Diktator für einhundert Tage - Michael Erle - E-Book

Diktator für einhundert Tage E-Book

Michael Erle

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Beschreibung

Eine Dienstreise in die Karibik - Alexander Eyser-Dreik kann sein Glück kaum fassen. Doch drei ermordete Premierminister später ist das Land Jamaika in Aufruhr, der Flughafen geschlossen, und Alexander unfreiwilliger Zeuge eines beginnenden Bürgerkriegs. Doch statt in der Deutschen Botschaft auf Rettung zu warten, lässt der Ingenieur sich von einem mysteriösen Amerikaner zu einem wagemutigen Vorhaben überreden. Buchstäblich über Nacht tritt Eyser-Dreik an die Stelle des toten Staatsoberhaupts. Von nun an hält er, sehr zum Missfallen seines Arbeitgebers, der Weltöffentlichkeit und der verschiedenen Gangs und Kartelle im Land, den Staat zusammen. Keine leichte Aufgabe für einen Mann, dessen Führungserfahrung sich auf den Kapitänsposten einer Kreisligamannschaft beschränkt. Ihm bleiben hundert Tage die Hintergründe der Unruhen zu erkunden, sonst droht ihm das gleiche Schicksal wie seinen Vorgängern Der satirisch-politische Geniestreich um eine Bananenrepublik - meisterhaft von Michael Erle in Szene gesetzt!

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Diktator 

für einhundert Tage

Roman

Impressum

Cover: Karsten Sturm – Chichili agency

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865 -424-2

MOBI ISBN 978-3-95865-425-9

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Kapitel 1

Eyser-Dreik beäugte die Umgebung. Beinahe an jeder Ecke und in jeder Seitengasse hingen verdächtige Grüppchen junger Männer herum, viel zu selten sah er die blauen Uniformen der Polizei. Er malte sich aus, wie er bei einem plötzlichen Schusswechsel im Fußraum des Taxis in Deckung gehen müsste und versuchte sich an die wichtigsten Regeln für Überfälle zu erinnern. Aufgeben, zeigen, dass man keine Waffe hat, alle Forderungen erfüllen. Er fühlte sich nicht gut.

Das war also der Auftrag, den ihn sein Vorgesetzter mit den Worten “fast wie ein Urlaub“ verkauft hatte? Alexander Eyser-Dreik und sein Kollege Fritz Heinerleutner waren von der gesamten Abteilung beneidet worden. Sechs Wochen Karibik auf Kosten der Firma, ein paar technische Kontrollen durchführen, ein paar Schulungen abhalten. Doch dann, kaum dass sie in Jamaika angekommen waren, stürzte das Land ins Chaos. Der Premier erschossen, Unruhen und Plünderungen in den Slumvierteln, der Flughafen von Kingston gesperrt. Die beiden Ingenieure hatten versucht, mit dem Taxi nach Montego Bay zu gelangen, dem zweitgrößten Flughafen des Landes, um sich in Sicherheit zu bringen. Doch nach einer dreistündigen Odyssee, die Mal um Mal an Straßensperren endete, hatte Bob, ihr Fahrer, den Versuch für aussichtslos erklärt und war zum Hilton umgekehrt. “Too dangerous...“

Sie näherten sich New Kingston und dem Business District. Die hohen Gebäude der Firmen und Organisationen verdrängten die Wohnsiedlungen, und an jeder Pforte wachten private Sicherheitsdienste. Ohne offensichtlich darauf zu drängen, hielten sie die Straßen von Einheimischen frei. Alexander war darüber froh und empfand nicht einmal die übliche Scham, dass diese Leute wegen ihrer Armut oder Hautfarbe schlechter behandelt wurden.

“Sieht aus als hätten wir unseren kleinen Tagesausflug überlebt”, bemerkte Heinerleutner. “Kannst du erkennen, was auf dem Taxameter steht?”

In diesem Augenblick wurde der Wagen zur Seite gestoßen. Alexander prallte mit dem Kopf gegen den Türrahmen und schnappte nach Luft. Er hörte einen gewaltigen Knall, Bob fluchte, dann folgte ein Klimpern, als fielen kleine Hagelkörner auf das Dach. Er hob den Kopf und sah, dass die Windschutzscheibe plötzlich von einer Schicht weißer Asche bedeckt war. Jemand muss eine Mülltonne von einem Dach geworfen haben, ging es ihm durch den Kopf. Gut, dass sie offensichtlich nicht direkt auf die Fahrgastzelle gestürzt war.

