweren Stämmen, trugen das Holz in den gewickelten Rüsseln, bewegten sich gravitätisch, folgten jedem Wink des zwischen den Riesenohren hockenden Mahuts.
Das Bild verschwand. Der Zug durchbrauste ein Tal. Ein Eingeborenendorf, von Dornenverhauen gegen Tiger und Panther umgeben, tauchte auf. Vor den Hütten flackerten Feuer. Dunkle Gestalten drehten sich auf einem freien Platz im Reigen. Vielleicht ein Dorffest …
Wieder dunkle Nacht. Und die Frau starrte geradeaus, ließ den Zugwind ihr Gesicht kühlen. – Ach – diese Jagd regte sie noch immer auf … Gestern hatte sie die Spur verloren. Dann in Haidarabad erkannte sie ihn wieder trotz des gefärbten Gesichts. – Welche Angst hatte sie ausgestanden, ihn vielleicht gerade hier in Indien aus den Augen zu verlieren – gerade hier.
Abermals ein Dorf. Dicht an den Bahndamm schmiegte es sich an. Der Tiger fürchtete den Schienenweg, auf dem fauchende Ungetüme so und so oft vorüberrasten. Auch hier lodernde Feuer, Tänze … Doch wohl irgend ein Fest zu Ehren einer der vielen Hindugottheiten, dachte die Frau.
Sie starrte in die nächtliche Landschaft hinaus. Aber nur ihre Augen nahmen die verschwommenen Bilder auf. Sie hörte nicht das schnell verhallende Brüllen eines jagenden Tigers, nicht das Gekreisch einer aufgescheuchten Affenherde, nicht das dumpfe Quaken der Riesenfrösche in einem nahen Sumpf. Ihre Ohren lauschten auf das kleinste Geräusch, das aus der schmalen Kabine links von ihr hervordrang.
Wenig wars, was sie hörte. Das Rollen der Räder, das feine Klirren der Scheiben verschluckte zu viel von dem, was vielleicht der Mann dort jetzt trieb.
Nur einmal vernahm sie das Schnappen eines Schlosses. Es mußte das der Handtasche des Gelbbraunen gewesen sein.
Wenn sie nur wüßte, ob er das Bett wirklich benutzen würde, ob er sich entkleidete, unter das engmaschige Netz schlüpfte …
Er war ja so schlau … Er könnte auf der nächsten Station wieder aussteigen, während sie vielleicht zu schlafen wagte.
Und – sie war müde, so müde. Die erschlaffende Hitze Indiens hatte in wenigen Tagen den Rest ihrer Kraft fast aufgebraucht. Und die Aufregungen dieser Verfolgung, diese stete Furcht, er könne ihr entschlüpfen und sie könnte dann nie mehr finden, was sie suchte, – diese flackernde Furcht machte sie noch matter, noch elender.
Aber – sie durfte nicht schwach, mutlos werden! Sie ahnte, daß das Ziel nahe – dieses Ziel, das sie nicht kannte, von dem sie nur so wenig wußte.
Nein – nicht schwach werden – nicht an schlafen denken!
Und hastig betrat sie ihre Kabine, schob die Tür zu, stellte den Koffer auf den Schemel, entnahm ihm ein kleines Kästchen. In ihrer Rechten funkelte eine winzige Spritze. Sie schob den linken Ärmel des Mantels hoch. Die Nadel der Spritze drang in die weiße Haut ein. Das Gift, das köstliche, trügerische Gift teilte sich dem Körper mit, gab neue Spannkraft.
Und wieder stand sie im Gang und lauschte. Stunden rannen hinweg, – wie der Weg, den der Zug zurücklegte – schnell, unaufhaltsam, schnell für die Frau, deren Gedanken nur dort in jenem Abteil weilten.
Daß gerade sie hinter ihm her, ahnte er nicht. Wie sollte er auch?!
Dann ein Gedanke: Wie unvorsichtig, daß sie hier im Gang blieb! Wenn er jetzt die Tür öffnete, heraustrat, wenn er sie ansprach, wenn sein Argwohn rege wurde …!
Sie huschte hinweg. Ihre Kabinentür schnappte ins Schloß. Sie stand und dachte: „Wie unvorsichtig! – Daran war die Abspannung schuld! Nun bin ich wieder frisch …!“
Ihre Augen glitten über das Bett hinweg auf die polierte Holzwand zu, die die beiden Kabinen trennte. Sie prüfte diese Wand. Gewißheit wollte sie haben. Der Schlaf tat ihr so not … Vielleicht hatte er sich niedergelegt. Dann dürfte auch sie es wagen.
Sie öffnete den Mantel. Darunter trug sie ein Lodenkostüm, ganz dünner Stoff; dazu eine unscheinbare grauseidene Bluse.
Sie knöpfte die halblange Jacke auf. An der linken Seite des Gürtels hing an zwei silbernen Kettchen ein kurzes, breites Dolchmesser in reichverzierter Scheide. Sie nahm es in die Rechte – kniete auf dem Bett. Und in geduldiger, lautloser Arbeit entstand in dem polierten Holz ein winziges Loch.
Jetzt brachte sie das rechte Auge an die kleine Öffnung.
Und was sie sah, machte sie stutzig. Ihr Gesicht nahm einen unsicheren Ausdruck an …
Der Gelbbraune hatte zum Fenster seiner Kabine hinausgeblickt, als der Mann in der dünnen Ölpelerine hastig in den Wagen sprang. Das Licht des Vorraumes hatte den kleinen Mageren hell genug beschienen. Und da war der im Sportanzug zusammengezuckt, schnell vom Fenster zurückgetreten, hatte Sekunden in finsterem Nachdenken dagestanden und dann ganz vorsichtig die Tür seiner Kabine handbreit aufgeschoben, gelauscht …
„Sehr wohl, Herr Inspektor …!“
Noch jetzt hörte der Gelbbraune diese Worte, noch jetzt das ärgerliche: „Leise, – verdammt! – Leise …!“
Er wußte Bescheid. Einer der Meute war hinter ihm, seit er die alte Radschaburg droben im Lande seiner Väter verlassen hatte. Er kannte diesen Hageren flüchtig vom Ansehen; Händler wollte der sein, wie man ihm mitgeteilt hatte …
Er wußte jetzt Bescheid … –
Drüben im Westen zitterte ein Inselvolk vor dem geheimen, unheimlichen Raunen, das durch die zahllosen Millionen Indiens ging. Sie mochten dieses Raunen deuten, ergründen. Und – sie verstanden’s; wie sie alles konnten – alles; wie sie die ganze Welt beherrschten … –
Er setzte sich auf den Bettrand und sann. Stunden rannen dahin …
Er zog die flache, goldene Kapseluhr. Der Deckel sprang. Die Brillanten darauf sprühten. Und die Zeiger kündeten die zweite Morgenstunde.
Es wurde Zeit …
Er entnahm der Reisetasche einen Revolver, entsicherte ihn, schob ihn in die rechte Rocktasche; holte einen jener Gummimäntel hervor, die sich zu einer winzigen Rolle zusammenwickeln lassen. Dann griff er unter das Futter des Bodens, das ein wenig losgetreten war. Ein zackiger Stern aus Elfenbein war hier verborgen, eingehüllt in den Fetzen eines kostbaren Schals.
Er hielt den Stern gegen das Licht. Die Zacken waren kurz; in dem Mittelkreis befand sich ein kleines Bild: eine auf Wolken thronende Göttin, im blonden Haar eine schillernde Krone aus Diamanten, die vorn in eine wie segnend ausgestreckte Hand auslief. – Winzige Brillanten waren in das Elfenbein überall da eingelassen, wo die Wolkenkönigin sie als Schmuck trug. Das Bildchen gleißte und glitzerte. Und über das ernste Gesicht des Mannes huschte es hin wie Verzückung; seine Augen wurden weich, träumerisch, sehnsuchtsvoll. –
Er barg den Stern in einem Ledersäckchen auf der Brust. Dann flog die Handtasche mit dem übrigen nichtssagenden Inhalt zum Fenster hinaus.
Und wieder schaute er nach der Zeit.
Ah – noch drei Minuten. – Er mußte genau achtgeben. Sonst fand er in der Dunkelheit den Weg nicht, den er erst zweimal zurückgelegt bisher.
Er blickte nach der Notbremse hinüber. Nahm unter dem Rock einen langen Dolch hervor, durchschnitt den dünnen Draht, der den Hebel der Bremse in der Ruhelage hielt.
Er zählte langsam; – sechzig, – wieder sechzig, – nochmals.
