Die Zwei-Klassik-Gesellschaft - Axel Brüggemann - E-Book

Die Zwei-Klassik-Gesellschaft E-Book

Axel Brüggemann

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Beschreibung

Ein Plädoyer für die Erneuerung der Kultur Wenn die Welt sich radikal wandelt, verändert sich auch ihre Kultur. Aber wie viel Tradition sollte in den Visionen für die Zukunft stecken? Und warum sind autoritäre Machtstrukturen in der Kultur noch immer ausgeprägt? Axel Brüggemann untersucht eine Branche im Umbruch und beleuchtet die aktuellen Risse, die insbesondere durch die Klassikszene gehen. Das Buch stellt die Frage, wie politisch die Kunst in Zeiten des Krieges und der Krisen sein soll und begründet, warum auch Kulturinstitutionen nachhaltig denken müssen. Brüggemann warnt vor dem Ende der Selbstverständlichkeit der Kulturnation Deutschland, beleuchtet den staatlichen Kulturauftrag und beschreibt die Krise der Kulturkritik. Die Zwei-Klassik-Gesellschaft ist ein Plädoyer für eine grundlegende Erneuerung und liefert wichtige Denkanstöße für die weitere Debatte.

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Axel Brüggemann

DIE ZWEI-KLASSIK-GESELLSCHAFT

Wie wir unsere Musikkultur retten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk wurde vermittelt durch Aenne Glienke Agentur für Autoren und Verlage.

www.AenneGlienkeAgentur.de

© Fazit Communication GmbH

Frankfurter Allgemeine Buch

Pariser Straße 1

60486 Frankfurt am Main

Umschlag: Nina Hegemann

Satz: Nina Hegemann

Druck: CPI Books GmbH, Leck

Printed in Germany

1. Auflage

Frankfurt am Main 2023

ISBN 978-3-96251-159-3

eISBN 978-3-96251-189-0

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, vorbehalten.

Frankfurter Allgemeine Buch hat sich zu einer nachhaltigen Buchproduktion verpflichtet und erwirbt gemeinsam mit den Lieferanten Emissionsminderungszertifikate zur Kompensation des CO2-Ausstoßes.

https://cpi-print.de/de/cpi/umwelt/

Inhalt

BEVOR ES LOSGEHT – Die „sterbende Generation“ gegen die „letzte Generation“

I. TRADITION ODER ZUKUNFT – Wie zerrissen sind Publikum und Veranstalter in ihren Erwartungen?

II. KAUGUMMIFACH ODER MENSCHWERDUNG – Ist unsere Musikausbildung noch zeitgemäß?

III. AUTORITÄR ODER DEMOKRATISCH – Werden Machtmissbräuche und die #MeToo-Debatte die Spielregeln der Kultur ändern?

IV. JUBEL ODER KRITIK – Was folgt auf das Ende der Musikkritik?

V. ERHABEN ODER POLITISCH – Muss Musik sich tagespolitisch bekennen oder sollte sie zeitlos bleiben?

VI. ÜBERBORDEND ODER NACHHALTIG – Können wir uns mit Blick auf den Klimawandel die alte Klassik noch leisten?

VII. STAAT ODER PRIVAT – Lässt sich die Musikförderung im deutschsprachigen Raum aufrechterhalten?

VIII. VINYL ODER STREAM – Was bedeutet der Paradigmenwechsel auf dem Aufnahmemarkt für die Klassik?

IX. BÜHNE ODER WOHNZIMMER – Wie kann die Klassik wieder Publikum erreichen?

WAS DARAUS FOLGT – 45 Denkanstöße für eine weitere Debatte

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ÜBER DEN AUTOR

„Wir leben in einer extrem restaurativen Zeit, in der man das Risiko ausschließen will, wirklich Neues zu entdecken“.

(Christoph Schlingensief)

„Our culture has gotten too mean and too rough“.

(Melania Trump)

„Es wird so getan, als ob wir Kunst machen als Hobby. Das Rumgetrampel darauf […] ist im Grunde nichts anderes, als dass man uns ins Gesicht pinkelt und sagt: ‚Euer Kram ist nichts wert. Wir wollen das umsonst haben.‘ Eine Gesellschaft, die so mit ihren Künstlern umgeht, ist nichts wert“.

(Sven Regener)

„All you need is a little bit of magic“.

(Mickey Mouse)

BEVOR ES LOSGEHT – Die „sterbende Generation“ gegen „die letzte Generation“

„Wir brauchen eine Utopie, und für die mache ich Theater.“ (Johann Kresnik)

Solange ich denken kann, waren das Theater, die klassische Musik und die Oper immer da. Sie waren Teil meines Lebens. Als ich ein Kind war, hat der Dirigent Peter Schneider, der 1978 Generalmusikdirektor in Bremen wurde, uns den Lohengrin („mein lieber Schwan!“) erklärt und gemeinsam mit unserer Schulklasse Teile aus der Entführung aus dem Serail gesungen („Wer so viel Huld vergessen kann, den seh’ man mit Verachtung an“). Später bin ich mit der Straßenbahnlinie eins, manchmal mehrmals die Woche, aus dem eher prekären Stadtteil Kattenturm in die Stadt gefahren und habe mir – aus dem zweiten Rang des Theater Bremen – so ziemlich alles angesehen, was auf dem Spielplan stand: Ich habe die Provokationen von Johann Kresniks Ulrike Meinhof und seine Frida Kahlo gefeiert, mich über biedere Operetten-Abende amüsiert und Opern-Trouvaillen wie Manfred Gurlitts Wozzeck beklatscht.