Ein paar Männer begannen auf der Straße wild durcheinander zu schreien. Alexander erwartete, dass Bob aufspringen und in den Chor einstimmen würde, um den Schaden an seinem Taxi zu reklamieren und den Verantwortlichen für diesen Unfall zu finden. Stattdessen machte das Auto einen Satz nach vorn, wodurch Eyser-Dreik zurück auf seinen Sitz knallte. Die Heckscheibe barst und bedeckte seine Schultern und den Sitz neben ihm mit einem Regen aus kleinen Kristallstücken. Mit steifen Gliedern drehte er sich um, sah in der Bewegung, dass Heinerleutner unverletzt war, und blickte auf die Motorhaube eines Minibusses, welcher das Taxi von hinten gerammt hatte. Der Kofferraumdeckel war zusammengestaucht worden und nahm fast völlig die Sicht auf das Geschehen hinter dem Wagen.

Bob stieg nun tatsächlich aus, plärrte den Fahrer des Busses mit einer Reihe von Unflätigkeiten an und schlug wütend mit den Fäusten auf das Dach seines ruinierten Fahrzeugs. Die beiden Deutschen verließen das Taxi ebenfalls und orientierten sich. Sie standen am Bordstein einer breiten Straße kurz vor ihrer Einmündung eines Platzes, dessen Mitte von einer Verkehrsinsel mit einem Brunnen eingenommen wurde. Flammen züngelten aus den Trümmern eines Gebäudes, dessen Fassade eingestürzt war. Der Verkehr war zum Erliegen gekommen. Autos standen überall, Rauch hing in der Luft, Aschepartikel flogen umher und setzten sich auf Motorhauben und Wagendächern nieder.

Zahlreiche Fahrzeuge waren wie von unsichtbarer Hand umgeworfen und entzündet worden. Menschen flüchteten in Panik von der Unglücksstelle, ein blutüberströmter Mann rannte auf der gegenüberliegenden Seite der Straße blindlings gegen die Seitenwand eines Kiosks, rappelte sich auf und taumelte in die Richtung davon, aus der er gekommen war.

“Wir müssen dem Mann helfen”, rief Alexander. Es war das einzige, was ihm in diesem Augenblick einfiel.

“Bist du blöde? Ich will hier weg!”, entgegnete Heinerleutner. Sie sahen sich einen Augenblick an. Rußteilchen hefteten sich an ihre nasse Stirn und Wangen.

“Erinnerst du dich noch an die Erste-Hilfe-Stunden?”

“Nicht so richtig. Wen meinst du eigentlich.”

“Na den Mann da. Wo ist der jetzt hin?”

“Vergiss den Kerl. Was ist hier los? Wo kommen die Soldaten her?”

Auf diese Frage seines Kollegen hin fielen Eyser-Dreik die zahlreichen blau uniformierten Männer auf, die begonnen hatten, den Unglücksort zu räumen. Er beobachtete einen untersetzten Soldaten, der mit einem Sturmgewehr in der einen Hand eine sichtlich benommene Frau an ihrem Oberarm in Richtung des Taxis schob. Sie stolperte, verlor einen ihrer hochhackigen Schuhe und humpelte weiter, nachdem der Sicherheitsbeamte sie vom Platz geschleift hatte.

“Vielleicht sollten wir wirklich von hier weg”, überlegte er laut.

“Kannst du erkennen, was auf dem Haus steht?”

“Welchem Haus?”

“Dem großen da”, wies Heinerleutner auf das Bürogebäude, dessen Front eingestürzt war und das im Zentrum des Unfalls gelegen hatte. Die Reste einer Neonanzeige hingen über dem Loch, dass einmal eine größere Lobby gewesen war. Die Buchstaben G, E, I und T waren noch zu erkennen. Alexander fing in diesem Augenblick einen Gesprächsfetzen aus dem Streit zwischen Bob und dem Lenker des Busses auf.

“Bombe?”, rief Alexander und wandte sich an die beiden Fahrer: “Was für eine Bombe? Was ist hier passiert?”

Bob wandte sich ab, und auch der Fahrer des Busses schien nicht in der Laune, Fragen zu beantworten. Er ignorierte den Deutschen und fing an, die Inhaber der Fahrzeuge, die hinter ihm standen, zur Umkehr zu bewegen.

“Hier geht’s nicht weiter. Geht zurück! Zurück”, brüllte er.

