Die zwei letzten Assassinen - Florian Drescher - E-Book

Die zwei letzten Assassinen E-Book

Florian Drescher

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Beschreibung

Das riesige Reich Arakan wird von einem König regiert, dessen Jahre als Herrscher gezählt sind. Bisher vom Magier-Orden, der mächtigsten Instanz des Landes unterstützt, wendet sich genau diese gegen ihn. Dabei hat es der Orden nicht nur auf den Thron, sondern die vollkommene Herrschaft abgesehen. Um das Volk gefügig zu halten, wird ein neuer Glaube eingeführt, an dessen mysteriösen Gott sich die Geister scheiden. Dabei ist der Fokus auf Grim und Tamara, den Hauptfiguren dieser Geschichte, gerichtet. Zu Beginn zwei einfache Jugendliche ohne eine nennenswerte Kampfausbildung, dauert es nicht lange, bis sie in die Machenschaften des Ordens verstrickt werden. Nachdem der neue Glaube auch in ihrem Heimatdorf einzieht, kommt es zu einer Tragödie und ihr Leben verändert sich für immer. Begleitet Grim und Tamara auf ihrem Rachefeldzug!

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Über mich

Hi.

Danke für den Kauf meines Buches.

Um ein paar Worte über mich zu verlieren: Ich bin 24 Jahre alt, studiere BWL und mein Berufswunsch liegt in einer vollkommen anderen Richtung – ich möchte Schriftsteller werden! (Wer hätte das gedacht?)

Na ja, zwischen Hobby und Beruf liegt ein gewaltiger Unterschied. Eine schmerzhafte Lektion. Anfang 2015 habe ich mit einem Hobby gestartet, 2023 das Fundament für den Beruf gelegt. Mal schauen, wie gut sich darauf aufbauen lässt und wie die Verkäufe sich entwickeln. Wenigstens hat es jetzt mit der Veröffentlichung geklappt. Das Sprichwort: „Aller Anfang ist schwer“, begleitet mich schon viel zu lange. Verdammt! … aber was soll man machen?

Dabei habe ich dieses Buch von Ende 2018 bis Juni 2020 geschrieben, aber bis zur Publikation sind mehrere Jahre vergangen. Aber egal … ich hoffe, es gefällt euch genauso gut wie mir! Und da ich zwischen 2020 und heute nicht nur gefaulenzt habe, dürfte eine Fortsetzung nicht lange auf sich warten lassen. (Zu den Folgebänden und der Gesamtlänge der Buchreihe verliere ich im Nachwort noch ein paar Worte …)

Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!

Florian Drescher

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1.

Geschichte: Das schöne Leben in Rachon:

Kapitel 1: Das Fest zu Ehren von Surjean

Kapitel 2: Die arme Tamara Nero

Kapitel 3: Das Angebot

Kapitel 4: Vom alten in das neue Leben

Kapitel 5: Zwischenspiel

Kapitel 6: Sevs Eigentum

Kapitel 7: Ernesto Guillerve

Kapitel 8: Schreckliche Neuigkeiten

Kapitel 9: Zwischenspiel

Kapitel 10: Das Blutbad

Kapitel 11: Zwischenspiel

Kapitel 12: Der Karmansee

2.

Geschichte: Die Lehre zum Assassinen:

Kapitel 13: Zwischenspiel

Kapitel 14: Die Bestattung der Geliebten

Kapitel 15: Tamara & Grim im Wald

Kapitel 16: Zwischenspiel

Kapitel 17: Assassinen?

Kapitel 18: Liebe oder Träume?

Kapitel 19: Die Vergiftung

Kapitel 20: Magie muss her!

Kapitel 21: Der Norden von Movina

Kapitel 22: Das Tor von Ophalt

3.

Geschichte: Liebe, Missgunst, Loyalität:

Kapitel 23: Die zehn Herren des Himmels

Kapitel 24: Zwischenspiel

Kapitel 25: Der zweite Weg

Kapitel 26: Der Priester von Porta-Rosa

Kapitel 27: Der Aufenthalt von Leona Vanzetti

Kapitel 28: Zwischenspiel

Kapitel 29: Der Turm

Kapitel 30: Tamaras Vorgehensweise

Kapitel 31: Grims Vorgehensweise

Kapitel 32: Leona Vanzettis Prüfung

4.

Geschichte: Der Rächer einer Toten:

Kapitel 33: Zwischenspiel

Kapitel 34: Rückkehr zum Priester

Kapitel 35: Treffende Erkenntnis

Kapitel 36: Ein ungewollter Besuch

Kapitel 37: Gefangenschaft

Kapitel 38: Der wichtige Zirkus

Kapitel 39: Leonard & Jamie

Kapitel 40: Mit Blick in die Zukunft

Nachwort

Prolog

Lisa von Moscharith war eine wunderschöne Frau. Gesegnet mit einer graziösen Figur, langen, blonden Haaren, feinen Gesichtszügen, vollen Lippen, wohlgeformten Brüsten und den Maßen, die Männer beim weiblichen Geschlecht schätzen. Sie war eine schöne, aber leider auch grausame Frau. Und dieser schreckliche Charakterzug blühte beim arakanischen Feldzug gegen Krassar vollends auf.

Keiner verstand die Gründe, warum Krassar in einer größenwahnsinnigen Aktion das Reich angriff. Schon vor Beginn des Krieges gab es nur eine Möglichkeit, wie alles enden konnte. Genau dieses Szenario trat ein, als die Truppen des Königreiches die Hauptstadt einnahmen. Alles unter Lisas Kommando. Doch es würde niemals ein Tag des Triumphs, sondern immer ein Tag der Tragödie bleiben …

„Riechst du die schwere Luft?“, fragte Lisa.

Sie bekleidete den ersten Rang im Orden und hatte durch ihre Magie den Alterungsprozess gestoppt. Neben ihr stand ein Mann, gewöhnlich und alternd.

„Es sind die Flammen, hohe Magierin. Die Flammen, welche über Stein und Mensch lecken“.

Sie holte tief Luft. „Ja, es ist mein Feuer, das der Luft ihr Aroma verleiht“.

Die schlimmsten Verwüstungen des Feuers endeten längst, es erlosch allmählich. Gemäßigten Schrittes stieg Lisa den Hang hinab, auf die Hauptstadt zu. Vor ihnen befand sich Sevon, einst hunderttausend Einwohner messend. Wie viele werden das lodernde Feuer überstanden haben?

Bis zum heutigen Tag starben sieben Millionen Menschen im Krieg, über sechseinhalb Millionen waren Krassaner. Häufig kam es zu Bestrafungen durch das arakanische Militär, der Magier-Orden hatte die Kontrolle über den Krieg an sich gerissen.

Neben Lisa zogen noch zwei weitere Magier in den Krieg, Mendoza und Paladin, beide höhergestellt als sie. Für die beiden ging es um die Erfüllung der Pflicht, Lisa wollte sich dagegen beweisen. Sicherlich war das einer der Gründe, warum sie die Stadt in Flammen setzen ließ. Stundenlang hatte das Feuer in den Bezirken gewütet, die Folgen breiteten sich vor ihr aus. Abschätzen konnte sie die schlimmen Verwüstungen des Infernos nicht, die Ausmaße entglitten ihr.

Die arakanischen Truppen verriegelten die herausführenden Straßen, keiner sollte seiner Strafe entkommen. Es war die Gerechtigkeit für ihren Angriff; so etwas geschah, wenn der Zwerg sich gegen den Riesen auflehnt.

„Werdet Ihr die Flammen löschen?“, fragte ihr Begleiter.

„Natürlich“, sie hasste dumme Menschen. „Oder sollen wir in das Inferno hineinlaufen?“.

„Entschuldigt. Ich zweifelte, ob wir überhaupt eintreten wollen“.

Sie ignorierte ihn, stattdessen kümmerte sie sich um das Feuer. Für andere Menschen war Magie etwas Ungreifbares; sie sahen kaum eine Regung, ehe die Flammen verschwanden. Alles lag ruhig da; insofern eine Stadt ruhen kann, die durch die Hölle ging. Der Moment der Stille hatte etwas Beängstigendes, er verschleierte die Bosheit.

Schnell schnappte sie sich ein Dutzend Soldaten, sie sollten ihr in die Stadt folgen. Entsetzen stand den Männern ins Gesicht geschrieben, keiner wagte gegenüber der Magierin einen Widerspruch. Ihre Macht stellte alles in den Schatten, man musste sich ihr unterwerfen.

„Wie verfahren wir?“, fragte ihr ständiger Begleiter.

„Lass das meine Sorge sein“.

Am liebsten hätte er widersprochen, denn die Männer mussten wissen, was sie bei einem Angriff taten. Nur wusste er, wer Lisa widersprach, dem erging es schlecht. Kein Laut drang über seine Lippen.

Unter Lisas Kommando schritten sie durch die Ruinen. Noch am gestrigen Tage war alles seinem gewohnten Gang gefolgt, das Unheil brach gewittergleich herein. Die schöne Vergangenheit zersprang, das Grauen hatte ein Gesicht. Das Gesicht einer hübschen Frau!

Eingestürzte Häuser, schmorrende Leichen, verschüttete Straßen, pechschwarze Palisaden und ein mausgrauer Himmel, der seine Tränen zurückhielt. Die Überlebenden rundeten das Bild ab, steuerten den schlimmsten Teil bei. Ruß hüllte sie ein, Verbrennungen entstellten sie, Hilfeschreie stahlen sich über aufgeplatzte Lippen. Wie immer zeigte der Krieg, dass selbst die Kleinsten vor ihm keine Sicherheit kannten. Jedem der Männer war klar, dieses Verbrechen vergäße die Geschichte nicht; Lisa roch nur ihren überwältigten Sieg.

Gnade hatte sie stets verabscheut, besonders gegenüber ihren Feinden. In dieser Stadt wurde die wahnsinnige Entscheidung getroffen, dass Arakan angegriffen wird. Ob der Herrscher des Landes verrückt gewesen ist?

