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Das Vermächtnis von Celestine birgt eine neue Einsicht, mit der die Welt verändert werden kann. Die Suche nach der Zwölften Prophezeiung entwickelt sich zum Kampf für eine freie, selbstbestimmte Spiritualität, die der Menscheit das Überleben sichern soll. Wer die Zwölfte Prophezeiung erfüllt, kann die Menschheit vernichten oder in eine neue Zukunft führen. In der Wüste Saudi-Arabiens beginnt ein tödlicher Kampf zwischen den Fundamentalisten der alten Weltreligionen und einem kleinen Kreis von Menschen, die die wahre Botschaft von Celestine verstanden haben...
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JAMES REDFIELD
DIE
ZWÖLFTE
PROPHEZEIUNG
VON
CELESTINE
Aus dem Amerikanischen übersetztvon Thomas Görden
Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel
THE TWELFTH INSIGHT
im Verlag Grand Central Publishing, New York, NY, USA.
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Allegria ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.
Herausgeber: Michael Görden
ISBN: 978-3-8437-0018-4
© der deutschen Ausgabe 2011 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
© der Originalausgabe 2011 by James Redfield
This edition published by arrangement with Grand Central Publishing, New York, NY, USA. All rights reserved.
Übersetzung: Thomas Görden
Lektorat: Marita Böhm
Umschlaggestaltung: FranklDesign, München
Titelabbildung: © Grand Central Publishing und © Celestine Deutschland GmbH
Satz: Keller & Keller GbR
In einer Zeit universaler Täuschung
wird es zu einer revolutionären Tat,
die Wahrheit zu sagen.
1
Die Synchronizität
aufrechterhalten
Ich fuhr auf die Schnellstraße, schaltete den Tempomaten ein und versuchte, mich ein wenig zu entspannen. Bis zu dem vereinbarten Treffen mit Wil am Flughafen war noch reichlich Zeit, also zwang ich mich, innerlich ruhiger zu werden und die Herbstsonne und den Ausblick auf die sanft vorbeigleitenden südlichen Hügel zu genießen – ganz zu schweigen von den Krähenschwärmen, die an der Straße entlangstrichen.
Ich wusste, dass die Krähen ein gutes Zeichen waren, auch wenn sie mir den ganzen Sommer über zu schaffen gemacht hatten. Im Volksglauben weist ihre Anwesenheit auf geheimnisvolle Ereignisse und eine bevorstehende Begegnung mit dem eigenen Schicksal hin. Manche sagen sogar, dass sie uns zu einem solchen Augenblick hinführen können, wenn wir es wagen, ihnen lange genug zu folgen.
Andererseits kommen sie am frühen Morgen, um im Garten die jungen Erbsenpflanzen wegzufressen – wenn man nicht bereit ist, sich auf einen Deal einzulassen. Sie lachen über Vogelscheuchen und Schrotflinten. Aber wenn man die letzte Pflanzreihe am Waldrand für sie reserviert, lassen sie die restliche Ernte meistens in Ruhe.
In diesem Moment flog eine einzelne Krähe über den Wa-gen hinweg und dann vor mir her. Plötzlich machte sie kehrt und flog in die Richtung zurück, aus der ich gekommen war. Ich versuchte, sie im Rückspiegel zu beobachten, sah aber nur einen dunkelblauen Geländewagen ungefähr hundert Meter hinter mir.
Ich dachte nicht weiter über diesen Wagen nach, konzentrierte mich wieder auf die Straße vor mir und vertiefte meine Entspannung. Es geht doch nichts über eine Spritztour mit dem Auto, dachte ich. Dann fragte ich mich: Wie viele Menschen an wie vielen Orten erleben gerade genau einen solchen Moment wie ich, entfliehen dem Stress einer unsicheren Welt, fahren einfach mit dem Auto los und schauen, was geschieht?
Ich allerdings befand mich auf einer Suche. Seit Monaten liefen mir immer wieder völlig fremde Leute über den Weg, die alle über das Gleiche redeten: die bevorstehende Veröffentlichung eines alten Kodexes oder Dokuments, das von einer Gruppierung in Umlauf gebracht werden würde, die sich aus Vertretern der verschiedenen religiösen Traditionen zusammensetzte. Die Kunde darüber hatte sich bereits weit verbreitet, wenigstens unter denen, die ein Ohr für derartige Dinge hatten. Aber niemand schien Genaueres zu wissen. Es hieß lediglich, dass das Dokument aus einem dringenden Grund früher veröffentlicht werden sollte als ursprünglich geplant.
Für mich waren diese Gerüchte faszinierend, hatten jedoch auch eine humorvolle Seite. Die Idee eines Bündnisses zwischen den Religionen war alles andere als neu, hatte sich aber in der Praxis stets als undurchführbar erwiesen. Die Unterschiede in den Positionen waren einfach zu groß. Ich hatte das Ganze schon endgültig zu den Akten legen wollen, als ich plötzlich ein Fax von Wil erhielt. Er schickte mir zwei Seiten Text, die offenbar aus diesem alten Dokument übersetzt waren. An den Rand der ersten Seite hatte er handschriftlich notiert: »Das Dokument ist sowohl hebräischen als auch arabischen Ursprungs.«
Als ich den Text las, erschien er mir zunächst modern. Es hieß darin, dass im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts etwas Wichtiges geschehen würde. Angesichts des angegebenen Zeitrahmens verzog ich das Gesicht und dachte, ich hätte es mit einem weiteren Beispiel für die Flut von Weltuntergangsprophezeiungen zu tun, die alles fehlinterpretierten, vom Maya-Kalender über Nostradamus bis zur Johannesoffenbarung, nur um verkünden zu können, dass die Welt im Jahr 2012 enden würde!
Seit Jahren schon wurde in den Medien dieses »Endzeit«-Szenario propagiert, und obwohl die Menschen sich deswegen Sorgen machten, wirkten sie zugleich zutiefst fasziniert davon. Die große Frage lautete: Warum? Wodurch wurde diese Faszination hervorgerufen? War es einfach nur Aufregung darüber, jene Zeit, in der der Maya-Kalender enden würde, persönlich mitzuerleben? Oder ging es noch um etwas anderes? Vielleicht offenbarte sich in unserer Faszination für dieses Zeitenende eine tief in uns wohnende intuitive Ahnung, dass uns danach etwas Besseres erwartete.