“Komm lass uns gehen!”, merkte Heinerleutner an.

Es gelang Bob, auf ihren Wunsch hin die verbogene Luke am Heck seines Wagens aufzuhebeln. Ihre beiden Hartschalen-Koffer waren zusammengestaucht worden, an den Scharnieren aufgesprungen und standen nun offen wie die Muscheln auf einer Pizza Frutti Vongole. Der Inhalt lag teilweise verstreut, schien aber keinen Schaden genommen zu haben. Es kostete sie einige Mühe, die einzelnen Teile des Gepäcks aus dem demolierten Kofferraum zu bergen. Die ersten Ambulanzen trafen ein. Sanitäter eilten an die Unglücksstelle, wo sich bereits einige Zivilisten und Soldaten um die Verletzten kümmerten.

Die beiden Deutschen banden ihre halb zerstörten Koffer notdürftig mit Gürteln und Krawatten zusammen, bezahlten Bob und setzten sich in Bewegung. Es begann zu regnen, ein tropischer Wolkenbruch. In Minuten ergossen sich Wassermassen, die in Deutschland für eine ganze verregnete Novemberwoche gereicht hätten. Alexander und Heinerleutner wurden bis auf die Haut durchnässt.

“Wenigstens wäscht es die Asche ab”, kommentierte Eyser Dreik, nachdem sie wortlos und mit gesenkten Köpfen fünf Minuten durch die Pfützen gewatet waren. Inmitten eines apokalyptischen Verkehrsstaus erreichten sie eine dreiviertel Stunde später das Hilton. Der Manager, der ihnen am Morgen ihre Reisepläne hatte ausreden wollen, war offensichtlich erfreut, sie wohlbehalten wieder zu sehen.

“Gott sei Dank, es ist Ihnen nichts passiert. Als wir von dem Anschlag gehört haben, waren wir sehr besorgt.“

“Wir konnten nicht aus der Stadt kommen”, bestätigte ihm Alexander.

“Sie müssen mir alles erzählen. Wo waren Sie? Was haben Sie gesehen?”

“Können wir uns erst frisch machen? Ich bin sehr durstig.”

Der Manager schaute betroffen. “Leider haben wir Ihre Zimmer bereits vergeben. Sie waren ja bereits ausgecheckt und es ist ein riesiger Andrang, seit Kingston eingeschlossen ist. Aber ich will sehen, was ich tun kann.” Er ging hinter den Rezeptionsschalter und sprach leise mit einer der Damen, die dort Dienst tat. Sie studierten gemeinsam einen Bildschirm, dann winkten sie die beiden Deutschen näher.

“Leider haben wir nur noch ein Zimmer frei”, entschuldigte sich der Manager. “Immerhin ein Doppelzimmer.” Er händigte ihnen eine Schlüsselkarte aus und begleitete sie persönlich in den achten Stock, wo ihre neue Unterkunft lag.

“Waren Sie in der Nähe des Anschlages? Haben Sie etwas davon mitbekommen?” fragte er.

Eyser-Dreik und Heinerleutner blickten sich gegenseitig ungläubig an und an sich herab. Meinte er ihren Zwischenfall? Oder gab es noch weitere Explosionen?

“Eine Bombe. Es heißt der Premierminister wurde verletzt.”

“Der Premier! Aber wo denn?” Eyser-Dreik gingen Bilder ihres Unfalls durch den Kopf.

“Eine Roadside Bomb, wie im Irak”, ereiferte sich der Manager.

“Das war an einem Platz zwei Straßen weiter!”, fiel Heinerleutner ihm ins Wort. “Eine Menge Soldaten waren sofort da und haben alles abgesperrt. Ich habe mir noch gedacht, dass eines der Wracks aussah wie eine große Limousine.”

“Dann ist es also wahr!”, entfuhr es dem Manager. “Wie schlimm sah es aus? Haben Sie erfahren, ob Pontimore noch lebt?”

“Wer? Wir haben nichts gehört.”

“Der Premierminister. George Pontimore.”

Heinerleutner kratzte sich am Kinn. “Die Limousine sah stark beschädigt aus. Ein einziges Blechknäuel. Ich kann mir nicht vorstellen...”

Ihr Gastgeber nahm diese Nachricht mit stummer Erschütterung zur Kenntnis und ließ sie stehen.