Dann ein Griff. Der Hebel flog herum. Sofort das gellende Kreischen der Bremsklötze. – Im Nu hatte er den dünnen Mantel übergezogen, schaltete die Deckenlampe aus, stellte sich dicht an das offene Fenster.
Jetzt stand der Zug; jetzt ein Sprung – ein paar Sätze – und der Urwald, die Wildnis, nahm ihn schützend auf.
Inspektor Stuart Burne von der politischen Polizei saß auf dem Bettrand seiner Kabine und feuchtete einen kleinen Holzbohrer mit Speichel an.
Geräuschlos entstand ein kleines Loch nach der Nebenkabine hin. Burne blickte hindurch, nickte lächelnd.
Ah – seine Hoheit war nicht zu Bett gegangen; seine Hoheit saß wie er nur auf dem Bettrand. –
Stuart Burne war nicht ohne Grund hinter dem einzigen Mann dreingehetzt worden, von dem man mit Sicherheit wußte, daß er während der letzten Monate zu irgend einem geheimen Zweck zweimal für eine Woche aus seiner Residenz verschwunden war. Wohin – niemand wußte es bisher. Aber – man mußte es wissen! Denn – es ging irgend etwas vor in Indien – irgend etwas! Und wenn diese Millionen von braunen Fanatikern erst einmal der Freiheitstaumel gepackt hatte, wenn diese Millionen urplötzlich einen Kampf begannen, wie ihn vor einigen siebzig Jahren die unselige Einführung des Enfieldgewehres und dessen mit Rindertalg und Schweineschmalz eingeriebene Patronen bei den eingeborenen Truppen aufflammen ließ, dann würde nicht ein Engländer lebend dieses Land verlassen …
Dieser Kampf würde anders sein, als der, den damals Nena Sahib leitete. Heute würden ungezählte gebildete Hindu und Mohammedaner sich finden, die nicht nur die Glut des Hasses zu alles vernichtenden Flammen zu schüren wüßten, – nein, die es von den Europäern auch längst gelernt hatten, wie man diese Millionen willenloser Leiber lenkte und zur alles Fremde hinwegfegenden Woge formte. –
Ein Raunen ging hier durch die zweihundert Millionen Menschen, die in dumpfem Hoffen auf den Sieg ihrer Rasse über die verhaßten Weißen dahinvegetierten.
Und nie war die Zeit günstiger für eine solche Sturmflut wilder Freiheitsbegeisterung gewesen als jetzt, wo die ganze Welt noch siech war nach dem fast fünfjährigen Morden auf den Schlachtfeldern Europas, wo selbst die Sieger sich krampfhaft bemühen mußten, ihre wankenden Staatskörper zu stützen, wo der bis zum Wahnsinn gesteigerte Haß der triumphierenden Übermacht auch jetzt nach vier Jahren sich noch immer nicht genug tun konnte mit raffiniert ausgeklügelten Demütigungen der Unterlegenen und mit schlecht verhehlten, von Angst diktierten neuen Unterdrückungen.
Brach hier in Indien ein neuer Weltbrand aus, dann sprang das Feuer sofort auch auf Mitteleuropa über, wo die ohnmächtige Wut von weiteren achtzig Millionen nur auf den Moment lauerte, die schlau ersonnenen Ketten zu sprengen.
Deshalb hieß es wachsam sein – stets, überall! Deshalb mußte dieses geheimnisvolle Raunen, das hier wie ein Zug unsichtbarer Vögel mit seltsamen Stimmen einer neuen Verheißung über die Lande flatterte, dieses Raunen von einer Gottheit, die alle Völker unter ihrer segnenden Hand vereinigen würde, zum Schweigen gebracht und die, die es in richtiger Einschätzung der Empfänglichkeit der indischen Völker für neue religiöse Offenbarungen künstlich hervorgerufen hatten, rechtzeitig stumm gemacht werden …
Stuart Burne sah jetzt den Elfenbeinstern blinken, sah den Ausdruck verzückter Sehnsucht auf dem edelgeschnittenen Antlitz des Mannes, der von Millionen geliebt und verehrt wurde, der als erster sich seiner Reichtümer entäußert hatte zum Wohle der Darbenden.
Stuart Burne sah noch mehr, eine helle Stelle, ein Fleckchen mit krausem Rande drüben im polierten Holz der anderen Wand.
Und er lächelte wieder, entblößte das Gebiß einer Bulldogge dabei, schob den Unterkiefer triumphierend vor.
Die Frau drüben in der dritten Kabine schien den gleichen Pfad zu wandeln. Nun wußte er es bestimmt; ganz bestimmt. – Nur – weshalb dieses Interesse für Mahadur Mirat, den Radscha des Berglandes Gohdwura, – weshalb?!
Stuart Burnes Lippen preßten sich zusammen. – Ob man ihm allein nicht zutraute, das Geheimnis zu ergründen, wohin Mahadur Mirat unter so viel Vorsichtsmaßregeln jetzt zum dritten Male seine Schritte lenkte?!
Ob die hohen Herren es für ratsam gehalten hatten, noch ein Weib zu Hilfe zu nehmen?!
Burne kniff die Augen zu Schlitzen, sann nach. – Wer konnte die Frau sein? Er kannte doch alle Geheimagentinnen der politischen Abteilung. Gestern hatte er in Haidarabad diese Frau unverschleiert gesehen. Sie war ihm eine völlig neue Gestalt.
Aber – sie war ihm auch sofort beachtenswert erschienen. Nicht nur, weil sie den Radscha von Gohdwura nicht aus den Augen ließ. Nein – sie hatte ihm als Mann gefallen, mehr noch, ihre eigenartige Schönheit, diese Schwermut, ausgegossen über holde Züge, hatte sofort seine nur zu leicht aufflackernden Sinne erregt. Er war ja Frauenkenner, war ein Feinschmecker. Blonde Weiber mit so großen, dunklen Rätselaugen, mit so leuchtend roten Lippen, mit dieser etwas kurzen vollen Oberlippe und so schmalem Nasenrücken schätzte er als Vulkane, die jeden Augenblick lodernde Gluten verbreiten können.
Die Weiber – Stuart Burnes einzige Schwäche! Er rauchte nicht, er trank nicht, spielte nicht, wettete nicht. Er war nur Kriminalinspektor, nur, – falls er nicht gerade das Unglück hatte, einer zu begegnen, die seine rege Phantasie zum Arbeiten brachte. Er spielte gern mit lüsternen Gedanken. Sie hatten ihm schon viel Ärger bereitet, die Weiber und diese Gedanken … –
Stuart Burne schrak zusammen. Verdammt! Schon wieder auf Abwegen, schon wieder dieses verteufelte Prickeln in den Nerven …
Die Bremsen des Zuges mit ihren mißtönenden Lauten hatten ihn aufgerüttelt.
Was bedeutete dieses Halten mitten im Urwald? Vielleicht ein Baumriese über den Schienen? Vielleicht eine heißgelaufene Achse?
Er öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus, stutzte.
Eine Frauengestalt bog gerade um den letzten Wagen des Zuges, glitt tief gebückt den Bahndamm hinab.
Burne sprang nach dem vorhin gebohrten Löchlein.
Ah – die Nebenkabine dunkel …
Er begriff; ließ seinen Handkoffer zurück, riß die Tür auf, fand im Gang ein Fenster offen, zwängte sich hindurch …
Der junge Radscha fühlte sich ganz sicher. Einen kurzen Blick noch nach dem Zug hin, nach der Lokomotive, wo ein paar Beamte sich gegenseitig schlaftrunken anbrüllten. Dann bog er in den schmalen Waldpfad ein.
Eine gute Vorbedeutung. Der Mond trat hinter den Wolken hervor; der Regen ließ nach. Milde Helle schimmerte durch die Laubkronen des schnell lichter werdenden Urwaldes. Hügelige Steppe begann. Mannshohe Gräser säuselten im Nachtwind. Einzelne Bäume lagen wie schwarze Klexe über dem Rand des Grasmeeres.
Der Pfad lief jetzt schnurgerade weiter. Dann senkte er sich. Sumpf begann. Eine primitive Hängebrücke aus dicken Baststricken schwankte unter dem einsamen Wanderer hin und her. Ein morastiges Flüßchen hauchte da unten Fieberdünste aus. Träge zog ein Krokodil im Wasser dahin, warf kleine Wellen auf, die der Mond in Silberfischchen verwandelte. Ein wilder Büffel wälzte sich im Schlamm. Wasservögel kreischten, schrien auf.
Der Pfad hob sich wieder, durchschnitt einen Dschungelgürtel. Eine Lichtung öffnete sich. Dort rechts die dicken Dornenverhaue eines Dorfes, des letzten, bevor die menschenleere Einöde begann.
