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Anfang der 1960er-Jahre leitete man gegen ehemalige Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte ein Ermittlungsverfahren ein, das im Kontext der von Fritz Bauer vorangetriebenen Strafverfolgung von NS-Tätern stand. Der Vorwurf lautete: Unterstützung der systematischen Ermordung von Kranken und Behinderten zur Zeit des Nationalsozialismus. Auf einer vom Justizminister einberufenen Konferenz im April 1941 waren die hohen Juristen aufgefordert worden, die Tat zu decken. Das "Schlegelberger-Verfahren " - benannt nach dem einladenden Justizminister - dauerte zehn Jahre. Die historischen Ereignisse, das Verfahren selbst und die Anstrengungen, es vor dem Vergessen zu bewahren, bilden ein erinnerungspolitisches Ensemble, das verdeutlicht, wie umkämpft die NS-Aufarbeitung bis in die 1980er-Jahre hinein war.
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Seitenzahl: 395
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Christoph Schneider
Diener des Rechts und der Vernichtung
Das Verfahren gegen die Teilnehmer der Konferenz von 1941 oder: Die Justiz gegen Fritz Bauer
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Anfang der 1960er-Jahre leitete man gegen ehemalige Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte ein Ermittlungsverfahren ein, das im Kontext der von Fritz Bauer vorangetriebenen Strafverfolgung von NS-Tätern stand. Der Vorwurf lautete: Unterstützung der systematischen Ermordung von Kranken und Behinderten zur Zeit des Nationalsozialismus. Auf einer vom Justizminister einberufenen Konferenz im April 1941 waren die hohen Juristen aufgefordert worden, die Tat zu decken. Das »Schlegelberger-Verfahren » - benannt nach dem einladenden Justizminister - dauerte zehn Jahre. Die historischen Ereignisse, das Verfahren selbst und die Anstrengungen, es vor dem Vergessen zu bewahren, bilden ein erinnerungspolitisches Ensemble, das verdeutlicht, wie umkämpft die NS-Aufarbeitung bis in die 1980er-Jahre hinein war.
Vita
Christoph Schneider arbeitet als freier Autor und Kulturwissenschaftler in Frankfurt am Main.
1.Einleitung
1.1.Der Gegenstand
1.2.Der Rhythmus des Verfahrens
1.3.Ein erinnerungspolitisches Ensemble
1.4.Die Ordnung des Textes
1.5.Fritz Bauer
1.6.Opfer der NS-»Euthanasie«
2.Die vier Abschnitte des Verfahrens gegen »Schlegelberger und andere«
2.1.Die Stuttgarter Jahre
2.2.Rückübernahme – zu gegebener Zeit
2.3.Arbeitsbeginn
2.4.Die Blockade
2.5.Letzte Phase des Verfahrens
2.6.Das Ende
2.7.Zeitschleifen
3.Störungen im Tötungsbetrieb
3.1.Implementierung eines Verfahrens
3.2.Justiz und Partei
3.3.Die eigenartige Lagerung der Sachverhalte
3.4.Stuttgart/Grafeneck
3.5.Verbot der Verlegung
3.6.Normativ und außernormativ
3.7.Kooperation
3.8.Unterstützung der Basis
4.Werner Franz Wittrien
5.Die Konferenz
5.1.Einordnungsnotwendigkeit
5.2.Bergmanns Protokoll
5.3.Der Austausch
5.4.Schwundform einer hoheitlichen Rechtssetzung
5.5.Die Fotografien
5.6.Ausweitung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik 1941
6.Peter Wendelin Hommer
7.Lektüren der Einlassungen
7.1.Jung und ohne Einfluss
7.2.Macht der Kirche
7.3.Teuflisch raffinierte Täuschung
7.4.Ebersberg
7.5.Stellungnahme zu den Schutzschriften
7.6.Diehl und die Kammer
7.7.Soziale Sanktionen
7.8.Zur Kenntnisnahme und weiteren Bekanntgabe
8.Martha Dora Höschler
9.Hüter des Rechts – Büttel des totalitären Staats
9.1.Positivismuskritik und Selbststilisierung – das Bild der Justiz nach dem Krieg
9.2.Gemeinschaft statt Gleichheit
9.3.Ohnmacht der Justiz?
9.4.Kapitulation des Normenstaats?
9.5.Juristensubjekte
9.6.Folgen der Konferenz
10.Die Suche nach dem Verfahren
10.1.An die Kette gelegt
10.2.ÖTV in der Rechtspflege – Kramer 1978
10.3.Öffentlichkeit
10.4.Der Schutzwall bröckelt – Kramer 1983
10.5.Diese Burschen
10.6.Der Nachfolger des Nachfolgers
10.7.Das »Botschafter-Verfahren«
11.Erinnerungspolitik mit Fritz Bauer
11.1.NS-Prozesszwecke
11.2.Das Potenzial des Schlegelberger-Verfahrens
11.3.Diagnostik statt Vergeltung
11.4.Resozialisierung
11.5.Bauer und die Erinnerungspolitik
11.6.Verlernprozesse
11.7.Widerstände und Misserfolge
11.8.Das Problem der Konferenz
11.9.Fremd
Abkürzungen
Literatur
Danksagung
Personenregister
»Es ist Frühjahr 41, und durch unser Land geht ein letzter Taumel von Sieg und Begeisterung. Deutschland ist wie ein Süchtiger, der gleich zusammenbrechen wird, der gleich ein Häuflein Elend sein wird, aber jetzt hat es noch einmal die Kanüle drin, fühlt noch einmal den rasenden Rausch der Macht. […] Deutschland liegt wie eine Kriegswolke quer über dem Kontinent und baut nun das Europa germanischer Herrlichkeit.«1
Im Mai 1960 wurde gegen eine Reihe ehemaliger Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte in Frankfurt am Main ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Alles an diesem Verfahren ist ungewöhnlich: seine Dauer (zehn Jahre), die Zahl der Beschuldigten (33) und ihre Funktion im Apparat der Justiz, der Tatvorwurf (psychische Beihilfe zum Mord) und das Verfahrensende, verkündet in einem neunzeiligen Beschluss im Jahr 1970.
Gegenstand des Verfahrens war ein für die Geschichte der Vernichtungspolitik singuläres Ereignis: Am 23. und 24. April 1941 wurden von Staatssekretär Franz Schlegelberger – er führte zu diesem Zeitpunkt die Geschäfte des Reichsjustizministers – neben dem Reichsgerichtspräsidenten, den Oberreichsanwälten und weiteren hohen Repräsentanten der Justiz auch die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte aller Oberlandesgerichtsbezirke des Deutschen Reichs (einschließlich der annektierten Gebiete) eingeladen. Sollten sie verhindert sein – und dafür gab es eigentlich nur einen guten Grund: im Feld zu stehen –, war der Vertreter zu entsenden. Wichtigster Tagesordnungspunkt der Konferenz: Seit Anfang 1940 wurden systematisch und ohne gesetzliche Grundlage Anstaltspatienten ermordet. Im Zusammenhang mit der Selektion, dem Abtransport und dem Verschwinden von Tausenden von Menschen im Kerngebiet eines von Kriegsauswirkungen noch weitgehend verschonten Deutschen Reichs kam es zu »Störungen« – Angehörige insistierten, Anwohner spekulierten, Kirchenvertreter protestierten. Auch kollidierte die verdeckte und verbotene Tat wiederholt mit Vorgängen im Rechts- und Verwaltungswesen. Abläufe im Justizbetrieb kamen ins Stocken, Behörden stellten Nachforschungen an oder nahmen gar Strafanzeigen entgegen – all das sollte zukünftig vermieden werden. Zwei Vertreter aus der Organisationszentrale der NS-»Euthanasie« trafen sich mit den höchsten Repräsentanten des Rechts und informierten sie plenar über die Mordpraxis und ihre Modalitäten, über interne Abläufe und Verschleierungsmaßnahmen. Der Bericht über die arbeitsteilige, auch mit staatlichen Ressourcen betriebene illegale Tötungspraxis wurde von den Juristen angehört und ohne Verletzung rhetorischer und sozialer Regeln entgegengenommen. Absprachegemäß wurden diesbezügliche Anzeigen und Eingaben nun unbearbeitet an das Ministerium weitergeleitet. Von den höchsten Juristen des Landes hat nicht ein Einziger protestiert oder sich verweigert. Sie, die sehr gut einschätzen konnten, dass ihnen persönlich nicht mehr drohen würde als die vorzeitige Pensionierung, passten die Abläufe in ihren Bezirken der Vernichtungspolitik an.
