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Der erste Teil des Tartarin-Zyklus ist zugleich der berühmteste. Der Roman ist geschrieben im Ton spöttisch-übertriebener Bewunderung für den "heldenmütigen" Tartarin. Daudet nennt den "wackeren, kleinen Rentner" fortwährend ironisch "großer Mann", "Teufelskerl", "der unerschrockene, der unvergleichliche Tartarin". Doch er ist nur ein Aufschneider und Säbelrassler, ein Maulheld, der kaum je aus seiner Vaterstadt herausgekommen ist und seine Abenteuer nur in der Fantasie erlebt. Aber "der Südländer lügt nicht, er erliegt einer Täuschung." Daudet beschreibt Tartarin als Don Quijote und Sancho Pansa in einer Person - hin und her gerissen zwischen Abenteuerlust und wehleidiger Bequemlichkeit. Eines Tages entsteht das Gerücht, er werde auf Löwenjagd gehen. Bei der Überfahrt wird er seekrank, ebenso beim Ritt auf einem Kamel; er erschießt aus Versehen einen kleinen Esel, wird von einem Hochstapler betrogen und hat schließlich doch noch den ersehnten Jagderfolg: er erlegt einen alten, zahmen und blinden Löwen. Die Bevölkerung von Tarascon bereitet ihm bei seiner Heimkehr einen triumphalen Empfang.
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Seitenzahl: 177
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Die wunderbaren Abenteuer des Tartarin von Tarascon
Alphonse Daudet
Inhalt:
Alphonse Daudet – Biografie und Bibliografie.2
Die wunderbaren Abenteuer des Tartarin von Tarascon.3
In Tarascon.3
Der Garten des Baobab.3
Ein Blick auf die gute Stadt Tarascon und ihre Bewohner die Mützenjäger 4
Noch ein Blick auf das gute Tarascon.6
Sie! 8
Wie Herr Tartarin seinen Club besucht 9
Die beiden Tartarins - Merkwürdiges Zwiegespräch zwischen Tartarin-Quixote und Tartarin-Sancho11
Die Europäer in Shanghai – Der Großhandel – Die Tataren – Ist Herr Tartarin etwa ein Lügner – Eine wunderbare Erscheinung.13
Mitaines Menagerie – Ein Löwe aus dem Atlas in Tarascon – Ein schreckliches und dabei großartiges Zusammentreffen.14
Eigentümliche Wirkungen jener schon erwähnten merkwürdigen Erscheinung.17
Vor der Abreise.18
Stechen Sie mich mit dem Degen meine Herren! Mit Degen aber nicht mit Stecknadeln.19
Was in dem Hause des Baobab nun weiter geschah.21
Die Abreise.22
Im Hafen von Marseille – zu Schiffe! zu Schiffe! 24
Bei den Türken.26
Die Überfahrt – Der Fez in fünf verschiedenen Lagen – Am Abend des dritten Tages – Erbarmen26
Zu den Waffen! Zu den Waffen! 28
Ein Wort an Cervantes – Die Landung – Wo sind die Türken? – Enttäuschung! 29
Zum ersten Male auf Anstand.30
Piff! Paff! Puff! 32
Das Weibchen – Fürchterlicher Kampf – Zum Stelldichein der Karnickel 34
Geschichte eines Omnibus, einer Maurin und eines Rosenkranzes.36
Schlummert ruhig ihr Löwen im Atlas! 37
Prinz Gregor von Montenegro.38
Nenne mir den Namen Deines Vaters, und ich will Dir sagen wie diese Blume heißt 41
Sidi Tar'tri ben Tar'tri 43
Man schreibt uns aus Tarascon.45
Bei den Löwen.47
Der alte Postwagen.47
Der neue Fahrgast 49
Die heiligen Löwen. 51
Die Karawane auf dem Marsche.53
Auf Anstand im Lorbeerhain.55
Endlich! 58
Katastrophen über Katastrophen.60
Tarascon! Tarascon! 63