Es dauerte nicht lange, bis eine beleibte Hotelangestellte an der Tür ihres Zimmers klopfte und ihnen die Reinigung der in Mitleidenschaft gezogenen Kleidungsstücke anbot. Die beiden Deutschen nahmen das Angebot dankend an, denn durch den Schaden an ihren Koffern und den Regen waren nicht nur die Sachen, die sie am Leib getragen hatten, unansehnlich geworden.

In ihren Freizeitjeans und T-Shirts, denen das Wasser nicht viel anhaben konnte, saßen sie dann in ihrem Zimmer und verfolgten die Berichterstattung des jamaikanischen Fernsehens. Ein dunkel gekleideter Ansager verlas vor einem grauen Hintergrund ein Nachrichtenblatt, dass allem Anschein nach hastig ausgedruckt worden war.

“Wie mittlerweile bestätigt wurde, ist Premierminister George Pontimore vor eineinhalb Stunden Opfer eines Anschlags geworden”, verkündete der Ansager und schluckte. Die beiden Deutschen starrten auf den Bildschirm. “Minister Pontimores Konvoi wurde von einer Autobombe getroffen, die vor der Zentrale des General Fruit Konzerns platziert worden war. Bei dem Anschlag kamen weiterhin zwei Sicherheitsbeamte und der Fahrer des Premiers ums Leben. Bislang hat sich niemand zu dem Anschlag bekannt.” Der Sprecher ließ das Blatt sinken und verharrte einige Augenblicke wortlos. Auf ein Zeichen hin besann er sich und fuhr fort. “Auch sind keine Reaktionen von offizieller Seite bekannt gegeben worden. Zur Sicherheitslage in Kingston sprachen wir heute morgen mit Deputy Commissioner Ferell.”

Es folgte ein Interview mit einem unfreundlichen Polizeibeamten, der eine kurze Erklärung zu den Krawallen abgab und allen Fragen des Reporters eine grimmige Abfuhr erteilte. Alexander schaltete den Ton aus, ließ den Fernseher aber laufen. Heinerleutner, der das Menü des Zimmerservice studiert hatte, reichte ihm das Merkblatt hinüber.

“Wollen wir runter gehen? Hier gibt’s nur aufgewärmte Fertiggerichte.”

“Das war heute eine Autobombe, und wir waren so nah dran”, erwiderte Alexander. Er nahm trotzdem die Schlüsselkarte vom Tisch “Wir kommen schon heil nach Hause”, versuchte ihn Heinerleutner zu beruhigen. “Es wird uns im Hilton nichts passieren.”

Gegen Abend ließ der Regen nach, und die beiden Deutschen konnten auf der Dachterrasse des Hotels ein Bier trinken. Die Inhaber hatten den Empfangssaal, der hier für besondere Anlässe reserviert war, als zusätzliches Restaurant geöffnet.

“Ein besonderer Anlass, in der Tat”, kommentierte Heinerleutner, als er von diesem Arrangement erfuhr. Viele der eingeschlossenen Ausländer, die im Hilton Zuflucht gefunden hatten, nutzen diese Gelegenheit, um zwanzig Stockwerke über den gefährlichen Straßen der Stadt ein wenig frische Luft zu genießen. Die Terrasse, nicht viel größer als ein Tennisplatz, war bald unangenehm voll.

“Warum willst du eigentlich nicht unten am Pool liegen wie sonst”, fragte Heinerleutner. “Hier wird man ja tot getreten.”

“Und unten erschossen. Was, wenn da ein Kerl mit einer Knarre auf der Straße entlang läuft?”

“Das Gelände hat doch Mauern. Außerdem passt die Security auf.”

“Ich will kein Risiko mehr eingehen. Wir warten hier einfach ab, bis wir evakuiert werden oder sich alles beruhigt hat. Bis dahin...” Er prostete der untergehenden Sonne zu.

“Was meinst du, wer uns hier rausholt? Die Amis, die Briten...?”

“Wieso denn die Briten?”

“Jamaika ist Teil des Commonwealth. Du weißt schon: Linksverkehr.”

Alexander brummte abfällig. “Die Amis. Und was wollen die Briten hier?”

“Immerhin ist die Queen das Staatsoberhaupt, vertreten durch einen Governor. Der darf sogar den Premier einsetzen.”