Mit der Tötungsaktion gegen Kranke und Behinderte war ein »Präzedenzfall geschaffen worden, der den Kräften in der NS-Führung, die zu radikalen Maßnahmen gegen die Juden drängten, die Durchführbarkeit großer Mordaktionen demonstriert hatte«.2 Hier wurde erstmals das Selektionskriterium »Jude« umgesetzt. Hier wurden jene räumlich-organisatorischen Abläufe erfunden, die kurze Zeit später die Vorgänge in den Vernichtungslagern der »Aktion Reinhard« strukturieren sollten.3 Und die Konferenz fand genau zu dem Zeitpunkt statt, als die im Zusammenhang mit der NS-»Euthanasie« geschulten Mediziner begannen, Konzentrationslager zu bereisen, um kranke, versehrte, erschöpfte, kommunistische und jüdische Häftlinge für die Gaskammern der Tötungsanstalten zu selektieren.
Obgleich die Konferenz, im Unterschied zu vielen NS-Verbrechen, eine abzählbare Menge von Teilnehmern hatte und leidlich dokumentiert ist, wurde sie nicht zur Herausforderung für die Nachkriegsjustiz. Lange ignoriert und im Grunde bereits vergessen, hat erst 1960 die Generalstaatsanwaltschaft in Frankfurt am Main4 unter der Leitung des remigrierten Fritz Bauer mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens der Konferenz eine neue Erscheinungsform gegeben. Ausgelöst von der Beschuldigung der Beihilfe zum Mord, sammelten sich, gefasst in 14 Bänden Hauptakten (sowie 20 Bänden Nebenakten und 13 Bänden Handakten), Protokolle, Vermerke und Berichte.5 Von den Beschuldigten wurden Einlassungen verfasst, die allemal der Form genügen, aber den Eindruck erwecken, sie füllten die Zeit, die vergehen musste, bis der Spuk ein Ende hatte. Was über den Leser niedergeht, hat den Charakter einer einzigen langen Beschwörung: Die Justiz war machtlos – mächtig war der Nationalsozialismus, waren Hitler und die Partei. Wie kann es angehen, dass eine deutsche Staatsanwaltschaft gegen die Spitze der deutschen Justiz ermittelt? Eine Anomalie der Rechtsgeschichte, eine unzulässige Schleife, Folge des antifaschistischen good will eines sozialdemokratischen Ministerpräsidenten im Land Hessen, der einen unverständigen Juden zum Generalstaatsanwalt machte. Die Schleife musste irgendwann zum Ausgangspunkt zurückfinden und neuerlich dem Schweigen Raum geben. Und so geschah es.
Im Gegensatz zu dem im Begriff Aufarbeitung anklingenden Fortschreiten änderte sich in dieser Geschichte mehrfach die Bewegungsrichtung. Während der von den Alliierten betriebenen oder beförderten Strafverfolgung der Jahre 1945 bis 1948 wurde die Konferenz aktenkundig. Dem folgte die, fast möchte man sagen, obligatorische Phase des Vergessens und Beschweigens. Aber auch das 1960 eingeleitete Ermittlungsverfahren erlebte starke Gegenbewegungen. Immer wieder gab es Zeiträume, in denen gar nicht ermittelt wurde. Immer wieder blockierten beziehungsweise verzögerten Verfahrensbeteiligte den Fortgang.
Implizit stand das Verhältnis von Justiz und Diktatur auf dem Prüfstand: Was darf man von im Rechtsstaat ausgebildeten Juristen nach ihrer Übernahme durch den totalitären Staat erwarten? Da die virulente Frage keine befriedigende Antwort erfuhr, mehr noch, weil die Lebenslüge, sich ohnmächtig gegen den Terror des Regimes gestemmt zu haben, zerging, wurde die Konferenz samt der in den Einlassungen und Aussagen aufscheinenden Haltung der höchsten Juristen ad acta gelegt: Die Konferenz, die Einlassungen, die Haltung – es sollte nie geschehen sein. Die lange ignorierte und nur kurzzeitig zum Skandalon gewordene Konferenz wurde einer Prozedur unterzogen, die man als Erzeugung einer Leerstelle bezeichnen könnte – eine eigenständige und unzureichend untersuchte Kulturleistung. In der vergleichsweise kurzen Zeitspanne zwischen 1970 und 1978 verlor sich die Geschichte des Verfahrens, so dass es des nachdrücklichen Einsatzes eines einzelnen Richters – Helmut Kramers – bedurfte, um das historische Faktum seiner schieren Existenz zu sichern. Als er sich einer Jahre zurückliegenden Vertretungssituation erinnerte und in Frankfurt am Main »nach der eventuellen Existenz eines solchen Strafverfahrens«6 fragte – ihm wurde seitens der Generalstaatsanwaltschaft zunächst jede Auskunft verweigert –, war die Konferenz vom April 1941 ebenso wie das Verfahren gegen ihre Teilnehmer in den 1960er Jahren aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt. Weder das historische Ereignis noch der institutionelle Abhub der Aufklärungsbemühungen war im kollektiven Gedächtnis verankert. Indem der Richter sich anschickte, die Geschichte zu bergen,7 wuchs ihr ein dritter Teil zu: Nun war es die Geschichte einer Konferenz, die Geschichte eines allzu spät in Gang gesetzten und vom Ableben der Beschuldigten gesäumten Langzeitverfahrens und die Geschichte des Verfahrensendes, das nicht öffentlich werden sollte, um gleichsam auf der Stelle vergessen zu werden. Aber damit war noch nicht Schluss: Es folgte die Zivilklage, die Kramer gegen den Sohn eines der im Verfahren Angeschuldigten betrieb, um die historische Wahrheit der Konferenz und ihrer Teilnehmer zu verteidigen. Auch dieses, das sogenannte Botschafter-Verfahren, führte Ende der 1980er Jahre zu aberwitzig anmutenden Verwerfungen im Justizapparat.
Diese gegenläufigen Bewegungen sind mit dem Begriff der Aufarbeitung nicht zu fassen, gleichwohl aber durch einige Gesetzmäßigkeiten geprägt. So werden, einem schlechten Filmscript gleich, die Ausschläge in Richtung Aufklärung (sieht man von der Situation bis 1947 ab) von Einzelpersonen initiiert. Was dramaturgisch als x-ter Aufguss von »Allein gegen alle« Langeweile hervorruft, ist erinnerungspolitisch ein fatales Motiv: Denn hier müssen gesellschaftliche Dynamik, Generationenaufbrüche, veränderte institutionelle Strukturen feststellbar sein, ansonsten steht das Modell des grundlegenden historischen Wandels in Frage. Eine zweite Gesetzmäßigkeit betrifft den Plot: Die Frage der allfälligen Dienstbarkeit des Rechts für jede Herrschaft kam entweder gar nicht zur Sprache oder wurde als Frage individueller Verfehlungen erörtert. Wenn aber das gesamte Corps der höchsten Juristen einer modernen Nation eine gegen jede Rechtsauffassung verstoßende systematische und anhaltende Mordpraxis hinnimmt und deckt, stehen größere Fragen an als die nach persönlichem Fehlverhalten.
Die Vorgänge rund um die Konferenz im April 1941 in Berlin sind der Geschichtswissenschaft bekannt, sie werden auch in der Literatur zur NS-»Euthanasie« erwähnt.8 Unterschätzt wird die Bedeutung der Konferenz für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik. Texte, die die Entschlussbildung für den Mord an den europäischen Juden zum Gegenstand haben, berücksichtigen sie in aller Regel nicht.
Gerade weil mit der Konferenz praktische und programmatische Ziele verfolgt wurden, muss uns heute das Ereignis, die Performanz dieser Zusammenkunft, interessieren: Wie hat sich die Gruppe der höchsten Juristen – überwiegend Repräsentanten des nationalkonservativen Bildungsbürgertums – zur detaillierten Beschreibung der systematischen Ermordung einer Bevölkerungsgruppe im Geist der völkischen Revolution gestellt? Was wissen wir über eine Funktionselite, die die genozidalen Verbrechen zu großen Teilen nicht gewollt, aber unterstützt hat?