Die wunderbaren Abenteuer des Tartarin von Tarascon, A. Daudet
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849652852
www.jazzybee-verlag.de
Franz. Schriftsteller, geb. 13. Mai 1840 in Nimes, gest. 16. Dez. 1897 in Paris, machte während der ersten Jahre seines Pariser Aufenthalts eine herbe Lehrzeit durch, bis der Herzog von Morny ihm als Privatsekretär ein sicheres Brot und die Mittel zu Studienreisen gab. Nach poetischen und dramatischen Versuchen erzielte der junge Schriftsteller seinen ersten durchschlagenden Erfolg mit dem selbstbiographischen Roman »Le petit Chose, histoire d'un enfant« (1868; deutsch u. d. T.: »Der kleine Dingsda«, Berl. 1877). Dann machten die »Lettres de mon moulin« (1869) und namentlich der meisterhafte komisch-satirische Roman »Les aventures prodigieuses de Tartarin de Tarascon« (1872) den Namen A. Daudets immer bekannter, bis er mit dem Roman »Fromont jeune et Risler aîné« (1874; deutsch, Berl. 1876), der über 60 Auflagen erlebte, in die Reihe der gelesensten Schriftsteller Europas vorrückte. Bald lösten nun die Erfolge einander ab mit ».Jack« (1876), »Le Nabab« (1877), »Les rois en exil« (1879), »Numa Roumestan« (1882), »L'Évangéliste« (1883), »Sapho« (1884), »Tartarin sur les Alpes« (1886), »L'Immortel«, eine Satire auf die französische Akademie (1888), »Port Tarascon, dernières aventures de l'illustre Tartarin« (1890), »Rose et Ninette« (1892), »La petite paroisse« (1895) und »Soutien de famille« (1898). Die meisten dieser Werke sind fast gleichzeitig mit dem Original in deutschen Übersetzungen erschienen. D. huldigt der realistischen Richtung, weiß aber dabei seinem Gegenstand immer eine intime, gemütvolle Seite abzugewinnen. Er wird daher oft der Nachahmung Dickens' geziehen; allein er hat vor diesem die künstlerische Gestaltung wie eine bestrickende Virtuosität der Sprache voraus.Seine Erinnerungen hat er niedergelegt in »Trente aus de Paris (A travers ma vie et mes livres)«, »Souvenirs d'un hommes de lettres« (1888) und »Notes sur la vie« (1899).Von den Theaterstücken Daudets sind zu nennen: »L'Arlésienne« (1872, mit musikalischen Einlagen von Bizet), dann die Bearbeitungen seiner Romane: »Fromont«, »Jack«, »Les rois en exil«, »Sapho«, »Numa Roumestan«, sowie die selbständigen Arbeiten: »La lutte pour la vie« (1889), »L'Obstacle« (1890), »La Menteuse« (1892, nach einer Erzählung der »Femmes d'artistes«). Eine auf 18 Bände berechnete illustrierte Ausgabe seiner »Œuvres complètes« begann 1899 in Paris zu erscheinen. Vgl. Gerstmann, A. D., sein Leben und seine Werke (Berl. 1883, 2 Bde.); Léon A. Daudet, Alphonse D. (Par. 1898); B. Diederich, Alphonse D., sein Leben und seine Werke (Berl. 1900). – Seine Gattin Julia, geborne Allard, geb. 1847 in Paris, früher Mitarbeiterin verschiedener Zeitschriften, veröffentlichte »Impressions de nature et d'art« (gesammelte Aufsätze, 1879), »L'enfance d'une Parisienne« (1883), »Fragments d'un livre inédit« (1885), »Enfants et mères« (1889) und »Journées de Femme« (1898), von seiner Beobachtung zeugende Skizzen, deren Stil etwas geziert ist.
En France, tout le mondeest un peu de Tarascon.