Abermals der Urwald mit der feuchtwarmen, stickigen Luft. Dschungelgras, Gestrüpp, Dornendickicht ringsum wie Mauern. – Der Pfad teilte sich oft. Dann blieb der Radscha stehen, suchte nach den geheimen Marken am nächsten Baume, nach dem in die Stämme eingebohrten Ast einer anderen Baumart, der die Richtung wies.
Er eilte dahin, ohne sich umzublicken. Niemand begegnete ihm. Nur Getier huschte zuweilen über den Weg, schlanke, geschmeidige Schlangenbeißer, die so zahm werden wie Hunde, Stachelratten, auch einmal ein Rudel lärmender Wildschweine. –
Zwanzig Schritt hinter ihm, zuweilen noch näher, hielt sich die Frau im dunklen Seidenmantel. Zuerst war sie ängstlicher mehr zurück gewesen. Jetzt hatte sie gemerkt, daß der, der doch der Richtige war, der es sein mußte trotz allem, hier vor Verfolgern sich sicher wähnte.
Die Wirkung des trügerischen Giftes dauerte noch an. Die Frau kannte keine Furcht. Wer das bereits mit zwanzig Jahren durchgemacht, was ihr ein höhnisches Geschick auf die schwachen Schultern geladen hatte, scheute nicht die Nacht mit ihren Schrecken, belächelte die, die in ihren Weiberröcken vor jeder Spinne aufkreischen.
Wenn der, dem sie sich an die Fersen geheftet hatte, halt machte und die Bäume betastete, duckte sie sich auf der Schattenseite des Pfades zusammen, verschmolz mit dem ungewissen Dunkel in eins.
Und hinter ihr wieder der dritte; einer, der es verstand, unbemerkt zu bleiben; der bereits in Gedanken die Mühe von Monaten in dieser Nacht gekrönt sah.
Stuart Burne ließ sich Zeit. Oft war er fünfzig Meter hinter der Frau; oft entschwand sie seinen Blicken. Er wußte, daß die beiden da vor ihm denselben Weg hatten, und daß der Radscha an den Kreuzungen die Bäume nach Zweigen absuchte, wußte jetzt, was diese Zweige bedeuteten, die nicht zu den Bäumen gehörten. –
Abermals Grassteppe.
Eine Herde Tschikara-Antilopen raste über den Pfad. In der Ferne kläfften Hunde, leuchtete flackernder Schein.
Der Radscha stand regungslos. Stand und sah den breiten, neuen Pfad, den Elefanten, Menschen, Pferde hier in das Gras gestampft hatten. Und er folgte dieser Bahn, die auf die flackernden Lichter dort drüben zulief.
Bald hatte er ein Dutzend Zelte vor sich. Jene großen, doppelwandigen, eleganten Wohnzelte der hohen indischen Kolonialbeamten, die mit ihrer Badeeinrichtung, ihren Ventilatoren – mit ihrer ganzen sinnreichen Ausstattung jedes Hotel ersetzen.
Er sah die Jagdelefanten mit pendelnden Rüsseln dastehen, sah auf Pfählen die Köpfe erlegten Steppenwildes, darunter die Ameisenhaufen, deren Bewohner die Schädel in kurzem so sauber benagen und kein Knöchlein beschädigen.
Ein Jagdlager also …
Er atmete erleichtert auf, eilte zurück, eilte an zwei Gestalten vorüber, die dicht in das Gras geschmiegt ihn vorüberließen.
Die eine Gestalt richtete sich auf, wollte wieder hin nach dem schmalen Wildpfad, wollte …
Stuart Burne jubelte. Das Jagdlager kam ihm wie gerufen. Allein für ihn wärs ein böses Wagnis gewesen, den Radscha und die, die sich hier irgendwo zusammenfanden zu dunklem Treiben, zu überraschen.
Die Frau prallte zurück, als Burne ihr den Weg vertrat.
„Folgen Sie mir!“ befahl er kurz. „Wir werden gemeinsam weiter arbeiten.“
Die Frau zögerte.
„Wer sind Sie?“ fragte sie unsicher.
„Kriminalinspektor Burne. Und – auch hinter dem Radscha von Gohdwura drein – wie Sie, Miß. – Kommen Sie. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir finden dort Verbündete. Jeder Engländer wird mein Verbündeter, wenn er meinen Ausweis sieht.“
Die Frau zögerte noch immer. Als Burne den Radscha erwähnte, hatte sie wie abwehrend die Hände erhoben. Jetzt senkte sie hilflos, verzweifelt den Kopf.
„Ich … ich suche …“ – sie wollte fortfahren … „keinen indischen Radscha …“
Aber Burne fiel ihr schon ins Wort. „Ich weiß Bescheid. Sie suchen wie ich den Ort, wo diese braune Bande Märchen wie das von der neuen Göttin über den Wolken ersinnt, um Unruhe ins Volk zu tragen. – Vorwärts! Sie sind natürlich eine Geheimagentin. Wahrscheinlich von der Sektion Bhagalkur. Dort bin ich wenig bekannt.“
Sie schritt wie im Traum neben ihm.
In ihrem Innern nur eine verzweifelte Stimme: „Du bist umsonst all die Monate über Meere und Länder geeilt – umsonst! Du hast die Spur verloren! Du bist von Haidarabad ab einem Falschen gefolgt! Eine Ähnlichkeit hat dich genarrt!“
„Wie heißen Sie, Miß?“
Da kam sie zu sich. Und da wurde auch sofort ein neuer Gedanke in ihr lebendig: Dieser Mann sprach soeben von einer neuen Göttin über den Wolken! – Und – in ihrer Brust bewahrte sie ein Geheimnis, das sie bisher niemandem anvertraut hatte, selbst dem nicht, der ihr nun doch entgangen war, – eines der merkwürdigsten Geheimnisse, das es je gegeben, das keines Menschen Phantasie sich ersinnen konnte und das vielleicht daher auch etwas Wahres hinter sich haben mußte.
Göttin über den Wolken!
Und auch der Mann in der Nebenkabine, der nun ein Radscha sein sollte, hatte ein Elfenbeinbildchen in der Hand gehalten, – genau das Bild jener Königin, von der ein Toter einer lebenden Maschine einst Wunderdinge berichtete.
Ganz plötzlich wurde es der Frau jetzt klar! Hier bestanden Zusammenhänge zwischen ihrem Geheimnis, diesem Radscha und dem Elfenbeinstern, die sie ergründen mußte! Hier galt es, etwas zu schützen, was ihr selbst als Vermächtnis eines in weher Sehnsucht Dahingegangenen heilig war.
Blitzschnell war all das durch ihr Hirn gejagt.
„Ich heiße Hella Dörcksen,“ sagte sie ruhig. Es war die Wahrheit. Aber dann folgten die Lügen: „Sie haben recht. Ich bin Geheimagentin. Doch nicht staatlich angestellt. Ich handele im Auftrag eines großen Syndikats, das an der Erhaltung des jetzigen Zustandes hier in Indien mindestens ebensoviel Interesse hat, wie die Regierung selbst.“
„Ah – ich verstehe. – Wohl das neue Platinsyndikat?“
„Vielleicht.“
„Ich höre es Ihrem Englisch an, Miß Dörcksen, – Sie sind Deutsche.“
„Nein – Norwegerin.“
Hunde kamen den beiden entgegengestürmt, Bestien, die noch abends das frische Blut einer Antilope geleckt hatten, die halb toll waren vor Mordgier nach diesen ersten Jagdtagen.
Burne stellte sich schützend vor Hella Dörcksen, zog den Revolver, schoß vor der Meute in die Erde.
Ein riesiger Köter, Kreuzung von russischem Steppenhund und Dogge, sprang den Inspektor blitzschnell an. So unvermutet geschah’s, daß der nicht mehr zum Schuß kam.
Da – neben ihm ein Feuerstrahl, dicht an seiner Wange vorbei.
Hella hatte gefeuert. Mit Kopfschuß sank der Hund, von Burnes Faust zurückgeworfen, zu Boden.
Hindudiener eilten herbei, Soldaten folgten. Das Lager erwachte. – Fackeln flackerten auf. Befehlende Stimmen durchkreuzten den Lärm.
Hella und Burne standen inmitten einer aufgeregten Menge, wurden vorwärtsgeschoben, halb gestoßen, bis vor das große Zelt.