Sein Geisteszustand ist egal, denn es folgte ein Einmarsch in die Provinz Luften, ein Durchmarsch in Richtung Falden. Der Rückschlag des arakanischen Militärs folgte wenige Tage später. Als Lisa die Flammen über Sevon legte, schwebte vor ihren Augen das Bild Mothores. Was dort geschah, ist eine andere Geschichte.

Jeder weitere Schritt führte sie tiefer in das Leichenmeer hinein. Niemand vergäße den heutigen Tag, die Bilder brannten sich in jeden Kopf - am schlimmsten waren die Hilfeschreie!

Obwohl sie in einer anderen Sprache ausgedrückt wurden, wusste jeder Soldat, was von ihm verlangt wurde. Und es fiel ihnen so schwer, den Leidenden keine Rettung bieten zu können.

Dreißig Minuten dauerte der Trauermarsch an, bis das Stadtzentrum in Sicht kam. Ein riesiger Platz, in der sanften Umarmung der Häuser, bot sich ihnen. Früher hatte hier der Handel floriert, heute zeichnete das Feuer die Umgebung. Unzählige Menschen waren während der Flammen hierher geflohen, jetzt starrten sie feindselig jene Person an, die von einem Kokon aus Macht umgeben wurde.

Sie stieg auf einen zentralen Brunnen empor, jeder konnte sie sehen. Die restlichen arakanischen Soldaten blockierten derweil die Straßenzüge nach außen, es sollte zu keiner Flucht der Gefangenen kommen. Nicht, bevor Lisa ihre letzte Strafe offenbarte.

„VOLK VON KRASSAR“, rief sie mit magisch verstärkter Stimme, „DIESER KRIEG IST GESCHLAGEN! DIE STADT IST EINGENOMMEN, EURE HAUPTMÄNNER SIND GEFLOHEN UND DER FEIGLING VON KÖNIG KEHRTE EUCH DEN RÜCKEN ZU!“.

Eine gespenstische Stille herrschte. Die armen Seelen auf dem Platz lauschten angespannt, die restlichen Überlebenden pilgerten ängstlich aus der Stadt. Eigentlich wollte sie alle bei der Bestrafung teilhaben lassen, aber sie fürchtete, dass das unkontrollierbar wäre. Niemand sähe in ihr eine Kriegsheldin, wenn es in ein Massaker ausarten würde.

„SEHT ES ALS WARNUNG, WENN IHR EUCH GEGEN EINEN ÜBERMÄCHTIGEN FEIND AUFLEHNT. ERKENNT BEIM NÄCHSTEN MAL, WANN EIN HERRSCHER GRÖSSENWAHNSINNIG WURDE!

ICH BIN MIR SICHER, IHR HABT EUCH NACH PALADIN, DER NUR WENIGE MEILEN ENTFERNT LAGERT, GESEHNT. ER HÄTTE DIESES FEUER NICHT GELEGT, UNTER IHM WÄRT IHR LEBEND DAVONGEKOMMEN. DOCH ICH BIN ÜBERZEUGT, NUR WAHRES LEID ZEIGT MENSCHEN, WAS FÜR FEHLER SIE BEGINGEN.

ICH BIN ABER AUCH ÜBERZEUGT, IN MEINER HEIMAT WIRD DIESE TAT TOLERIERT WERDEN. MEIN KÖNIG WIRD VERSTEHEN, WARUM DAS FEUER NOTWENDIG WAR. ER WIRD VERSTEHEN, WARUM MEINE FOLGENDE TAT SEINEN SINN HATTE“.

Jeder der Anwesenden betete, diese Odyssee möge endlich enden. Sie wollten dem Krieg, den die Mächtigen lostraten, entkommen. Sogar die arakanischen Soldaten hofften, Lisa lasse Gnade walten, damit kein unschuldiges Blut an ihren Händen kleben müsste.

„ICH DACHTE MIR, DASS FÜR JEDEN TAG, WO ARAKANER IHR LEBEN LIESSEN, GERECHTIGKEIT GETAN WERDEN SOLLTE. ZWEIUNDFÜNFZIG TAGE WÜTETE DIESER KRIEG! ICH FINDE, SO VIELE EURER LEUTE SOLLTEN DIESE BLUTSCHULD ZAHLEN. ICH FINDE, ZWEIUNDFÜNFZIG KREUZIGUNGEN WÄREN EIN GERECHTER AUSGLEICH“.

Der Begleiter stand neben ihr, schluckte bitter. Es war nicht recht, dass nach dem geführten Krieg weiteres Blut vergossen werden sollte. Hier hätte es enden sollen! Sie würde nie zur Kriegsheldin werden, solange es an Paladin läge, den entflohenen König einzufangen.

Lisas Worte erreichten langsam die Menschen, nur wenige beherrschten die arakanische Zunge und übersetzten. Als die Botschaft durchdrang, drohte eine Panik alle zu überwältigen. Hätten die Soldaten nicht die Straßenzüge bewacht, brächen die Verzweifelten aus. Hätte Lisa keinen magischen Schutz über ihre kleine Prozession errichtet, wäre sie vom wütenden Mob in Stücke gerissen worden.

Seit sie in Mothore auf das dortige Unheil blickte, wusste sie, dass sie in Sevon einmarschieren wollte. Die dortige Ungerechtigkeit musste gesühnt werden! Das kleine Mädchen - dunkle Augen, schreckliche Verletzungen und ein fehlender Lebenswille - gierte nach Gerechtigkeit.

Sobald die Soldaten eine fadenscheinige Ruhe herstellen konnten, erhob Lisa das Wort. „ICH WILL SECHSUNDZWANZIG FRAUEN UND SECHSUNDZWANZIG MÄNNER, ALSO ZWEIUNDFÜNFZIG MENSCHEN, DIE FÜR DEN KRIEG MIT BLUT BEZAHLEN. ICH WILL, DASS IHR WISST, WAS IHR GETAN HABT!“.

Sie hätte nicht gedacht, sie würde emotional werden; es geschah völlig ungewollt. Und diese Augen … diese dunklen, tiefen Augen …

„ICH SPRECHE RECHT DURCH KREUZIGUNG!“.

Für einen Moment herrschte gespenstische Stille, danach brach endgültige Panik aus. Sie war froh, dass sich nur vier-oder fünfhundert Menschen auf dem Platz befanden, denn gegen diese Anzahl konnten die Soldaten durchgreifen. Wären es mehr gewesen, hätte sie ihre Magie einsetzen müssen und alles wäre in ein Desaster ausgeartet. Für ein paar Minuten versank die Welt im Chaos!

Langsam kehrte die Ruhe zurück. Natürlich nur, weil Schwerter Blut kosten durften. Eine andere Sprache verstanden die wenigsten. Zwanzig Leichen zierten die Seitenstraßen, für Lisa ein vertretbares Opfer. Jetzt konnte die Bestrafung durchgeführt werden, danach dürfte sie heimkehren.

Die folgenden zwei Stunden wurden von einem wehklagenden Chor begleitet. Lisa schaute von der erhöhten Stelle des Brunnens zu, die Soldaten eilten umher und wählten willkürlich die Opfer aus. Sie taten ihren Dienst, wollten nicht als Deserteure gelten.

Am Ende standen zweiundfünfzig Menschen vor ihr, für jeden Kriegstag einen. Die Überlebenden seufzten erleichtert, und glücklich, verschont worden zu sein. Nachdem Lisa nochmals durchzählte, öffneten die Soldaten die Straßensperren. Mit gesenkten Köpfen marschierten die Gepeinigten heraus, einer nach dem anderen; keiner blickte zu den Ausgewählten und zum Tode Verurteilten zurück.

„Wollt Ihr das wirklich machen?“, fragte ihr Begleiter, die Arme vor der Brust verschränkt.

„Ich muss“, antwortete sie. „Keine Gnade, kein Mitleid. Sie sollen lernen, was es heißt, sich gegen jemand Übermächtigen aufzulehnen“.

Nägel und Hämmer wurden herangeschafft, die Opfer beteten zu namenlosen Göttern. Heute würde keine übergeordnete Kraft eingreifen, die Entscheidungen traf Lisa. Gäbe es keine braunen Augen, die sie ständig beobachten würden, hätte sie vielleicht gezögert.

Leider hatten Gier und Hass das Gute in ihr verdrängt. Der schmerzhafte Anblick eines Krieges, die Gier nach dem Aufstieg im Orden - sie konnte wegen diesen Leuten nicht weinen! Die Zeit, wo sie für andere Tränen vergoss, war vorüber.

Ihr Blick strich über ein Kind; dunkles Haar, braune Augen, keine fünf Jahre alt.

Seit wann wandeln die Toten?

Der Schock glitt nur kurz über ihr Gesicht, keiner sah ihn. Dort stand nicht das tote Mädchen, sondern ein Kind, welches sich dem Flüchtlingsstrom entzog. Bevor sie blinzeln konnte, fürchtete sie, doppelt zu sehen. Zwei identische Mädchen standen inmitten der Ruinen, eingerahmt vom Schutt ihrer gefallenen Heimat. Asche flog tänzelnd durch die Luft, es wirkte, als wären sie Boten des Todes.

Ehe sich Lisa versah, lief sie auf die beiden zu. Keines der Mädchen zuckte, sie starrten perplex.

„Warum flieht ihr nicht?“, fragte Lisa mit dem Wissen, dass die Mädchen sie nicht verstanden.

Eines antwortete: „Deinetwegen“.

Sie hob eine goldene Braue, schmeckte die Vernichtung der Stadt auf der Zunge. „Ich ließ euch gehen. Na los!“.

„Wohin?“, fragte das Mädchen. „Unsere Mutter verbrannte und unsere Brüder starben. Ich … wir haben alles verloren!“.