Ganz entgegen der Weise, wie machtvermittelte Vorgänge in der Moderne sich vollziehen, stellt die Konferenz ein zeitlich und räumlich komprimiertes Ereignis dar: Im April 1941 entstand im »Haus der Flieger« eine Szene. Weniger über den Gehalt der Ansprachen als über die Reaktion der Teilnehmer gibt es – interessegeleitet – widersprüchliche Darstellungen. Die Organisatoren der NS-»Euthanasie« wollten im Nachhinein untermauern, dass sie nicht davon ausgehen mussten, etwas Verbotenes zu tun, da doch die Juristen keine Einwände gegen ihre Praxis vorbrachten. Die später angeschuldigten Juristen wiederum versuchten zu verdeutlichen, dass sie bloß Anhängsel einer übermächtigen Maschinerie waren, die nichts und niemand hätte aufhalten können. Sie bestritten die Vorwürfe der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt, die diese 1965 in ihrem Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung (fortan: Anschuldigungsschrift) formulierte.
Trotz der Sicherung des Verfahrens – die Akten sind seit geraumer Zeit in einem Staatsarchiv zugänglich – und der allgemeinen Kenntnis von der Konferenz ist das historische Geschehen von 1941, sind Vorgeschichte, Verlauf und Bedeutung der Konferenz wenig erörtert worden. Das ist umso erstaunlicher, als es sich um einen Zeitraum handelt, in dem die Weichen für die Genozidpolitik des NS-Regimes gestellt wurden. Ebenso wenig sind die Umstände, unter denen das Verfahren gegen Schlegelberger und andere die ersten fünf Jahre lief, Bestandteil der intensiv geführten Debatte über die Arbeit Fritz Bauers. Auch das verwundert, war dies doch exakt jener Zeitraum höchster Aktivität der Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft und der landgerichtlichen Staatsanwaltschaft, in den das Auschwitz-Verfahren (Beginn Mitte 1959) fällt, die Ergreifung Adolf Eichmanns (Mai 1960), aber auch das Scheitern des Verfahrens gegen Werner Heyde (1964).
Spätestens aber der drohende Verlust des Verfahrens in den 1970er Jahren hätte eine reflektierte Zeitgeschichtsschreibung neugierig machen müssen. Im Jahr 1970 wurden die verbliebenen vier Angeschuldigten außer Verfolgung gesetzt, und das Verfahren endete, ohne dass ein einziger Bericht in einer Tages- oder Wochenzeitung erschien, ohne dass irgendjemand öffentlich eine Begründung verlangte oder erhielt. Weitere 14 Jahre später präsentierte Helmut Kramer in einer Veranstaltung im Frankfurter Kolpinghaus die Geschichte von den höchsten Juristen, die ein fortdauerndes Verbrechen deckten, sehr spät doch noch dafür belangt werden sollten, aber ungeschoren davonkamen. Die Pointe: 1984 war das eine Neuigkeit.
Aber noch die Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Verfahren und Versanden, zwischen Befragen und Beschweigen droht ausgezehrt zu werden. Die Einlassungen der beschuldigten Konferenzteilnehmer wie der erinnerungspolitische Werdegang einer wenig geschätzten Überlieferung stehen ja doch bloß in Form eines Aktenkonvoluts zu Verfügung. Es bedarf einer heuristischen Anstrengung, um das Material im Einzelnen und vor allem auch in seiner historischen Konstellation zum Sprechen zu bringen.
Arbeitet man als Kulturwissenschaftler an einem Gegenstand der Justizgeschichte, wird man gefragt, ob das a) nicht ein sehr trockenes Thema sei und ob man es b) nicht besser den Juristen und Juristinnen oder der Rechtsgeschichte überlassen sollte. In einem solchen Moment wird klar, dass die Eingangsfrage dieser Untersuchung auch hätte lauten können: Wieso hat nicht längst ein Jurist oder Historiker den Aktenbestand ausgewertet? So etwas wie ein Schweigegebot gibt es in der »Moderne« der NS-Aufarbeitung nicht mehr. Warum aber ist immer noch der 19-seitige Beitrag in der Fachzeitschrift Kritische Justiz (von 1984!), gefolgt von einem schmalen Band9 aus dem Jahr 1996, der neben weiteren Erörterungen einige Dokumente aus dem Verfahren zugänglich macht, die maßgebliche Literatur zum Thema?
Das Schlegelberger-Verfahren ist trotz, oder besser gesagt, wegen seiner eigentümlichen Unsichtbarkeit der Inbegriff jener Momente der NS-Aufarbeitung, denen nichts Vorbildliches zukommt. Die Konferenz hat das Zeug zum geschichtspolitischen Symbol, gerade weil sie knapp 40 Jahre lang kein Thema der historisch-politischen Auseinandersetzung werden durfte. Damit ist auch der erste Teil der Frage beantwortet: Welche Melange aus Akkuratesse und Kontrollverlust die Worte des OLG-Präsidenten Alexander Bergmann tragen, als er während der Konferenz die Referate der Mörder Viktor Brack und Werner Heyde mitschrieb; wie störrisch sich die Untersuchungsrichter in Limburg gebärden, um die von der Generalstaatsanwaltschaft beantragte Voruntersuchung nicht eröffnen zu müssen; mit welchen Wendungen und Argumenten die hohen Juristen des Jahres 1941 der Justiz der Jahre 1960 ff. verständlich zu machen suchen, dass sie, obgleich sie durch ihr Verhalten den Tätern Rückendeckung signalisierten, für alles Weitere absolut keine Schuld trifft – all das ist derart doppelbödig, strange und ausufernd, dass es die Register zu sprengen droht. Es ist ein kulturelles Artefakt höchst ungewöhnlicher Genese.
Diese Untersuchung bewegt sich notwendigerweise durch verschiedene Zeitebenen, folgt jedoch nicht streng der Chronologie. Ausgangspunkt ist der Tag, an dem aus den Aussagen beschuldigter Funktionäre der Zentraldienststelle »T4«, sie hätten sich bestätigt gefühlt, weil höchste Juristen ihr Tun guthießen und deckten, die Konsequenz gezogen wurde, gegen diese Juristen zu ermitteln.
Das Verfahren steht am Beginn dieser Untersuchung, weil es die Bedingung der Möglichkeit ist. Ohne den unpopulären Entschluss Fritz Bauers im Mai 1960, das Verfahren einzuleiten, gäbe es heute nicht viel über die Konferenz zu wissen: Keine Beweise wären geborgen worden, keine Aussagen der Konferenzbeteiligten lägen vor. Insbesondere die Widersprüche im Apparat der Nachkriegsjustiz, die sich in Verfahrensverlauf und -ende niederschlugen, wären nicht manifest geworden. Und ohne die in den Akten dokumentierte Abschottung gegen den Blick des an Öffentlichkeit interessierten Richters Helmut Kramer wäre die bis in die 1980er Jahre anhaltende Brisanz wenig greifbar. Die Konferenz, mit der die hohen Juristen zu Unterstützern der Vernichtungspolitik wurden, wäre eine Fußnote geblieben, eine einfache und deshalb undurchschaute Tatsache.
Der Rekonstruktion des Verfahrensverlaufs folgt die Beschreibung jener Ereignisse, die die Konferenz von 1941 notwendig machten: Die Ermordung der Anstaltspatienten wurde geheim gehalten und war doch für viele sichtbar, auch und gerade für Teile der Justiz. Ihre Reaktionen wurden von den Euthanasieverantwortlichen als Störungen wahrgenommen. Umgekehrt störte das plötzliche Verschwinden von Patienten und Delinquenten die behördlichen Abläufe des Justizbetriebs. Der Konferenz war aufgegeben, das Problem fehlender Synchronisation zu lösen. Die Justizspitze in Gestalt der Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte sollte dafür sorgen, dass in allen Gerichtsbezirken diesbezügliche Anzeigen und Anfragen unbearbeitet nach Berlin gelangten. Diese Berichte sollten wiederum den Tätern zur Orientierung dienen.
Ein weiteres Kapitel widmet sich den Einlassungen der Beschuldigten. Im Lauf des Verfahrens sind sie, oft mehrfach, vernommen worden. Hier geht es neben den Argumentationslinien auch um die Worte und Wendungen, um die Selbststilisierungen und Exkulpierungen einer Funktionselite, deren Vertreter es zu einem großen Teil nicht fassen konnten, dass man die Buchstaben des Gesetzes tatsächlich auf sie zurückwendete.
Es war ein selten nachdrücklicher Diskurs, mit dem die Justiz nach dem Krieg (und dem Nürnberger Juristenprozess) ihre unangefochtene Ehrbarkeit darstellte und damit unbefragbar machte. Führt man sich vor Augen, von wem all die »Erbkranken«, »Berufsverbrecher«, »Wehrkraftzersetzer«, »Rassenschänder« und »Gemeinschaftsfremde« etwas zu befürchten hatten, gerät neben Partei und Polizei sofort die Justiz in den Blick. Dennoch gelang es, rhetorische Figuren wie die des Missbrauchs der Justiz, gar des hinhaltenden Widerstands zu etablieren, obgleich die Justiz nur eine (weitere) willfährige Instanz des großen völkischen Aufbruchs war und die Institution des verfassten Rechts tatkräftig der Beseitigung der bürgerlichen Demokratie (Gewaltenteilung, Gleichheit vor dem Gesetz, Gesetzesvorbehalt der Strafbarkeit) zuarbeitete.