Der erste Besuch, den ich Herrn Tartarin in Tarascon abstattete, war für mich ein Ereignis, das ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen werde. Es sind seitdem zwölf bis fünfzehn Jahre vergangen, aber ich erinnere mich an alles noch so genau, als wäre es gestern gewesen. Der unerschrockene Tartarin wohnte damals ziemlich am äußersten Ende der Stadt, im dritten Hause linker Hand an der Straße, die nach Avignon führt. –Es war eine hübsche, kleine tarasconische Villa mit einem Vorgarten, einem Balkon auf der Rückseite, mit sehr weißen Mauern und grünen Fensterläden. Auf der Treppenstufe vor dem Eingange lagerte gewöhnlich eine ganze Bande kleiner Savoyarden, die ihre Zeit mit Murmelspielen totschlugen, oder auch, wenn die Sonne gar zu heiß schien, die Köpfe auf ihre Kasten mit Stiefelwichse lehnten und sanft und selig schlummerten.
Von außen hatte das Haus also gar nichts so Absonderliches und Außergewöhnliches und nach diesem äußern Eindrucke würde man auch niemals auf die Vermutung gekommen sein, vor der Wohnung eines Helden zu stehen.
Wenn man das Haus aber betrat – Himmel und die Welt! Wie sah es da aus!
Vom Keller bis zum Boden hatte das ganze Gebäude etwas Großes, Mächtiges, Heroisches; sogar der Garten war davon angehaucht!
Solch einen Garten wie den Tartarins gibt es überhaupt nicht zum zweiten Male in ganz Europa. Da war nicht ein inländischer Baum, nicht eine einheimische Pflanze, da gab's nur exotische Gewächse, Gummibäume, Flaschenkürbisse, Baumwollenpflanzen, Kokospalmen, Magnolien, Bananen, Fächerpalmen, einen Baobab, Feigenbäume, Kakteen – man hätte meinen mögen, man befinde sich mitten in Afrika, was von Tarascon bekanntlich so ungefähr zehntausend Wegstunden entfernt ist. Alle diese Bäume und Sträucher waren selbstredend hier nicht in natürlicher Größe zu sehen – so waren die Kokospalmen z. B. nicht größer, als es gemeiniglich die roten Rüben zu sein pflegen, und der Baobab, der doch schon zu den Riesenbäumen zählt, ging bequem in einen Resedatopf; aber das ist doch schließlich gleichgültig und auch völlig nebensächlich. Für Tarascon war es so, wie es nun einmal war, jedenfalls sehr hübsch, und die Leute aus der Stadt, die an Sonn- und Feiertagen die Ehre hatten, Tartarins Baobab zu betrachten, waren stets des höchsten Lobes voll und traten dann befriedigt und bewundernd wieder den Heimweg an. Man kann sich nun einigermaßen vorstellen, welch tiefes Gefühl der Bewunderung und des Staunens mich erfüllte, als es mir zum ersten Male vergönnt war, diesen Wundergarten zu durchwandern. Und dennoch wurde dieses Gefühl noch gesteigert, als ich das Kabinett des Helden betrat.
Dieses Kabinett, eine der Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt, lag zum Garten hinaus; durch eine Glastüre genoß man den Anblick des Baobab.
Man denke sich einen ziemlich großen Raum, dessen Wände von oben bis unten mit Flinten und Säbeln bedeckt sind. Da sah man Waffen aller Zeiten und Länder, Karabiner, Rifles, Tromben, korsische Messer, Bowiemesser, Revolver, Dolche, malaiische Krise, karaibische Bogen, Speere, Totschläger, Keulen, mexikanische Lassos und viele andere ähnliche Dinge. Von oben fiel ein heller Sonnenstrahl auf alle die Waffen, so daß die Degenklingen und Gewehrläufe blitzten und blinkten und man eine Gänsehaut bekommen konnte; was einen jedoch wieder etwas beruhigte, war die Ordnung und Sauberkeit, die in diesem Privatzeughaus herrschte. Alles war geordnet und sorgsam geputzt, und etikettiert wie im Apothekerladen. Hier und da hing an einem Gegenstande ein kleiner Zettel, auf dem zu lesen war:
Vergiftete Pfeile! Nicht berühren! Geladene Waffen! Vorsicht!
Wären derartige Warnungszettel nicht gewesen, man hätte sich nie und nimmer in diesen Raum gewagt.