Je mehr ich von Wils Fax las, desto mehr spürte ich, dass von dem Text eine numinose Faszination ausging. Ich fand den Stil fesselnd und irgendwie vertraut. Die Authentizität bestätigte sich durch eine weitere handschriftliche Notiz Wils auf der zweiten Seite. »Ich habe es von einem Freund erhalten«, hatte er auf den Rand gekritzelt. »Es ist echt.«
Ich warf einen Blick auf das Fax. Die beiden Seiten lagen neben mir auf dem Beifahrersitz. Das Licht der Nachmittagssonne flackerte auf ihnen. Wils handschriftlicher Kommentar bedeutete für mich, dass das Original wertvoll sein musste und möglicherweise eine wichtige Ergänzung zu jenem alten Text darstellte, der immer schon seine große Leidenschaft gewesen war: den Prophezeiungen von Celestine, die man vor einigen Jahren in Peru entdeckt hatte.
Dieser Gedanke löste eine Flut von Erinnerungen aus. Wie ein Lauffeuer hatten sich damals die ersten Neun Erkenntnisse von Celestine auf dem Planeten verbreitet. Warum? Weil sie einer Welt, die zu seicht und materialistisch geworden war, wichtige neue Impulse gegeben hatten. Die Botschaft jener Prophezeiungen war klar und unmissverständlich gewesen: Spirituell zu sein heißt mehr, als lediglich an eine abstrakte Gottheit zu glauben. Es zieht die Entdeckung einer völlig neuen Dimension des Lebens nach sich, die ganz auf spirituelle Weise funktioniert.
Wenn ein Mensch einmal diese Entdeckung gemacht hat, wird ihm bewusst, dass das Universum reich an scheinbar zufälligen Begegnungen, Intuitionen und geheimnisvollen Fügungen ist, die alle darauf hinweisen, dass unserem eigenen Leben und tatsächlich sogar der gesamten Menschheitsgeschichte eine höhere Bestimmung innewohnt. Dem Sucher, der zu dieser Erkenntnis erwacht, stellt sich dann nur noch die Frage, wie diese geheimnisvolle Welt wirklich funktioniert und wie wir diese Geheimnisse aktiv in unser Leben integrieren können.
Damals wusste ich, dass unser Bewusstsein einen Sprung nach oben gemacht hatte, was geradewegs zu zwei weiteren Entdeckungen führte – einer Zehnten und einer Elften Erkenntnis. Die Zehnte befasste sich intensiv mit dem Geheimnis des Jenseits und war Auslöser einer ein Jahrzehnt währenden Beschäftigung mit dem Himmel und seinen Bewohnern. Sie beseitigte eine uralte Verdrängung des Todes und dessen, was danach geschieht. Als diese Blockade einmal beseitigt war, konnte eine intensive Erforschung alles Spirituellen beginnen.
Rasch folgte die Elfte Erkenntnis. Sie entstand aus dem kollektiven Wissen, dass wir alle hier sind, weil wir Mitwirkende einer noch undefinierten Agenda sind – einer Art von Plan. Dazu gehörte die Entdeckung, wie wir unsere innersten Träume manifestieren und so daran mitwirken können, die Welt in ihren idealen Zustand zu erheben. Aus diesen intuitiven Erkenntnissen erwuchsen in den folgenden Jahren alle möglichen Theorien über Geheimnisse und Gebetskraft und die Gesetze der Anziehung. Diese Theorien schienen richtig zu sein, wirkten aber alle irgendwie unvollständig.
Jedenfalls begleiteten sie uns bis in die jüngste Zeit, bis zu jenem Punkt, als uns allen der materielle Boden unter den Füßen weggezogen wurde – in Gestalt eines weltweiten Finanzkollapses.
Danach mussten wir uns zunächst dringlicheren Fragen zuwenden, etwa unserer persönlichen Finanzsituation, und wir mussten unsere Ängste bekämpfen, die von den Schwarzsehern geschürt wurden. Aber wir waren immer noch wach, und wir suchten nach weiteren spirituellen Antworten. Diese Antworten sollten in der realen Welt anwendbar sein, auch wenn diese Welt sich als viel geheimnisvoller erwies, als wir zuvor geglaubt hatten.
Ich musste unwillkürlich lächeln … wie interessant, dass Wil gerade jetzt ein anderes Dokument entdeckt hatte. Er hatte schon lange das Auftauchen einer weiteren Erkenntnis vorhergesagt, der Zwölften, die eine abschließende Offenbarung an die Menschheit beinhalten und unmittelbar auf die Elfte Erkenntnis aufbauen würde. Wird, so fragte ich mich, diese Zwölfte Erkenntnis uns endlich zeigen, wie wir dieses spirituelle Wissen in einem größeren Rahmen »leben« können? Wird diese Veränderung die Geburt jener neuen, idealeren Welt einläuten, deren Kommen wir alle spüren?
Ich wusste, dass uns nichts anderes übrig blieb, als zu sehen, wie die Dinge sich entwickeln würden. Wil hatte mir nur gesagt, dass wir uns am Flughafen treffen und dann zusammen nach Kairo fliegen würden, wenn alles gut lief. Wenn alles gut lief? Was meinte er damit?
Ein Hirsch riss mich aus meinen Gedanken. Ich nahm den Fuß vom Gas und bremste ab. Das große Tier überquerte in rasantem Lauf sechs Fahrspuren und sprang über den Zaun auf der anderen Seite. Ein Hirsch war ebenfalls ein gutes Zeichen, ein Symbol für Wachheit und Aufmerksamkeit.
Ich blickte auf die Hügel, deren Herbstfarben nun ins Licht eines bernsteinfarbenen Sonnenuntergangs getaucht waren, und erkannte, dass ich mich genau so fühlte: wacher und lebendiger. Alle diese Gedanken hatten mich irgendwie mit neuer Energie erfüllt, was bewirkte, dass ich jedes Detail deutlicher wahrnahm – den Sonnenuntergang, die vorbeiziehende Landschaft, die Gedanken, die mir in den Sinn kamen – als sei plötzlich alles irgendwie viel wichtiger geworden.
Wieder musste ich lächeln. Diesen Bewusstseinszustand hatte ich schon viele Male erlebt. Und jedes Mal wenn es geschah, überraschte es mich aufs Neue – einerseits, weil dieser Zustand stets so plötzlich auftrat, und andererseits, weil ich ihn zwischendurch immer wieder verlor, obwohl er sich so richtig und natürlich anfühlte.