Dort wartete bereits ein großer, schlanker Mann mit grauem Spitzbart. In der Eile hatte er einen hellen Staubmantel übergezogen. Seine harten, tiefliegenden Augen musterten den von dem rötlichen Licht der Fackeln in wachsender Helle phantastisch bestrahlten Menschenhaufen und die beiden Fremden, die man willenlos vor ihn drängte.
„Diebsgesindel …! Den besten Hund haben sie erschossen,“ gröhlte ein Riese von farbigem Unteroffizier, auf dessen offenem Rock die Gedenkmünzen heißer Kämpfe zu Ehren des großen Inselvolkes klirrten. Er konnte sich schon ein offenes Wort vor seinem Oberst erlauben, der Unteroffizier Chassim Marattu.
„Wer sich nachts so allein in der Wildnis herumdrückt, hat kein gutes Gewissen,“ fügte er hinzu.
Oberst Jaffersons befehlende Handbewegung genügte. Die Menge teilte sich, wurde zum Halbkreis. Und Hella und Burne waren die Bedränger los.
Stewart Burne verbeugte sich, lächelte ein wenig selbstbewußt, reichte dem Oberst das abgerissene Papier mit dem kleinen Lichtbild und der eigenhändigen Unterschriften des Vizekönigs von Indien.
Howard Jafferson winkte einen Fackelträger heran, hob den Ausweis gegen die Lichtquelle.
Sein Gesicht veränderte sich. Er streckte Burne mit ein paar Worten der Entschuldigung die Hand hin. Und der Inspektor beeilte sich als Gentleman, Hella Dörcksen dem Oberst vorzustellen.
Geheimagentin …! – Jaffersons Verbeugung vor der Verschleierten fiel etwas knapp aus. – Nur eine Detektivin! Ein Beruf, den eine Dame kaum wählt …!
Dann schob er den Zeltvorhang zurück. Ein einladender Wink mit der schmalen, leicht gebräunten Hand.
Burne sagte zu Hella: „Bitte, Miß Dörcksen.“
Und die drei verschwanden nun im Innern des Riesenzeltes. –
In dessen Arbeits- und Empfangsraum standen zierliche Bambusmöbel. Auf dicken Linoleumplatten lag ein kostbarer Perser. Eine Karbidkrone mit drei Flammen verbreitete weißes, ruhiges Licht.
Hella und Burne saßen in bequemen Sesseln neben dem Mitteltisch. Der Oberst hatte sich zwanglos an den Schreibsekretär gelehnt. Der Inspektor begann leise:
„Hier haben die Wände zu leicht Ohren, Herr Oberst. Bitte, vielleicht entfernen Sie die Dienerschaft. Es handelt sich um sehr wichtige Dinge.“
Jafferson griff neben sich, schwang eine kleine Glocke. Im Nu erschien ein dunkelbrauner älterer Hindu.
„Gudschra, niemand bleibt im Zelt. Ich brauche euch vorläufig nicht.“
Der Hindu verneigte sich mit über der Brust gekreuzten Armen und huschte hinaus.
„Bitte, sprechen Sie, Herr Inspektor,“ meinte der Oberst.
Stuart Burne erklärte, weshalb er und Hella hinter dem Radscha von Gohdwura her waren. Jaffersons Mienen wurden reger.
„Ah, – die Göttin über den Wolken,“ sagte er ebenso leise wie Burne gesprochen hatte. „Auch in meinem Regiment erzählen sich die Leute viel von dieser auf Wolken thronenden neuen Gottheit, die zuweilen besonders Erwählten am Himmel sichtbar werden soll. – Ganz recht, Herr Inspektor“ – und sein Gesicht wurde drohend – „natürlich alles nur ein schlauer neuartiger Trick unserer Ruhestörer zur Beeinflussung der Volksseele.“
Hella Dörcksen dachte: „Ihr mißtrauischen Toren! Ich weiß jetzt besser als ihr, daß hier wohl ein Geheimnis, aber kein klug berechneter Schwindel vorliegt.“ Und weiter dachte sie wieder wie vorhin: „Ich werde die schützen, denen die Königin über den Wolken heilig ist wie auch mir.“
Jafferson flüsterte lebhafter: „Gut, Master Burne, es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen zu helfen. Ich habe fünfzig meiner besten Leute als Treiber hier. Morgen wollen wir einen Tiger einkreisen …!“ Seine Lippen zogen sich schmal, drohten denen, die die zweihundert Millionen farbiger Leiber hier zu einem gefügigen Ganzen einen wollten.
Dann zu Hella: „Miß, darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten? – Sind Sie wirklich Beauftragte des Platinsyndikats? Ich meine, Sie können doch getrost zu uns volles Vertrauen haben.“
Und er suchte den dichten weißen Schleier, der jetzt bis zum Munde aus Höflichkeit hochgeschoben war, mit den Blicken zu durchdringen. – Was verbarg sich dahinter? Ein häßliches oder alltägliches Antlitz?
Hella hörte etwas wie Mißtrauen aus Jaffersons Worten heraus. – Nur das nicht – nur nicht Argwohn erregen! Dann war sie verloren. Fragte man sie nach irgend einem Papier, das ihre Mission bei dem Platinsyndikat – den Namen kannte sie bisher nicht einmal! – bestätigen sollte, so würde man sie hier festhalten, bis alles geklärt war. Der Inspektor würde dann dafür sorgen, daß er erfuhr, wen er eigentlich vor sich hatte.
Langsam hob sie mit beiden Händen den Schleier bis in die Stirn, schaute Jafferson voll an.
„Gewiß, Herr Oberst. Das Platinsyndikat bezahlt mich,“ sagte sie gelassen.
Jafferson hatte sich mit einem Ruck aufgerichtet, stotterte, ganz verwirrt von so viel eigenartigem Liebreiz:
„Ah, Miß Dörcksen, – das – das trifft sich gut. Sie werden dann Gelegenheit haben, hier meinen Freund Crosterbroux – Thomas Crosterbroux, den Generaldirektor – begrüßen zu können.“
Hella rann ein Eiseshauch über den Rücken. Aber – sie lächelte ganz wenig …
„Ich würde mich freuen, die persönliche Bekanntschaft Master Crosterbroux’ zu machen. Leider dürfte aber dazu kaum Zeit sein. Ich halte es für meine Pflicht, dem Radscha sofort wieder zu folgen. Ich darf seine Spur nicht verlieren. Master Burne wird mir recht geben, wenigstens muß einer von uns beiden unverzüglich aufbrechen. Und ich hätte keine Ruhe, wenn ich hier untätig …“
Sie schwieg. Und draußen Männerstimmen.
Und wieder ging ihr der eisige Hauch über den Leib.
Nun ein tiefer Baß vor dem Eingang:
„He – Jafferson, dürfen wir eintreten?“
„Ah – da ist Crosterbroux schon,“ meinte der Oberst.
Hella duckte sich zusammen. – Verloren! – Verloren! gellte eine Stimme in ihrem Innern. – Doch – nur einen Bruchteil von Sekunden die sinnverwirrende Bestürzung.
Der Oberst rief: „Bitte – nur herein …! Es gibt hier eine kleine, reizende Überraschung.“
Crosterbroux’ Ringkämpfergestalt mit dem bartlosen Gesicht eines alten Schauspielers trat ein. Hinter ihm Leutnant Sydney Baalk, Jaffersons Adjutant.
Hella hatte sich erhoben.
„Master Crosterbroux,“ sagte sie schnell. „Sie kennen mich, wenigstens dem Namen nach. Ich möchte Sie sofort für ein paar Minuten allein sprechen.“
Thomas Crosterbroux wurde so viel Schönheit gegenüber nur Kavalier. Hella war schon im Vorraum, winkte ihm. Er folgte ihr.
Der Platz draußen vor dem Zelt lag leer. Das Lager war wieder zur Ruhe gekommen.
Zwei Meter vor dem Zelteingang standen zwei eiserne Stangen, in deren Ringe je zwei Fackeln geklemmt waren. Träge zog der Qualm des brennenden Harzes dicht über der Erde hin.
Crosterbroux beugte sich zu Hella hinab.
„Miß, handelt es sich um etwas Geschäftliches?“ fragte er leise. Er war nun wieder er selbst geworden.
„Ja. – Doch – bitte bringen Sie mir einen Likör heraus. Ich fühle mich sehr matt … – es handelt sich um … um neue Platinfundstellen …“ Das letzte raunte sie ihm ins Ohr.
„Sofort, Miß, sofort …“ Er verschwand im Zelt.