“Hast wohl Google gefressen?”, unkte er. Doch sein eigenes Wissen hatte er sich ebenfalls erst kurz vor der Reise über eine Suchmaschine angeeignet. Jamaika lag in der Karibik, gut hundert Kilometer südlich von Kuba. 2,6 Millionen Menschen wohnten hier auf einer Fläche von der Größe des Bundeslandes Schleswig-Holsteins. Sie war Teil des britischen Commonwealth, seit 1962 unabhängig. Das Klima mild bis tropisch, Regenzeiten im Mai und im September. Mehr als die Hälfte der Wirtschaft lebt vom Tourismus. Sonst gab es nur Bauxit, Bananen und Zucker. Allerdings auch Rum, Musik und Drogen. Kingston stach schon in Friedenszeiten durch eine unglaublich hohe Mordrate hervor, die Bedingungen außerhalb der Innenstadt galten als schlecht.

“Ich hatte genug Zeit dazu“, kommentierte Heinerleutner. “Die jamaikanischen Kollegen haben mich nicht so stark gefordert.”

“Angeber”, erwiderte Alexander gerade, als sich eine junge Frau zu ihnen gesellte. Sie trank Wasser und war bunt, aber nicht zu teuer gekleidet. Sie machte auf Eyser-Dreik den Eindruck, als sei sie leicht frustriert.

“I see you are discussing politics”, sagte sie an Stelle einer Einleitung. “Ich bin Sereena Manley. Mr. Timely hat mich eingeladen und gebeten, den Gästen bei Fragen zu diesem Thema zu helfen. Ich studiere an der University of the West Indies Wirtschaftswissenschaften.”

“Und was sollen sie uns erzählen?”, argwöhnte Heinerleutner.

“Herr Timely möchte den Gästen helfen, die Lage zu verstehen und Gerüchte zu vermeiden. Zum Beispiel in Bezug auf den Premierminister und die Nachfolge.”

“Er wird doch wohl einen Stellvertreter haben”, vermutete Alexander. “Oder ist der auch schon tot?”

“Natürlich gibt es einen Stellvertreter: Taylor Ewening ist sein Name. Es ist aber nicht klar, ob er das Amt übernimmt. Er steht unter Korruptionsverdacht, und es wird aktuell gegen ihn ermittelt. Das Parlament debattiert zur Stunde über den Nachfolger.”

“Sie meinen genau zu dem Augenblick, wo das Land den Stellvertreter braucht, kann es ihn nicht gebrauchen, weil er korrupt ist?”

“Denken Sie nicht falsch über Jamaika. Es wird mehr über die Probleme in der Politik geschrieben, als gerechtfertigt ist. Wir sind eine Demokratie, und wir werden damit fertig.” Die junge Jamaikanerin war sichtlich verärgert.

“Es tut mir leid, ich wollte nicht...”, entschuldigte sich Alexander.

“Den ganzen Abend darf ich mir diesen Quatsch nun schon anhören”, beschwerte sie sich. “Warum glauben immer alle, dass sie sich ein Urteil über uns erlauben dürfen?”

“Na ja, wir sind heute fast einer Bombe zum Opfer gefallen. Da macht man sich seine Gedanken.”

“Sie trinken Bier in einer Hotelbar weit über den Dächern der Häuser, in denen wir wohnen. Aber hört man uns etwa Jammern oder sich beschweren?”

Alexander verkniff sich die Antwort. Sie ging weiter und würdigte die beiden Deutschen keines Blickes mehr. Heinerleutner holte noch zwei Bier, und sie beobachteten, wie Kingston langsam in der Dunkelheit versank. Der Schatten der Berge wanderte über die Viertel, die Häuserschluchten waren zunehmend düstere Abgründe zwischen den rot glühenden Dächern.

Auf einmal entstand auf der anderen Seite der Hotelterrasse ein Auflauf. Einige der Gäste spähten vom Dach herunter in die umliegenden Straßen, während andere sich von der Brüstung entfernten. Alexander glaubte, aus dieser Richtung in der Stadt Schussgeräusche zu hören. Er ließ seinen Kollegen stehen und ging hinüber, um sich selber ein Bild zu machen. In der Dämmerung konnte er nur wenig erkennen außer einem gelegentlichem Aufflackern in den Gassen. “Sieht aus wie Mündungsfeuer”, meinte Heinerleutner, der ihm in einigen Schritten Abstand gefolgt war. “Vielleicht automatische Waffen.”

“Woher willst du so was wissen?”

“Geh ins Kino, dann siehst du so was.”

“So ein Quatsch”, erwiderte Eyser-Dreik. Er war verunsichert, zwischen den Kämpfen und dem Hotel lagen nur einige wenige hundert Meter. Er zog seinen Kollegen am Oberarm von der Kante der Terrasse fort. “Ich geh ins Zimmer. Das ist mir genug Kino für heute.”