Es gab viele Namen für diese Erfahrung – die Zone, Höhere Wahrnehmung und, meine Lieblingsbezeichnung, Synchronistischer Fluss –, alle diese Namen versuchten, das zentrale Merkmal dieses Zustandes einzufangen: eine plötzliche Anhebung der eigenen Bewusstheit, wodurch man das Alltägliche transzendiert und im Fluss der Ereignisse einen höheren Sinn entdeckt. Diese synchronistische Wahrnehmung »zentriert« uns in gewisser Weise und gibt uns das Gefühl, dass die Ereignisse unseres Lebens weit mehr als bloße Zufälle sind – dass sich eine höhere »Bestimmung« entfaltet.
Plötzlich erregte ein Gebäude auf der rechten Straßenseite meine Aufmerksamkeit. Es handelte sich um eine kleine Sports Bar, auf die Wil gedeutet hatte, als wir vor Jahren hier vorbeigefahren waren. In diesem Lokal, das »The Pub« hieß, sei das Essen gut, hatte er gesagt, und es gäbe hausgemachten Kuchen. Ich war schon oft an dem »Pub« vorbeigekommen, hatte aber nie angehalten. Du hast noch viel Zeit, sagte ich mir. Warum nicht hier einen Happen essen, statt mir das Flughafen-Essen anzutun? Ich nahm die Ausfahrt und sah im Rückspiegel, dass hinter mir auch der Geländewagen die Schnellstraße verließ.
Ich parkte im schwindenden Licht unter einer riesigen Eiche und ging hinein. Das Lokal war randvoll. Paare unterhielten sich an der Theke, und an sechs oder sieben Tischen in der Mitte des Raumes aßen Familien mit Kindern. Mein Blick fiel sofort auf zwei Frauen, die an einem Tisch an der gegenüberliegenden Wand saßen. Sie beugten sich zueinander, in ein intensives Gespräch vertieft.
Während ich mich an einen kleinen Tisch neben ihnen setzte, schaute mich die jüngere der beiden Frauen einen Moment an, dann wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu.
»Bei der Ersten Integration«, sagte sie, »geht es darum, den Fluss der Synchronizität aufrechtzuerhalten. Aber ich bin nicht im Besitz des gesamten Dokuments. Es muss irgend-wo noch weitere Teile dieses alten Textes geben. Ich muss sie finden.«
Ich fühlte einen Energieschub. Sprachen sie tatsächlich über das Dokument, von dem Wil mir zwei Seiten gefaxt hatte?
Die Frau, die redete, trug Jeans, bequem aussehende Wanderschuhe und um den Hals ein buntes Tuch. Während sie sprach, schob sie sich immer wieder ihre blonden Strähnen hinter die Ohren. Der feine Duft von Rosenparfüm stieg mir in die Nase.
Plötzlich, während ich sie beobachtete, fühlte ich mich auf merkwürdige Weise zu ihr hingezogen, was mich fast wie ein Schock überfiel. Instinktiv hob sie den Kopf, und als sie bemerkte, dass ich sie anstarrte, trafen sich unsere Blicke. Rasch wandte ich mich ab. Als ich erneut zu ihr hinsah, ging gerade ein kleiner, rundlicher Mann zu ihrem Tisch. Die beiden Frauen waren offensichtlich angenehm überrascht, lächelten und umarmten ihn zur Begrüßung. Die Frau mit dem bunten Halstuch übergab ihm mehrere mit Schreibmaschine getippte Seiten, die er schweigend las. Ich gab vor, die Speisekarte zu studieren, während ich gespannt wartete. Intuitiv spürte ich, dass etwas Wichtiges geschehen würde.
»Warum willst du nach Arizona?«, fragte der Mann.
»Weil mir die Sache keine Ruhe lässt«, erwiderte sie. »Ich muss ihr einfach nachgehen.«
Ich hörte aufmerksam zu. Diese drei Menschen am Nachbartisch befanden sich offenbar im gleichen Energiestrom wie ich.
»Ich muss herausfinden, warum meine Mutter mich kontaktiert hat«, fuhr die Frau fort. »In diesem Dokument werde ich die Antwort finden. Das weiß ich einfach.«
»Also reist du jetzt gleich weiter?«, fragte der Mann.
»Ja, noch heute Abend«, antwortete sie.
»Folge deiner Intuition«, sagte der Mann. »Offenkundig bistdu gerade mitten im Fluss der Synchronizität. Aber sei vorsichtig. Wer weiß, wer noch alles auf der Suche nach diesen Informationen ist.«
Ich konnte kaum noch an mich halten und hätte mich schon fast in das Gespräch eingeschaltet, als ein großer, muskulöser Mann am Tisch hinter mir brummte: »Was für ein Quatsch!«
»Was?«, stammelte ich.
Er deutete mit einem Kopfnicken auf die Frau und flüsterte: »Das, was die da reden. So ein Scheiß!«
Für einen Moment wusste ich nicht, was ich erwidern sollte. Er war ungefähr fünfundvierzig, mit strubbeligen braunen Haaren und einem Stirnrunzeln im Gesicht. Er beugte sich kopfschüttelnd zu mir herüber. »Das ist der Untergang unserer Zivilisation, dieses magische Denken.«
Oh Gott, dachte ich, ein Skeptiker. Dafür hatte ich jetzt wirklich keine Zeit.
Er las in meinem Gesicht. »Was? Sind Sie etwa mit denen einer Meinung?«
Ich wich seinem Blick aus und versuchte mitzuhören, was die Frau sagte, aber er zog seinen Stuhl näher zu mir heran.
»Intuition ist bloß ein Märchen!«, sagte er mit Nachdruck. »Das ist schon viele Male bewiesen worden. Gedanken sind nichts als Nervenimpulse im Gehirn, die widerspiegeln, was immer Sie über Ihre Umwelt zu wissen glauben. Und Doktor Jungs Schwachsinn über Synchronizität ist pures Wunschdenken. Man sieht in den zufälligen Ereignissen des Lebens, was man sehen will. Ich weiß es. Ich bin Wissenschaftler.«
Der Anflug eines Grinsens erschien in seinem Gesicht. Er schien sehr zufrieden zu sein, dass er den Ursprung der Theorie der Synchronizität kannte. Ich hingegen wurde ärgerlich.