Meine Kindheit und Jugend im Schatten der Provokationsanstalt, der guten Stube der schönen Kunst, der Mythenfabrik, des Theater Bremen, hat mich zu dem werden lassen, was ich bin: Ich habe Musikwissenschaft studiert, wurde Kritiker, Kulturjournalist und Filmemacher. Die Musik und die Bühne sind mein Leben, aber heute, mit über 50 Jahren, scheint mir die Rolle des Theaters nicht mehr ganz so selbstverständlich zu sein wie damals. In ganz Deutschland wurden Theater und Orchester fusioniert, die Bühne spielt nicht nur in meiner alten Heimat Bremen kaum noch eine Rolle, Musikunterricht wird an vielen Schulen gar nicht mehr gegeben – und in der öffentlichen Debatte ist die Stimme der darstellenden Kunst kaum noch wahrnehmbar. Aktuelle Themen werden bei Maybrit Illner oder Markus Lanz verhandelt, nicht mehr auf der Bühne des Theater Bremen.

Bin ich zu nostalgisch? Sehne ich vergeblich die Vergangenheit zurück, während die Welt sich radikal wandelt? Auf jeden Fall bin ich nicht allein mit meiner Beobachtung. Gerade in bürgerlichen Kreisen sorgt das Verschwinden der kulturellen Selbstverständlichkeit für zuweilen wütende Reaktionen. Es herrscht eine Art Kulturkampf zwischen der „sterbenden Generation“ und der „letzten Generation“. Zwischen jener Gruppe, die seit Jahrzehnten zum treuen Orchester- und Theaterpublikum zählt, und jener, die mit dem Theater nur wenig anzufangen weiß und lieber auf der Straße für eine Zukunft mit neuen Regeln kämpft. Ein Teil des aktuellen Publikums will unsere Bühnen mit der Wut der Verzweiflung als Tempel des Gestern behaupten. Diese Haltung kommt oft aus einem Bildungsbürgertum, das sich zum Konservieren des Bestehenden verabredet hat. Debatten um Blackfacing oder autoritäre Führung, um Gendern oder Diversität werden von ihm als überflüssige „Wokeness“ abgetan. Gleichzeitig attackiert eine junge Generation Bilder von Monet, Klimt oder Van Gogh mit Kartoffelbrei, Öl oder Tomatensuppe, stört klassische Konzerte und klebt sich an Kunstwerke, die sie so zu Requisiten ihrer eigenen Inszenierung degradiert.

Dieser Essay beginnt mit meiner eigenen Zerrissenheit, quasi zwischen den rivalisierenden Polen. Ich beobachte, wie Werte, die ich schätze, auch zu meinem Bedauern verschwinden und wie neue Werte an Bedeutung gewinnen, die ich durchaus teile. Ich glaube fest, dass die Kulturlandschaft – und besonders die Nische der klassischen Musik – zu klein ist, um in eine „Zwei-Klassik-Gesellschaft“ zu zerfallen. Doch die „sterbende Generation“ und die „letzte Generation“ erscheinen in der Öffentlichkeit wie unvereinbare Bewegungen einer modernen Kulturgesellschaft, die vollkommen unterschiedliche Erwartungen an Theater und Bühne formulieren. Was ihre Ideologien eint, sind die Empfindungen tiefer Enttäuschung, ein Unverständnis gegenüber der allgemeinen Weltlage und ihre zunehmende Radikalisierung. Für die „sterbende Generation“ stellt das bürgerliche Theater eine der letzten gesellschaftlichen Trutzburgen eines traditionellen Bildungskanons dar, während das wahre Spektakel – bis hin zum Weltuntergang – für die „letzte Generation“ längst nicht mehr auf den Bühnen, sondern in dem, was wir Wirklichkeit nennen, stattfindet. Sie braucht keinen Monet, Mozart oder Wagner; sie hat die reale Welt längst zur Bühne in eigener Sache erhoben.