Erstmals wurde ihr klar, dass ihre Tat an Mothore erinnerte. Doch sie konnte ihr Herz nicht erwärmen, zu viel Eis nistete darin. Ein anderer Gedanke kam ihr, rational und mitfühlend zugleich. Dieser entsprang, weil sie eine wohlbekannte Aura von den Mädchen spürte: Magier brauchen Lehrlinge, ich muss irgendwann einen annehmen. Es scheint, als ob sie die Gabe besitzen …

Sie musterte die Mädchen, eindeutig Zwillinge. Beide hatten die Hölle in Sevon überstanden; ob sie die Frau akzeptieren würden, die ihnen die Eltern nahm? Anderseits blieb ihnen keine Wahl, wenn sie nicht als Straßenkinder enden wollten.

Und so geschah es, dass der Teufel ihnen die helfende Hand bot. Sie ging vor den beiden auf die Knie, schaute ihnen in die Augen, und sagte: „Ich habe keine eigenen Kinder, bin aber eine Magierin. Nach den Statuten des Ordens muss ich Nachfolger ausbilden. Wisst ihr, außer mir gibt es keine Frauen im Orden. Was haltet ihr davon, wenn wir diese Quote steigern?“.

Beide Mädchen sahen sich an, hatten Gedanken, die Lisa nicht erraten konnte. Sie wussten, wenn sie jemals ihre Eltern sühnen wollten, müssten sie deren Mörderin die Hand reichen. Weitschweifige Gedanken in kleinen Köpfen, doch die Mädchen waren außergewöhnlich klug. Sie hatten kaum von der süßen Frucht des Lebens gekostet, als sie merkten, wie verschimmelt sie eigentlich war; wie bei Lisa, so wuchs auch in den Herzen der Kinder das Eis.

„Ja“, ein Wort, zwei Stimmen.

„Wie heißt ihr? Warum könnt ihr meine Sprache?“.

„Unsere Eltern stammen aus Arakan, aus Leganés. Doch wir zogen vor Kurzem hierher … keine Ahnung, warum unsere Mutter ins Kriegsgebiet wollte. Ich heiße Cassandra!“.

„Naomi“.

„Oh, was für schöne Namen!“, sie reichte den Kindern die Hand, zärtlich und liebevoll. „Ich heiße Lisa und stamme aus Moscharith. Wisst ihr, ich nahm einst den Namen meiner Stadt an, damit jeder weiß, von wo ich stamme. Es ist eine große Ehre, wenn ein Dorf einen Magier hervorbringt, Cassandra und Naomi von Leganés“.

Daraufhin verließ Lisa mit den Kindern die Stadt, nach zwei Straßenzügen wehten schreckliche Schreie heran. Schreie, wie nur unglaublicher Schmerz sie hervorrief. Die beiden hielten sich die Ohren zu, wurden leichenblass. Lisas Mund umspielte ein Lächeln, böse und berechnend zugleich. Jetzt hatte sie Gerechtigkeit vollbracht und die Toten ihres Heimatlandes gesühnt.

Als sie nach Arakan zurückkehrte, reiste sie mit den Mädchen in ihren Palast. Dort wuchsen die Zwillinge auf. Einmal holten die Taten ihrer Vergangenheit sie ein, als Paladin vor ihrer Türe stand und sie vor ein Kriegsgericht zerrte. Damals blieb dem König, Sebastian Numeres, nichts anderes übrig, als sie freizulassen. Das Volk sah in Lisa eine Heldin. Doch das Volk lief niemals durch Sevons Ruinen, wo einem der Geruch von schmorrendem Fleisch die Nase verätzte und die Schreie der Kreuzigung in den Ohren brannten.

Die Frage, warum der Herrscher diesen wahnwitzigen Angriff wagte, wurde niemals geklärt …

1. Geschichte

Das schöne Leben in Rachon

Kapitel 1:

Das Fest zu Ehren von Surjean

Grim stand auf dem Marktplatz. Heute wurde das Fest zu Ehren vom Gott Surjean gefeiert – seine aufregende Zukunft stand in den Sternen.

Eigentlich stammte Grim nicht aus Rachon, er lebte auf einem nahen Bauernhof und begleitete bloß seinen Vater zum Einkauf. Ansonsten hätte er niemals vom Fest erfahren, die wenigsten Nachrichten dringen bis zum Hof vor.

Mehrere, ihm unbekannte Menschen liefen umher. Er stand wie ein Fremdkörper unter ihnen und fühlte sich unwohl, verloren, einsam. Er kannte zwar ein paar vom Sehen, sprach aber mit den wenigsten. Erschrocken zuckte er zusammen, als der Vater eine seiner riesigen Hände auf seine Schulter legte.

„Wir sollten gehen“, erklärte dieser mit tiefer, männlicher Stimme. Solch ein Bariton fand beim weiblichen Geschlecht beachtlichen Anklang.

Eine ähnliche Stimmlage besaß der Sohn. „Heute Abend steigt hier ein Fest“.

„Zu Ehren von Surjean“, es war eine Feststellung. „Willst du hingehen?“.

Grim nickte zögerlich und unentschlossen.

Der Vater sah ihn an. Ein Junge von vierzehn Jahren, groß gewachsen und ohne einziges Haar im Gesicht. Auf dem Kopf spross es dagegen hell wie Stroh, für Gold fehlte der Glanz. Sein Aussehen wurde von kräftigen Armen, einem flachen, durchtrainierten Bauch und vielen Sommersprossen abgerundet. Seine Muskeln stammten nicht vom Sport, harte Feldarbeit hatte ihn geformt.

„Zum Bauernhof sind es sechs Meilen“, erinnerte der Vater, schob sich einen langen Grashalm zwischen die Zähne. Es war zu einer Marotte geworden, seitdem seine Frau ihm den Tabak weggenommen hatte - sein krächzendes Husten hielt sie nicht aus!

Die ersten Tage war er unausstehlich gewesen, bis das Verlangen abebbte und er umgänglicher wurde. Seitdem schwand der Husten, und sogar die Luft im Haus schien besser geworden zu sein.

Der Vater sagte damals: „Bei allen Göttern im Himmel, Moira, ich danke dir. Seit Jahren konnte ich nicht mehr so gut atmen“.

Grim und die Mutter hatten gelacht, keiner kannte ihn als ausgelassenen, lebensfrohen Menschen.

Heute hatte Grim das Gefühl, seinen Vater von dieser Bitte überzeugen zu können.

„Wie willst du heimkommen?“.

„Ich kann am nächsten Morgen mit Schrub fahren. Er wird die Milch holen kommen!“.

„Stimmt. Dort könntest du auch übernachten, wenn dir das Fest wichtig ist“.

Grim wusste, um den Ausflug durchzudrücken, wäre eine Übernachtungsmöglichkeit notwendig. „Klar“.

Der Vater strich ihm durchs blonde Haar. „Ich breche dann auf, du kannst ja alleine zu Schrub gehen und ihn fragen. Mach dir ‘nen schönen Tag!“.

„Danke, Paps. Rechne mit mir im Morgengrauen“.

„Morgengrauen halte ich für unwahrscheinlich“, lachte Yoschua; jeder wusste, dass Schrub soff. So früh hatte ihn wahrscheinlich noch keiner auf den Beinen gesehen.

Kurz verabschiedeten sie sich voneinander, bevor er sich umdrehte und den Beutel mit den Einkäufen über die Schulter schwang. Beim Gehen pfiff sein Vater ein altes Kirchenlied, es klang schief und falsch. Grim war überrascht, wie schnell sein Vater die Zustimmung erteilt hatte. Anderseits war er vierzehn Jahre alt, da würde er eine Nacht in einem kleinen Dorf verbringen können … besonders dann, wenn er die Hälfte vom Sehen her kannte.

Grims Stiefel knirschten auf der sandigen Erde. Er wusste, wo der alte Schrub wohnte und wollte sich als erstes darum kümmern. Eine Übernachtung besaß die oberste Priorität. Schnell erreichte er das Haus, klopfte kraftvoll gegen die morsche Tür und wartete.

„Bei Nasarets dicken Eiern, du bist der Sohn des Bauern!“, lachte Schrub und öffnete. Solche Aussagen über die Götter hörte er auf dem Hof nicht.

Der Alte war mit Unterhemd und löchriger Hose bekleidet, das Haar fehlte an vielen Stellen und hatte längst alle Farbe verloren. Eine Flasche in der Hand rundete das Bild des Alkoholikers ab.

Sie musterten einander.

„Könnte ich heute Nacht bei dir schlafen? Mein Vater schlug es vor, heute ist doch das Fest“.

„Stimmt, das Fest. ‘türlich kannst bei mir schlafen … aber Grim, wehe ich ertappe dich beim Diebstahl“.

„Ich bin so ehrlich wie mein Vater“, schwor er aufrichtig.

Schrub tippte sich an die Stirn. „Genau davor fürchte ich mich. Allein seine Preise …“.

„Jeder muss über den Winter kommen“.

Schrub lachte herzhaft. „Bei dem riesigen Hof deiner Eltern? Ich denke, ein paar lausige Kupferlinge machen keinen Unterschied“.

„Wo schlafe ich eigentlich?“, wechselte Grim das Thema.

„In der Scheune“, als der Alte das Gesicht des Jungen sah, fügte er schleunigst an. „Keine Sorge, die ist in besserem Zustand als mein Bett“.

Bezweifle ich …

Er schlüpfte in behelfsmäßige Schuhe, und nahm einen großen Schluck aus der Flasche, was zur rötlichen Färbung seines Gesichts beitrug.

„Na komm, ich zeige dir alles“.

Grim nickte.

„Also gut, hinten ist das Scheißhaus, und dort …“, er deutete mit der Flasche auf einen kleinen Teich, „… kannst du dich waschen. In der Scheune sind zwar ein paar Tiere, aber hinter ‘nem Gitter gehalten“.

Er rollte mit den Augen, so schlecht hatte er in seinem jungen Leben noch nie gehaust.

„Kommen deine Schwester und dein Bruder auch zum Fest?“.

„Hä …?“, Unverständnis spiegelte sich in seinem Gesicht.

„Die beiden kleinen Kinder vom Hof. Stell dich nicht dumm!“.