Kapitel 2

”...Tiefsttemperaturen zwischen 7 Grad im Norden und 11 Grad im Süden. Die weiteren Aussichten: kühl und unbeständig.”

Das Zeitsignal aus Deutschland weckte Alexander aus seiner Versunkenheit. Die Dächer vor dem Fenster erstrahlten im ersten Morgenlicht. Da und dort stieg Rauch auf.

Heinerleutner rieb sich die Augen. ”Hast du die Kiste die ganze Nacht angelassen? Wie soll man da schlafen!”, beschwerte er sich.

”Ich will hören, was für Nachrichten kommen. Ob sie den Flughafen wieder geöffnet haben.“

”Aber das ist die Wettervorhersage. Warum schaltest du nicht J-1 an? Oder wenigstens die BBC.”

Alexander drehte sich erneut der Stadt zu, die sieben Stockwerke unter ihm wirkten fast friedlich. Gut hundert Meter entfernt sah er einen Straßenhändler, einen Higgler, der seinen Wagen durch eines der gesperrten Viertel schob.

”Daheim haben sie wenigstens Regen. Hier ist es einfach zu heiß...”

”Wir können uns in die Lobby setzen. Da lassen sie die Klimaanlage noch laufen.”

”Wollen wir frühstücken?”

”Bin gespannt, ob es was gibt”, argwöhnte sein Kollege. ”Das Brot war gestern fast alle.” Er erhob sich und verschwand im Bad. Sein Rasierer summte. Er übertönte die Schüsse, die Krawalle in der Stadt. Alexander ließ sich in den bunt gemusterten Sessel fallen. Nach drei Minuten erschien sein Kollege mit glatt gezogenem Hemd und in eine frische Wolke Aftershave gehüllt.

”Ich habe Hunger”, verkündete er.

Sie zogen die Tür hinter sich ins Schloss, Alexander tastete besorgt nach der Schlüsselkarte in der Tasche. Hinter jeder Tür, die links und rechts den Gang zum Aufzug säumten, hörten sie einen Fernseher. Nachrichten, Spielfilme, Musik.

”Nicht den Lift”, meinte Alexander, als Heinerleutner den Aufzug rufen wollte. ”Wenn der Strom ausfällt...”

Der Frühstückssaal war voll, obwohl es erst sechs Uhr morgens war. Viele der Gäste hatten Ringe unter den Augen. Ein kleingewachsener Latino kippte Heinerleutner Kaffee über die Hose und entschuldigte sich wortreich. Das Angebot an Speisen hatte sich geändert. Es gab keine Milch oder Eier mehr, keinen Toast, dafür aber frisch gebackenes Brot. An Portionspackungen von Honig und Marmelade schien kein Mangel zu bestehen, auch die Butter hatte das Hilton anscheinend tiefgefroren gelagert. Die silbernen Obstschalen quollen über von Früchten.

”Wie sind die nur da ran gekommen?”, wunderte sich Heinerleutner. Er legte sich zwei Bananen und eine Papaya auf den Teller, wo sie neben vier Scheiben Brot, Aufstrichen und Ackee fast vom Rand fielen.

”Keine Ahnung“, merkte Alexander an. ”Schau mal, die haben keinen Aufkleber. Die sind nicht von General Fruit. Müssen vom Markt kommen, sind hier angebaut.”

”Kann man die essen? Ich weiß ja nicht, was die spritzen”, argwöhnte Heinerleutner.

”Hat bestimmt noch keinen umgebracht”, antwortete sein Kollege. ”Ich glaub´ die Gefahr erschossen zu werden ist zur Zeit größer.”

Sie setzten sich und aßen ohne ein Wort. Alexander saß mit dem Rücken zu den großen Panoramascheiben, die zur davor gelegenen entvölkerten Straße hinausging. Er verspürte den Drang, ständig über die Schulter schauen zu wollen. Heinerleutner beäugte die Außenwelt nervös und vertilgte seine umfangreiche Mahlzeit in großen Bissen. Alexander hatte nicht einmal seinen zweiten Toast gegessen, als sein Tischgenosse fertig war und sich einen Nachschlag holte, der mindestens so groß war wie die erste Portion.

Am Ausgang, wo zuerst die Schlange zum Buffet begann, hatte sich inzwischen ein Knäuel von Leuten gebildet, die sich mit gedämpften Stimmen unterhielten. Die beiden Deutschen stellten sich auf dem Weg hinaus dazu.