Mitten im Kabinett stand ein kleiner Tisch. Auf ihm lagen eine Rumflasche, eine türkische Tabakspfeife, die »Reisen des Kapitän Cook«, die Cooperschen Romane, die Aimardschen Reiseschilderungen; dann viele Jagdbeschreibungen: Falkenjagden, Bärenjagden, Elefantenjagden usw. Vor dem Tischchen endlich saß ein Mann von vierzig bis fünfzig Jahren; er war klein, dick, untersetzt; sein Gesicht strotzte von Gesundheit, sein Bart war kurz, aber stark, seine Augen glühten und blitzten. Er saß in Hemdsärmeln da und trug wollenes Unterzeug; in der einen Hand hielt er ein Buch, mit der andern schwang er eine ungeheuer große Pfeife mit eisernem Deckel; er las irgend eine höchst wundersame Jagdgeschichte, hatte die Unterlippe vorgeschoben und machte ein schreckliches Gesicht, was seiner unscheinbaren Figur eines kleinen tarasconischen Rentiers denselben Anstrich ungefährlicher Wildheit gab, der im ganzen Hause herrschte.
Dieser Mann war Tartarin! Tartarin von Tarascon, der unerschrockene, der große, der unvergleichliche Tartarin von Tarascon!
Zu der Zeit, von der ich erzähle, war Tartarin von Tarascon noch nicht der Tartarin, der er heute ist, der große Tartarin von Tarascon, bekannt und geehrt im ganzen südlichen Frankreich. Nichtsdestoweniger war er aber auch schon damals sozusagen der König von Tarascon.
Wie diese hohe Würde auf sein erhabenes Haupt kam, werden wir gleich erfahren.
Da unten im Süden ist bekanntlich jedermann ein Jäger; vom Höchsten bis zum Geringsten ist das so, und es vererbt sich auch von Geschlecht auf Geschlecht.
An jedem Sonntagmorgen greift ganz Tarascon zum Schießgewehr und hinaus gehts vor die Tore, die Büchse um die Schulter gehängt, den Quersack auf dem Rücken, unter Hundegebell, Trompeten- und Jagdhorngeschmetter. Schade nur, daß eine Kleinigkeit fehlt, die sonst zum Jagen als unerläßlich betrachtet wird – das Wild nämlich; davon ist aber auch nicht die geringste Spur zu finden Die Tiere sind von Haus aus dumm, das ist richtig; aber so dumm waren sie denn doch nicht, daß sie nicht mit der Zeit eingesehen hätten, wie wenig Gutes sie in dieser Gegend zu gewärtigen hatten.
Fünf Meilen im Umkreise von Tarascon sind die Waldungen verödet, die Nester und Höhlen leer und verlassen; nicht eine Amsel, nicht eine Wachtel, nicht das kleinste Kaninchen, auch nicht die lumpigste Bachstelze ist zurückgeblieben.
Man muß nun durchaus nicht glauben, daß die Umgebung von Tarascon reizlos und uninteressant wäre. O nein, im Gegenteil! Auf den kleinen Hügeln um die Stadt lagert der Duft der Myrten, des Lavendel und Rosmarin. Die süßen Muskatellertrauben, die da am Ufer der Rhone so herrlich gedeihen, sind auch ein höchst schätzbares und appetitliches Gut. Das ist also alles ganz gut und schön, nur was das kleine Getier angeht, das ein Fell auf dem Leibe oder Flügel und Federn hat, damit ist es in Tarascon sehr schlecht bestellt. Die Zugvögel sogar haben einen heiligen Respekt vor der Stadt; sie fliegen in einem großen Bogen um sie herum, und wenn die wilden Enten sich auf der Wanderung befinden und ihre Schwärme in Gestalt langgestreckter Dreiecke sich der Stadt nähern, dann ruft die vorderste, sobald sie nur die Kirchturmspitze sieht, so laut sie kann: »Tarascon! Da unten liegt Tarascon!« und der ganze Schwarm macht eine Schwenkung.