Oft bleibt im Kampf um die Kultur keine Zeit für den großen Blick, dafür, die unterschiedlichen Schauplätze miteinander zu verbinden, nach Strukturen zu fragen, nach Anlässen und Ursachen. Zuweilen ist das polemische Gegeneinander zu verlockend, um mühsam nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Oft bleiben Beobachtungen lediglich flüchtige Notizen, die sich Woche für Woche aneinanderreihen und – häufig aus bloßem Zeitmangel – nicht miteinander in Verbindung gebracht werden. In diesem Essay unternehme ich den Versuch, einen Schritt zurückzutreten und meine individuellen, alltäglichen Beobachtungen des Theater- und Klassikbetriebes zusammenzuführen. Oft sind die Eindrücke aus den Gesprächen für meinen Podcast Alles klar, Klassik?, meine Interviews für unterschiedliche Zeitungen und Zeitschriften, meine privaten Begegnungen mit Künstlerinnen und Künstlern, mein Austausch mit Intendantinnen und Intendanten während meiner Filmdrehs oder hinter den Kulissen ebenso flüchtig wie deren alltäglicher Kampf, ihre Theater und Orchester weiterzuentwickeln. Dieses Buch möchte einen ausgeruhten und geordneten Überblick über die vielfältigen Felder geben, auf denen die Transformation der Kultur derzeit stattfindet, und eine Art Debattenhandbuch der „Zwei-Klassik-Gesellschaft“ sein. Ein Plädoyer dafür, gemeinsam zu retten, was wir alle lieben: die große Tradition von Bühne und Musik. Um ihre gegenwärtige Relevanz zu behaupten, müssen wir die Kultur und ihre Institutionen eventuell ganz neu denken.

In der Antike diente das Theatron als Ort für politische Debatten, hier wurden die Spielregeln der Demokratie in realpolitischen Diskursen verhandelt. Gleichzeitig fanden ausschweifende Feste statt, religiöse Rituale, Komödien und Tragödien wurden in Szene gesetzt. In diesen meist mehrtägigen Dionysien verwandelte sich das Theater zu einer Erweiterung der Wirklichkeit, in der das Unvorstellbare auf der Bühne vorgestellt, das Undenkbare gedacht, das Individuelle verallgemeinert, das Kleine vergrößert und die Realität um neue Perspektiven erweitert wurde. Um Perspektiven, die nur jenseits der Realpolitik möglich sind. Das inszenierte Theater diente als Erweiterung der Debattenkultur, in der Wahrhaftigkeit in der Fiktion gesucht wurde und Halt in der Schwerelosigkeit der Fantasie.

Heute sehen Inszenierungen anders aus: Das Publikum grölt, wenn ein Staatsoberhaupt die Bühne betritt, wenn es eine Showtreppe hinunterstolpert, aus den Boxen laute Musik plärrt, wenn der Politiker als Clown – bestrahlt von gleißenden Scheinwerfern – in einem etwas zu großen Anzug, mit wilder Frisur und roter Kopfbedeckung in die Massen winkt, die ihm aus dem Dunklen zurückjubeln. Dann klatscht der Clown in die Hände und tänzelt ans Rednerpult. Plötzlich wird dem Publikum, das bei Shakespeare noch über den König als Clown gelacht hat, über seine Tollpatschigkeit oder über den notgeilen Falstaff, klar, dass der moderne Harlekin nicht gekommen ist, um Spaß zu machen, sondern um einen gewaltvollen Aufstand ins Rollen zu bringen – nicht im Raum der Kultur, auf der Bühne, sondern in dem, was wir Wirklichkeit nennen. Am Ende der Revolution des Clowns steht ein Reich, in dem die Wahrheit zur Lüge, das Vertrauen zur Missgunst, das Wir zum Ich und das Theater zur Wirklichkeit werden.

Die alte Idee des Theatron, in dem die Debatte von den Spektakeln getrennt wurde, löst sich auf, ja kehrt sich um. Denn längst hat die Realität dem Theater seine wirkungsvollsten Mittel entrissen: die ambivalente Rede, die Schaffung einer neuen Realität durch eine perfekte Inszenierung, die Überwältigung der Menschen durch Geschichten – die Verwandlung des Individuums zum erfundenen Charakter. Die Bühne – und besonders die klassische Musik – entwickelt dagegen kaum noch eine breite gesellschaftliche Wirkungskraft. Es gibt keine Protagonisten mehr, die gesellschaftliche Grundwerte ernsthaft und mit Breitenwirkung infrage stellen, so wie der Komponist Pierre Boulez in den 1960er-Jahren, als er die Opernhäuser, für ihn Ausdruck europäischer Nachkriegsbiederkeit, in die Luft sprengen wollte (worüber die Menschen sich damals noch ernsthaft aufgeregt haben!). Oder populäre Klassik-Künstler wie Herbert von Karajan oder Leonard Bernstein, die – beide auf ihre Art – gesellschaftliche Diskurse mit Musik begleitet haben.

Die Dramatis Personae unserer Wirklichkeit heißen Donald J. Trump, Boris Johnson, Wladimir Putin, Kim Jong-un oder Jair Bolsonaro. Sie alle nutzen das Theater nicht mehr als Raum ihrer eigenen Inszenierung wie die Könige des 18. Jahrhunderts, sind nicht länger auf eine Königsloge angewiesen, in der sie als reale Personen – sichtbar für das Publikum – mit der Welt des Theaters verschmelzen. Kurzerhand erheben sie die Welt selbst zur Bühne, übernehmen persönlich die Hauptrollen und führen gleichzeitig Regie.