Grund für diesen »Erfolg« war unter anderem, dass das alte Personal in den Justizapparat des neuen Deutschlands übernommen wurde. Pragmatisch gesehen sei das nicht anders möglich gewesen, heißt es heute oft, irgendwer musste die Rechtsprechung am Laufen halten. Nichtnazis standen leider nur in geringer Zahl zu Verfügung.
Dieses Argument ist Teil des Problems, besagt es doch, es sei besser, mit Juristen, die im Zweifelsfall zu allem bereit waren, weiterzumachen, als sich mit Laien, Zwanzigjährigen oder Schwarzmarkthändlern zu behelfen. Das Bild vom Huckepack-Verfahren, nach dem ein Unbescholtener einen »Belasteten« mit ins Amt schleppt, verwies diffus auf eine mangelnde Gehfähigkeit auf dem Terrain des Rechtsstaats. Das Bild hätte, um die empirische Situation abzubilden, ergänzt werden müssen: ein Unbescholtener, der 60 bis 80 Nichtgehfähige trägt – aber daran hätte er zusammenbrechen müssen und mit ihm das Bild und also die Pragmatik.
Nachdem man sich zur umfassenden Exkulpation durch Verfahren entschlossen hatte, gab es kein Halten mehr, und es durften die absurdesten Dinge über die Justiz im »Dritten Reich« behauptet werden. Und umgekehrt: Die Erfahrungen der »Wehrkraftzersetzer« und »Verdunkelungssaboteure« mit diesen Juristen interessierten nun nicht mehr. In diese Suspendierung der historischen Wahrheit brach 1959 die vom Staatsinteresse geleitete Blutrichterkampagne der DDR, aber auch die Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« einer überschaubaren Gruppe von Studierenden. Es gelang ihr jedoch nicht, den Justizapparat zur Anerkennung der Wirklichkeit zu zwingen. Der gesellschaftspolitische Tatbestand wurde zu einer Reihe von einzelnen Fallgeschichten verdünnt, denen man mit der Ergänzung des Richtergesetzes und der Möglichkeit der vorzeitigen Pensionierung »Belasteter« begegnete.
Auf ebendiesen Altersruhesitzen saßen bereits fast alle der ehemaligen Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte, als 1960 die Ermittlungen gegen sie eingeleitet wurden. Spürbar gekränkt und empört, weigerten sie sich, überhaupt einen Tatbestand zu erkennen. Das ist für die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik so bezeichnend wie das, was folgte: die postmortale Deckung der verdienten Juristen. Obwohl es keine Konfrontation mit Beteiligten mehr erfordert hätte, durfte der Schaden, den das Recht 1941 genommen hatte, noch Ende der 1970er Jahre nicht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit treten. Die These liegt nahe, dass das hohe Gut der historischen Aufklärung zurückstehen musste, um nicht sichtbar werden zu lassen, wie das Verfahren gegen die höchsten Juristen verlaufen war (was die Legitimität des demokratischen Staates möglicherweise beschädigt hätte). So wird aus dem Staunen über die Widerstandsfähigkeit mancher Nachkriegsdiskurse (die Justiz, die Schlimmeres verhütete) die Erkenntnis, dass im Feld der Erinnerungspolitik tatsächlich mit aller Härte und Konsequenz gekämpft wurde.
Auch deswegen lässt sich diese Geschichte nicht erzählen, indem man bloß zwei Zeiträume aufeinander bezieht, die Tatzeit und die Zeit der juristischen Ermittlung (frühe 1940er und 1960er Jahre). In den Jahren von 1978 bis 1984 wurde das Verfahren und damit die ganze Geschichte überhaupt erst öffentlich zugänglich – ein Verfahren, das die Ereignisse von 1941 zu erhellen trachtete und selbst zwischen 1960 und 1978 Ereignisse schuf.
Es ist wesentlich, die Beziehungen zwischen Konferenz, Verfahren und Überlieferung herauszuarbeiten. Die Situation, in der die Konferenz ein Problem lösen sollte, die Lektüre der Aussagen und Einlassungen in den Verfahrensakten sowie die seltsame Rettung des Verfahrens für die Nachwelt erzeugen einen Gehalt, der sich nur in der Zusammenschau entfaltet und bislang nicht ausbuchstabiert ist.
Jede Studie, die sich heute mit dem Nationalsozialismus beschäftigt, muss ihrer Einordnung in das Narrativ der Vergangenheitsbewältigung gewahr werden. Das gilt umso mehr, wenn die Dekade der 1960er Jahre thematisiert wird, in der aus heutiger Sicht der Grundstein der erfolgreichen Aufarbeitung gelegt wurde. Neben der Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen (1958) und dem Eichmann-Prozess (1961) ist es vor allem der Auschwitz-Prozess (1963–1965), der als Symbol für die Abkehr von den Gepflogenheiten der 1950er Jahre dient. Fritz Bauer – zuletzt in einer Biografie und Ausstellung gewürdigt und mehrfach dramatische Figur in aktuellen Spielfilmproduktionen – repräsentiert heute diesen Wandel hin zu einer »Erinnerungskultur«. Wie passt sich das Verfahren gegen die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte in Bauers »Werk« ein? Taugt es als Stoff für die nächste Filmproduktion? Oder gewinnt die historische Figur Bauer im Spiegel dieses Verfahrens neue Konturen?
Das Verfahren gegen die Juristen endete ohne Anklage und Verurteilung. Für einen Nichtjuristen ist kaum zu ermessen, ob die Hauptverhandlung zu Verurteilungen geführt hätte. Ins Auge sticht jedoch die enorme Dauer, die das Vorverfahren in Anspruch nahm, ohne dass es zur Anklageerhebung kam. Was bedeutet es, dass dieselbe Behörde, die das Verfahren gegen diverse Widerstände betrieb, auch seine Einstellung erwirkte? Hatte der Tod von Fritz Bauer 1968 Auswirkungen auf den Verlauf des Verfahrens? Was bewog die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt 1970, über das Ende des Verfahrens kein Wort zu verlieren? Verweist dieser Aspekt auf einen Prozess der Wiedereingliederung der Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft in die Normalität der Nachkriegsjustiz, aus der sie unter Fritz Bauer herausgetreten war?
Geschichte in moralischen Topoi zu verhandeln hat sogar dort negative Folgen, wo man Anlass zu Lobeshymnen sieht. Angesichts des zunehmend heldenhaft in Erscheinung tretenden Aufklärers Bauer entwickelte sich ein Streit um den adäquaten Umgang mit seinem Erbe. Vorläufig entsteht der Eindruck, dass es sich hier um die Folge einer von Identifikationsbegehren geleiteten Aneignung letztlich demoralisierender historischer Befunde handelt. Ist es nämlich nicht anders möglich, als Fritz Bauer persönlich das Zustandekommen des Auschwitz-Prozesses, die Ergreifung Adolf Eichmanns und die Rehabilitierung der Verschwörer des 20. Juli zuzuschreiben, dann bedeutet dies, dass weder institutionell noch zivilgesellschaftlich jene nichtheroischen, sondern einfach nur entschiedenen Kräfte vorhanden waren, um das Notwendige durchzusetzen.
Unangenehmer noch als der Kampf um die einzig richtige Bauer-Rezeption ist die Indienstnahme seiner Person als Repräsentant der besseren Tradition im deutschen Justizwesen. Derweil die Justiz sich im Münchner NSU-Prozess abmüht, bei der Aburteilung der Angeklagten Beate Zschäpe möglichst wenig die Involvierung staatlicher Dienste in die Tätigkeit des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds zu beleuchten, und in einer Zeit, in der ein Richter Pressionen ausgesetzt ist, weil er das Entschädigungsrecht mit einer gewissen Empathie gegenüber NS-Opfern auslegt und sich zu den Rahmenbedingungen dieser Arbeit äußert,10 ist die plötzlich entflammte Liebe zu dem Quertreiber früherer Jahre allzu durchsichtig. Wollte man Bauer ernsthaft zum Vorbild der Zunft erheben, müsste das doch wohl auch praktische Auswirkungen haben. Aber gerade wenn es um Nazigegner oder -opfer dieser Tage geht, ist davon nichts zu merken. In solchen Fällen treten Personen mit Hautfarbe oder in Kapuzenpullis auf, denen naturgemäß die historische Dignität des NS-Opfers abgeht und die deshalb in der intern-juristischen wie der öffentlichen Wahrnehmung besser auf keinen Bonus hoffen sollten.