”Vom siebten Stock aus hat man eine gute Übersicht”, erklärte ein Mittfünfziger in braunem Anzug. ”Die ganze Nacht hab ich gelauscht, von wo die Schüsse kommen. Jede Stunde war das einen Straßenzug näher. Bis heute Abend sind sie hier.”

”Allein vom Hören kann man das nicht beurteilen”, widersprach ein junger Asiat mit Pferdeschwanz. ”Solange an der Kreuzung vor dem großen Kaufhaus noch die Soldaten stehen, kann uns nichts passieren. Die riegeln das ganze Viertel ab.”

”Oxford Road. Strategisch wichtig”, pflichtete ein weißhaariger US-Amerikaner bei, der einen strengen Bürstenschnitt trug und dessen Nacken von der Sonne verbrannt war. Seine Frau, die ein schlichtes Kleid mit hellblauem Muster trug, nickte.

”Die Kreuzung ist drei Straßen weiter”, warf der erste Sprecher ein. ”An der sind sie schon seit Sonnenaufgang vorbei.”

”Alfred hat mir erklärt, dass unser Sicherheitsdienst uns beschützt”, erklärte eine rothaarige Frau mit französischem Akzent. Sie trug eine Sonnenbrille mit großen, beige getönten Gläsern wie ein Diadem auf dem Kopf.

”Wer ist denn Alfred?”, fragte der Amerikaner.

Unser Concierge”, antwortete sie. ”Es sind zurzeit zwei Dutzend Wachmänner rund um die Uhr im Einsatz. Alfred steht außerdem im ständigen Kontakt mit dem Polizeichef. Die achten besonders auf uns.”

”Shhh!”, fauchte auf einmal ein Steward des Hilton, der mit einer Kaffeekanne in der Hand am Rande der Gruppe gestanden hatte. Die Gäste blickten irritiert zu ihm, er aber wies auf den Fernseher. Ein Nachrichtensprecher verlas gerade eine aktuelle Meldung:

”...Premierminister Longstaf in seiner Villa in Norman Gardens erschossen. Longstaf war erst wenige Stunden zuvor als Nachfolger George Pontimores vom Parlament eingesetzt worden. Die Leibwächter des Staatsdienstes fanden ihn in den frühen Morgenstunden. Über die Hintergründe der Tat gibt es aktuell keine Informationen. Es ist allerdings bekannt, dass Longstaf Unterstützung durch verschiedene Gruppen erfahren hatte, darunter die notorischen Wi’nesses. Governor Stark hat als Reaktion auf die Bluttat das Kabinett zu einer weiteren Krisensitzung einberufen. Die ehrenwerten Mitglieder tagen seit vier Uhr morgens.”

Es folgte ein Schnitt zu einem fast glatzköpfigen Mann mit fein gestutztem Schnauzbart, dessen aufgequollenes Gesicht Spuren von Anspannung zeigte. Eine Einblendung am unteren Bildrand identifizierte ihn als Sir Rodney Stark, Her Majesty's Governor-General of Jamaica.

”Die demokratisch gewählten Vertreter Jamaikas“, erklärte er, ”werden bis heute Mittag einen Nachfolger für das Amt des Premierministers wählen, der die Geschäfte ohne Unterbrechung weiterführt und mit der vollen Handlungsspanne seiner exekutiven Befugnisse die gegenwärtige Krise meistern wird. Der Staat ist eine sichere Basis des Zusammenlebens. Der Tod eines Vertreters oder sogar mehrer Vertreter kann seine Struktur nicht erschüttern. Wer immer auch glaubt, auf diese Art die rechtmäßige Ordnung stürzen zu können, der irrt sich. Wir werden alles tun, um die Demokratie zu bewahren. Ich bin völlig sicher...”

Alexander fluchte. Heinerleutner sah mit fragendem Blick zu ihm herüber.

”Nicht gut, oder?”, kommentierte er.

”Wir müssen mit der Botschaft telefonieren”, entschloss Alexander. Er strebte der Rezeption entgegen, seinen Kollegen im Gefolge wie einen Schleppenträger. Der dunkelhäutige Angestellte am Schalter blickte ihn mit unverhohlener Sorge an.

”Wir möchten gerne ein Telefonat führen.”

”Es tut mir sehr leid, aber die Leitung ist tot.”

”Seit wann? Wie lange noch?”