Und Hella Dörcksen war mit einem Satz bei den Fackeln, riß zwei heraus, schleuderte die eine dicht vor den Zelteingang, halb unter den Vorhang von gummiertem Stoff. Sie wußte, verbrennen würden die Männer da drinnen nicht. Jedes Messer schaffte ihnen schnell einen Ausweg ins Freie. Aber – sie würde Zeit gewinnen …
Sie raffte die Röcke hoch, lief – die Lagergasse hindurch, an den Elefanten vorbei, den niedergetretenen Weg entlang – dem Dschungelpfade zu …
Sie hatte ihn erreicht. Bog nach rechts ein, blieb stehen, schaute sich um …
Wüster Lärm von dort, wo jetzt feurige Lohe haushoch emporzüngelte …
Sie lief weiter, die andere Fackel noch immer in der Rechten.
Schnurgerade ging hier der Wildpfad. Und hier hatte der leichte Regen nicht mehr die ausgedörrte Erde erquickt. Gräser, Sträucher hatten fahle, welke Spitzen.
Hinter der Fliehenden jetzt das Kläffen der Hunde. Sie schaute abermals zurück. Der Mond stand gerade über dem Pfad. Reiter kamen um die ferne Biegung; kleine Tierkörper rasten vor ihnen dahin; auch dort Fackellicht …
Der Weg stieg an. Einzelne Felsen traten auf. Das Dickicht wurde lichter. Und vor Hella jetzt eine Steppe, endlos weit, so recht geeignet, jemand zu hetzen …
Ein Felsblock stand dicht am Wege. Hella kletterte hinauf, hielt die Fackel hoch und prüfte die Windrichtung. Der Qualm zog dem Jagdlager, den Verfolgern zu.
Der rechte Arm des jungen Weibes fuhr nach hinten, schnellte vor. Die Fackel flog in ein ausgedörrtes Gestrüpp. Knisternd, zischend leckten Flämmchen hoch, vereinten sich, schossen höher, verneigten sich vor dem Wind, sprangen weiter wie tänzelnde Gnomen, dehnten sich in die Breite, wurden zum lohenden Gürtel.
Hella stand noch immer auf dem Felsblock. Die furchtbare Erregung der letzten Viertelstunde fiel plötzlich wie ein die klare Überlegung in jähen Wahnsinn verwandelndes Zaubergewand von ihr ab.
Was – was hatte sie getan …?! Brandstifterin …! Und jetzt noch – das Leben all der Jagdteilnehmer drüben war durch ihre Schuld von den Flammen des brennenden Dschungels bedroht …!
Ein Zittern überkam sie. Sie schwankte; vor ihren Augen wurde der lodernde Dschungel zu lauter rasend schnell sich drehenden Feuerrädern; das trügerische Gift der kleinen Spritze wirkte nicht mehr; matt glitt sie herab von dem rauhen Stein, lag nun regungslos im Gras.
Hinter einem zweiten Felsblock richtete sich die Gestalt eines Mannes auf. Es war der junge Radscha von Gohdwura. Er hatte die beiden Revolverschüsse gehört, die drüben im Jagdlager den Hunden gegolten hatten. Sein Mißtrauen war rege geworden. Mit aller Vorsicht hatte er sich dem Lager erneut genähert, hatte es beobachtet, war dann aber wieder davongeeilt, da er nichts entdeckte, was ihn beunruhigen konnte.
Aber gerade hier auf der Höhe des Pfades hatte er nochmals zurückgeblickt; hatte den Weg entlang, den er soeben gegangen, ein flackerndes rötliches Licht huschen gesehen, hatte dann ein Weib erkannt, eine Fackel in der Rechten, hatte den Lärm der Meute vernommen, weit hinten andere Fackeln bemerkt.
So wurde er Zeuge, wie die Frau den Dschungel anzündete.
Jetzt schritt er auf die Ohnmächtige zu, kniete nieder, hob ihren Kopf …
Das Mondlicht traf voll das blasse Gesicht Hella Dörcksens.
Des Fürsten Augen weiteten sich; wie eine Lähmung war dieses ungläubige Staunen; er starrte und starrte; wie eine Gruppe aus totem Stoff waren diese beiden Lebenden, die der lodernde Dschungel mit seinem Fackelschein hell bestrahlte. Nur die Blicke des jungen Radscha wechselten den Ausdruck. Denn seine Gedanken waren: „Eine Ähnlichkeit – nichts weiter!“ – So suchte er den Bann von sich abzuschütteln.
Seine Rechte streifte den Schleier noch höher, auch die tief in die Stirn fallende Welle des blonden Haares nach oben …
Und wieder wurden seine Augen groß. Er beugte sich tiefer …
Das braune Muttermal auf der weißen Stirn in Form eines sechszackigen Sternes hob sich deutlich ab.
Da sank er vornüber, drückte die Stirn auf den harten Boden …
Er huldigte dem großen Wunder, das diese Nacht gebracht. –
Minuten verharrte er so. Dann sprang er auf, nahm das junge Weib in die Arme, eilte von dannen – über die Steppe hinweg auf kaum noch sichtbarem Pfad, den überall Wildfährten kreuzten und verwirrten. Doch – er kannte jetzt den Weg; das Ziel war nahe, lag dort inmitten jenes Urwaldstreifens, der sich in die Steppe hineinschob.
Hinter ihm dehnte sich der Brand weiter und weiter aus. Flüchtende Antilopen, aufgescheucht durch das Feuer, jagten vorüber; plumpe Büffel rasten in besinnungsloser Angst dahin; ganze Vogelschwärme strichen kreischend dem sicheren nördlichen Horizont zu. –
Hella kam zu sich, schlug die Augen auf. Ihre Blicke umfingen den Kopf des Mannes, an dessen Herzen sie ruhte, der so schnell ausschritt, so leicht, als spürte er diese Last in den Armen kaum.
„Radscha Mahadur Mirat …“ flüstert sie.
Da erst gewahrte er ihre geöffneten Lider; blieb stehen, fragte voller Ehrfurcht:
„Bist du zu Fleisch und Blut geworden, oh Göttin über den Wolken? Bist du zu uns herabgestiegen, uns zu helfen, der Welt den wahren Frieden zu geben?“
Sie antwortete nicht sofort. Sie sann nach … – abermals dieses „Göttin über den Wolken“, das in ihr so seltsame Erinnerungen aufscheuchte …! Wo – wo nur war die Brücke, die all diese Geheimnisse, denen die letze Nacht wieder neue hinzufügte, verband – wo nur?!
„Radscha, ich bin keine Göttin,“ sagte sie schlicht. „Ich heiße Hella Dörcksen, bin eine Deutsche …“
Das Sprechen fiel ihr schwer. Sie war so sterbensmatt.
„Ich … wollte dich schützen, Radscha Mahadur Mirat,“ fuhr sie stockend fort. Und das vertraute du glitt ihr so leicht, so selbstverständlich über die Zunge. „Du wurdest verfolgt. Und hinter mir waren sie her mit Hunden und Pferden. Da habe ich das Feuer zwischen uns und sie gepflanzt.“
Sie schloß die Augen wieder, hörte nur noch halb wie im Traum …
„Mich beschützen …?! Dann – – bist du doch die Göttin über den Wolken …! Du trägst das heilige Mal auf der Stirn. Und eine Ähnlichkeit wie diese bringt kein Zufall hervor …!“
Hella schlief ein vor Müdigkeit. Erwachte erst, als eine leise Erschütterung durch ihren Körper ging und der Fürst sie sacht auf den Boden legte …
Das Ziel war erreicht …
Das Mondlicht ließ den kleinen See schillern, wie eine ovale Silberplatte. Keine noch so kleine Welle kräuselte das Wasser. Die steilen, bewaldeten, zerklüfteten Höhen ringsum sperrten jeden Lufthauch ab.
Mitten in der gleißenden Fläche ein dunkler Fleck; eine Felseninsel; darauf die Ruine einer uralten Burg; nur einer der vier Ecktürme reckte sich noch dem Firmament entgegen. –
Hella Dörcksen hatte sich aufgerichtet. Dicht vor ihr am Ufer stand gebückt der Radscha und flüsterte mit einem Hindu, auf dessen Stirn das Abzeichen der Brahmanen ruhte. Der Brahmane saß in einem kleinen Nachen, hielt ein einfaches Ruder in den Händen. Jetzt erhob er sich. Hella sah ein von zahllosen Runzeln durchfurchtes Gesicht, in dem ein paar dunkle Augen tief im Kopf glühten. Er war ein wandelndes Gerippe. Nur um die Lenden trug er einen Schurz, dunkel und hell gestreift; einen Schurz aus Schlangenhäuten, deren Köpfe man daran gelassen hatte, so daß sie bei jeder Bewegung träge hin und her pendelten.