Die Auseinandersetzung mit der Konferenz und dem Schlegelberger-Verfahren ist eine mit Tätern, mit ihrer Vorgehensweise, ihrer Denk- und Ausdrucksweise. Auch die kritische Intention kann nicht verhindern, dass der Aufweis der zugrundeliegenden Denkfiguren wie auch der waltenden Kaltschnäuzigkeit die Opfer ein weiteres Mal depersonalisiert. Auch die gebotene Reflexion auf Sprache und Darstellungsweisen kann dies nicht verhindern, denn es vollzieht sich im Rücken des Texts und damit auch der Lektüre. Nur durch die Brechung der eingenommenen Perspektive sind entsprechende Effekte möglicherweise zu unterlaufen.
Zwischen den Kapiteln dieses Buchs tauchen daher die Geschichten von drei Menschen auf, die im Laufe ihres Lebens mit der Psychiatrie in Berührung kamen und im Rahmen der NS-»Euthanasie« ermordet wurden. Wie in allen anderen Fällen waren die Täter bemüht, sie vergessen zu machen. Aber nicht nur deshalb blieben sie namenlos und ihre Geschichte unerzählt. Nach dem Krieg wurde ihnen, wie allen Opfern der NS-»Euthanasie«, der Status als anerkannte Verfolgte des NS-Regimes verweigert. Oftmals wurden Angehörige, die Klarheit suchten, noch Mitte der 1950er Jahre von den früheren Stammanstalten belogen und im Ungewissen über die tatsächlichen Geschehnisse gelassen. Wenn heute allenthalben die Scham beklagt wird, die in vielen Familien herrscht, wenn die Rede auf das Mordopfer in der Familiengeschichte kommt, dann ist zu konstatieren, dass die Haltung gegenüber dieser Opfergruppe über Jahrzehnte dafür gesorgt hat, diese Scham zu konservieren. Auch deshalb liegen in der Regel keine Erinnerungsberichte von Verwandten oder Freunden vor, wurden Nachlässe oder Überlieferungen nicht gesichtet. Oftmals lassen sich einzig aus Akten einige Aspekte dieser Leben nachvollziehen. Solchen Quellen muss das Wenige, das in Erfahrung gebracht werden kann, heute abgetrotzt werden.
Die Geschichten der drei Ermordeten sind mit dem Gegenstand des Buchs mehr oder minder lose verbunden: Werner Wittrien gehört zu jenen Personen, deren Verfahren 1940 nicht ordnungsgemäß weitergeführt werden konnte, weil er plötzlich nicht mehr greifbar war. Eine Justizbehörde forderte Aufklärung von der zuständigen Anstalt. Aus Sicht der Organisatoren der Morde zählte der Vorgang mithin zu den »Störungen«, die der zunächst nicht in die Abläufe integrierte Justizbetrieb erzeugte. Bei Peter Hommer ist die Verbindung zu den Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälten profaner Natur: Eben an dem Tag, als sie in Berlin zusammentraten und sich die Vorgehensweise in den Tötungsanstalten erläutern ließen, wurde er an einem solchen Ort ermordet. Martha Höschler schließlich steht in keinem anderen Zusammenhang mit dem Gegenstand dieses Buchs als dem, dass sie eine von über 70.000 Anstaltspatienten war, deren Ermordung die Justiz letztlich billigte und unterstützte.
Wenige Tage vor Ablauf der Verjährungsfrist für Totschlag im Mai 1960 leitete die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt ein Ermittlungsverfahren gegen 19 Justizjuristen des »Dritten Reichs« wegen Beihilfe zum Mord ein: »Eilt sehr! Verjährung: 8. Mai 1960!!«, heißt es im Kopf des Schreibens.11 Am Tag zuvor hatte Fritz Bauer eine Aktennotiz angefertigt, die das Resultat einer Besprechung mit seinem schleswig-holsteinischen Kollegen, Generalstaatsanwalt Adolf Voß, festhielt. Nach Unterbrechung der Verjährung durch die Frankfurter Behörde sollte der Vorgang dem Generalbundesanwalt vorgelegt werden, um eine »außerhessische Staatsanwaltschaft« mit der Durchführung des Verfahrens zu betrauen. Eine Mitteilung von der Einleitung des Verfahrens ging an den hessischen Justizminister.12
Konkret vorgeworfen wurde den Juristen, auf der Konferenz am 23./24. April 1941 widerspruchslos den Bericht über die laufenden Anstaltsmorde angehört und damit ihre Dienstpflicht verletzt zu haben, weiter, der Aufforderung Folge geleistet zu haben, die in ihrem jeweiligen Bezirk anfallenden Anzeigen und Anfragen unbearbeitet ans Ministerium weiterzugeben, sowie nachgeordnete Dienststellen in entsprechender Weise instruiert zu haben.
Sachlich standen die Ermittlungen gegen die Juristen im Zusammenhang mit dem Fall Heyde. Nach der Festnahme des »T4«-Funktionärs Gerhard Bohne am 10. September 1959 kam es auf Bauers Initiative zu umfassenden Ermittlungen gegen Funktionäre der Zentraldienststelle in der Tiergartenstraße 4, die für die Planung und Durchführung des Mordes an den Anstaltspatienten verantwortlich waren. Schon früher hatten sich angeklagte Ärzte mehrfach auf die Juristenkonferenz von 1941 bezogen.13 Auch der am 11. März 1947 als Zeuge in Frankfurt gehörte Werner Heyde hatte betont, er habe anlässlich des Zusammentretens aller Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte am 23. April 1941 in Berlin und ihrer umfassenden Unterrichtung über das laufende Tötungsprogramm nicht bemerken können, »dass irgendeiner der verhältnismässig sehr hohen Juristen in dieser Versammlung irgendwie widersprochen hätte«.14
Am 5. Mai 1960 wurden dem Amtsgericht Frankfurt am Main elf weitere Teilnehmer der Konferenz genannt, so dass das Verfahren nun gegen 30 Beschuldigte betrieben werden konnte.15 Die Zuständigkeit der hessischen Strafverfolgungsbehörden war keineswegs automatisch gegeben. Zwar kann auch der Tatort eine Zuständigkeit begründen, aber Tatort war nicht allein Hadamar, sondern – im Einzugsgebiet der Bundesrepublik – auch Grafeneck und Berlin. Eine Wohnsitzzuständigkeit war nicht gegeben, weil von den anfangs Beschuldigten kein einziger in Hessen wohnte. Das Verfahren am Wohnort des Organisators der Konferenz, Franz Schlegelberger, in Flensburg zu führen hätte eigentlich nahegelegen.
Der Generalbundesanwalt bestimmte, um eine Entscheidung gebeten, am 13. September 1960 die Generalstaatsanwaltschaft in Stuttgart, die weitere Verfolgung zu übernehmen.16 Dort wohnte der Beschuldigte Nr. 18, OLG-Präsident a.D. Otto Küstner. Andere Anhaltspunkte für die Zuständigkeitsentscheidung seien nicht ersichtlich, mit diesen Worten machte der zuständige Oberstaatsanwalt Arno Hillmann sein Befremden deutlich. Er erläuterte, dass die Ermittlungen zunächst in der Weise geführt würden, »daß bei den örtlich zuständigen Amtsgerichten die verantwortliche Vernehmung der Beschuldigten zu dem gegen sie erhobenen Vorwurf der Beihilfe zum Mord beantragt wird«.17 Ab Mitte November 1960 gingen entsprechende Ersuchen an die verschiedenen Amtsgerichte in der Republik. In den letzten Dezemberwochen trafen die ersten Vernehmungsprotokolle ein.