„Oh … du meinst die Kinder der Magd“.

„Ach so“, er kratzte sich an der Nase, „mir kam deine Mutter sowieso immer zu hübsch für drei Kinder vor“.

Grim überging den Einwand.

Schrub wollte sich schon wegdrehen, als Grim ihn am Ärmel festhielt. „Gehst du zum Fest?“.

„Nein, nur in die Kirche. Ich betrinke mich lieber allein“.

„Das ist traurig“.

Er lachte, und entblößte zehn gelbe Zähne; kein appetitlicher Anblick. „Das versteht die Jugend nicht“.

„Wenn du meinst. Danke, dass ich bei dir schlafen darf“.

„Nichts zu danken“, zögerlich fügte er an. „Ach, falls du ein Mädchen findest: Nimm ein leises!“.

Anstatt eine Antwort zu geben, wandte sich Grim ab und ging in die Scheune hinein. Ein Hund war angeleint, zwei Schafe grasten hinter einem maroden Gitter – erbärmlich! Grim schaute zum Heuhaufen und ließ sich hineinfallen, er vermisste sein Bett. Es würde eine ungemütliche Nacht werden, aber wenigstens angenehmer, als keine Übernachtungsmöglichkeit zu haben.

Für ein paar Augenblicke lag er im Stroh, stand wieder auf. Er wusste, je früher er in die Stadt käme, desto besser wäre es. Fünf armselige Kupferlinge füllten seine Tasche, viele Getränke würden ausbleiben. Als er aufbrach, zeigte der Hund erstmals eine klägliche Reaktion. Der Alte kümmerte sich scheußlich um seine Tiere!

Als er das Grundstück verlassen hatte, fand er sich kurze Zeit später auf dem Markt. Der wahre Stolz von Rachon war die Kirche, wo die gesamte Bevölkerung leicht untergebracht werden könnte, ohne sich auf den Füßen zu stehen. Auf dem großen Platz davor fanden die Festlichkeiten statt, direkt unter dem wachsamen Blick eines zwanzig Meter hohen Turmes.

Ihm gefiel das Dorf weitaus besser wie der Hof. Wie es seine Mutter nur aushielt, nie herzukommen?

Als er fast am Gotteshaus angekommen war, fiel ihm Schrubs Aussage über die Kinder der Magd ein. Ihm war schleierhaft, warum sie für Geschwister gehalten wurden, ohne eine einzige Ähnlichkeit aufzuweisen. Der Spruch über seine Mutter spukte durch seine Gedanken. Für kurze Zeit erkannte er, wie sie auf fremde Männer wirken musste. Allein Schrubs lüsterne Blicke jagten ihm einen kalten Schauer über den Rücken.

Das Gotteshaus strahlte in vollem Glanz, erschlug den Jungen beinahe. Würde er nicht mehrere Meilen außerhalb des Ortes leben, wäre ihm dieser Anblick öfters vergönnt gewesen.

Neben dem imposanten Turm markierten die Götterstatuen die Schönheit des Baus. Auch Surjean befand sich unter ihnen, seinetwegen wurde am heutigen Abend gefeiert. Über den Eingang war eine zweischneidige Axt als Emblem abgebildet, das Symbol des Glaubens.

Auf dem Kirchplatz war die Hölle los, unzählige Menschen huschten umher und hängten letzte Banner für das Fest auf, brachten Tische her oder trugen riesige Bänke spazieren. Köche bereiteten Speisen zu, hübsche Mädchen assistierten als Kellnerinnen und zogen die Blicke vieler Männer auf sich. Anstatt bei den Vorbereitungen zuzuschauen, ging Grim auf die offenen Türen der Kirche zu, um den Innenraum bestaunen zu können.

Behände wich er einer Frau mit einem riesigen Bottich aus, deren Inhalt er nicht erspähen konnte und wurde trotzdem von einer Schimpfkanonade verfolgt. Fast wären sie kollidiert, da die bemalten Kirchenfenster seinen Blick bannten. Auf allen waren Geschichten des Glaubens abgebildet, manche von ihnen hatte er bereits gelesen. Es waren Legenden von Helden, Magiern und Assassinen, die für ihre Ideale kämpften. Solche Geschichten liebte Grim seit Kindertagen, auch wenn Yoschua nie begeistert war, wenn er sich damit beschäftigte.

Das Holz am Eingangstor fühlte sich glatt und unendlich alt an, als besäße es mehr Geschichten wie die Greise des Dorfes zusammen. Beim Anblick des Innenraumes klappte ihm die Kinnlade herunter. Er hatte kein Interesse an den Bänken, den anderen Besuchern oder Betenden. Sein Blick wurde vom unglaublichen Deckengemälde gebannt, das den Gott Nasaret zeigte, wie dieser zu einem Menschen spricht. Ein weicher, samtener Teppich bedeckte den Mittelgang, der Altar fungierte als Sprachrohr zu den zehn Herren. Ehrfürchtig betrachtete er die Umgebung. Es war die richtige Entscheidung gewesen, nicht mit seinem Vater zum Hof zurückzukehren, sondern das Fest zu besuchen.

Ehe er sich versah, stand er vorm Altar, und spielte mit dem Gedanken, ob es erlaubt wäre, diesen zu berühren. Plötzlich flammte in ihm der kindische Wunsch, dort hinaufzusteigen und ihn anzufassen, auf.

Bevor er seine Entscheidung treffen konnte, legte sich eine Hand auf seine Schulter. Erschrocken wirbelte er herum und sah in Ninas Gesicht, die zwei unehelichen Kinder klammerten sich an ihr Kleid.

Ich wusste gar nicht, dass mein Vater sie zum Fest gehen lässt. In dem einfachen, bäuerlichen Kleid kam Nina schöner als in ihrer Tracht als Magd herüber. Die Kleidung nahm ihr fünf Jahre, die dezente Schminke nochmal genauso viel. Liz und Maro klammerten sich an Nina, keiner der beiden war so viele Menschen gewöhnt. Er teilte ihre Sorge.

Die Magd lächelte. „Sind dein Vater und deine Mutter auch beim Fest?“.

„Nein, sie bleiben auf dem Hof“.

„Oh, wie schade. Es ist aber schön, dass wenigstens du kommen konntest“.

Eine Weile plauderten sie über allerlei Banalitäten, bevor sich Nina auf Drängen der Kinder verabschiedete und Grim beim Altar zurückließ. Der Gedanke, diesen zu berühren, kam ihm wie ein lächerlicher Tagtraum vor. Zügig verließ er das Gotteshaus und schritt auf den Ausgang zu. Er erkannte von der Seite die Silhouette der Magd, lief diesmal aber bewusst in eine andere Richtung.

Als Grim aus der Kirche trat, blendete ihn die untergehende Sonne. Der Horizont war in ein warmes Rot gefärbt und besaß eine romantische Note, wie Liebespaare sie genießen. Mit der Abenddämmerung begann das Fest und es war unklug zu denken, in einem religiös geprägten Dorf wüssten die Menschen nicht, wie sich amüsiert wird. Tanz und Alkohol ließen jeden Mann lockerer werden, jede Frau leichter die Röcke lüften und die Nacht endlos andauern.

Grim nahm nie zuvor bei einem Fest teil, bisher war er zur Einsamkeit auf dem fernen Hof verdammt. Er wartete, mit dem Rücken an der Wand, auf den Beginn. Nina vertrieb sich die Zeit bei einem Flirt mit einem jungen Mann. Er sah Liz und Maro zwischen den Bänken herumrennen und sich gegenseitig fangen. Der Junge besaß durch seine Hosen einen eindeutigen Vorteil. Wehmütig kam ihm die eigene Kindheit in den Sinn, als er auf dem Bauernhof keine Spielkameraden hatte.

Der Ruf des Wirts riss ihn aus der Tagträumerei. „Schlagt das Bierfass an, es wird auf Surjean getrunken!“.

Mehrere Leute grölten laut, feierten die Aussicht auf ein kühles Getränk. Grim kramte in seiner Hosentasche nach den wenigen Münzen und ging ebenfalls zum Wirt. Er hätte mehr Geld mitnehmen müssen. Der Mann stand hinter einem provisorischen Tresen, nahm Bestellungen entgegen und hieß Sev. Grim kaufte sich ein Bier.

Eineinhalb Stunden vergingen und das Fest entwickelte sich anders, wie er es sich vorgestellt hatte. Das erste Bier hatte er geleert, mit den restlichen Münzen ein zweites Glas gekauft und den letzten Kupferling in seiner Tasche verstaut. Er nippte am kühlen Getränk und schaute zu den tanzenden, glücklichen Paaren herüber.

Die Musiker waren zwei Männer. Einer hatte eine Geige unters Kinn geklemmt, der andere eine Gitarre mit einem Lederband über die Schulter gespannt; beide spielten schnelle, rhythmische Lieder, sodass die Tänzer ins Schwitzen gerieten. Es war einfache Musik, wie sie auf einem Dorffest erwünscht war.

Grim scharrte mit den Füßen auf dem sandigen Boden und musste daran denken, wie gerne er ebenfalls auf dem Tanzparkett wäre. Nur bräuchte er dafür ein Mädchen, und diese fielen bekanntlich nicht vom Himmel.

Grim nippte erneut am Bier, ließ den Blick umherschweifen.

„Wir machen ‘ne kurze Pause, dann sind wir wieder da“, verkündete einer der Musiker lauthals, erntete Beifall von den Tanzenden. Zu Grims Unmut hatte diese musikalische Unterbrechung einen Sturm auf die Bar zur Folge, woraufhin er schnell das Weite suchte, um von der Menschentraube nicht umschlossen zu werden.

Unentschlossen ging er über den Platz, mit halbgetrunkenem Bier in der Hand und dem Wunsch, das Fest bald hinter sich zu lassen, im Herzen. Er hatte alles gesehen und fühlte sich bestätigt, ohne Begleitung fehlte der Reiz. All die vielen Menschen waren ihm bloß vom gelegentlichen Sehen bekannt, von ihrer guten Laune und dem herzhaften Lachen konnte er nicht angesteckt werden.