»Hören Sie«, sagte ich, »ich habe keine Lust, darüber zu diskutieren.«
Ich drehte den Kopf, um wieder das Gespräch zu verfolgen, aber es war zu spät. Die Frau und ihre Freunde waren aufgestanden und gingen zur Tür. Der Mann am Nebentisch grinste mich spöttisch an und verließ dann ebenfalls das Lokal. Ich wollte ihnen folgen, entschied mich aber dagegen, denn ich wollte nicht wie ein Stalker oder so ähnlich wirken. Ich setzte mich wieder. Der Augenblick war ungenutzt verstrichen.
Ich saß an meinem Tisch und wusste, dass die Energie, die ich im Auto aktiviert hatte, ganz verschwunden war. Ich fühlte mich flau und uninspiriert. Das ging so weit, dass ich für einen Moment ernsthaft in Erwägung zog, dass der Skeptiker recht haben könnte. Rasch schob ich diesen Gedanken von mir. Ich hatte zu viel erlebt, um noch an so etwas zu glauben. Viel wahrscheinlicher war, dass das, von dem ich glaubte, dass es geschehen war, auch tatsächlich geschehen war. Ich hatte kurz davorgestanden, mehr über das Dokument herauszufinden, doch dann war mir der Fluch meines Lebens in die Quere gekommen: ein Skeptiker, der mit dem größten Vergnügen danach trachtete, alles Spirituelle als Schwindel zu entlarven.
Wahrscheinlich hätte ich mich noch weiter über die verlorene Gelegenheit geärgert, wenn mir nicht plötzlich ein Mann aufgefallen wäre, der mich aus einer Ecke des Raumes anstarrte. Er trug eine schwarze Lederjacke und eine Kurzhaarfrisur. Eine Sonnenbrille hing an seiner Hemdtasche. Als unsere Blicke sich trafen, tauchte er hinter einer Gruppe von Gästen unter, die sich an der Theke unterhielten.
Ich blickte mich nun genauer um und bemerkte, dass mich noch zwei weitere Männer beobachteten, beide salopp gekleidet, aber mit dem gleichen monoton starrenden Blick. Auch sie wandten sich ab, sobald ich sie bemerkte.
Na toll, dachte ich. Das schienen irgendwelche professionellen Spitzel zu sein. Ich stand auf und ging möglichst entspannt in Richtung Toiletten. Keiner von ihnen reagierte. In einem kleinen Flur hinter dem Gastraum fand ich, worauf ich gehofft hatte: einen Hinterausgang. Ich ging hinaus auf den nur schwach beleuchteten Parkplatz. Niemand war zu sehen. Dann, als ich mich meinem Pick-up näherte, duckte sich eine Gestalt hinter einen Lieferwagen. Als ich weiterging, setzte sich die Gestalt ebenfalls in Bewegung. Sie hatte offenkundig vor, mir den Weg abzuschneiden.
Ich blieb stehen, und er blieb stehen, und dann bemerkte ich etwas Vertrautes an seiner Gestalt. Es war Wil! Als ich ihn erreichte, zog er mich auf den Boden und schaute zum Pub hinüber.
»Wo bist du denn da hineingeraten, mein Freund?«, fragte er in seinem gewohnten, etwas humorvollen Tonfall.
»Ich weiß nicht«, stieß ich hervor. »Habe drinnen bemerkt, dass mich mehrere Leute beobachten. Was machst du denn hier, Wil?«
Erst jetzt bemerkte ich, dass er einen großen Trekkingrucksack trug.
Er nickte in Richtung meines Wagens. »Erzähl ich dir später. Los, verschwinden wir von hier. Ich fahre.«
Während wir ins Auto stiegen, schaute ich zum anderen Ende des Parkplatzes hinüber und entdeckte die Frau mit dem Halstuch. Sie stand mit mehreren Leuten zusammen, von denen einer, zu meiner Verblüffung, der Skeptiker war.
Ich wollte beobachten, was dort weiter geschah, aber dann sah ich hinter ihnen am Rand des Parkplatzes etwas, was mich noch mehr verwunderte. Der blaue Geländewagen, der mir zuvor auf dem Highway aufgefallen war, parkte vielleicht dreißig Meter entfernt. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich deutlich erkennen, dass zwei Männer darin saßen.
Ich verzog das Gesicht. Ich hätte es wissen müssen.
Während ich beobachtete, was hinter uns geschah, lenkte Wil den Wagen zurück auf die Schnellstraße in Richtung Norden. Wie es schien, folgte uns niemand.
»Wieso bist du hierher zu dem Pub gekommen?«, fragte ich.
»Das war nur so eine Ahnung«, antwortete er. »Ich wusste nicht, wo ich dich sonst hätte finden können. Ein Freund fuhr mich zum Flughafen. Als wir hier vorbeikamen, dachte ich mir, dass du hier vielleicht eine Pause machst. Wir entdeckten deinen Wagen auf dem Parkplatz. Also ließ ich mich absetzen.«
Er warf mir einen aufmerksamen Blick zu. »Was ist mit dir? Warum hast du dich entschieden, hier haltzumachen?«
»Ich habe den Pub vom Freeway aus gesehen, und mir fiel ein, dass du ihn mir mal empfohlen hast. Also dachte ich, dass ich hier gut etwas essen könnte …«
Er lächelte wissend. Wir wussten beide, dass es sich um reine Synchronizität handelte. Ich betrachtete ihn und stellte fest, dass er in den wenigen Jahren, die wir uns nicht gesehen hatten, auf gute Weise gealtert war. Es gab ein paar Linien mehr in seinem sonnengebräunten Gesicht, aber seine Bewegungen und seine Stimme ließen ihn viel jünger erscheinen. Seine Augen funkelten hellwach.
»Es sind viel mehr Leute auf der Suche nach diesem Dokument, als ich dachte«, sagte er. »Erzähle mir besser alles, was du erlebt hast.«
Ich berichtete ausführlich von meinen Gedanken während der Fahrt, dem blauen Geländewagen, der Synchronizität, die ich empfunden hatte. Dann schilderte ich ihm in allen Einzelheiten, was ich in der Kneipe erlebt hatte – vor allem wie der Skeptiker meine Energie schwächte und ich die Männer bemerkte, die mich beobachteten. Als ich fertig war, wartete ich nicht seinen Kommentar ab, sondern fragte ihn, ob er wisse, warum sie mich beschatteten.