Der Brahmane stieg aus dem Boot, beugte sich über Hella, flüsterte in gebrochenem Englisch:
„Herrin, zeige mir das Mal auf deiner Stirn.“
Hella schob die Haarwelle hoch.
Der Hindu sank in die Knie, kreuzte die Arme über der Brust, berührte mit der Stirn den Boden, stand wieder auf, stieg in den Nachen zurück.
Der Radscha trat vor Hella hin.
„Bitte – folge uns.“
Er reichte ihr die Hand, half ihr beim Aufstehen, half ihr in das plumpe Wasserfahrzeug.
Langsam glitt der Nachen der kleinen Insel zu. Steil ragten die Felsen aus dem Wasser. Nur an einer Stelle zog sich eine enge Schlucht bis zum See hinab. Hier waren Stufen in den Stein gehauen. Hier führte der Radscha Hella Dörcksen aufwärts zu einem Vorplatz. Der Brahmane ging ihnen voran. Verfallene Marmorstufen ruhten vor dem breiten Tor der alten Burg. Und wieder stützte der Radscha das weiße junge Weib. Der Brahmane wartete jetzt mit brennender Fackel vor dem Tor, dessen Türflügel geborsten, halb verfault dalagen. Glatte Marmorblöcke hatte man von innen vor dem Tor aufgeschichtet zu einer hohen Mauer. Von außen bildeten andere Blöcke eine Art Treppe bis zur Höhe dieses Hindernisses.
Der Brahmane stieg hinauf, streckte Hella die Rechte hin. Und der Radscha sorgte ebenfalls, daß sie sicher die Mauerkrone erreichte.
Nun stand sie oben. Die Fackel bestrahlte eine viereckige Halle, bestrahlte die kostbar verzierten Wände, schillerte in den Vergoldungen plumper Götzenbilder, die im Hintergrund mit ihren scheußlichen, höhnenden Gesichtern und verzerrten Gliedern drohten.
Hellas Augen wurden starr vor Grauen …
Dort unten auf den hellen Fliesen der Halle kroch ekles Gewürm umher: Schlangen – nichts als Schlangen, – fünfzig, hundert mögen es gewesen sein; sie schlüpften hierhin und dorthin, all diese giftigen Nattern, die in Indien den Schrecken der Menschen bilden, die jährlich abertausende hinwegraffen …
„Mein Gott …!“ entfuhrt es Hellas Lippen. „Was – was bedeutet das …?!“
„Ein Schutz für die Geheimnisse dieses alten Schlosses, in dem einst der Ahnherr der Maharadschas von Radschputana hauste,“ erwiderte der Brahmane. „Ich, oh Herrin, bin der Hüter dieser Burg und der Herr der Schlangen. Ich werde vorangehen. Folge mir weiter ohne Sorge.“
In die glatten Blöcke waren auf der Innenseite hie und da Stäbe aus Eisen eingefügt. Der Brahmane kletterte hinab, scheuchte mit der Fackel die nächsten Reptile zurück, setzte eine Flöte an die Lippen, begann stets dieselben vier Takte zu blasen.
Es war, als ob die kriechenden Bewegungen der Schlangen langsam erstarrten. Nur die Leiber des eklen Getiers, das sich nicht mehr vom Fleck bewegte, hoben sich, die Köpfe schwankten wie trunken hin und her.
Der Brahmane blies lauter, schriller …
Der Radscha flüsterte: „Herrin, wirst du an den Stäben hinab können?“
Hella nickte nur mechanisch, kniete nieder, suchte mit den Füßen einen Halt, stand bald neben dem Brahmanen, der nun gelassen mitten durch die hin und her pendelnden Schlangen schritt.
Hella blieb dicht hinter ihm. Sie wußte, daß sie vor den Giftzähnen geschützt war; sie hatte genug gelesen, über die unheimliche Macht der indischen Schlangenbeschwörer in den Büchern ihres gelehrten, unglücklichen Vaters.
Auch der Radscha ging furchtlos denselben Weg. Dann drückte der Brahmane eines der Götzenbilder zur Seite. Ganz leicht drehte es sich auf seinem Sockel. In diesem gähnte nun eine quadratische Öffnung. Die Fackel enthüllte den Anfang eines schmalen Ganges, der steil in die Tiefe lief.
Radscha Mahadur Mirat deutete auf die Steintreppe.
„Herrin – bitte!“
Und Hella stieg die Stufen hinab. Der Brahmane hatte schnell eine zweite Fackel angezündet, gab sie Hella in die Hand. Er wartete, bis die beiden in der Tiefe hinabgetaucht waren, rückte nun das Götzenbild wieder zurück, verschloß so die Öffnung, griff nach der Flöte, blies, ließ die Schlangen weiter zu harmlosen Pendeln werden, kehrte zum Ausgang der Halle zurück und hockte sich draußen auf dem Vorplatz dicht am Steilabfall der Felsen nieder, starrte über den See hin, wachte, daß niemand diejenigen störe, die in den Gewölben der alten Burg nun vollzählig versammelt waren.
Wie eine Statue saß er da. Nur seine Augen glitten hin und her, verfolgten den Mond, der bleicher und bleicher wurde, der vor dem heraufdämmernden Morgen sein Antlitz immer dichter verhüllte.
Die Treppe hatte ein Ende. Hella Dörcksen wartete, bis der Radscha neben ihr stand.
Ein weites, kühles Gewölbe durchschritten sie jetzt.
„Wir befinden uns hier bereits unter dem Spiegel des Sees,“ sagte Mahadur Mirat, fügte fast scheu hinzu: „Du wirst es wissen, Herrin. Denn du weißt alles.“
Hella schwieg. Was sollte sie antworten?! Sie wandelte dahin zwischen lauter Rätseln. Und so war es schon von Jugend an: überall Geheimnisse, überall Unerklärliches. – Sie hätte sich das Wundern längst abgewöhnen müssen.
Der Radscha machte in der Mitte des Gewölbes halt. Der Boden war mit quadratischen, großen Marmorplatten belegt. Eine war wie die andere, hellgrau, dunkel geädert.
Er bückte sich. Eine kaum sichtbare Fuge gab es hier zwischen den gleichmäßigen Steinen. Er schob die Spitze seines Dolches in die Fuge hinein, und langsam senkte sich die eine Platte.
Von unten strahlte heller Lichtschein herauf, drangen die Düfte brennenden Sandelholzes und wohlriechender Harze herauf.
Auch hier eine Treppe. Nur breiter und nach unten zu fächerartig sich dehnend. Das Geländer bildeten gekrümmte Schlangenleiber aus Marmor. Die Stufen waren blendend weiß. Und die natürliche Grotte, die hier tief unter dem See in den Felsmassen sich öffnete, war mit demselben weißen Marmor verkleidet, bildete ein Sechseck, an dessen Wänden hohe bronzene Ständer mit uralten Öllampen darauf in kurzen Abständen standen. Vierzig solcher Lampen brannten hier.
Hellas Fuß zögerte. – Ein Traum all das? War sie vielleicht doch in der Kabine ihres Schlafwagens der Müdigkeit erlegen? Träumte sie nur?
Ihre Blicke eilten über die Männer hin, die in dichtem Halbkreis dort geradeaus vor einem altarähnlichen Aufbau standen. Auch er nur Marmor, doch über und über bedeckt mit goldenen Bildwerken. Räucherschalen sandten von der Platte dieses Kunstwerkes längst entschwundener Zeiten helle Qualmfäden in die Luft! In zierlich geschwungenen Linien fügte sich dem Altar eine glatte Rückwand an, gut zwei Meter hoch. Auf der Bogenhöhe dieser Rückwand eine kleine Statue des Gottes Indra, der einst mächtiger als Brahma war.
In die Männer dort kam Leben und Bewegung.
Sie hatten die weiße Frau bemerkt. Sie drängten der Treppe zu. Rufe wurden laut, Drohungen gegen die Fremde …
Da erschien Radscha Mahadur Mirat neben ihr, machte ein Zeichen mit der Hand.
Schweigen …
Und langsam stiegen die beiden in die Marmorgrotte hinab, blieben auf der vorletzten Stufe stehen.
Der junge Radscha bat Hella leise, Hut und Schleier abzunehmen. Sie tats …
Und dann – wie ein jäh anschwellender Schrei ertönte es von den Lippen derer, die hier beraten wollten, wie man der Welt den Frieden geben könnte durch einen neuen Glauben an eine Gottheit, zu der alle beteten, die das Wunder über den Schneegipfeln der Himalayaberge je geschaut …
Ein Schrei …! – Staunen lag in diesem Ruf, Staunen und gläubige Hoffnung:
„Die Göttin über den Wolken – – die Wolkenkönigin …!“
Mahadur Mirat strich Hella mit zarter Hand die blonde Haarwelle aus der Stirn. Das Muttermal wurde sichtbar, der sechszackige winzige Stern …
Und abermals derselbe Ruf, nur lauter, freudiger:
„Die Göttin über den Wolken – – die Wolkenkönigin!“
Der Radscha ließ den Ruf erst verklingen.