Kurz und gut – von alledem, was man als »Wild« bezeichnen kann, gibt es in jener Gegend einzig und allein einen alten Hasen, der wie durch ein Wunder den tarasconischen Metzeleien entgangen ist und in ganz unerklärlichem Eigensinn die Absicht kundgibt, hier bis an das Ende seiner Tage zu bleiben. In Tarascon ist der Hase allgemein bekannt; man hat ihm sogar einen Namen gegeben. Er heißt »Schnellfuß«. Man weiß auch, daß er sein Lager auf dem Grund und Boden des Herrn Bompard aufgeschlagen hat (was, nebenbei bemerkt, den Wert dieses Grundstücks verdoppelt, ja verdreifacht), aber man hat des durchtriebenen Tieres noch niemals habhaft werden können.
Daran soll sich übrigens bis zu dieser Stunde noch nichts geändert haben. Noch immer sollen zwei oder drei besonders Ausdauernde auf der Jagd nach diesem Hasen sein. Durch seine merkwürdige Zähigkeit ist »Schnellfuß« mit der Zeit Gegenstand fast abergläubischer Betrachtung geworden, obwohl die Tarasconesen sonst von Natur nicht gerade sehr zum Aberglauben neigen.
»Aber«, so wird man jetzt einwerfen, »wenn es in und um Tarascon wirklich gar so wenig Wild gibt, was mach denn die tarasconischen Jäger an jedem Sonntage?«
Ja, was machen sie eigentlich?
Nun, mein Gott, sie ziehen eben aufs Feld hinaus, so zwei bis drei Meilen von der Stadt. Dann teilt sich der große Schwarm in Gruppen von je fünf bis sechs Mann; diese lagern sich ruhig und seelenvergnügt im Schatten eines Ziehbrunnens, einer alten Mauer oder auch eines Olivenbaumes, ziehen ihre Quersäcke vor und packen ihre Vorräte aus. Der eine hat ein tüchtiges Stück Braten, der andere gibt die rohen Zwiebeln dazu; dieser hat Sardellen, jener eine Wurst – so wird denn in aller Gemütlichkeit gefrühstückt und die Kehle mit einem jener Weine aus dem Rhonegebiet angefeuchtet, die binnen kurzem zum Lachen und Singen bringen.
Wenn man sich nun recht schön ausgeruht hat, dann erhebt sich die ganze Gesellschaft; man greift nach den Flinten, pfeift den Hunden und geht ernsthaft ans Jagen. Und das machen diese guten Leute folgendermaßen: jeder Jäger nimmt seine Mütze ab, wirft sie in die Luft, und zwar so hoch er irgend kann – und feuert nun fünf, sechs Schüsse auf sie ab; manchmal werden's auch nur zwei, das kommt nun ganz auf den Schützen und seine Geschicklichkeit an. Wer seine Mütze am häufigsten getroffen hat, wird zum König der Jagd proklamiert und zieht abends im Triumphe in Tarascon ein. Er trägt die durchlöcherte Mütze auf der Mündung des Gewehrlaufes, blickt stolz um sich, die Leute jubeln, die Hunde bellen, die Hörner schmettern, die Freude ist riesengroß.
Es ist eigentlich überflüssig, noch besonders zu betonen, daß in der Stadt ein sehr schwunghafter Handel mit Jagdmützen betrieben wird. Es gibt sogar einige Fabrikanten, welche die Mützen gleich zerschossen und durchlöchert verkaufen, zum Vorteil für Schwindler. Es ist aber wirklich nicht hübsch, seine Genossen auf diese Weise betrügen zu wollen; ganz genau weiß man es eigentlich auch nur vom Apotheker Bezuquet, daß er eine solche Mütze im Laden gekauft hat.