»Ich weiß nicht, wer sie sind«, meinte er. »Ich hatte schon seit ein paar Tagen das Gefühl, beobachtet zu werden. Gestern habe ich dann zwei von ihnen gesehen, aber nur von Weitem. Sie machen das ziemlich gut.«
Ich nickte nervös. Ich hob die Seiten hoch, die auf meinem Schoß lagen. »Wer hat dir das geschickt?«
»Ein Freund, der in Ägypten lebt«, antwortete Wil, »einer der besten Experten für alte Texte. Ich kenne ihn schon lange. Wir haben deswegen miteinander telefoniert. Wie er sagt, ist das Dokument zweifelsfrei echt. Vermutlich stammt es aus dem vierten oder fünften Jahrhundert. Ihm wurde nur der erste Teil des Dokuments zugeschickt, bereits übersetzt, aber er denkt, dass es sich auf die heutige Zeit bezieht, genau wie die Prophezeiungen von Celestine …«
Wir wechselten Blicke.
»Da ist noch mehr«, fuhr Wil fort. »In dem Dokument heißt es, dass wir uns in einer Art Wettlauf befinden. Mein Freund sagte, dass diese Fragmente des Dokuments überall auf der Welt auftauchen. Offenbar verschicken jene, die hinter der Veröffentlichung stecken, ausgewählte Teile an bestimmte Personen, wobei noch nicht klar ist, welches Ziel sie damit verfolgen. Mehr weiß ich noch nicht. Das Telefonat mit meinem Freund wurde an diesem Punkt unterbrochen. Seitdem habe ich ihn nicht wieder erreichen können.«
Meine Gedanken überschlugen sich. Die Frau, die ich in dem Pub gesehen hatte, war im Besitz eines Teils des Dokuments und fuhr nach Arizona. Aber wohin in Arizona? War sie in Gefahr? Waren wir es?
Die bedrängende Realität der Situation wurde mir bewusst. Das Dokument war faszinierend, aber wir hatten nun gesehen, dass irgendwelche offiziellen Leute, vielleicht von der Regierung, auch daran interessiert waren. Würden sie versuchen, es zu beschlagnahmen, es der Öffentlichkeit vorzuenthalten? Und wie weit würden sie gehen? Ich spürte Furcht in mir hochsteigen.
»Unsere Reise nach Ägypten ist wohl erst mal verschoben«, sagte ich, um einen humorvollen Ton bemüht.
Wil lächelte einen Moment. »Ich hatte sowieso schon im Gefühl, dass es uns vielleicht woandershin verschlägt.«
Plötzlich warf er einen besorgten Blick in den Rückspiegel. Hinter uns, ein ganzes Stück weit hinter uns, fuhr ein weiterer Geländewagen. »Ich glaube, der folgt uns«, sagte Wil.
An diesem Punkt begann Wil, eine Reihe von strategischen Maßnahmen zu ergreifen. Als Erstes bat er mich um mein Smartphone, schaltete es ab und nahm den Akku heraus. Er zog eine örtliche Straßenkarte aus dem Ablagefach zwischen den Sitzen. Danach reduzierte er die Geschwindigkeit, wodurch der blaue Geländewagen gezwungen wurde, ebenfalls langsamer zu fahren, um den Abstand zu uns beizubehalten. Nach einer Minute beschleunigte Wil plötzlich rasant, wodurch die Lücke zu dem Geländewagen groß genug wurde, dass wir die nächste Ausfahrt nehmen konnten, ohne gesehen zu werden.
Wil bog nach rechts auf eine schmale asphaltierte Straße ab, dann nach links auf eine Schotterstraße, die ganz sicher nicht auf der Straßenkarte eingezeichnet war.
»Woher weißt du von dieser Straße?«, fragte ich.
Er warf mir einen kurzen Blick zu, schwieg aber. Die alte Straße war voller Schlaglöcher und Spurrillen, aber schließlich gelangten wir wieder auf eine befestigte Straße, die uns ungefähr zwölf Kilometer weiter nördlich zurück zum Freeway brachte. Als wir in die Auffahrt einbogen, sahen wir, dass sich hinter uns auf der Schnellstraße ein Stau gebildet hatte. Wir konnten Blaulicht erkennen und einen Feuerwehrwagen, der dort stand, wo der Freeway blockiert war.
Wir aber hatten völlig freie Bahn! Wil gab Gas. Hinter uns war der Weg versperrt, auch für den Geländewagen, der uns folgte. Ich starrte Wil an. Ich hatte ihn schon viele erstaunliche Dinge tun sehen, aber niemals etwas so schnell Entschlos-senes.
»Woher wusstest du, wann du wo abbiegen musstest?«, fragte ich.
Er entgegnete: »Woher wusstest du, dass du an dem Pub Pause machen solltest, sodass wir Gelegenheit erhielten, uns zu treffen?«
»Okay«, räumte ich ein. »Intuition. Aber du hast so schnell reagiert. So etwas habe ich noch nie getan.«
Das Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Autos glitt über sein Gesicht. »Ich habe mit Leuten gesprochen, die unterschiedliche Teile dieses Dokuments gelesen haben. Es werden darin all jene Fähigkeiten beschrieben, über die wir Menschen verfügen, die wir aber noch nicht entwickelt haben. Und genau darum scheint es in dem Dokument zu gehen. Jeder Teil befasst sich mit einer bestimmten sogenannten ›Integration‹ spirituellen Wissens, und es gibt einen direkten Bezug zu den Erkenntnissen aus der alten Prophezeiung von Celestine.«
»Langsam«, sagte ich. »Das würde ja bedeuten, dass der Verfasser dieses Dokuments, wer immer das gewesen sein mag, damals von den anderen Prophezeiungen gewusst haben muss.«
»Ganz genau. Ich glaube, dieses jetzt ans Licht kommende Dokument ist eine Art Ergänzung zu der Celestine-Prophezeiung, ein Handbuch für die praktische Umsetzung. Mein Freund hat gesagt, dass elf Teile dieses Dokuments an verschiedenen Orten aufgetaucht sind. Und jeder davon befasst sich mit der Integration eines bestimmten Wissensaspekts. Desweiteren ist von einer Zwölften Erkenntnis im Dokument die Rede …«
»Es wird darin eine Zwölfte Erkenntnis offenbart?«, fragte ich.