In trübseligen Gedanken versunken, schaute er über den leeren Platz und erhaschte den Blick auf ein beinahe gleichaltriges Mädchen, fünfzehn Jahre alt und ohne eine Begleitung. Ihr schwarzes Haar fiel wie ein Wasserfall in den Nacken, das Gesicht besaß einen schelmischen, kecken Zug, die braunen Augen strahlten vor Intelligenz. Ihm fiel auf, dass sie eine Hose anstatt einem Kleid trug.

Unbewusst hatte er sich auf die Tanzfläche begeben, seine Beine trugen ihm dem Mädchen entgegen. Normalerweise hielten Anspannung und Zweifel ihn zurück, der konsumierte Alkohol schenkte Mut und Kühnheit.

Zehn Meter vor ihr wurde ihm erst bewusst, dass er überhaupt keinen Gesprächseinstieg besaß.

Sie übernahm die Aufgabe: „Was ist?“, fragte sie neugierig.

„Ähem …“, ihm kam keine gute Antwort in den Sinn, schnell verlor er sich in unzusammenhängendem Gestammel.

Ihr Lachen gefiel ihm, es war ungekünstelt und frech. „Wie kann es sein, dass ich dich noch nie gesehen habe?“, zum Glück blieb im Dunkeln sein roter Gesichtsteint ungesehen.

„Ich komme von einem nahen Bauernhof …“.

„Von einem Hof? Lebt es sich dort schön?“.

Sein Blick glitt an ihr herab. Ihr Gesicht hatte scharfe Züge, darin verbarg sich eine natürliche Schönheit und der Mund schien zum Küssen geschaffen worden zu sein. Die Kleidung wirkte ärmlich, und das fehlende Kleid hätte ein Trauergeständnis sein können, würde sie nicht vor Selbstbewusstsein strahlen.

„Wenn du gerne allein bist, dann schon“, antwortete er. Das Leben auf einem abgeschiedenen Hof besaß Licht- und Schattenseiten.

„Durchaus“, sie wechselte das Thema. „Falls du auch gerne alleine bist, was verschlug dich hierher?“.

Ihre Leichtigkeit nahm seine Anspannung. „Ich wollte unbedingt das Fest besuchen, aber es hat mir schlecht gefallen“, nach einer kurzen Sprechpause fügte er zögerlich an: „Geblieben bin ich deinetwegen!“.

„Dann bin ich der Grund, weswegen du dir weiterhin die laute Musik antun musst? Entschuldige …“.

„Gefällt dir die Musik nicht?“, fragte er ungläubig.

„Es scheint, als kämst du selten in den Genuss von Musik - oder hältst du das etwa dafür?“.

„Äh …“, wieder fehlte ihm die bissige Erwiderung, sein Schweigen amüsierte das merkwürdige Mädchen.

„Ich heiße außerdem Tamara Nero“, stellte sie sich vor, streckte ihm die Hand entgegen. „Und wen habe ich dazu verdammt, sich weitere Lieder der Musiker anzutun?“.

„Grim Balanour“, antwortete er knapp. Er war es nicht gewöhnt, mit Mädchen zu reden, aber sie hatte es ihm auf dem ersten Blick angetan.

Er hatte sein Bier längst geleert, netterweise spendierte Tamara ihm ein Neues. Ihm kam es falsch vor, wenn er sie ansah und ihre Kleidung vor Armut schrie – aus Höflichkeit nahm er an.

Sie tranken und erzählten sich Geschichten über das alltägliche Leben. Er sprach über sein Leben auf dem Hof, sie über jenes im Dorf; die negativen Aspekte wurden von beiden weggelassen. Sie verdiente ihr Geld als Kellnerin und erzählte von ihrem innigen Wunsch, dem zu entkommen. So jung, wie sie war, konnte keiner sagen, wie ihre Zukunft einmal aussähe.

Mitternacht verstrich. Das dritte Bier ließ ihn wanken, als Tamara ihn auf die Tanzfläche bugsierte.

„Ich tanze selten,“, sagte sie zu ihm, „aber mit meiner kleinen Schwester habe ich geübt. Ich kann es … also lass mich führen!“.

„Warum tanzen …?“, lamentierte Grim leise. Er wollte sich vor ihr nicht blamieren, obwohl er vorher noch leise davon träumte.

„Weil es Spaß macht! Außerdem bist du wohl kaum auf dieses Fest gekommen, weil du so gläubig bist“.

„Stimmt. Aber tanzen …“, er rollte mit den Augen, „… ist überhaupt nicht meins!“.

„Ich zeig’s dir!“.

Sie lächelte und zerstörte seine weiteren Einwände, er ließ es beruhen. Er wollte ihr den Spaß am Abend nicht verderben. Dutzende junge Paare taten es ihnen gleich und wirbelten über die Tanzfläche, nur bei ihm führte das Mädchen. Mit der Zeit machte es tatsächlich Spaß; er lernte, dass das Tanzen gar nicht so schwierig war, wie er dachte.

Ungefähr eine Stunde flogen sie durch die Nacht, schwitzten und vergnügten sich, bis die Musiker zum allgemeinen Unmut ihr Spiel beendeten. „Die Nacht ist schon weit vorangeschritten, aber ich bedanke mich für das wundervolle Publikum. Leider müssen auch Künstler schlafen! Wir haben wunde Finger bekommen, ein Instrument kann nicht immer zärtlich sein“.

Die Tanzpaare applaudierten laut, auch wenn die meisten es gerne länger genossen hätten. Sogar Tamara stieg in den Beifall ein, obwohl sie behauptet hatte, die Musik käme von Amateuren.

„Und jetzt?“, fragte Tamara. „Willst du es beenden?“.

Grim schüttelte den Kopf. „Ich würde gerne länger bleiben“.

Sie ergriff seine Hand, zog ihn von der Tanzfläche. „Wohin willst du, wenn das Fest aus ist?“.

Es war eine gute Frage, er wusste keine Antwort – das waren die einzigen Fragen, welche es wert waren, gestellt zu werden.

„Wenn du keinen Vorschlag hast, lass mich dir den perfekten Ort zeigen. Ich bin gerne dort … besonders dann, wenn mich meine Geschwister nerven - er ist wunderschön!“.

Sie übernahm die Führung und zog ihn vom ausklingenden Fest davon. Am Anfang hatte es ihm nicht gefallen, mit der Zeit hatte er es genossen. Sie dirigierte ihn mit jugendlicher Leichtigkeit durch die Gassen, irgendwann begannen sie zu rennen, um schneller dort anzukommen. Beide genossen den gemeinsamen Abend, er war eine wunderschöne Abwechslung zum ansonsten tristen Alltag.

Von der Dorfgrenze zeichnete sich weiterhin die große Kirche im Hintergrund ab. Sie war die einzige Sehenswürdigkeit des Dorfes, bloß hatte sie einen anderen Reiz als den, der Tamara anhaftete.

Schnaufend hielten sie hinter den letzten Häusern des Dorfes, ihre Herzen trommelten wild. Überangestrengt und erschöpft liefen sie einen kleinen Feldweg entlang, dieser würde zu ihrem ganz besonderen Ort führen.

Der Feldweg wurde mit jedem Meter enger, bald endete er und sie marschierten durch kniehohes Gras, welches zum Glück trocken war.

Schweigend streiften sie durch die sternenbedeckte Nacht, keine einzige Wolke trübte den malerischen Blick … so hatte er sich die schönen Geschichten seiner Kindheit vorgestellt, wenn Held und Jungfrau die Nacht genossen.

„Siehst du das Waldstück dort hinten?“, durchbrach Tamara die Stille. „Dort gibt es eine Lichtung, sie ist wunderschön. Es ist am besten, wenn du sie mit eigenen Augen siehst“.

„Du machst mich echt neugierig …“.

Tamara kicherte. „Ach ja? Wirst du neugieriger, wenn ich dir sage, dass man dort völlig ungestört sein kann?“.

„Oh …“, er wusste nicht, ob sie das meinte, woran er gerade dachte.

„Hat es dir die Sprache verschlagen?“.

„Na ja, ich war überrascht“.

Sie musterte ihn. „Weil ich eine ungestörte Unterhaltung vorschlage?“.

Er schaute sie verwirrt an, sie brach in Gelächter aus. „Dein Gesichtsausdruck lässt vermuten, dass du an etwas anderes gedacht hast“.

„Ich dachte nur …“, sein Gesicht färbte sich rötlich.

„Ich spaße …“, rief sie und stieß ihm spielerisch gegen die Brust, brachte ihn glatt aus dem Gleichgewicht und ließ ihn zu Boden gehen. „Tut mir leid“, sie reichte ihm ihre Hand.

Er ließ sich von ihr aufhelfen. „Ich habe an einen Kuss gedacht“.

„Wenn’s dir gelingt, mich vor dem Wald zu fangen, schulde ich dir einen“.

Nicht schon wieder rennen!

Anders wie bei Liz und Maro gab es kein Kleid, welches ihm einen Vorteil einbrachte. Sie trug Hosen. Bevor er reagieren konnte, fegte sie durch das im matten Mondschein glänzende Gras, während er ihr dumm nachguckte. Sie bewegte sich agil und graziös, sodass er für einen Moment vergaß, welche süße Belohnung ihm entgehen könnte.

Schnell sprintete er hinterher, die langen Grashalme strichen über seine Beine hinweg. Ihm kam es vor, als verursache jede Sekunde eine größere Differenz. Sie verschwand im Wald, während er weiterhin über die weißglänzende Wiese lief.

Als er zwischen den Bäumen ankam, war sie verschwunden; das dichte Blätterdach sperrte zu seinem Unmut Mond und Sterne aus, was die Dunkelheit allumfassend machte. Erschrocken registrierte er, wie sich eine Hand um sein Armgelenk schloss.