Natürlich nutzen nicht nur die Clowns als Könige die Mittel theatraler Inszenierung. Ihre Gegenspieler stehen ihnen in nichts nach: Joe Biden, Emmanuel Macron, Justin Trudeau oder Wolodymyr Selenskyj beherrschen das Spiel der Inszenierung ebenfalls. So bedient der Präsident der Ukraine das Narrativ des furchtlosen Beschützers seiner Heimat und zeigt, dass die professionelle Inszenierung der Realität auch zur Kraft des Guten werden kann. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Selenskyjs politische Wurzeln im Schauspiel liegen, so wie zuvor bereits Ronald Reagans oder Arnold Schwarzeneggers.

Wir leben in einer Welt, in der nicht nur Gruppen wie die „Letzte Generation“ ihre Anliegen durch spektakuläre Aktionen in Szene setzen, sondern in der jeder die Inszenierung des eigenen Daseins per Facebook, Instagram oder Twitter pflegen kann: Die sozialen Netzwerke bieten Millionen kleine Bühnen, auf denen individuelle Wirklichkeiten entstehen und Wunsch-Charaktere unsere tatsächlichen Ichs ergänzen oder gar ersetzen. Ein millionenfaches Welt-Theater, das keine kollektive, sondern viele ganz unterschiedliche, individuelle Wahrheiten in Szene setzt. Dabei nutzen wir alle die uralten Mittel der Bühne, um unsere persönliche Wirklichkeit als kleineres oder größeres Spektakel zu etablieren, eine auf allen Seiten weitgehend entideologisierte Welt, die von unendlich vielen „Schauspielerinnen“ und „Schauspielern“ gestaltet wird.

Bereits Ende der 1960er-Jahre beschrieb der Soziologe Guy Debord die Entwicklung zu einer „Gesellschaft des Spektakels“. Das Spektakel, schrieb er, stelle jedes ideologische System in seiner Fülle dar, eine „Verarmung, Unterjochung und Negation des wirklichen Lebens“. Für Guy Debord bedeutete die Verspektakulisierung der Gesellschaft gleichzeitig ihre Passivisierung und Entideologisierung.

Was der Philosoph 1968 noch nicht beantwortete, war, welche Auswirkung eine Gesellschaft, in der das Spektakel zur alltäglichen Realität wird, für die Bühnen hat. Was wird aus dem Theatron der Dionysien, das einst als exklusiver Raum der Inszenierung und des Spiels etabliert wurde? Welche Rolle übernimmt das Theater in einer Welt, die selbst zum Theater geworden ist?

Während der Corona-Krise haben viele Kulturschaffende die sogenannte Relevanzfrage gestellt. Mit Erstaunen stellten sie fest, dass ihnen der solidarische Rückhalt innerhalb der Gesellschaft fehlte. In der Krise wurden Kunst und Kultur nicht als Aushängeschilder eines Landes oder als Seelentröster einer Nation verstanden, sondern in der staatlichen Prioritätenliste hinter die Wirtschaft gereiht und – was viele Kulturschaffende besonders ärgerte – auf eine Ebene mit Unterhaltungs- oder Sporteinrichtungen gestellt. Für viele kam diese Entwicklung überraschend. Dabei hatte sich das Ende der alten Selbstverständlichkeit von Kultur als Raum des Freidenkens einer Gesellschaft schon vor der Pandemie abgezeichnet, unter anderem durch die fortschreitende Überführung des Spektakels in die Wirklichkeit.

Gerade die Kultur der klassischen Musik transformiert derzeit in eine „Zwei-Klassik-Gesellschaft“, in der Gegensätze auf ganz unterschiedlichen Ebenen miteinander um die Zukunft ringen. So wie manche Politiker sich nach einer Welt sehnen, die längst vergangen ist, gibt es auch in der Kultur Kräfte, die jeden Wandel als Rückschritt verstehen und sich eine Welt wünschen, in der Siegfried auch weiterhin einen großen grünen und Feuer speienden Drachen mit einem echten Schwert aus Eisen tötet, um danach eine blonde Brünnhilde mit Flügelhelm wach zu küssen. Ein Szenario, das für andere so unvorstellbar erscheint wie ein Zurück zur Sowjetunion von 1988, in die USA von Richard Nixon oder ins Commonwealth von Queen Victoria.

Die Welt dreht sich, und ausgerechnet Kulturinstitutionen, die gemeinhin als Vordenker einer Gesellschaft dienen, haben in den letzten Jahren verpasst, sich selbst und ihre eigene Betriebskultur zu modernisieren. Während DAX-Unternehmen Diversität, flache Hierarchien und ein auf Fairness basiertes Betriebsklima als strategischen (und ökonomischen) Vorteil begriffen haben, pflegen Theater oder Orchester oft noch autoritäre Hierarchien und dulden psychologische, zuweilen gar sexuelle Abhängigkeiten. Teilweise werden diese überkommenen Strukturen mit einem veralteten Geniekult begründet und gepflegt. Philosophen wie Konrad Paul Liessmann stilisieren Kultur gern zu einem Ort der Amoral und der Unabhängigkeit von bürgerlichen Moralvorstellungen. Gleichzeitig stellt eine junge Generation gerade unsere Kulturinstitutionen vor besonders hohe moralische Erwartungen.