Als Mützenjäger hatte Herr Tartarin nicht seinesgleichen. An jedem Sonntagmorgen zog er mit einer funkelnagelneuen Mütze zur Jagd hinaus, und an jedem Sonntagabend kam er mit einem alten formlosen Lappen voll Löcher wieder heim. Auf dem Boden des Häuschens mit dem Baobab befanden sich hunderte solcher ruhmreichen Trophäen. Alle Tarasconesen erkannten ihn auch als ihren Herrn und Meister an, und da Tartarin mit der Jagdkunde sehr genau Bescheid wußte – er hatte ja alle Abhandlungen und alle Handbücher über alle möglichen Jagden gelesen, von der Mützenjagd bis zur Jagd auf birmanische Tiger, – so hatten ihn alle zu ihrem obersten Schiedsrichter in Jagddingen erwählt. Bei jeder Streitigkeit wurde sein Urteil angerufen.
An jedem Nachmittag von 4 bis 5 Uhr konnte man beim Waffenschmied Costecalde einen dicken Herrn sehen; er saß mit ernster Miene, die lange Pfeife im Munde, bequem auf einem grünen Ledersessel. Um ihn drängten sich die Mützenjäger; sie füllten den Laden, und draußen schlugen sich die übrigen, die keinen Einlaß mehr finden konnten, um den Vortritt. Der Herr war Tartarin, der hier der Justizpflege oblag – zugleich ein Nimrod und ein Salomo.
Mit der Jagdpassion verbinden die Leute von Tarascon noch eine andere Leidenschaft, nämlich die für Romanzen. Was in dem kleinen Neste und seiner Umgebung an Romanzen verbraucht wird, das ist kaum zu glauben. Die Poeten können den Bedarf kaum decken. Die ältesten, abgesungensten Lieder, Balladen und Romanzen, die an allen anderen Orten auf ihrem schlechten Druckpapier vergilben und vermodern – hier stehen sie in höchstem Ansehen und in vollstem Glanze. Man kann sie hier alle finden, alle. Jede Familie hat nämlich ihre eigene Romanze, und die ganze Stadt weiß es auch ganz genau.
So ist zum Beispiel allgemein bekannt, daß die des Apothekers Bezuquet mit dem Verse beginnt:
»Dich bet' ich an, du heller Stern«;
die des Waffenschmiedes Costecalde:
»Willst du in das Hüttchen ziehen«;
und die des Registrators hat sogar einen neckischen Anflug, denn sie fängt so an:
»Ja, nähm' ich nicht Besuche an, Dann könnt' man mich nicht sehn.«
Und so geht es bei allen Familien von Tarascon. Zwei- bis dreimal wöchentlich stattet man sich gegenseitig Besuche ab, und bei dieser Gelegenheit singt dann jeder »sein Lied«. Das Eigentümlichste dabei ist nun, daß es schließlich doch immer dieselben Leute sind, die dieselbe Romanze zum so und so vielten Male singen und daß trotzdem noch in keinem der Gedanke aufgestiegen ist, doch einmal mit dem lieben Nächsten zu tauschen. Das Lied gehört eben der Familie; es vererbt sich vom Vater auf den Sohn – es ist eine geheiligte Institution, und niemand wagt es, daran zu rütteln und zu rühren. Es ist auch noch niemals der Fall eingetreten, daß einer sich das Lied eines andern sozusagen ausgeborgt hätten Costecalde würde niemals wagen, auch nur leihweise die Romanze Bezuquets zu singen, ebensowenig wie Bezuquet die Costecaldes. Seit mehr als vierzig Jahren singt jeder »sein« Lied, kennt jeder das des andern – aber jeder hütet auch eifersüchtig seinen Besitz, und damit ist alle Welt zufrieden und befindet sich dem Anscheine nach auch ganz wohl dabei.
Tonangebend war, ganz ebenso wie bei dem Mützenjagen, auch bei dem Romanzensingen unser lieber Freund Tartarin. Diese Oberhoheit wurde durch nichts klarer ausgedrückt, als durch den Umstand, daß Tartarin nicht »sein eigenes« Lied hatte, sondern daß er über alle verfügen durfte. Über alle ohne Ausnahme.