„Du bist langsam“, schnurrte das Mädchen in sein Ohr.

„Hab dich!“, flüsterte Grim. „Ich denke, du schuldest mir einen Kuss“.

„Ach wirklich?“.

Bevor er die Hand schließen konnte, verschmolz sie mit der Dunkelheit. Die Blindheit weckte andere Sinne, seine Nase wurde von einem sanften, tabakähnlichen Duft liebkost.

„Wie kannst du überhaupt etwas sehen?“, spielte er den Ahnungslosen. Er hörte keinen Schritt! Sie verharrte auf der Stelle, genauso blind wie er.

„Weißt du, du wärst die perfekte Assassine, würdest du nicht nach Tabak riechen“, seine Hand schoss vor und packte ihren Arm, ihr Schrei folgte.

„Du hast eine erstaunlich gute Nase. Für den Kuss hättest du mich jedoch vor dem Wald fangen müssen“.

„Sagtest du nicht …“, warf er ein, obwohl er wusste, dass sie recht hatte. Doch er beharrte nicht auf seine Meinung, stattdessen umgriff er sanft ihre Hand, um sie in diesem stockfinsteren Dickicht nicht zu verlieren. Langsam übernahm sie die Führung, zeigte ihm jenen Ort, den kein anderer bisher erblicken durfte.

Wie lange sie durch das Waldstück gingen, verschmolz für Grim zu einer undefinierbaren Zeit. Alles wirkte gleich, und nur Tamaras Hand verhinderte, dass er sich verirrte. Als sie die Lichtung erreichten, genügte der matte Mondschein, um ihn zu blenden.

Ihr Geheimnis besaß eine kreisrunde Form, welche so genau war, als könne sie bloß vom Menschen erschaffen worden sein. Ein umgefallener Baum teilte die Lichtung in zwei Hälften und fungierte als einzige Sitzgelegenheit. Die Wiese war nicht hochgewachsen, ließ sich leicht durchqueren. Hier konnten Herzen erobert werden …

Sicheren Schrittes führte sie ihn durch die Lichtung. Als sie am Baumstamm ankamen, zierten mehrere Zigarettenstummel den Boden. Der Anblick deckte sich mit ihrem Geruch.

Athletisch schwang sich Tamara hinauf, Grim folgte ihr und setzte sich neben sie auf einen dicken Ast. Ihre Füße baumelten in der Luft, die Lichtung glänzte im romantischen Schein der Nacht. Es war warm, obwohl bereits drei Uhr sein musste. Der Sommer warf seinen Schatten voraus.

„Gefällt es dir?“, fragte Tamara mit ausladender Geste.

Grim nickte. „Ja. Ich verstehe, warum du so oft herkommst“.

„Das Schönste ist, dass außer mir keiner diese Lichtung kennt“.

„Dieses Privileg hast du dir versaut“, er lächelte, als er merkte, dass sie es ihm gleichtat.

„Stimmt … deinetwegen“.

Schweigend saßen sie gemeinsam auf dem Ast. Kurz spielte er mit dem Gedanken, sie zu küssen. Nur wusste er nicht, wie er vorgehen sollte, damit er sie nicht verschreckte. Im Kopf ging er alle Szenarien durch.

Ihre Augen funkelten, als sie ihn ansah. „Warum hast du mich eigentlich angesprochen, obwohl ich kein Kleid trage?“.

Überrascht schaute er auf, mit so einer Frage hatte er nicht gerechnet. „Du hast anders wie alle anderen ausgesehen. Das gefiel mir!“.

„Tatsächlich?“, sie senkte die Augen. „Danke“.

„Du musst dich nicht genieren, wenn ich dir ein Kompliment mache“.

„Hör auf, du Charmeur“, sie lächelte. „Lass uns lieber das Thema wechseln“.

Er zuckte mit den Achseln. „Warum liegen hier eigentlich so viele Zigaretten herum?“.

„Würdest du gehen, wenn ich sage, ich rauche für mein Leben gern?“.

Er schüttelte den Kopf, bevor er ihre Worte verstand. Sie wirkte verletzlicher als am bisherigen Abend, schüchtern und zurückhaltend. Sie hatte ähnlich viele Erfahrungen mit Männern, wie er mit Frauen – null!

„Tut mir leid, ich hätte die Frage nicht stellen sollen“, sie legte einen Arm um seine Schulter, „aber es hat mich interessiert“.

„Ich …“, sie legte ihm einen ihrer zarten Finger auf den Mund. „Ich hätte unseren Abend nicht zerstören sollen. Was hältst du davon, wenn ich ihn als Wiedergutmachung kröne?“.

Er verstand, was sie meinte. Sanft beugte er sich herüber, küsste sie. Es war von beiden der erste Kuss, wundervoll und magisch zugleich. Mitten im Mondschein, auf einer einsamen Lichtung, wo alle anderen Menschen wie ferne Träume wirkten.

Zärtlich legte er eine Hand in ihren Nacken, fuhr durch ihr schwarzes Haar und sehnte sich nach weiteren Küssen. Bevor mehr entstehen konnten, lösten sie sich in beidseitigem Einvernehmen voneinander.

„Du kannst gut küssen“, sagte sie und leckte sich über die Lippen, seinen Geschmack würde sie niemals vergessen.

„Du auch“.

Sie schmunzelte, ihre weißen Zähne glänzten. Nachdem er sowieso herausfand, dass sie rauchte, schämte sie sich dessen nicht mehr. Aus der Hosentasche zauberte sie eine Zigarette, ließ sie glühen und bekam einen grauen Atem.

„Seit wann rauchst du?“.

Sie starrte zum Himmel. „Seit ich einen Händler traf, der einen Gehilfen suchte. Ich denke, das muss im Alter von zwölf gewesen sein. Ich lud Waren für ihn ab, half beim Aufbau seines Standes und wurde mit einer Packung Tabak entlohnt. Dieser sollte für meinen Vater sein, aber da ich arbeitete, behielt ich ihn“.

Sie zog erneut an der Zigarette. „Du hättest sehen sollen, wie die anderen Kinder staunten, als ich mich wie eine Erwachsene benahm“.

Er wusste nicht, ob er gerne dabei gewesen wäre. Ob er sie dann überhaupt gemocht hätte?

„Seitdem helfe ich ihm regelmäßig beim Aufbau des Standes, er bezahlt mich mit Tabak. Das ist die ganze Geschichte …“.

Danach pendelte sich das Gespräch ein. Sie unterhielten sich über ihre Tätigkeit als Kellnerin im Wirtshaus, wo sie Geld dazu verdiente und sprachen lange über das schöne Fest. Teilweise kamen sie auf vorherige Themen zurück, die Unterhaltung verlief reibungslos; er lernte ihren speziellen Charakter zu mögen.

Obwohl sie keinen weiteren Kuss austauschten, kam die Morgendämmerung viel zu früh und der Abschied viel zu schnell. Die Zeit war wie im Flug verstrichen, und sein Blick hing ihr nach, als sie zwischen den Bäumen wie eine flüchtige Erinnerung verschwand.

Er wusste, es war eine gute Entscheidung gewesen, auf das Fest zu gehen, und eine noch bessere, mit ihr am kommenden Tag der Ehre ein Date auf dem Marktplatz verabredet zu haben. Auf diese Weise würde sie keine flüchtige Erinnerung bleiben, sondern zur festen Komponente in seinem Leben werden … er wusste, dass er Tamara wiedersehen wollte!

Kapitel 2:

Die arme Tamara Nero

Die Sonne stieg empor, eine unvergessliche Nacht endete. Heute kehrte Normalität in die Stadt ein, das schöne Fest war vorüber.

Grim lehnte sich gegen das Stadtschild und schaute zum Wald hinauf, wo er gestern mit einem Mädchen seinen ersten Kuss geteilt hatte. Er schwelgte in der Erinnerung, gepaart mit der freudigen Erwartung, es sei nicht die letzte Begegnung zwischen ihnen gewesen. Am folgenden Tag der Ehre würden sie sich wiedersehen, ein Grund zur Freude.

Am Firmament zogen erste Wolken auf, es schien, als wären die warmen Tage zumindest zwischenzeitig vorüber. Die Luft roch nach Regen - ob dieser wirklich fiele, müsste sich noch zeigen.

Grim lief in die Stadt hinein, wo kaum jemand auf den Beinen war. Sie alle hatten gestern lange gefeiert, heute würde ein ruhiger Morgen folgen und viele brummende Köpfe erwartet. Er fühlte sich müde, aber nicht erschöpft - sechs Meilen lagen zwischen ihm und seinem Zuhause.

Soll ich laufen?, fragte er sich mit dem Wissen, nach der freudigen Nacht wäre ihm ein einsamer Heimweg lieber als die Reise mit einem Alkoholiker gewesen. Eigentlich zog er alles dem Trinker vor. Nein, ich fahre trotzdem mit ihm heim. Hoffentlich ist er noch da!

Trotz der Eile lief er gemütlich durch Rachon und schwelgte in Gedanken, da er sich nicht konzentrieren konnte. Die gestrige Nacht verharrte in seinem Kopf, er wusste, sie war einzigartig gewesen.

Auf dem Markt treffen wir uns wieder. Ich kann es kaum erwarten!

Er lief am Gotteshaus vorbei, jenem Ort, wo gestern alle ihre alltäglichen Sorgen vergaßen und feierten. Zu dieser frühen Stunde war der Platz leer, einzig die Aufbauten standen noch und hinterließen einen Nachhall des gestrigen Tages. Es würde dauern, bis im Paset das nächste Fest anstünde.

Er erblickte die Bank, an der sie sich gestern kennengelernt hatten, und lief darauf zu. Ihre Art, ihr Verhalten; alles rätselhaft und verlockend zugleich. Eine kurze Weile stand er davor, den Gedanken hinterherhängend. Im Schatten jener imposanten Kirche, die ihn weiterhin beeindruckte; er hatte noch nie die Kathedralen in den großen Städten des Landes gesehen.