Theater oder Orchester, die sich dem Wandel verweigern, werden als unattraktive Arbeitgeber wahrgenommen. Fachkräfte wandern aus den Kulturbetrieben ab. Aus Frust, aufgrund von Überarbeitung, unregelmäßigen Arbeitszeiten, schlechter Moral oder schlechter Bezahlung. Sie finden bessere Arbeitsbedingungen in der freien Wirtschaft. Der Deutsche Bühnenverein rechnet bei einer Fortsetzung dieses Trends damit, dass 2030 bereits 2.500 Stellen (vom Beleuchter über den Schreiner bis zum Pressesprecher) an deutschen Theatern nicht mehr besetzt werden können.

Innerhalb der Kultur führen die Extreme zu einer gefährlichen Spaltung. Auf der einen Seite hofft die „sterbende Generation“ darauf, dass die Komplexität und Unsicherheit unserer Welt an unseren Theatern vorbeizieht, dass sie als intellektuelle Bollwerke nicht nur den Geist des Gestern konservieren, sondern auch weiterhin die alten Lösungsansätze und Perspektiven auf unser Dasein pflegen. Auf der anderen Seite hat die „letzte Generation“ längst ihr eigenes Spektakel erschaffen, an dessen Ende sie unweigerlich die Apokalypse erwartet – nicht als Bühnenspektakel mit fliegenden Raben, jammernden Rheintöchtern und einem abtretenden Weltengott, sondern ganz real, als Spiel um Leben und Tod.

Vielleicht liegt in der „Zwei-Klassik-Gesellschaft“, die auf so vielen Ebenen erbarmungslos um den richtigen Weg ringt, die eigentliche Legitimation von Kultur. Die Kunst muss wieder zum ästhetischen Schlachtfeld werden, zu einem Ort, an dem spielerisch das Undenkbare gedacht und das Unaussprechliche ausgedrückt wird, in dem andauernd und leidenschaftlich um die Definition von Qualität gerungen wird. Eine Welt, die mit der Rezeption des Vergangenen im Jetzt Visionen für die Zukunft entwickelt.

In den folgenden Kapiteln möchte ich die Diskussionslinien der einzelnen Spielfelder herausarbeiten: die Debatten um Bildung, Journalismus, um politische Positionierungen, die Digitalisierung, den Markt und die Frage nach staatlicher Legitimation. Dieses Buch will zum konstruktiven Streit anregen, denn gerade im Streit um unsere Kultur, darin, ihren Sinn grundsätzlich infrage zu stellen, liegt ihre vereinende Kraft. Das ursprüngliche Konzertieren, das „eifrige Streiten“, das sich aus dem Wort „concertare“ herleitet, muss wieder Zweck von Musik werden: ein Raum der spielerischen Debatte mit Regeln jenseits der real existierenden Leitplanken.

Kultur kann der politischen Inszenierung – gerade in Zeiten der Krise – das Spektakel kluger Ästhetik entgegensetzen, kann eine Streitkultur jenseits des Alltäglichen entwickeln, innerhalb der Institutionen mit neuen Formen des Umgangs experimentieren und die Entwicklung von kreativen Unternehmenskulturen fördern. Gerade im staatlich getragenen Raum der Kultur ist das Scheitern als Möglichkeit nicht nur erlaubt, sondern Teil eines Prozesses des Neudenkens. Ich werde diesen Streit im folgenden Essay für unterschiedliche Bereiche der Kultur deklinieren und seine argumentativen Enden zusammenführen, da ich der festen Überzeugung bin, dass die eigentliche Einheit kulturellen Handelns in der gemeinsamen Pflege des Disputs besteht – darin, immer wieder aufs Neue die Position unserer Gegenwart miteinander auszuhandeln.

I. TRADITION ODER ZUKUNFT – Wie zerrissen sind Publikum und Veranstalter in ihren Erwartungen?

„Kinder, schafft Neues.“ (Richard Wagner)

„Wer zahlt, schafft an“, heißt es, oder „wer zahlt, bestimmt die Musik“! Ein Bonmot, das auf das Theater übertragen auch bedeuten könnte: „Wer ein Ticket kauft, bestimmt, was auf die Bühne kommt.“ Einige Theaterschaffende scheinen ihre Arbeit genau so zu begreifen: die Bühne als ästhetisches Dienstleistungsunternehmen zur allgemeinen Unterhaltung. Sie wollen mit ihren Programmen jene Zuschauerinnen und Zuschauer befriedigen und bedienen, die bereits Publikum in ihren Häusern sind. Eine Art Treue-Bonus-Programmierung aus der Überzeugung heraus, dass jene, die nicht ins Theater kommen, auch nicht über die Spielpläne mitentscheiden sollten.