»Anscheinend. Aber diesen Teil hat bislang noch niemand gefunden. Oder jedenfalls spricht niemand davon. In dem Dokument heißt es, dass die Integrationen, eine nach der anderen, in der richtigen Reihenfolge verstanden und erlernt werden müssen, beginnend mit der Ersten: Sie lehrt uns, wie wir die Synchronizität aufrechterhalten können.«
Er schwieg einen Moment und fügte dann hinzu: »Das war immer schon ein Problem.«
Ich wusste, worauf er hinauswollte. Wir alle erhaschen sozusagen kurze Blicke auf die Synchronizität. Die Herausforderung bestand, wie in meinem Fall, darin, diese Erfahrung aufrechtzuerhalten, den Fluss der Synchronizitäten nicht wieder abreißen zu lassen. Das war für die meisten Leute das Hauptproblem bei dem Phänomen der Synchronizität. Synchronistische Erfahrungen tauchen dann und wann in unserem Leben auf, beinahe schon wie ein Ärgernis, und dann enden sie ebenso schnell wieder.
Ich drehte mich um und überprüfte die Straße. Es folgte uns niemand. Aber ich blieb nervös. »Ich weiß nicht, ob ich wirklich etwas mit diesem Dokument zu tun haben will, Wil. Vielleicht ist es zu gefährlich.«
Er nickte. »Was willst du also tun?«
»Ich möchte zur nächsten Polizeistation fahren, um diese Leute loszuwerden, die uns verfolgen. Vielleicht kann ich ja später dabei mithelfen, die Öffentlichkeit zu informieren, wenn der gesamte Inhalt des Dokuments gefunden ist.«
»Und wenn das nie geschieht? Wenn die Zwölfte Erkenntnis nicht gefunden wird?«
Ich schaute ihn an und lächelte. Wir hatten schon so viel zusammen erlebt, und Wil hatte mich niemals in die falsche Richtung gesteuert. Ich wollte hören, was er mir zu sagen hatte.
»Sieh mal«, fuhr er fort, »vielleicht hat uns alles, was wir entdeckt haben, unsere ganze Suche nach der Wahrheit genauzu diesem Moment hingeführt. Es ist deine Entscheidung, aber lass mir dir jetzt wenigstens erklären, was auf dem Spiel steht.«
Wil nahm den Fuß vom Gas und fuhr von der Schnellstraße ab. Er sagte, er wolle sich konzentrieren. Dann fand er eine kleine Nebenstraße, nicht weit von der Ausfahrt. Er legte den Rückwärtsgang ein, setzte den Wagen dort hinein und schaltete die Scheinwerfer aus.
»Das Dokument ist diesbezüglich sehr klar und unmissverständlich«, begann er. »Es heißt darin, dass in dieser Phase unserer Geschichte das bislang recht einfache materielle Leben härter werden wird, mit finanziellen und sozialen Verwerfungen allerorten. Doch der Text kündigt auch an, dass diese Herausforderungen Teil einer spirituellen Erneuerung sind, durch die wir viele neue Fähigkeiten erlangen und unsere Wahrnehmung enorm erweitern werden.
Aber jeder von uns muss eine Entscheidung treffen. Werden wir uns für diese tiefere Spiritualität öffnen oder werden wir uns von Ängsten und düsteren Vorahnungen beherrschen lassen? Da ist unser Mut gefragt, aber auch die Bereitschaft zu konkretem, praktischem Handeln. In gewisser Weise zwingen die Ereignisse uns dazu, aktiv zu werden und unsere Überzeugungen in die Tat umzusetzen. Der einzige Weg, die bevorstehenden Krisenzeiten zu überstehen, besteht darin, auf eine neue, andere Art zu leben.
Die erste Fähigkeit, die wir dafür manifestieren müssen, ist laut dem Dokument das Aufrechterhalten des synchro-nistischen Flusses. Wenn die geheimnisvollen Fügungen in unserem Leben sich öfter ereignen, werden wir schließlich entdecken, dass wir geführt werden, ja dass wir sogar vor den Gefahren dieser historischen Periode beschützt werden.«
Er hielt einen Moment inne und suchte im matten Licht meinen Blick. »Und da ist noch mehr. Im Dokument steht, dass jene von uns, die frühzeitig erkennen, wie es sich in diesem synchronistischen Fluss leben lässt, es den anderen ermöglichen, ihnen später nachzufolgen. Sollten andererseits aberzu viele von uns es jetzt versäumen, in diese Richtung voranzuschreiten, könnte das Wissen ungenutzt bleiben und für immer im Dunkel der Geschichte verschwinden. Dann wäre eine historische Chance vertan.«
»Das steht in dem Dokument?«
»Ja, genau das.«
Er schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln.
»Deshalb ist die Sache so wichtig«, fuhr er fort. »Trotzdem muss jeder von uns seine eigene Entscheidung treffen.«
»Erzähl mir mehr«, sagte ich.
»Das Dokument«, fuhr Wil fort, »konzentriert sich zunächst auf die synchronistische Erfahrung. Denn dieses Phänomen führt uns in die richtige Richtung. Wenn das Erleben von Synchronizitäten für uns zu einem häufigen Bestandteil unseres Alltags wird, erkennen wir, dass unser Leben nun erst richtig in Fahrt kommt. Wir ›starten‹ in eine vorherbestimmte Richtung und fühlen uns viel lebendiger als zuvor.«
Ja, dachte ich, »lebendiger«. Genau so hatte ich vorhin meine eigene Erfahrung beschrieben. Unmittelbar bevor ich die Frau sah und die Unterhaltung mit anhörte, hatte ich an das geheimnisvolle Dokument gedacht. Daher wusste ich, dass diese Begegnung kein Zufall sein konnte. Irgendwie sollte ich zu diesem Zeitpunkt dort in diesem Pub sein. Aber dann hatte dieser Skeptiker dazwischengefunkt, und ich war aus dem synchronistischen Fluss herausgefallen. Schon beim bloßen Gedanken daran konnte ich spüren, wie meine Energie wieder absank.
Wil bemerkte dies offenbar. »Wenn wir in den Fluss der Synchronizität eintreten, schenkt uns das Lebendigkeit und innere Klarheit, und wenn wir aus dem Fluss herausfallen, verlieren wir genau das wieder.
Der Punkt ist, dass sich uns jetzt die Chance eröffnet, nicht nur bezüglich des Phänomens der Synchronizität zu größerer Klarheit zu gelangen, sondern auch bezüglich unserer gesamten spirituellen Natur. Und wenn wir diese Chance nicht nutzen, wird unsere Zukunft, und die Zukunft unserer Kinder, eine ganz andere Richtung nehmen.«
Er schwieg einen Moment, während vor uns auf der Straße ein Wagen vorbeifuhr, der sich aber als unbedenklich erwies und in der Ferne verschwand.