Er sollte endlich zu Schrub gehen, bevor dieser wirklich ohne ihn aufbräche. Ein Wagen, von Eseln gezogen – warum standen sie eigentlich nicht in der Scheune? –, kam ihm im Vergleich zum Fußmarsch unglaublich verlockend herüber. Der Gedanke, er wäre ohne ihn aufgebrochen, wurde dabei gekonnt ausgeblendet – Optimismus ist ein kostbares Gut!

Bevor er Schrubs Haus überhaupt sah, rief der Alte ihm entgegen: „Kommst du endlich?“.

„Hast du gewartet?“.

Ein kleiner Karren stand auf der Straße, auf der schmalen Bank hatte Schrub sich niedergelassen und hielt die Zügel in der Hand. Der Wagen war ansonsten leer, die beiden Esel wirkten mürrisch und schlechtgelaunt; wer wollte es ihnen verübeln?

„Natürlich“.

„Danke“.

„Ach, du musst mir nicht danken. Ich habe dir versichert, dass ich dich heimfahre, also stehe ich zu meinem Wort. Und du hast ja schon den Schlafplatz nicht genutzt, wofür sollst du ansonsten zahlen?“.

„Ich zahle doch gar nichts“.

„Ach, dein Vater vergütet mir alles. Keine Sorge, ich bleibe nicht auf meinen Kosten sitzen“.

Diese Sorge wäre ausgeblieben.

Schrub klopfte auf die Bank seines Karrens. „Komm, spring auf!“.

Er stieg lieber auf die Ladefläche, der starke Alkoholgeruch brannte ihm in der Nase. Hinter ihm stieg eine feuerrote Sonne auf, kündete vom warmen Sommer und verjagte geschickt die aufziehenden Wolken. Langsam ruckelte das Gefährt die sandige Straße entlang, bald kam das Ortsschild unter dem beharrlichen Schweigen der Reisenden in Sicht.

Noch sieben Tage, dann sehe ich dich wieder, ein inniger Schwur.

Als das Schild vorüberzog, wurde die Beschaffenheit der Straße schlechter. Dennoch hielt es ihn nicht davon ab, ein wenig Schlaf nachzuholen. Er wurde zwar kontinuierlich durchgeschüttelt, aber eine lange Nacht steckte ihm in den Knochen.

Er verpasste Schrubs Schimpfkanonade auf die maroden Straßen. Dabei war es im Süden keine Besonderheit, denn wegen der mangelnden Bevölkerung investierte die Regierung kaum in die dortige Infrastruktur.

Anstatt eines schimpfenden Kutschers, verlor er sich lieber in einem malerischen Traum.

Im Traum besuchte er die wundervolle, mondbeschienene Lichtung, wo sich Tamara und er liebevoll küssten. Es endete diesmal nicht nach einem einzigen Kuss, sondern markierte erst den Beginn der Nacht.

Sanft und langsam durfte er ihr das Hemd von den Schultern ziehen, ihr nackter Oberkörper erregte ihn auf ungekannte Weise. Die geschmeidigen, festen Brüste fingen seinen Blick. Die steifen Brustwarzen, zum Berühren geschaffen, peinigten seinen Körper mit brennendem Verlangen. Er wusste nicht, ob er in der Realität kühn genug für diesen Schritt gewesen wäre.

Sie ließ sich agil vom Ast gleiten, er folgte ihr und legte sie ins trockene Gras. Lustvoll wandte sich Tamara darin, die Hosen glitten herab, die Hemden folgten. Prickelnde Küsse bedeckten die Haut, Hände erkundeten und erfuhren, wie schön sich ein Körper anfühlte.

Der Traum zeigte seinen innigsten Wunsch, malte Bilder von Lust und Begierde. Emotionen rauschten umher, gaben Stück für Stück einen Blick aufs Ganze preis; die Vervollständigung markierte den Höhepunkt. Er erkannte, er hatte sie entzündet und sie brannte heißer wie das Feuer der Sonne. Und als das Wasser von zerreißenden Schreien gerufen wurde, ertranken sie beide darin, um danach sogar alle Sterne zu überflügeln.

Eines war klar, so schön hatte er noch nie geträumt.

„Grim“, knurrte Schrub und riss ihn in die Realität zurück. Tamaras warmer Leib verging wie Rauch … alles blieb eben ein schöner Traum!

„Was ist?“, seine Stimme war schroff.

„Ich wollte dich nicht aus deinen Träumen mit hübschen Mädchen wecken. Entschuldige!“, es klang nachsichtig.

Die Wahrheit kränkte ihn. „Ich … ich habe nicht von Mädchen geträumt!“.

Er stand auf, setzte sich zum Fahrer auf die schmale Bank. „Wieso hast du mich geweckt? Ich bin todmüde, falls es dir aufgefallen ist?“.

„Lege dich meinetwegen wieder hin“.

Er starrte auf die sandige Straße, schüttelte den Kopf. „Jetzt bin ich schon wach“.

„Dein Verstand scheint noch zu schlafen, Junge. Du musst diese Straße mit deinem Vater doch oft genug gefahren sein, um zu wissen, dass jetzt die Holzbrücke kommt“.

„Oh“, Grim fasste sich an den Kopf. „Klar, ich helfe dir“.

Schrub wischte sich über die laufende Nase, sprang vom Wagen herunter und wartete, bis der Junge folgte. Die Brücke hätte er am liebsten abgerissen, allein dafür, dass sie seine Phantasie störte.

„Ich habe keine Ahnung, welches Genie für den Bau zuständig gewesen ist, aber glaube mir, er war der Sohn zweier Hunde“.

Grim zuckte mit den Achseln. „Mein Vater behauptet, zu knappes Budget trüge die Schuld“.

„Mir gleich, sollen die Götter den verfluchten Erbauer strafen. Wahrscheinlich hat dein Vater sogar recht, dass hier stinkt nach dem Werk von Geizhälsen“.

Grim trat näher an die Schlucht heran, früher hatte er sich nur mit Überwindung herübergetraut. Mit den Jahren war er mutiger geworden, das mulmige Gefühl wich jedoch nie, wenn er über dieses marode Bauwerk musste.

Vier Seile spannten sich über die Schlucht, die stolze fünfzig Meter in die Tiefe ging und von einem kleinen Fluss durchzogen wurde. Keiner konnte glauben, dass dieses Rinnsal sich so tief in die Erde fraß; eine andere Erklärung blieb aus. Die Seile waren an Holzpflöcken befestigt, zwei auf jeder Seite der Schlucht, während alles schrie, es wäre gebrechlich und morsch. Keiner überquerte diese Brücke ohne stilles Gebet auf den Lippen.

„Metall!“, grunzte Schrub. „Ein wirklicher Mann baut seine Brücken aus Metall!“.

„Stimmt, bei Metall würde ich mich sicherer fühlen“.

„Hoffentlich hast du deine Angst überwunden, wir müssen nämlich hinüber“.

„Du hast mich schon hundertmal in Rachon gesehen, reicht dir das als Antwort?“.

„Komm jetzt, packe den blöden Esel am Geschirr und führe ihn über die Brücke, anstatt dumme Sprüche zu reißen“.

Grim zeigte sich hilfsbereit und packte den rechten Esel, der zumindest klüger wie sein Artgenosse wirkte, am Geschirr, und legte die andere Hand in das Nackenfell des Tieres, sodass er bei Panik reagieren könnte. Er wollte nicht der Junge sein, der wegen einem Esel von der Brücke geschmissen wurde.

„Willst du Wurzeln schlagen?“, Schrub wischte sich wieder den braunen Rotz von der Nase ab – Schnupftabak war eine widerliche Sache.

„Lass uns losgehen!“.

Er zog, mit einem widerwilligen I-ah setzte sich der Esel in Bewegung. Sie kamen langsam voran, jedes der Holzbretter knarrte bedrohlich und schien wegbrechen zu können. Obwohl Grims Glaube bisher eher eine Randerscheinung war, flehte er Nasaret an, dieser möge der Brücke wenigstens ein bisschen Kraft spenden. Er hatte keine Ahnung, ob der Gott seiner Anrufung folgte. Zumindest hielt sie stand und die Reisenden kamen sicher herüber.

Obwohl er felsenfest überzeugt war, die Angst vor der Brücke wäre seit seinen Kindertagen verschwunden, machte sein Herz stets einen erleichterten Hüpfer, sobald er wieder auf festem Grund stand.

„Alles klar?“, fragte Schrub. „Du siehst blass aus“.

„Kein Wunder, wenn dein Esel, mit der Intelligenz einer Ratte gestraft, von mir geführt werden muss, da er keinen Schritt alleine setzen kann“.

„Ach, der hat’s jedes einzige Mal über die Brücke geschafft. Der wäre wieder nicht gefallen. Glaub mir, Junge, meine Esel stinken, sind aber nicht lebensmüde“.

„Wenn er’s immer schafft, wieso musste ich dann helfen?“.

Ehe sich Grim versah, lachte Schrub lauthals los, sodass er fast vom Karren gefallen wäre. Nicht einmal dieser Anblick war Grim vergönnt, jetzt durfte er wütend mitanschauen, wie ein paar Tränen der Erheiterung an dessen Wange herabflossen und Schrub sich auf seinen Kosten amüsierte.

„Ach Grim, ich habe mir ‘nen Spaß erlaubt!“.

„Du Dummkopf, ich hätte länger schlafen können. Ich schwöre, ich sollte …“, mangelnde Kreativität ließen ihn innehalten.

„Ach, sei bitte nicht so“.

Er verschränkte die Arme vor der Brust, musste aber ungewollt über den Witz lächeln. Als Schrub das sah, brach er von neuem in dröhnendes Gelächter aus und wollte sich diesmal überhaupt nicht einkriegen; leider fiel er wieder nicht vom Wagen.

„Na gut, ich bin dir nicht böse, wenn du mir sagst, wo du deine beiden Intelligenzbolzen aufbewahrst?“, die Frage kam ihm spontan in den Sinn. Seit wann interessierte er sich für Esel?