Diese Herangehensweise hat allerdings ein erhebliches demografisches Problem. Denn auf eine 16-jährige Person kommen in einem deutschen Theater mindestens drei bis vier 60-jährige Menschen. Würde also die Mehrheit der Theatergäste über die Ausrichtung unserer Häuser entscheiden, bestünde die Gefahr, dass die Institutionen den Anschluss an ein neues und junges Publikum verlieren. Wenn Theater und Orchester sich an einer einzigen Zielgruppe ausrichteten, hinterließe der Mehrheitsgeschmack der „sterbenden Generation“ früher oder später eine kulturelle Wüstenlandschaft, in der die „letzte Generation“ keine Heimat mehr hätte. Die Interessen der jüngeren Generation, ihre Erwartungen, ihre technischen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Strömungen würden auf der Bühne nicht mehr abgebildet werden. Verantwortungsvoll mit Theatern und Orchestern umzugehen muss also auch bedeuten, ganz besonders jene Menschen im Auge zu haben, die (noch) nicht zu den Besucherinnen und Besuchern gehören, die aber Theater und Orchester durch ihre Steuern ebenfalls zu einem erheblichen Teil mitfinanzieren – als Orte, auf deren Existenz und Förderung wir uns als Kulturgemeinschaft geeinigt haben.

Gerade in Zeiten der Unsicherheit und des radikalen gesellschaftlichen Wandels, mit dem wir es nach der Pandemie und während eines Krieges mitten in Europa zu tun haben, scheinen sich besonders ältere Menschen nach dem Theater als letztem Ort der Kontinuität zu sehnen. An dieser Stelle ist es wichtig, zu betonen, dass ich die Begriffe der „letzten Generation“ und der „sterbenden Generation“ in diesem Essay nicht als fixe Altersangaben verstehe, sondern als grundlegende Positionierung in unserer Welt, als Ausdruck einer Haltung gegenüber der Kultur. Natürlich gibt es auch junge Menschen, die den Konservatismus der „sterbenden Generation“ predigen, so wie sich viele ältere Menschen durchaus mit den Zielen der „letzten Generation“ solidarisieren. Und dennoch sind auch die jüngsten Zahlen der Bertelsmann-Studie Relevanzmonitor Kultur eindeutig: Es sind die über 50-Jährigen, die eine Mehrheit des Publikums in Theatern und Konzerten ausmachen.

Vertreterinnen und Vertreter der „sterbenden Generation“ hoffen, dass Bühnen und Konzertsäle kulturelle Bollwerke gegen den allgegenwärtigen Wandel werden, erwarten, dass sie sich den allgemeinen Transformationstendenzen verweigern. Für sie sollen in der Kultur nicht die alten Fragen neu verhandelt, sondern die Werte von gestern für die Zukunft behauptet werden. Die in der Oper besonders ausgeprägte, oft gern „konservative Strömung“ genannte Publikumsschicht will Kulturinstitutionen als Orte der Stabilität und Sicherheit verstanden wissen, mitten in einer Welt, in der alte Regeln allerorts auf dem Prüfstand stehen: der Umgang der Menschen untereinander, unser Blick auf Geschlechterrollen, unser Verhältnis zu Energie und Nachhaltigkeit, die Definition von Political Correctness, nationale Bündnisse, das Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Minderheiten, unser Umgang mit Migration und Zuwanderung und schließlich die allgemeinen Regeln unseres Verhaltens und unserer Sprache von Diversität bis zum Gendern.

Während ein Teil der „sterbenden Generation“ vehement dafür kämpft, dass ihr Lebensstil vom Wandel verschont bleibt (und dazu gehören ganz besonders Theater und Orchester), erscheint gerade der radikale Wandel für die „letzte Generation“ die einzige Zukunftsperspektive. Kulturinstitutionen sind für sie weniger Orte der gesellschaftlichen Debatte als vielmehr Symbole einer alten Welt. Im Kampf gegen den Klimawandel benutzt die „letzte Generation“ Kunsthallen, Theater, Konzerthäuser oder andere repräsentative Kulturveranstaltungen als Requisiten ihrer eigenen Agenda, als Faustpfand im Kampf gegen die Beharrungskräfte der „sterbenden Generation“. Mit dem Theater selbst können viele Mitglieder der Protestbewegung nur wenig anfangen. Warum das so ist, versuche ich später (im Kapitel „Erhaben oder politisch“) genauer zu ergründen. An dieser Stelle reicht zunächst die Beobachtung, dass wir in unseren Kulturinstitutionen derzeit jene Grabenkämpfe unter einem emotionalen Brennglas ausfechten, mit denen wir auch im Alltag zu tun haben: einen Kulturkampf zwischen radikaler Erneuerung und beharrlicher Stagnation.