»Die Idee ist folgendermaßen: Wir finden die Teile dieses Dokuments, einen nach dem anderen. Jeder Teil baut auf die vorherigen auf. So gelangen wir zu neuen Einsichten und einem höheren Bewusstsein und entdecken all diese neuen Fähigkeiten.
Im Dokument heißt es, dass wir, wenn wir alle elf Teile in unser Bewusstsein integriert haben, den letzten großen Download empfangen: die Zwölfte Erkenntnis. Dann werden wir nicht nur über ein vollständiges Bild unserer Spiritualität verfügen, sondern auch in der Lage sein, sie wirklich zu leben.«
Wieder kam ein Wagen vorbei.
»Aber wie schon gesagt«, fuhr Wil fort, »die Erste Integration setzt diesen Prozess in Gang, weil wir durch sie lernen, im Fluss der Synchronizität zu bleiben, der uns durch das alles hindurchleiten wird.«
Ich fragte: »Was sagt uns das Dokument denn darüber, wie wir im synchronistischen Fluss bleiben können?«
»Es sagt, dass wir dafür nur eines tun müssen: lernen, uns zu erinnern.«
»Woran erinnern?«
»Dass dieser Fluss möglich ist! Dass er existiert! Damals, als du zum ersten Mal die Erkenntnisse aus den Prophezeiungen von Celestine gelesen hast und wir alle ständig an Synchronizität dachten und über sie redeten, hat sie sich da nicht ziemlich oft ereignet? Nun, das lag daran, dass wir sie ständig erwarteten. Und mehr ist gar nicht nötig. Du musst dich nur immer wieder daran erinnern, Synchronizität zu erwarten.«
Darüber musste ich erst einmal einen Moment nachdenken. War es wirklich so einfach? Als ich unterwegs zu dem Pub gewesen war, hatte ich offenkundig losgelassen und wirklich über Synchronizität nachgedacht. Und ja, da war ich regelrecht in sie hineingefallen!
»In der Praxis«, erklärte Wil weiter, »läuft es einfach darauf hinaus, bewusst die nächste Synchronizität zu erwarten, was bedeutet, dass wir uns in einen Zustand ›erwartungsvoller Wachheit‹ versetzen. Gegenwärtig fällt uns das noch schwer, weil wir immer denken, unsere Zeit wäre knapp und wir hätten so viel zu tun. Und wenn wir uns in diesen erwartungsvoll wachen Zustand versetzen, ›verlangsamt‹ sich die Zeit.«
Ich wusste, was er meinte. Immer wenn man etwas erwartet und dann unbedingt will, dass es sich so schnell wie möglich verwirklicht, dauert es eine Ewigkeit, bis es sich manifestiert. Die Zeit scheint sich zu verlangsamen.
»Aber in der gegenwärtigen Phase ist die Verlangsamung der Zeit wirklich eine gute Sache«, fügte Wil hinzu. »Viele von uns fühlen sich völlig überwältigt von Problemen, die mit Lichtgeschwindigkeit auf uns einstürmen. Je mehr es uns gelingt, alles zu verlangsamen – und geduldig abzuwarten, bis eine synchronistische Fügung uns den Weg weist –, desto leichter bekommen wir unser Leben in den Griff.
Für den Anfang sollten wir also einen Zettel auf den Badezimmerspiegel kleben oder einen Freund bitten, uns früh am Morgen anzurufen, damit wir daran denken, dass wir jeden Tag damit beginnen, die Erwartung von Synchronizitäten in uns aufzubauen, bis uns das schließlich zur festen Gewohnheit geworden ist. Und wenn sich dann all diese vielen synchronistischen Fügungen ereignen und unsere Bestimmung sich entfaltet, müssen wir nichts weiter tun, als in diesem Fluss zu bleiben.«
Er machte eine effektvolle Pause.
»Und um das zu tun«, fuhr er fort, »müssen wir lernen, anderen Menschen mitzuteilen, was gerade mit uns geschieht.«
»Wie bitte?«
»Überlege mal, was passiert, wenn wir aus dem Fluss herausfallen«, sagte Wil. »Tritt das nicht immer dann ein, wenn wir mit anderen interagieren müssen, die sich selbst nicht im Fluss befinden und die Zeichen und Bedeutungen nicht sehen können, die wir sehen? Dadurch werden dann auch wir aus der Synchronizität herausgerissen.«
Ich musste daran denken, was ich mit dem Skeptiker erlebt hatte. In diesem Fall traf das gewiss zu.
»Wenn ich mich im Fluss befinde«, sagte ich, »versuche ich, mich möglichst von anderen Leuten fernzuhalten, damit sie mich nicht herausreißen.«
»Ich weiß«, sagte Wil mit einem neckischen Unterton.
»Willst du damit sagen, dass ich mir die Zeit hätte nehmen sollen, mit dem Skeptiker zu reden, obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte?«
»Nein, aber du hättest ihm gegenüber offen und aufrichtig sein können, hättest ihn vielleicht bitten können, einen Moment zu warten, was dir Gelegenheit gegeben hätte, mit den Leuten am Nebentisch zu sprechen. Er hat sich nervig und aufdringlich verhalten, aber du bist nicht durch seine Schuld aus dem Fluss herausgefallen. Du hast die Synchronizität verloren, weil du keinen Weg gefunden hast, aufrichtig zu kommunizieren, wer du bist und was du gerade tust.«
»Ich glaube nicht«, wandte ich ein, »dass er daran interessiert war.«
»Du hast noch nicht begriffen, worum es geht. Ich meine nicht, dass du deinen Standpunkt hättest verteidigen oder ihn von irgendetwas überzeugen sollen. Teile lediglich die Wahrheit der Situation mit, wie du sie siehst. Bei dieser Art von Kommunikation besteht das zentrale Ziel darin, dass du selbst gut im Fluss ›zentriert‹ bleibst. Hätte er dann die Unterhaltung mit dir abgebrochen oder dich für unhöflich gehalten, dann wäre das einfach so gewesen. Aber du hättest deinen Fluss nicht verloren.«
Nach einer weiteren effektvollen Pause fügte er noch hinzu: »Wenn du auf diese Weise kommuniziert hättest, wärst du auch offen dafür gewesen, ob der Mann vielleicht eine wertvolle Information für dich hatte! Du weißt doch von der alten Prophezeiung aus Peru, dass solche Begegnungen, die du als Störung oder Unterbrechung empfindest, ihrerseits wertvolle synchronistische Fügungen sein können. Und im Nachhinein könnte sich sehr wohl herausstellen, dass die Informationen, die er für dich hatte, genauso bedeutsam sind wie das, was du von der Frau erfahren hast.«
Diese Ermahnung traf mich, doch zugleich spürte ich einen Energieschub. Wenn ich Wil richtig verstanden hatte, dann konnte man den synchronistischen Fluss aufrechterhalten, indem man in jeder Situation ehrlich die eigene Wahrheit kom-munizierte, wie immer diese aussah – und zwar in erster Linie, weil man dadurch in der Klarheit der eigenen tieferen Lebenserfahrung zentriert blieb. Erneut fragte ich mich: Kann es wirklich so einfach sein?