„Die waren gestern die ganze Zeit eingespannt. Weswegen denkst du wohl, dass sie so mürrisch sind? Wenn ich saufe, ergeht es ihnen leider schlecht … bin nicht der geeignetste Tierbesitzer …“.

Wegen dem Schicksal der beiden Esel, und der Tatsache, dass Schrub ein Suffkopf war, konnte Grim sein Lachen unmöglich unterdrücken. Er schien nicht der Einzige zu sein, der pochende Kopfschmerzen von der Nacht besaß.

„Wisst ihr, wegen dieser schlechten Behandlung bekommt ihr auf dem Hof etwas Zucker“, er kletterte auf die Ladefläche zurück. Einschlafen konnte er leider nicht mehr, der Traum wurde zur süßen Erinnerung.

Der Mittag war vorüber, als der Bauernhof auftauchte. Zuvor fuhren sie bereits durch die weiten Felder seines Vaters, es handelte sich um einen wohlhabenden Mann. Sie blühten noch nicht, bloß wenige Sprösslinge steckten schüchtern den Kopf zwischen der nassen, braunen Erde hervor; beim Gedanken an die Ernte schmerzte sein Rücken.

„Bis auf deinen Witz war es ja ganz angenehm“, murmelte Grim und kletterte auf die schmale Bank.

„Bist du immer noch eingeschnappt?“.

Grim schüttelte den Kopf. „Es ist vergessen, was aber nicht heißen soll, dass es mir gefallen hat“.

Neben dem Haupthaus gesellten sich noch kleinere Bauten hinzu. Ein zweites Haus existierte bloß für die Bediensteten, bei Saat und Ernte musste der Vater häufig mehrere Knechte und Mägde einstellen. Nur Nina und deren beide Kinder lebten das ganze Jahr auf dem Hof, sie halfen der Mutter im Haus oder kümmerten sich um die Tiere. Grims Blick wanderte über seine Heimat, außerhalb des Trubels der Menschen besaß das Leben eine sinnliche Note. Ställe, Hütten und die zwei Häuser ließen den Hof wie eine kleine Siedlung erscheinen.

Das größere Haus besaß drei Stockwerke, einen Keller und mindestens fünf Zimmer pro Etage. Yoschua war kein armer Mann, alleine das Grundstück hatte sicherlich einen Wert von mehreren hundert Talern. Als sie näher ans Haus herankamen, erkannte er seine hübsche Mutter strickend auf der Veranda sitzen. Schnell erblickte diese ihren Sohn, legte das angefangene Stück zur Seite und stand auf. Sie strich sich die Röcke glatt, lief zügigen Schrittes die Veranda herab und trug auf ihrem herzförmigen Gesicht ein liebenswürdiges Lächeln.

Grim sprang vom Karren herunter, gab beiden Eseln einen Klaps und hatte deren Belohnung längst vergessen. Zügig lief er seiner Mutter entgegen, ließ zwei Küsse auf der Wange über sich ergehen und umarmte sie.

„Ich verzichte auf die Küsse“, wiegelte Schrub ab. „Wo finde ich Ihren Mann?“.

„Er ist oben im Haus“.

Zustimmend nickte Schrub und verschwand.

Gemeinsam erklommen Moira und ihr Sohn die Veranda, gingen zu den Stühlen, setzten sich. Sein Blick fiel auf die köstlich aussehenden Kekse. Ihm wurde bewusst, wie lange er nichts gegessen hatte. Hungrig verschlang er das knusprige Gebäck.

„Wie war das Fest?“, fragte sie.

Mitten im Essen hielt er inne, in seiner Erinnerung entstand ein Bild von Tamara; von der gestrigen Nacht, nicht aus dem Traum.

Die Antwort schoss hervor: „Wundervoll! Ich habe ein Mädchen kennengelernt!“.

„Wirklich?“, die Mutter hob überrascht eine Augenbraue an. „Erzähl, wer sie ist“.

Tief holte Grim Luft, und berichtete seiner Mutter von dem langen, träumerischen Abend, welchen er mit Tamara verbracht hatte. Am Ende erwähnte er auch das anstehende Treffen am Tag der Ehre, seine Stimme bebte vor Vorfreude.

Da er auf dem Hof aufgewachsen war, hatte er selten Kontakt mit Gleichaltrigen pflegen können. Es würde sich grundlegend ändern, wenn er Tamara kennenlernen könnte.

Als er endete, biss die Mutter nachdenklich in einen Keks hinein. „Klingt nach einem tollen Fest. Schön zu wissen, dass es ihr gut geht“.

„Du kennst sie?“, brachte er überrascht hervor, es klang schroffer und harscher als erwartet.

„Na ja, kennen würde ich es nicht nennen. Wobei es ihretwegen einen Zeitungsartikel gibt, willst du ihn sehen?“.

Für einen Moment war er verwirrt. Was hatte Tamara in einem Zeitungsartikel verloren? Worüber sprach seine Mutter?

„Ich … um was geht es in dem Artikel?“.

„Komm, schau es dir selbst an“.

Ihm war die merkwürdige Art seiner Mutter unheimlich. Was für Rätsel konnten sich um Tamara ranken? Was gab es, dass in einem Zeitungsartikel stand und mit eigenen Augen gesehen werden musste?

„Ich verstehe nicht ganz …“, versuchte er es, Moira stand bereits auf. Anstatt ihm zu antworten, ging sie auf das Haus zu, und ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

Was ist hier eigentlich los?

Der Gedanken verbiss sich in seinem Kopf, ein wenig floss sogar Angst herein, was für eine Offenbarung ihn erwarten würde. Dennoch besaß er nicht mal den Hauch eines Verdachts, was passiert sein könnte, dass seine Mutter ihn zum Artikel führen musste.

Im Haus schlug ihm eine kühle, angenehme Luft entgegen. Nina tauchte auf und nahm die Jacke ab, die gestrige Begegnung im Gotteshaus fand keine Erwähnung. Grim folgte Moira, so hatte er sich die Rückkehr vom Fest nicht vorgestellt.

Während des Weges in den Dachboden strengte er seine Phantasie an, sie bot keine zufriedenstellende Antwort. An etwas Schlechtes wollte er nicht glauben, etwas Gutes fiel ihm nicht ein.

Als sie im obersten Stockwerk ankamen, schlug einem stickige Luft entgegen. Gerümpel lag herum, meistens Gegenstände, die seine Eltern über die Jahre angesammelt hatten und niemals wegwarfen.

An den Anblick des Dachgeschosses gewöhnt, ignorierte er die Umgebung. In einer großen, bräunlichen Kiste schien das Geheimnis um Tamara zu schlummern.

„Kannst du mir helfen?“, fragte sie.

Er ging zu ihr und packte mit an, als sie gemeinsam die Kiste zum Fenster bugsierten, wo mattes Licht hereinfiel. Die Helligkeit war notwendig, denn wie Grim erkannte, waren hunderte alte Zeitungsartikel darin. Glücklicherweise war der Dachstuhl nach Süden hin geöffnet, somit sollte sich kein Problem beim Lesen ergeben.

Er sah zu seiner Mutter hinüber, denn ihm entzog sich der Zusammenhang zwischen Tamara und dem Artikel. Gemeinsam senkten sie sich über den Karton. Es kam einem vor, als ginge es um eine Schatzkiste.

Sie wühlte mit schnellen Handgriffen umher. Er erkannte sogar eine gewisse Ordnung, welche er anfänglich für unmöglich gehalten hatte. Alle Einträge waren nach den Jahreszahlen sortiert worden, ihm schwebte vor Augen, wie Nina wochenlang hier oben zubringen musste - in der schlechten Luft! -, um diese Ordnung herzustellen. Die arme Magd litt häufig unter Moiras sinnlosen Aufträgen, welche sie jedoch für das ruhige Leben auf dem Hof in Kauf nahm. In der Stadt erginge es ihr als unverheiratete Frau gewiss schlechter …

„Vor zwei Jahren muss es passiert sein“, murmelte die Mutter vor sich her. „Ich kann mich gut daran erinnern …“.

„An was, Mama?“, Ungeduld füllte seine Stimme.

„Wenn ein großes Feuer auftritt, ist es in einer kleinen Stadt schnell ein brisantes Thema. Die Geschichte drang sogar bis zum Hof vor. Doch wenn sie auf das Fest gehen und mit dir tanzen kann, dürfte es ihr nicht so schlecht gehen, wie befürchtet“.

„Ich verstehe kein Wort“.

Seine Stirn hatte viele Furchen bekommen, Ratlosigkeit spiegelte sich in den blauen Augen wider.

„Tada! Hier ist der Artikel, den ich meinte. Lese ihn und komm danach zu mir. Ich will wissen, ob du dich dann noch auf den Tag der Ehre freust …“.

Will sie etwa verhindern, dass ich Tamara wiedersehe?

Kurzzeitig kam ihm der Gedanke, seine Eltern wären mit einem mittellosen Stadtmädchen unzufrieden. Immerhin gab es in Rachon keine Person, die mehr Reichtum wie sein Vater besaß.

Anstatt sich in den Sorgen zu verlieren, nahm er den Artikel in die Hand.

„Räume die Kiste wieder an die richtige Stelle. Wenn du mich suchst, ich trinke Eistee auf der Veranda … diese stickige Luft bereitet mir Kopfschmerzen!“.

„Okay, mach ich“.

Sie schlug sich den Staub von den Röcken und verschwand, kurz sah Grim ihr noch nach, unentschlossen, ob es klug wäre, seine Forschung voranzutreiben. Besäße Tamara ein verborgenes Geheimnis, hätte sie es ihm erzählt, wenn er es wissen sollte.

Es kam ihm wie ein Vertrauensbruch vor!

Gleichzeitig wunderte er sich, mit welchen merkwürdigen Zufällen das Schicksal aufwarten konnte. Wer hätte vermutet, seine Mutter besäße Informationen?

Warum sammelt sie überhaupt Zeitungsartikel?