Die Verantwortlichen von Kulturinstitutionen sind sich uneinig, an welcher gesellschaftlichen Gruppe sie ihr Angebot ausrichten sollen. Manche verstehen „Wer bezahlt, bestimmt die Musik“ als Verpflichtung gegenüber ihren treuen Kunden. Andere argumentieren, dass ein Großteil der Gelder für Kultur aus öffentlichen Kassen fließt und Kulturinstitutionen auch deshalb jenen Menschen gegenüber verantwortlich sein sollten, die ihre Angebote noch nicht nutzen. Die Frage, ob man die Tradition starr bewahren muss oder Theater und Konzerte ebenso grundsätzlich infrage stellen sollte wie alles andere, spaltet nicht nur Besucherinnen und Besucher, sondern auch die Kulturinstitutionen, das Feuilleton und die Kunstschaffenden selbst. Dabei könnte gerade in dieser Debatte eine große Chance der Kultur liegen, Antworten für die Politik zu finden, die über den Alltag hinausreichen. So wäre zum Beispiel die derzeit hitzig debattierte Frage nach kultureller Aneignung im Kulturbetrieb bestens aufgehoben. Denn nirgends anders wird seit jeher mit Kulturen, kulturellen Mythen und Stereotypen jongliert wie auf unseren Bühnen.

Bislang wird die Debatte der kulturellen Aneignung allerdings auch in Kulturkreisen ähnlich stereotyp, verbohrt und unvereinbar geführt wie zwischen Mitgliedern von AfD und Grünen auf Twitter. Das Blackfacing von Anna Netrebko als Aida in der Arena di Verona wird im Feuilleton ebenso emotional kommentiert wie der Klimawandel in einer Talkshow von Markus Lanz. Dabei ist das Thema der Aneignung eine Grundkonstante im Selbstverständnis jeder darstellenden Kunst. Nirgendwo sind Aneignung, Verstellung und das Annehmen einer Rolle so selbstverständlich und „normal“ wie auf der Bühne. Im Licht der Scheinwerfer kann jeder Mensch durch Kostümierung, Fantasie oder schiere Behauptung jede beliebige Gestalt annehmen. Ein dicker Tenor aus Trinidad tritt als strahlender deutscher Held auf, besiegt im Kampf einen Drachen und ehelicht eine spanische Sängerin, die Wagners Brünnhilde gibt. Eine französische Sopranistin verkörpert die vom Italiener Giacomo Puccini komponierte Japanerin Cio-Cio-San, die von einem finnischen Tenor in der Rolle eines amerikanischen Seemanns in den Suizid getrieben wird. Ja, wie falsch kann es bei einem derartigen nationalen Durcheinander sein, wenn eine russische Sängerin sich das Gesicht dunkel färbt, um in die Rolle einer von Ägyptern gefangenen Äthiopierin zu schlüpfen?

Natürlich ist auch das Gegenargument vollkommen legitim. Wenn sich einzelne gesellschaftliche Gruppen durch derartige Formen der kulturellen Aneignung diskriminiert fühlen, muss man das ernst nehmen! Dann geht es um die Frage, wie wir diese verständliche Verletztheit gegen den Anspruch auf Verkleidung abwägen. Niemand wird ernsthaft erwarten, dass ein Schauspieler, der nicht selbst krank ist, keinen Kranken spielen darf, dass ein Wozzeck-Sänger Wozzecks Leiden aus dem wahren Leben kennen muss, und natürlich ist es kein falscher Klassismus, wenn ein millionenschwerer Tenor-Star wie Jonas Kaufmann den armen Poeten Rodolfo aus Puccinis La Bohème gibt. Es gehört zur Tradition des Theaters, dass Männer und Frauen ihre Rollen wechseln, dass Kulturen imitiert, überspitzt und, ja, zum Teil auch lächerlich gemacht werden. Und wo, wenn nicht im Theater, besteht die Möglichkeit, über diese lange Tradition der Aneignung zu sprechen. Das Theater ist seit jeher eine gigantische Mythen-Klitter-Maschine, bei der es immer wieder darum geht, tradierte und mitgeschleppte Stereotype alter Klassiker aus der Gegenwart nach ihrer aktuellen Gültigkeit zu befragen.

Eine differenzierte Debatte würde schnell zeigen, dass es oft weniger der Akt des Blackfacings selbst ist, der die Gemüter erregt, als die Naivität der Künstlerinnen und Künstler, die sich nicht vorstellen können, damit andere Gesellschaftsgruppen zu kränken. Es geht also nicht darum, Anna Netrebko grundsätzlich für ihre Sehnsucht nach Verkleidung zu verurteilen, sondern darum, mit ihr gemeinsam zu debattieren, ob ihre Verweigerung, die Verletztheit anderer wahrzunehmen, nicht der eigentliche Kern der Diskussion ist. Naivität schützt bekanntlich nicht vor Irrtümern, und das Blackfacing, wie es in der Arena di Verona betrieben wird, ist letztlich ähnlich unreflektiert, als würde man Wagners Werk vollkommen ohne die Zurkenntnisnahme seiner nationalsozialistischen Vereinnahmung aufführen.