Als ich diese Frage laut aussprach, lachte Wil leise und antwortete: »Es ist so einfach – und so schwierig. Und wenn du die Integrationen aus dem Dokument wirklich finden willst, musst du damit beginnen, in Bezug darauf, was du gerade erlebst und was in dir vorgeht, immer völlig bei der Wahrheit zu bleiben, dir selbst und anderen gegenüber – mag das, was du dann mitzuteilen hast, auch noch so esoterisch klingen.«
Während ich über seine Worte nachdachte, ließ er den Motor an und fuhr auf den Freeway zurück. Nach kurzer Zeit wechselte er die Spur, um einem Wagen auszuweichen, der am rechten Fahrbahnrand parkte. Hinter dem Steuer erkannte ich die Silhouette eines einsamen Fahrers. Licht flimmerte über sein Gesicht.
»Das ist er!«, stammelte ich fassungslos. »Der Skeptiker aus dem Pub. Er ist es!«
Wil blickte in den Rückspiegel. »Bist du sicher?«
»Ja.«
Während wir ihn beobachteten, fuhr der Mann wieder los und verließ an der nächsten Ausfahrt die Schnellstraße. Wil schaute mich fragend an.
»Was ist?«, fragte ich.
»Du siehst mir aus, als ob du jetzt besser im Fluss bist. Vielleicht bekommst du eine weitere Chance.«
»Mit ihm zu reden, meinst du?«
»Na ja«, sagte Wil mit einem Blick auf die Armaturen. »Du willst doch erfahren, wohin die Frau unterwegs ist, die dir im Pub auffiel. Und du hast gesagt, er hätte auf dem Parkplatz mit ihr gesprochen. Wir müssen sowieso tanken. Wir können also umkehren und ihn finden.«
Ich schaute Wil an und nickte, auch wenn mir die Sache nicht wirklich gefiel. »Na gut, meinetwegen. Aber ich glaube, ich weiß nicht, was ich zu diesem Burschen sagen soll.«
»Sag ihm doch einfach die Wahrheit«, sagte Wil. »Dass du glaubst, dass geheimnisvolle Fügungen eine Realität sind und aus gutem Grund geschehen … und dass du ihn jetzt schon zum dritten Mal siehst.«
2
Ein
bewusstes Gespräch
Wirwendeten, nahmen dieselbe Ausfahrt und hieltendann an einem riesigen, hell erleuchteten Truck Stop. Schwere Lastwagen, vielleicht ein Dutzend, parkten aufgereihthinter einem Gebäude, das ein Restaurant, Waschräume und einen Laden beherbergte. Nur wenige Pkw standen an den Zapfsäulen. Der braune Mietwagen des Skeptikers war einer davon.
»Denk daran«, riet mir Wil, »gehe mit der Haltung in das Gespräch, dass du ›Synchronizität erwartest‹. Mir gefällt die Kinofilm-Analogie. Der synchronistische Flow fühlt sich an, als würdest du dich langsamer bewegen, während sich gleichzeitig dein Gefühl erhöht, dass du in deinem Film der Star bist, um den die ganze Handlung kreist. Erhalte diese zentrierte Klarheit aufrecht, dann weißt du immer, was du gerade sagen sollst.«
Wil lächelte und lenkte meinen Pick-up an eine Zapfsäule direkt gegenüber vom Wagen des Skeptikers, dann fügte er noch eine Bemerkung hinzu: »Im Dokument heißt es, dass du, um wirklich konsequent bei deiner Wahrheit zu bleiben, auch alles zu ihm sagen musst, was dir intuitiv während eures Gesprächs in den Sinn kommt, selbst wenn es sich um Ideen handelt, über die du nie zuvor nachgedacht hast.«
Ich nickte, stieg aus und machte mich daran, den Pick-up vollzutanken. Wieder befiel mich dieses numinose Gefühl, als ob ein Gespräch bevorstand, das für alles, was später geschehen würde, von enormer Bedeutung war. Der Skeptiker stand mir genau gegenüber und betankte seinen Wagen. Als er mich endlich erblickte, lachte er laut auf.
»Sieh da, unser Freund der Zufälle«, sagte er. »Was für eine Synchronizität ist das denn!«
»Vielleicht ist es gar keine«, widersprach ich. »Wir haben Sie auf der Schnellstraße überholt und sind umgekehrt, um mit Ihnen zu reden.«
Ich konnte selbst kaum glauben, dass ich so mit der Tür ins Haus gefallen war, aber das half mir spürbar, zentriert zu bleiben.
»Und was gibt es zwischen uns zu besprechen?«, fragte er.
Sein Tonfall war sarkastisch und doch beinahe freundlich, und plötzlich wurde mir klar, dass er in der konfrontativen Art redete, die von Wissenschaftlern bevorzugt wird: eine Redeweise wie bei einem freundlichen Streitgespräch. Das Schlüsselelement dieser Gesprächsführung besteht darin, niemals einfach so einer Idee oder Theorie zuzustimmen, die von anderen Gesprächsteilnehmern geäußert wird. In der wissenschaftlichen Welt wurde der Standpunkt eines Kollegen auf keinen Fall ungeprüft akzeptiert. Vielmehr musste man sich Zustimmung erst verdienen. Es ging also darum, zunächst sehr skeptisch zu sein und auszutesten, ob der andere über eine angemessene wissenschaftliche Haltung verfügte.
Wenn der Gesprächspartner dieser Prüfung nicht standhielt, weil er einen schlecht durchdachten Standpunkt vertrat oder sich in allzu spekulativen Mutmaßungen erging, dann wurde die Unterhaltung sofort abgebrochen. Argumentierte der andere aber logisch und ausreichend vorsichtig, konnte die Debatte weitergehen. Ich hatte diese Form der Kommunikation immer schon für langweilig und zeitaufwendig gehalten, beherrschte sie aber durchaus.