Gleich nach der Übernahme wurde das Verfahren in Stuttgart als Verschlusssache – »VS-nur für den Dienstgebrauch« – eingestuft. Ein ungewöhnlicher Vorgang, der darauf hinweist, dass die Kenntnis vom Verfahren der Sicherheit der Bundesrepublik beziehungsweise ihrem Ansehen schweren Schaden zufügen könnte – in diesem Fall wohl eher dem Ansehen. Über den Fortgang des Verfahrens war die Öffentlichkeit in der Folge nur unzureichend informiert.18 Am 1. März 1961 ergingen die ersten Einstellungsbescheide: Generalstaatsanwalt a.D. Hans Semler, Generalstaatsanwalt a.D. Paul Windhausen, Generalstaatsanwalt a.D. Karl Schnoering und Generalstaatsanwalt a.D. Erich Drescher hatten angegeben, nicht bei der Konferenz gewesen zu sein, weil sie zur fraglichen Zeit Dienst in der Wehrmacht geleistet hätten.19 Am selben Tag berichtete die Staatsanwaltschaft dem baden-württembergischen Justizministerium über den Stand der Dinge: Fast alle Beschuldigten seien richterlich vernommen worden. Nach dem Verbleib weiterer Beschuldigter werde geforscht. Klarheit über den Verlauf der Tagung am Vormittag des 23. April 1941 habe sich nicht eingestellt.20
Knapp zwei Monate später wurde der Bericht an das Ministerium ergänzt: Aufgrund der vorgenommenen Vernehmungen und der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens gegen Heyde in Frankfurt werde den Tagungsteilnehmern »eine Beihilfe zu den nach der Tagung im Rahmen des sog. Euthanasie-Programms (Aktion ›T4‹) noch begangenen Mordverbrechen nicht nachgewiesen werden können«.21 Zweck der Tagung dürfte die Unterrichtung gewesen sein, um die Vertreter der Justiz zu Mitwissern zu machen und dadurch die Aktion gegen störende Maßnahmen aus der Justizverwaltung abzusichern. Zwar seien die Vernichtungsmaßnahmen gegen unheilbar Geisteskranke dargelegt worden, aber den Tagungsteilnehmern gegenüber sei der Kreis der Betroffenen enger gezogen worden, als es tatsächlich der Fall war. Aus dem Ablauf der Tagung sei zu schließen, dass die Juristen keine billigenden Erklärungen abgegeben und auch nicht »ausdrücklich zugesagt«22 hätten, wegen der Aktionen keine Strafverfolgung einzuleiten oder durchzuführen. Psychische Beihilfe scheide daher aus. Man werde das Verfahren einstellen müssen, ohne dass auf die Frage eines etwaigen Notstands (Gefahr für Leib und Leben bei offener Auflehnung) eingegangen werden müsse. Nur bei Schlegelberger liege die Sache anders, denn er habe sich in seiner Eröffnungsansprache die Intention der Kanzlei des Führers23 zu eigen gemacht. Aber hier sei zu prüfen – auf diesen Standpunkt stelle sich Schlegelberger –, ob sein mit der Führung der Geschäfte des Reichsjustizministers zusammenhängendes Verhalten nicht bereits Gegenstand der Strafverfolgung im Rahmen des Nürnberger Juristenprozesses 1947 gewesen und mithin eine erneute Strafverfolgung unzulässig sei. Das Justizministerium antwortete mit der Bitte, zu gegebener Zeit den Entwurf der abschließenden Verfügung vorzulegen.24
Nach einem knappen halben Jahr war die Angelegenheit für die bearbeitende Staatsanwaltschaft im Grunde ausermittelt. Bereitwillig übernahm sie wesentliche Behauptungen der Beschuldigten aus ihren Einlassungen: Nach den Vorträgen sei nonverbal eine Art Missbilligung ausgedrückt worden. Das Handeln der Beschuldigten nach der Konferenz könne nicht als Erfüllung des an sie gerichteten Ansinnens, die Mordaktion gegen störende Maßnahmen aus der Justizverwaltung abzusichern, gewertet werden, weil das Unterlassen der Strafverfolgung ein rein passives Verhalten sei und die nötige Eindeutigkeit einer Beihilfehandlung vermissen lasse. Und außerdem hätte eine Weigerung der Juristen ohnehin nichts geändert. – Als wäre man zur Mordbeihilfe berechtigt, wenn eine Weigerung das weitere Verbrechen nicht sicher unterbindet.
Anfang November 1961 starb mit Generalstaatsanwalt a.D. Emil Bems der erste Beschuldigte des laufenden Verfahrens.
Der Sachbearbeiter des in Frankfurt geführten Ermittlungsverfahrens gegen Werner Heyde, Erster Staatsanwalt Karl-Heinz Zinnall, wandte sich im November 1961 an den Sachbearbeiter in Stuttgart, bat um Auskunft über den Stand des Verfahrens Schlegelberger und erfuhr, dass das vorliegende Material nicht zur Erhebung der öffentlichen Klage ausreiche. Zinnall bat daraufhin, vorerst keine Abschlussverfügung zu treffen, da sich eine Einstellung auf das Verfahren Heyde »optisch« (im Original in Anführungsstrichen) ungünstig auswirke und in der Hauptverhandlung, wenn Heyde »auspacke«, möglicherweise neues Belastungsmaterial gewonnen werde.25
Am 16. Dezember 1961 erschien in der Stuttgarter Zeitung ein kurzer Artikel, in dem es heißt, das Ermittlungsverfahren gegen über 20 hohe Juristen werde voraussichtlich Anfang nächsten Jahres abgeschlossen. Der Leiter der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Stuttgart, Oberstaatsanwalt Arno Hillmann, habe über den Ausgang nur verlauten lassen, dass die Schuldfrage rechtlich sehr problematisch sei, im Übrigen werde das Ermittlungsverfahren wegen der »rechtlichen Problematik als vertraulich behandelt«.26
Mit Datum vom 7. Mai 1962 entwarf der Sachbearbeiter in Stuttgart eine sechsseitige Einstellungsverfügung. Es hatte immerhin noch ein Jahr gedauert von der Ankündigung bis zum Vollzug. Nun verging ein weiteres Jahr, ohne dass das Verfahren eingestellt oder abgegeben wurde. In den Akten finden sich neue Ermittlungsergebnisse. Sie stammen von einem Beamten, der weder Staatsanwalt war noch in Stuttgart seinen Dienst verrichtete: Der Untersuchungsrichter am Landgericht Frankfurt, Hansernst Grabert, wandte sich in kurzen Abständen an die Staatsanwaltschaft in Stuttgart. Unter dem Datum 4. Mai 1962 wies er darauf hin, dass Generalstaatsanwalt a.D. Willy Rahmel Versorgungsbezüge von der Oberjustizkasse Köln erhalte und Erster Staatsanwalt a.D. Wilhelm Hirte in Braunschweig wohne. Im Juni 1962 unterrichtete Grabert den Kollegen in Stuttgart, dass er im Verfahren gegen den NS-»Euthanasie«-Arzt Georg Renno am 6. Juni 1962 in Lübeck zwei Vernehmungen durchgeführt habe, die von Interesse für das Schlegelberger-Verfahren sein könnten. Amtsgerichtsdirektor Werner Lobsien erinnerte sich an eine Richterbesprechung im Sitzungssaal des Lübecker Landgerichts, bei der (der inzwischen in die Ermittlungen einbezogene) OLG-Präsident Karl Martin von der Konferenz berichtet hatte.27 Und auch der frühere Landgerichtspräsident Clemens von Jagow konnte erzählen, wie bei einer Besprechung im Sommer 1941 Martin Maßnahmen bekannt gab, die hinsichtlich der Durchführung der Euthanasie im Bezirk zu treffen seien.28
Im Dezember des gleichen Jahres schrieb Untersuchungsrichter Grabert parallel an die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt (zu Händen des Sachbearbeiters in den Euthanasieverfahren Zinnall) und an die Stuttgarter Behörde. Anhand des Handbuches der Justizverwaltung von 1942 hatte er eine Liste aller Oberlandesgerichtsbezirke erstellt mit Angabe des jeweiligen Präsidenten, des Vizepräsidenten, mit den Namen aller Generalstaatsanwälte und ihrer Vertreter sowie der Besetzung des Reichsgerichts, des Volksgerichtshofs und des Reichsjustizministeriums (RJM) mit den beiden Staatssekretären und allen Ministerialdirektoren.29 Man hätte annehmen dürfen, dass eine solche Aufstellung zu den ersten Schritten der ermittelnden Behörde in Stuttgart zählte. Am 20. Dezember 1962 übersandte Grabert Vernehmungsprotokolle aus dem Ermittlungsbereich »Euthanasie« an Zinnall (Frankfurt am Main), an Beck (Stuttgart) und an die Zentrale Stelle. Im Januar 1963 sah er die Notwendigkeit, den Kollegen in Stuttgart Daten zu übermitteln, die »geeignet« sind, ihre Personalangaben »zu ergänzen«: Rahmel sei in Groß Jenznich, Kreis Solchau geboren und »von mir am 6.12.62 vernommen worden«; der ehemalige Generalstaatsanwalt Hamm heiße »Semler und nicht Sauler«; Martin heiße mit Vornamen Karl und wohne in Kassel-Wilhelmshöhe; Windhausen sei »am 19.2.1893« geboren – und so weiter bis zur Schlussbemerkung: Für »Ihr Verfahren von Interesse« könnte Wilhelm Holzhäuer sein, geboren 10.7.1889 in Reutlingen, Teilnehmer der Tagung, siehe »meine Vernehmung vom 14.11.61«.30
Untersuchungsrichter Grabert hatte es sich offenkundig zur Aufgabe gemacht, die Akten in Stuttgart auf Vordermann zu bringen. Seine Kenntnisse gewann er aus den laufenden Ermittlungen der anhängigen Euthanasie-Verfahren in Frankfurt. Er schloss Lücken in den Personalangaben, korrigierte Fehler, steuerte zusätzliche Vernehmungsprotokolle bei und eröffnete weitere Ermittlungsansätze. Schließlich übermittelte er an die Staatsanwaltschaft Stuttgart eine 23-seitige Liste, die er auf Nachfrage vom Archiv des Bundesjustizministeriums bekommen hatte, mit Resultaten zur Identitäts- und Aufenthaltsermittlung weiterer Juristen. Grabert hatte die Liste ergänzt, sie umfasste nun 149 ehemalige Oberlandesgerichtspräsidenten, Vizepräsidenten, Oberstaatsanwälte, Generalstaatsanwälte etc.31 Was er wahrscheinlich nicht wusste: Zu diesem Zeitpunkt war er der Einzige, der im Schlegelberger-Verfahren ermittelte.32 In Stuttgart verwendete man die ganze Energie darauf, die Post aus Frankfurt zu öffnen.