„Freunde,“ begann er nun, „Freunde, die ihr aus allen Teilen der Erde euch wieder hier eingefunden habt, damit wir gemeinsam Rat halten, wie wir den Glauben an die neue Gottheit über die Länder verbreiten können, wie aus einer neuen, alle umfassenden Religion das Glück für die Menschen sich aufbauen ließe, wie ohne rohe Gewalt der Wille der Völker einen Zustand ewiger Glückseligkeit schaffen könnte … – Freunde, den Mächtigen dieser Erde ist nichts daran gelegen, diesen Zustand zu erreichen. Persönliche Eitelkeit, Machtkitzel, schnöde Selbstsucht in ihren vielen Formen würden uns Hindernisse in den Weg legen, die uns sehr bald verzweifeln ließen. Nur in aller Heimlichkeit dürfen wir die neue Lehre ausbreiten, gestützt auf das eine, was sie hinaushebt über alle übrigen Bekenntnisse: die Götter, an die die Menschheit bisher glaubte, waren nicht einmal Schemen, waren nur Begriffe, aus Worten geformt; die neue Gottheit hat sich uns, die wir hier versammelt sind, in all ihrer Pracht gezeigt, thronend auf Wolken über den Eisfeldern des fernen Gebirges dort im Norden, des Rückgrates der Welt, des Himalaya … –
Freunde! Eine Nacht des Heils ist die heutige! Ihr habt gesehen, ein Wunder hat sich vollzogen, die neue Göttin ist leibhaftig herniedergestiegen, weilt unter uns!“
Er wollte weiter sprechen.
Da legte Hella Dörcksen ihm schnell die Hand auf die Schulter, rief verwirrt:
„Ich wäre eine Betrügerin, wollte ich euch länger in dem Glauben belassen, ich sei ein anderes Wesen als ihr! – Nein – ich könnte, ich kann euch beweisen, daß ich Eltern gehabt wie ihr alle hier, daß ich von Fleisch und Blut und eine Deutsche bin, die nur nach Indien gekommen, um ihren um vier Jahre jüngeren Bruder zu suchen, den ein elender Schurke geraubt hat und irgendwo verborgen hält! Ich schwöre euch: Ich heiße Hella Dörcksen, mein Vater war der Chemiker und Naturforscher Doktor Harald Dörcksen, der vor anderthalb Jahren in einer Schlucht im Riesengebirge den Tod fand. – Ich bin keine Göttin – auch keine Betrügerin!“
Das halbe hundert Männer vor den Stufen der Treppe geriet wieder in Bewegung. Man raunte, flüsterte, wechselte unsichere Blicke.
Alle Rassen, alle Nationen waren vertreten, alle Bekenntnisse bis herab zu dem Neger des Aschantilandes, der seinen Fetisch bisher anbetete.
Ganz vorn stand neben dem englischen Reverend Dixon der deutsche Literaturprofessor Herbst.
„Dixon – was hältst du von dem Wunder dieser sprechenden Ähnlichkeit, dieser völligen Gleichheit der beiden Male auf der Stirn?“ fragte Herbst leise.
„Hm – ich wäre dafür, daß wir das Bild erscheinen ließen, damit wir vergleichen könnten …“
Der Professor nickte. „Ganz recht – – vergleichen!“
Und er rief nun dem jungen Radscha zu:
„Mahadur Mirat, mag die Dame sich auf den Altar setzen. Dann lasse das Bild erscheinen, und wir werden sehen, ob hier wirklich eine so verblüffende Ähnlichkeit vorliegt, daß …“
Seine weiteren Worte verschlang der laute Beifall, den dieser Vorschlag fand.
Der Radscha wandte sich an Hella. „Miß Dörcksen, würden Sie gestatten, daß wir …“
Sie schritt schon dem Altar zu. Es war, als ob irgendeine geheimnisvolle Macht sie vorwärts trieb.
Man half ihr schnell auf die linke Ecke der Altarplatte hinauf. Und ebenso schnell erloschen jetzt die sämtlichen Lampen.
Tiefes Dunkel. Totenstille …
In Hellas Nerven zitterte die Erwartung.
Was – was würde geschehen? Was würde erscheinen? Ein Bild …?!
Und – wieder dachte sie an das, was ein Toter einer lebenden Maschine anvertraut und was sie stets für ein wundervoll poetisches Märchen gehalten, entsprungen dem krampfhaft überreizten Hirn eines Mannes, dessen Gedächtnis gerade in dem einen Punkt versagte … – Nur für ein Märchen! Und doch war es für sie etwas Heiliges, und die, um die dieses Märchen sich wob, eine Heilige.
Totenstille. – – Tiefes Dunkel.
Dann – ein feiner weißer Strich, ein Lichtfaden, der sich nach der Rückwand des Altars hinzog …
Hellas Herz jagte …
Was – was würde geschehen …?
Die im Empfangsraum des großen Wohnzeltes Zurückbleibenden hatten mit den gleichen erstaunten Blicken Thomas Crosterbroux und Hella Dörcksen nachgeschaut.
Jetzt fiel der Türvorhang hinter den beiden zu. – Da regte Stuart Burne sich, blickte Oberst Jafferson an, flüsterte:
„Hier ist etwas faul … Dieses Weib hat gelogen, schätzt’ ich. Sie wird Crosterbroux einzuwickeln versuchen. Sie hat ihn nicht mal dem Namen nach gekannt, vielleicht ebenso wenig das Platinsyndikat …“
Jafferson nickte. „Ich traue ihr ebenfalls nicht …“
Nur der schlanke, hübsche Leutnant Sydney Baalk meinte leise: „Sie ist so schön. So viel Schwermut ist über ihr Antlitz ausgegossen.“
Crosterbroux trat wieder ein, rief hastig:
„He, Jafferson, – eine Herzstärkung für Miß Dörcksen. Sie hat drum gebeten. Schnell …“
Burne sprang auf.
„Ah – diese raffinierte …“ Er riß schon den Vorhang zur Seite, wollte hinaus. Er ahnte, daß Hella nur fliehen wollte.
Doch – ebenso schnell tat er einen Satz nach rückwärts. Flammen, Qualm, der scheußliche Geruch brennenden Gummistoffes schlugen ihm entgegen.
„Feuer!“ brüllte er. „Sie … hat das Zelt in Brand gesteckt …“
Die Flammen loderten unheimlich schnell höher. Erstickende Dünste drangen in den Raum zu den vier Männern ein. Sekundenlang standen sie wie Bildsäulen. Dann griff Jafferson nach einem langen afghanischen Dolch auf dem Schreibtisch …
„Dort hinaus …!“ rief er, trennte mit langem Schnitt erst die innere Zeltwand auf, dann die äußere, blieb auch jetzt Hausherr, ließ seine drei Gäste zuerst ins Freie, packte noch umweht von sengender Hitze und Rauchschwaden, das zusammen, was ihm am wertvollsten dünkte.
Stuart Burne war als erster draußen, schoß die Lagergasse entlang, erspähte noch undeutlich zwischen den mannshohen Gräsern einen schnell enteilenden flackernden Lichtschein, – eine Fackel, die das Weib mitgenommen, das ihn überlistete …
Sydney Baalk rannte nach dem Stallzelt hinüber. Seine helle Stimme scheuchte die Schläfer in den Dienerhütten auf. Nur notdürftig bekleidete Gestalten holten die jetzt angeketteten Hunde herbei, brachten die Pferde ins Freie.
Burne war mit einem wahren Kunstreitersatz wieder als erster auf dem ungesattelten Rücken eines Bergponys, ließ nur noch den Zaum überwerfen, sich eine Fackel reichen, jagte davon.
Jafferson, Baalk, vier Soldaten waren nicht minder beweglich, folgten ihm. Der Leutnant hatte vier der kräftigsten Hunde an der Leine.
Die Hetze begann. Der kleine Trupp bog in den schmalen Dschungelpfad ein. Stuart Burne bemerkte vor sich den flackernden Schein der Fackel, die enteilende dunkle Gestalt.
„Ah – wir werden sie bald haben …!“ brüllte er in vorschnellem Triumph.