Er verfügte über sie; aber ihn nun auch zum Singen zu bewegen, das war eine verteufelt schwere Sache. Auf die Ehre, der Löwe der Salons zu sein, hatte der Held von Tarascon längst verzichtet. Er saß viel lieber über seinen Jagdbüchern, als daß er einer Soiree beiwohnte und den liebenswürdigen Schwerenöter spielte vor einem Pianino aus Nimes und zwischen zwei nicht besonders hell brennenden Lichtern aus Tarascon. Die musikalischen Schaustellungen erschienen ihm überhaupt unter seiner Würde. Nur manchmal, wenn nämlich gerade beim Apotheker Bezuquet musiziert wurde, trat er wie zufällig ein, und wenn er sich dann lange genug mit Bitten hatte bestürmen lassen, willigte er endlich ein, das große Duett aus »Robert der Teufel« zu singen, und zwar gemeinschaftlich mit Madame Bezuquet.
Wer das nicht gehört hat, hat überhaupt noch nichts gehört. Was mich betrifft, so kann ich versichern, daß ich niemals, und wenn ich hundert Jahre alt werden sollte, vergessen werde, wie der große Tartarin im feierlichen Schritte sich dem Klavier näherte, mit dem einen Arme sich auf das Instrument stützte und den Mund verzog, um, beim fahlen Lichte des grünen Lampenschirms, seinem so überaus gutmütigen Gesicht den Ausdruck satanischer Bosheit zu geben, wie man ihn bei Robert dem Teufel nun einmal erwartet.
Kaum hatte er sich in Positur gestellt, so durchschauerte es alle im Salon Anwesenden; jeder fühlte, daß sich hier etwas Großes ereignen würde. Nach einer kleinen Pause begann nun Madame Bezuquet, sich selbst auf dem Klavier begleitend:
»Robert, du, den ich liebe, Und dem ich Treue schwor, Du siehst meine Angst (diese Zeile wurde wiederholt) O Gnade für dich Und auch für mich!«
Mit leiser Stimme sagte sie dann: »Tartarin, jetzt sind Sie dran«, und nun streckte Tartarin die Hand aus, ballte die Faust, schnaubte wie im höchsten Zorn und donnerte dann dreimal mit furchtbarer Stimme und unter Klavierbegleitung: »Nein! Nein! Nein!« was sich aber bei seiner Aussprache im Dialekt des Südländers anhörte wie: »Na! Na! Na!«
Madame Bezuquet begann dann wieder:
»O Gnade für dich Und auch für mich!«
»Na! Na! Na!« brüllte Tartarin nochmals, so schön er konnte – und damit war die Geschichte aus. Man sieht, sehr lange dauerte die Produktion nicht, aber es war so erschütternd, so ergreifend, das Mienenspiel war so trefflich, die teuflische Natur so genau gekennzeichnet, daß es alle Leute in der Apotheke kalt überlief und daß der Biedermann sein »Na! Na!« immer vier- bis fünfmal hintereinander zum besten geben mußte.
Wenn das geschehen war, trocknete sich Tartarin die Stirne, lächelte den Damen anmutig zu, blinzelte mit den Augen verständnisinnig zu den Herren hinüber und entzog sich allen weiteren Dankesbezeugungen.
Er ging in den Klub zu seinen Jagdgenossen und warf dort so nebenbei die Bemerkung hin: »Eben komme ich von Bezuquet, ich habe dort wieder einmal das Duett aus »Robert der Teufel« gesungen.« Und das Tollste bei dieser Geschichte war, daß er es wirklich steif und fest glaubte.
Diesen verschiedenen Talenten hatte Tartarin es also zu verdanken, daß er in Tarascon eine so hervorragende gesellschaftliche Stellung einnahm.
Es ist wirklich bewundernswert, wie der gute Mann die ganze Stadt für sich einzunehmen gewußt hatte.
Die Militärmacht von Tarascon hatte Tartarin auf seiner Seite. Der tapfere Kommandant Bravida, der früher im Montierungsdepot Dienste getan hatte, sagte von ihm: »Er ist ein Karnickel!« Und der Kommandant mußte sich doch darauf verstehen, sintemal ihm in seiner früheren Stellung doch derartiges genug unter die Hände gekommen war.