Am 27. Juni 1963 wurde man das ungeliebte Verfahren wieder los. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart übersandte die Akten des Verfahrens gegen Schlegelberger und andere an die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt »mit der Bitte um Übernahme zu dem dort anhängigen Euthanasieverfahren«.33 Der Erste Staatsanwalt Wilhelm Wentzke, neben Karl-Heinz Zinnall und Johannes Warlo zuständig für die Euthanasie-Verfahren, vergab am 10. Juli 1963 ein neues Aktenzeichen. Er hob den VS-Schutz auf, »da ein Anlass für seine Beibehaltung nicht besteht«, quittierte den Eingang von fünf Bänden Ermittlungsakten sowie fünf Beiheften und bat, baldmöglichst auch Handakten und Berichtshefte zu übersenden.
Drei Jahre sind inzwischen seit der Einleitung des Verfahrens vergangen.
Wie ist diese Zeitschleife zu verstehen? Warum sicherte Bauer in vermeintlich letzter Sekunde die Möglichkeit, gegen die Spitzen der Justiz vorzugehen, um dann die Angelegenheit abzugeben an eine Staatsanwaltschaft, die sie wenig engagiert betrieb? Hat sich Bauer in der Stuttgarter Staatsanwaltschaft getäuscht? Mit Erich Nellmann stand ihr jener Jurist vor, der 1956 den Ulmer Einsatzgruppen-Prozess durchgesetzt und die Gründung der Zentralen Stelle vorangetrieben hatte.
Möglicherweise war Bauer gar nicht enttäuscht von der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, weil sie tat, was er von ihr erwartete – das Verfahren zu betreiben, bis man in Frankfurt in der Lage war, es wieder zu übernehmen. Sollte das der Fall sein, wirft es ein bezeichnendes Licht auf die Situation in den Gerichtsbezirken der damaligen Bundesrepublik: Das Maximum, das Bauer von seinen Kollegen in Nord und Süd erwarten durfte, war, dass sie seine Behörde diese Arbeit machen ließen. Aber es war allein er, der sich dergleichen zur Aufgabe machte. Dass Kiel nicht auf die Idee kam zu ermitteln, war dann für Bauer so wenig überraschend wie die Tatsache, dass sich Stuttgart nicht sonderlich energisch zeigte. Die Kooperation konnte nur zum Ziel haben, das Verfahren am Leben zu erhalten, bis die Frankfurter Behörde in der Lage war, es zu betreiben.
Allerdings scheint die Rückübernahme nicht reibungslos funktioniert zu haben. Nachdem Wentzke den Eingang der Akten quittiert und den VS-Schutz aufgehoben hatte, legte er am 7. Oktober 1963 einen Aktenvermerk an: Oberregierungsrat Adolf Bickel aus dem hessischen Justizministerium spreche sich dafür aus, das Verfahren nicht zu übernehmen. Wentzke erklärte, er habe Stuttgart lediglich den Eingang der Akten bestätigt, eine offizielle Übernahmeerklärung sei noch nicht abgegeben worden. Er schlug in Abstimmung mit Bauer vor, Staatsanwalt Manfred Reißfelder, an Bauers Behörde abgeordnet, solle zunächst ein »eingehendes schriftliches Votum zur Sach- und Rechtslage erstatten«.34
Anlässlich einer Nachfrage des bayerischen Justizministeriums, das die hessischen Kollegen um Mitteilung zum Stand des Verfahrens gegen den früheren OLG-Präsidenten in Nürnberg, Friedrich August Döbig, bat,35 erkundigte sich das Wiesbadener Ministerium zwei Monate später beim eigenen Generalstaatsanwalt und erfuhr dort, der Sachstand sei unverändert. Eine Entscheidung sei noch nicht getroffen. »Es ist beabsichtigt, den vor der Entscheidung der Frage der Übernahme angeordneten Vortrag erst zu halten, wenn ein schriftliches Votum zur Sach- und Rechtsfrage vorliegt.«36 Immer noch ist keine Entscheidung getroffen?
Weitere fünf Monate später, aus Anlass einer erneuten Anfrage aus Bayern, bat das Ministerium die Generalstaatsanwaltschaft, »beschleunigt über den Sachstand, insbesondere zur Frage der Übernahme des Verfahrens, zu berichten«.37 In einem Aktenvermerk vom Mai 1964 ist der Bericht Bauers festgehalten: Heute sei dem Generalstaatsanwalt durch die Staatsanwälte Richter und Reißfelder vorgetragen worden. »Der Sachstand ist im wesentlichen unverändert, da der Sachbearbeiter infolge anderweitiger dringender Belastung noch nicht das schriftliche Votum zur Sach- und Rechtsfrage erstellen konnte.« Die Abgabe des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft in Stuttgart sei aufgrund einer früheren Besprechung »zwischen dem damaligen Generalbundesanwalt [Max; der Verfasser] Güde, dem damaligen Generalstaatsanwalt Nellmann und mir« in Karlsruhe erfolgt. Aufgrund dieser Besprechung »bin ich an sich grundsätzlich bereit, das ursprünglich hier anhängig gewesene Verfahren zu gegebener Zeit wieder zu übernehmen. Einen Zeitpunkt hierfür vermag ich noch nicht anzugeben.«38
Im Oktober 1963 hieß es, man habe das Verfahren noch gar nicht rückübernommen, zunächst werde ein Votum zur Sach- und Rechtsfrage erarbeitet. Ein gutes halbes Jahr später lag das Votum zwar immer noch nicht vor, aber nun ließ der Generalstaatsanwalt gegenüber seinem Ministerium verlauten, im Grunde habe er im Frühjahr 1960 einer Rückübernahme prinzipiell zugestimmt. Entweder befürchtete Bauer, an der Rückübernahme gehindert zu werden – Bickels Äußerung geht in diese Richtung –, oder er spielte aus anderen Gründen auf Zeit. Jedenfalls lagen die Verfahrensakten bereits seit fast einem Jahr in Frankfurt. Ermittelt wurde auch weiterhin nicht. Zwischen dem Eintrag der Übernahme am 10. Juli 1963 und einer Anzeige am 10. März 1965 infolge eines Spiegel-Artikels gibt es keine Akteneinträge im laufenden Band der Hauptakten.39
Ganz aus dem Blickfeld geriet das Verfahren dennoch nicht: Der letzte verbliebene Angeklagte im einstmals groß angelegten Heyde-Verfahren, der frühere Amtsleiter der Kanzlei des Führers, Hans Hefelmann, hatte – wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete – im Prozess vor dem Limburger Landgericht darauf hingewiesen, dass die hohen Juristen sich »zu den Euthanasie-Maßnahmen bekannt hätten«. Er betonte, dass es sich bei dem Kreis, der auf der Tagung zusammenkam, »nicht um ›abgestempelte‹ Parteileute gehandelt habe, sondern um erfahrene und reife Juristen«. Wenn diese Leute kein Unrecht sahen, wie sollte er dann die Unrechtmäßigkeit der Maßnahmen erkennen? Oberstaatsanwalt Zinnall teilte in einer Verhandlungspause mit, dass die Ermittlungen gegen die hohen Justizbeamten weiterlaufen, viele würden im Limburger Prozess als Zeugen erscheinen.40 Die Presse informierte wiederholt über diese Ermittlungen. Einen Monat zuvor hatte es in einem Kommentar der Frankfurter Rundschau geheißen, zwar habe sich in Limburg Hefelmann zu verantworten, doch mitangeklagt seien jene, die wider besseres Wissen dem Regime dienten, zum Beispiel Schlegelberger, der untersagte, dass strafbare Handlungen verfolgt werden.41 Wiederum drei Wochen zuvor hatte die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Leserbrief abgedruckt, der sich auf das Juristenverfahren bezog und der die Frage aufwarf, warum nicht vor 20 Jahren Anklage erhoben worden war.42 Das Verfahren gegen Schlegelberger und andere lag also im Blickfeld von Angeklagten in Euthanasieverfahren, von Staatsanwälten und von Pressevertretern. Aber niemand arbeitete an diesem Verfahren.