Weiter ging die Jagd – schnurgerade. Die Hunde heulten, bellten; die Reiter riefen sich kurze Bemerkungen zu.
Jafferson schäumte vor Wut. Vom Lager her hörte er das Knattern der im Feuermeer des Zeltes explodierenden Patronen seiner Waffenkiste …
Da – Burnes Stimme: „Halt – Halt … Sie hat den Dschungel angezündet …! Der Wind kommt uns entgegen …!“
Die Pferde wurden zurückgerissen. Jafferson fluchte. Drüben leckten die Feuerzungen hoch, schossen hierhin, dorthin, bildeten im Nu einen Wall von Flammen, der vorwärts drang wie die Woge einer Sturmflut, der immer wieder lange Streifen trockenes Gras fand, wo die Flämmchen mit Gier sich weiterfraßen wie tastende Fühler, die für ein Ungeheuer den besten Weg suchen.
„Zurück!“ Jafferson kannte die Gefahren des brennenden Dschungels.
Burne tobte. Aber er mußte mit – mußte fliehen vor dem glühenden, wandernden Hindernis, das ein Weib dort hinten den dahinhetzenden Reitern errichtet hatte.
Das Lager war erreicht. Längst war hier alles wach, in Bewegung. Unteroffizier Chassim Marattu empfing seinen Oberst mit der Meldung:
„Das Gegenfeuer wird sofort aufflammen. Dort im Osten ist Sumpf. In einer halben Stunde ist jede Gefahr vorüber.“
Alle Hände packten unten mit zu. Vor dem Lager nach Nordwest zu brannte man einen breiten Grasstreifen nieder, sorgte, daß die Flammen nicht weiter um sich griffen, als beabsichtigt. Immer länger wurde der Streifen verkohlter schwarzer Gräser; immer breiter. Brennende Grasbüschel flogen gegen den Wind über den Rand des Streifens hinaus. Und dann: zwei lodernde Wogen begegneten sich, schienen mit einander zu kämpfen. Gluthauch zog über das Lager hin. Die Diener hatten den Pferden und Elefanten nasse Decken über die Köpfe geworfen, selbst die Köpfe darunter gesteckt. Alles übrige an Menschen lag flach am Boden, das Gesicht in schnell gewühlte Erdlöcher gedrückt.
Die beiden lodernden Wogen kämpften. Doch ihre Wut fand keine neue Nahrung. Qualmmassen verkündeten den Sieg. Die Flammen duckten sich tiefer und tiefer, wie Ringer, die ermattet zu Boden sinken.
Die Glutwelle entfloh; der Qualm lichtete sich.
Die Männer sprangen auf, schüttelten den feinen Aschenregen von sich ab.
Und dort zu beiden Seiten des Lagers fraß das Feuer weiter den trockenen Dschungel, bis es hier und da auf feuchten Boden traf, erlosch … –
Jafferson, Burne und Leutnant Baalk standen und hielten Kriegsrat.
„Ich muß sie haben, dieses Weib!“ sagte der Inspektor. „Sie ist mit jenen im Bunde, die hier irgendwo über Unheil …“
„Irgendwo?!“ fiel ihm Jafferson ins Wort. „Ich kenne diese Wildnis. Hier gibt’s nur einen Ort, der in Verdacht kommt: die Ruine der Maharattenburg im Heiligen See, von dem die Hindu glauben, daß seine Wasser bis zum Mittelpunkt der Erde gehen. Dort spielt jetzt ein alter Brahmane den Hüter – seit etwa neun Monaten.“
„Ah – gerade so lange,“ rief Burne.“ Und vor acht Monaten verschwand Radscha Mahadur Mirat zum ersten Mal aus seiner Hauptstadt. – Es wird stimmen, Herr Oberst. – Vorwärts – wir werden den See umzingeln, das Verschwörernest ausheben …!“
Bald darauf durchzogen drei Trupps die Steppe, drangen von verschiedenen Seiten in den Urwaldstreifen ein, der den See und die Maharattenburg umfing. – –
Im Schatten der Bäume standen Jafferson, Baalk und Burne, spähten mit Gläsern über den See hinüber nach der Insel.
„Dort hockt der Brahmane,“ meinte Jafferson. „Wenn man den Kerl in aller Stille die Kehle etwas zudrücken könnte, wäre es möglich, die ganze Gesellschaft zu überraschen. Sie werden doch fraglos auch allerlei Schriftliches dort in ihrem Fuchsbau haben, vielleicht Mitgliederlisten – ähnliches. Dann wäre die ganze Bande mit einem Schlage unschädlich zu machen.“
„Den Brahmanen erledige ich,“ erklärte Stuart Burne ohne jede Prahlerei. „Das gehört zu meinem Geschäft. Ich werde dort von der Südseite den See durchschwimmen.“
„Hm. – Ich fürchte, Sie stellen sich das allzu einfach vor,“ sagte der Oberst ernst. „Die Teufeleien unserer braunen Landeskinder kennen Sie ja, Inspektor. Ich rate zur Vorsicht.“
„Auch das gehört zu meinem Geschäft. – Gibt es Krokodile in diesem Gewässer?“
„Kaum. Ich habe bisher keine bemerkt.“
Sie verschwanden unter den Bäumen, kamen an der Kette der Posten vorüber, die das Seeufer umsäumten und die nichts Lebendes durchlassen würden.
Dann machten sie wieder halt. Burne warf die Oberkleider ab, band sich den Revolver mit dem Taschentuch unter der Reisemütze fest, stieg hinter ein paar Felsblöcken ins Wasser, nahm Strauchwerk auf, legte es sich um die Schultern, daß es seinen Kopf völlig verdeckte.
Nur ein kleiner Haufen Strauch schien der Insel zuzutreiben …
Der bleiche Mond am sich lichtenden Firmament wurde Zeuge, wie Stuart Burne die Insel umschwamm, dann die Treppe lautlos empor kroch, den Vorplatz erreichte.
Der Brahmane am Rande des Steilabfalls glich einer Bronzestatue. Jetzt huschte ein blitzschnelles, grimmiges Lächeln über sein furchenzerrissenes Skelettgesicht. Er sah nichts. Aber seine Ohren hatten längst das feine Schleifen über den Steinboden hier gehört. Er wußte, was geschehen würde. Seine hageren Arme blieben ohne Bewegung. Nur die Muskeln spannten sich.
Stuart Burne lag dicht hinter ihm, den gespannten Revolver in der Rechten. Er mußte den Brahmanen lebend haben. Nur dann würde dieser ihn in den Schlupfwinkel der Verschwörer führen können. All diese alten Schlösser hatten ihre Geheimnisse, – Geheimtüren, Geheimtreppen, unterirdische Räume.
Der Inspektor rief leise, drohend:
„Keine Bewegung! Ich bin Kriminalinspektor Burne. Wenn du nicht gehängt werden willst, gehorche! Der See ist von Militär umstellt. Keine Maus entschlüpft uns. Wir wissen, was hier vorgeht. Zeige mir den Weg zu denen, für die du Wächter spielst.“
Der Alte wendete den Kopf.
„Ich gehorche, Sahib,“ erklärte er demütig und erhob sich.
„Geh’ voran!“ befahl Burne. „Und – keine Hinterlist, Bursche! Ich kenne mich aus mit euch …!“
Der Brahmane schritt die verfallenen Stufen hoch, erklomm die aufgeschichtete Mauer. Der Inspektor blieb dicht hinter ihm. – Sie standen nebeneinander auf der Mauerkrone. Burne stierte in das Dunkel der Halle hinab, griff in die Tasche, schaltete die kleine Lampe ein. Der dünne Lichtkegel wollte abwärts gleiten.
Da – ein Stoß – – Burne verlor das Gleichgewicht, fiel vornüber. Aber ebenso blitzschnell ließ er seiner Rechten den Revolver entgleiten, packte den nackten, verräterischen Arm, riß den Alten mit in die Tiefe …
Ein gellendes Hohngelächter des Brahmanen, der gerade auf den kalten Leib einer Kobra gefallen war, der die Giftzähne in seiner Schulter spürte, der trotzdem lachte – lachte …
Stuart Burne nannte man nicht umsonst den Mann ohne Nerven. Er hatte schon oft sich in Lagen befunden, wo sein Leben an einem Spinnwebfaden hing.
Wie eine Katze war er auf die Füße gefallen. Die kleine Lampe enthüllte ihm die Schrecken dieser Halle. Drei meterlange, sich windende Scheusale dicht neben ihm. Ein Satz – seine Hände erreichten den Rand der Mauer, seine Zehen krallten sich ein in die Fugen der Blöcke; ein Schwung, und er saß oben auf der Mauer.