Dabei könnte gerade das Theater vormachen, wie eine bewusste und verantwortungsvolle kulturelle Aneignung aussehen könnte, es hätte die Chance, Vorreiter eines wichtigen Diskurses zu werden, eine Vermittlerrolle einzunehmen und als Selbstverständlichkeit zu etablieren, dass jede Form der künstlerischen Aneignung immer ein Bewusstsein und eine Legitimation haben sollte: sichtbar auf der Bühne oder als abgeschlossener Diskurs hinter den Kulissen.

War es nicht auch eine Form „klassistischer Aneignung“, als Hans Neuenfels seine Aida 1981 in Frankfurt als Putzfrau auf die Bühne treten ließ? War es vielleicht damals schon ein Kommentar zur heutigen Aneignungsdebatte, dass Neuenfels die gefangenen Äthiopier bewusst als Wilde in Szene setzte und ihnen Brathähnchen zum Fraß vorsetzte? Quasi als Überspitzung der theatralen Kultur vermeintlich kultureller Überlegenheit?

Schon damals gab es Tumulte gegen die Inszenierung, sogar Bombendrohungen, es gab eine öffentliche Debatte darüber, was das Theater soll und was nicht. Wie auch immer die Antworten in derartigen Diskussionen ausfallen: Der Raum des Theaters, der seit jeher auch ein Raum der Maskierung und des Spiels mit unterschiedlichen kulturellen Einflüssen ist, bietet sich als perfekter gesellschaftlicher Ort an, um derartige Streitfragen zu debattieren.

Es wäre eine ebenso vertane Chance, Fragen nach heute eventuell problematischen Inhalten großer Meisterwerke nicht aus unserer Zeit heraus neu zu beantworten: Wie chauvinistisch ist ein Großteil unserer Opern? Wie gehen wir mit alten Rollenbildern, mit einer Carmen, einer Mimi, aber auch mit einer Brünnhilde um? Müssen wir den Zigeunerbaron umbenennen, müssen wir das Klischee, das hier bedient wird, aus der Operette tilgen oder es bewusst thematisieren? Wo, wenn nicht in der Kultur der Bühne, in der die Kunst der Vergangenheit stets aufs Neue entsteht, können derartige Debatten ausgetragen werden? Es gibt wenig andere Orte neben dem Theater, an denen wir die Geschichte so risikolos und dennoch ernsthaft mit den Erwartungen unserer Zeit konfrontieren können. Es wäre falsch und fatal, diese zeitgemäßen Fragen als woke Hysterie abzutun, zu denken, man müsse Mozart vor Diskussionen um sein Bild von Muslimen, etwa in der Entführung aus dem Serail, in Schutz nehmen und dürfe die Welten von Goethe, Schiller oder Bach nicht immer wieder neu aus dem Heute debattieren. Denn es geht bei alldem nicht darum, Kultur-Götter zu demontieren. Gerade Künstlerinnen und Künstler, die über ihre Zeit hinausgewiesen haben, werden das Abklopfen ihrer Werte überstehen und wissen, dass kritische Rückblicke aus der Gegenwart seit jeher mehr über das Jetzt verraten haben als über die Vergangenheit. Kritisch mit Mozart und Beethoven umzugehen, bedeutet nicht, sie zu beschädigen, sondern, ihren klassischen Wert für unsere Zeit zu schätzen und zu nutzen.

Indem die Bühnen sich diesen Fragen stellen, könnten sie wieder jene gesellschaftlichen Orte werden, die Antworten auf Fragen weit über das Theater hinaus geben könnten. Bei einem Komponisten wie Richard Wagner gehört genau das längst zur Rezeptionsgepflogenheit: Keine Regisseurin und kein Regisseur kann die Augen vor dem Antisemitismus des Komponisten verschließen, nicht vor seinem Nationalismus und nicht davor, dass seine Musik im Nationalsozialismus missbraucht und pervertiert wurde. Doch genau diese Ambivalenz macht Richard Wagner und dessen Kunst zu einem so spannenden Bühnenprojekt, auch und gerade in unserer Zeit. Wir müssen sein Werk mit den Klitterungen seiner historischen Mythen begreifen und Antworten auf Fragen finden, die Wagner selbst in seinen Stücken nie gestellt hat.

Nirgends wird die immer wieder neue Vergegenwärtigung von Oper so deutlich wie bei den Bayreuther Festspielen: Wieland Wagner zeigte nach dem Zweiten Weltkrieg eine leere „Ring-Scheibe“ – ein Symbol für die geistige „Entrümpelung“ der Festspiele von der nationalsozialistischen Annexion. Damals ein Skandal. Ebenso wie der Jahrhundert-Ring von Regisseur Patrice Chéreau, der Wagners Götter 1976 zu Menschen schrumpfte und damit für minutenlange Buhstürme sorgte. Später war die Tetralogie in Bayreuth in der Regie von Harry Kupfer als Mahnung an den Menschen und seinen Raubbau an der Natur zu sehen, und bei Jürgen Flimm führte der Ring des Nibelungen direkt in die reale Welt des deutschen Kanzleramtes von Gerhard Schröder. Frank Castorf zeigte Rheingold, Walküre, Siegfried und Götterdämmerung