Im Dezember 1964 wurde das Ministerium energisch: »Nachdem seit dem Bericht vom 25.5.1964 mehr als sechs Monate vergangen sind, sollte das […] angekündigte schriftliche Votum zur Sach- und Rechtsfrage schnellstens erstattet werden.«43 Am 7. Januar 1965 teilte der Generalstaatsanwalt dem Staatssekretär im Justizministerium mit, der Sachstand sei noch unverändert. Der für die Erstellung eines Votums vorgesehene Sachbearbeiter habe mit dieser Arbeit wegen anderweitiger Belastung nicht beginnen können. Allerdings sehe er mit Blick auf die bereits dargelegten Umstände keine Möglichkeit, die Übernahme des Verfahrens abzulehnen. »Ich hatte mich bei der erwähnten Besprechung zur Übernahme ausdrücklich bereit erklärt.«44 Staatssekretär Erich Rosenthal-Pelldram war nicht erbaut:
»Nachdem ich aus Ihrem Bericht vom 7.1.1965 ersehen habe, daß Sie sich zur Übernahme des Verfahrens bereit erklärt hatten, gehe ich davon aus, daß das Verfahren nun bei Ihnen als Ermittlungsverfahren geführt wird. Ich bitte Vorsorge zu treffen, daß die Sache nunmehr mit der erforderlichen Beschleunigung bearbeitet und in absehbarer Zeit zum Abschluß gebracht wird.«45
Bauer vertröstete das Ministerium immer aufs Neue und schien die Entscheidung, ob das Verfahren gegen die höchsten Juristen in Frankfurt betrieben wird, hinauszuziehen, nur um im Januar 1965 zu sagen, er habe sich von vornherein zur Rückübernahme verpflichtet. Wenn Bauer gegenüber »seinem« Ministerium hier nicht taktiert hat, etwa weil er sich des Rückhalts nicht völlig sicher war, dann befürchtete er möglicherweise – nicht ganz zu Unrecht –, dass man ihm vorhalten würde, seine Behörde wäre der Arbeitsbelastung, die er ihr aufbürdete, gar nicht gewachsen. So oder so hätte man ihm eine Verfahrenseinstellung nahelegen können. Indem er sich nicht klar äußerte, konnte er dies vermeiden.46
Anfang März 1965 vermerkte der Sachbearbeiter Reißfelder in den Akten, es entfalle sowohl die Ausarbeitung eines schriftlichen Votums als auch der Vortrag beim Ministerium. Nach dem »Ergebnis der Abt. Besprechung bei H. GStA am 4.3.65 ist die Sache – unter Zurückstellung aller anderen Arbeiten – ohne weitere Ermittlungen von hier aus schleunigst abzuschließen«.47 Dem Vermerk voraus geht ein längeres Resümee, das vermutlich von Reißfelder stammt und im Januar 1965 verfasst wurde.48
Nun machte ausgerechnet Schleswig-Holstein Druck, also jenes Bundesland, in dem niemand sich anschickte, Ermittlungen aufzunehmen, obwohl der Hauptbeschuldigte Schlegelberger – gut bekannt mit dem ehemaligen ärztlichen Leiter der NS-»Euthanasie«, Werner Heyde – seit 1951 in Flensburg lebte.49 Ende März 1965 drängte man darauf, bei der nächsten Besprechung der Länderjustizminister und -senatoren das Ermittlungsverfahren gegen die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte zu erörtern. Bei den Beratungen im Bundestag sei auf die unbefriedigende Tatsache hingewiesen worden, dass in München ein Verfahren gegen Krankenschwestern wegen Beteiligung an den Euthanasie-Verbrechen durchgeführt werde, während das gegen die Teilnehmer der Konferenz im April 1941 nicht vorankomme.50 In Frankfurt beeilte man sich mitzuteilen, »dass voraussichtlich noch im Laufe des Monats April Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung gestellt werden wird«.51 Reißfelder vermerkte in den Akten, er habe Regierungsdirektor Bickel auf dessen Nachfrage mitgeteilt: »VU-Antrag von mir entworfen und diktiert, ich rechne damit, daß ich ihn noch heute durchsehen u. abzeichnen könne.« Bickel begrüßte, dass Schlegelberger im Antrag aufgenommen sei, und bat um besondere Beschleunigung bei der Fertigstellung und Absendung des Antrags.52
Als Grund für die Abgabe des Verfahrens nach Stuttgart wie für die schleppende Bearbeitung nach der Rückübernahme wird die hohe Arbeitsbelastung der Frankfurter Strafverfolgungsbehörden durch NS-Großverfahren genannt.53 Im Mai 1960 liefen bereits die Ermittlungen zum Komplex Auschwitz wie auch die zum Komplex der NS-»Euthanasie«. Man hatte sich viel vorgenommen in Frankfurt.54 Gleichwohl wurde das Verfahren gegen die Juristen, aufgrund der befürchteten Verjährung, vor dem 9. Mai 1960 eingeleitet. Insofern stand Bauer unter Zugzwang. Da seine Behörde überlastet war, gab er das Verfahren sofort nach Stuttgart ab. Allerdings scheint er nicht erwartet zu haben, dass es dort mit dem nötigen Nachdruck betrieben wird. Denn wie anders ist die vorab vereinbarte Rückübernahme zu deuten? Dieses höchst ungewöhnliche Manöver verschaffte Bauer Zeit.
Denkbar ist aber auch, dass es mit dieser gewonnenen Zeit noch eine andere Bewandtnis hat. Bauer konnte 1960 nicht wissen, wann und in welchem Zustand die Ermittlungsakten an seine Behörde zurückgehen würden. Ebenso wenig konnte er absehen, wie sich die anderen Großverfahren entwickeln und wie sie gesellschaftspolitisch aufgenommen werden würden. Da Bauer Ende der 1950er Jahre mit einiger Zuversicht in die Zukunft blickte,55 ist zu vermuten, dass er die Verfahrenseinleitung (samt der sofortigen Abgabe nach Stuttgart) mit der Hoffnung verband, dass die Zeit für ihn spielte. Nach dem Ulmer Einsatzkommando-Prozess und der Gründung der Zentralen Stelle nahm die Zahl der Verfahren gegen NS-Täter stark zu. Selbst die Taten der NS-Justiz, insbesondere die Weiterbeschäftigung dieser Juristen in der Bundesrepublik, wurden in den Blick der Öffentlichkeit gerückt, maßgeblich durch die Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz«. Sie machte trotz ihres spartanischen Charakters Furore und wurde in vielen Städten des In- und Auslands gezeigt.56
Was konnte Bauer 1960 von einem Ermittlungsverfahren gegen die Generalstaatsanwälte und Oberlandesgerichtspräsidenten erhoffen? Wie konnte die Sache ausgehen? Bauer war wagemutig und orientierte sich nicht allein am Machbaren, aber er war nicht naiv. Unter den gegebenen Bedingungen, unter denen nicht einmal die Staatsanwälte und Richter der Sondergerichte belangt und auch Einsatzkommandoführer wie Otto Bradfisch nur wegen Beihilfe verurteilt wurden, war eine Anklage respektive eine Verurteilung der Chefpräsidenten so gut wie ausgeschlossen. Allerdings – und das war angesichts der Entwicklung zwischen 1957 und 1960 für einen Zeitgenossen immerhin zu hoffen – konnten sich die Dinge, nachdem sie nun in Fluss gekommen waren, doch noch gravierend verändern.