”Ich weiß es nicht. Tut mir leid.” Er zuckte mit den Schultern und lächelte. Die Reihe weißer Zähne im dunklen Gesicht ließ Alexander an eine Figur aus den billigen Horrorfilmen denken, die er sich mit seinen Freunden angesehen hatte, als er sechzehn war. Er hielt sich am Rand der Theke fest und versuchte, in seinen wild kreisenden Gedanken eine Entscheidung zu fassen. Heinerleutner stand neben ihm und blickte ebenso ratlos.

”Vielleicht versuchen Sie es einfach am Nachmittag noch einmal”, riet der Hotelier. Alexander nickte und ging wie ferngesteuert zum Aufzug.

”Ich mache mir echt Sorgen”, gestand er seinem Kollegen. ”Wenn die Telefone tot sind...”

Sie fuhren schweigend in ihr Stockwerk und setzten sich in ihr Zimmer. Der Fernseher lief noch immer und zeigte das deutsche Mittagsmagazin.

”Weißt du, es ist komisch, aber vor ein paar Tagen habe ich einen Mann getroffen, der schien das alles voraus zu ahnen“, grübelte Alexander.

”Was meinst du?“

”Letzte Woche, als du Durchfall hattest...“

”Au Mann“, stöhnte Heinerleutner.

”Ich bin doch an dem einen Abend alleine weg. In eine Bar, nicht weit von hier. Ich dachte erst er will mich anmachen.“

”Ein Jamaikaner? Kaum.“

”Nein, ein Ami. Ich stand mit meinem Bier an der Theke, als er mich angesprochen hat. 'Howdy', mit so einem breiten Südstaaten-Dialekt. 'Ich habe sie beobachtet. Sie scheinen kein Tourist zu sein, aber trotzdem sind Sie nachts alleine in Kingston unterwegs'.“

”Sah er denn aus wie vom anderen Ufer?“

”Schon. Gepflegt, dunkelhaarig, in einen beigen Anzug und in der Hand eine lederne Handtasche, etwas größer als eine Geldbörse, aber kleiner als eine Kameratasche. Aber dann habe ich den Ehering an der linken Hand gesehen. Also unterhielten wir uns ein bisschen. Er kannte Deutschland, hatte ein paar Jahre in Schweinfurt verbracht. Sein Name war Roger Libling. Er war sehr interessiert an unserem Auftrag.“

”Konkurrenz? Industriespionage.“

”Glaube ich nicht. Er sagte er wäre bei General Fruit. Allerdings hat er zugegeben, dass es ihm bei seinen Geschäften hilft, wenn er weiß wer in Kingston ist und was er macht. Also habe ich ihm ein bisschen was erzählt, vom Manokom-Projekt. Er hat mir von seiner Frau erzählt, aber gemeint er würde sie nie nach Kingston bringen. Ich frage ihn warum, wegen der Verbrechensrate vielleicht. Da ist er auf einmal ganz zugeknöpft geworden. 'Halten Sie ihre Familie aus Kingston fern!' hat er geraunt. 'Jamaika ist ein Land, in dem Pläne nicht lange haltbar sind.'“

”Mysteriös. Du triffst Leute...“, schalt ihn Heinerleutner. ”Und dann?“

”Nicht mehr viel. Er wurde abgeholt, sein Taxi war gerade gekommen. Mir war als wartete jemand im Fond des Wagens auf ihn, aber ich wollte nicht neugierig wirken. Eines war nur komisch: als er gegangen war, hat mich der Barman gefragt, ob ich ein Freund Liblings sei - 'You a frien’ of Libling?', und als ich antwortete 'I only just met him.' hat er mit dem Kopf gewackelt und gelacht. Aber nichts weiter gesagt.“

”Wahrscheinlich einfach nur ein stadtbekannter Irrer“, meinte Heinerleutner. ”Oder meinst du wirklich, dass irgendwer das alles vorausgesehen hat?“

”Irgendwer muss ja was gewusst haben“, meinte Alexander. Er ging zum Fenster und spähte hinaus. Vor dem Einkaufszentrum standen in der Tat einige blau uniformierte Soldaten mit schusssicheren Westen. Sie wirkten gelassen.

”Ich kann mir nicht vorstellen, dass die paar Gestalten Schutz genug sind. Außerdem lungern überall kleine Grüppchen von Männern rum. Sehen zwar nicht aus, als würden sie gleich randalieren. Aber sie machen auch sonst nichts.”

”Es ist mir lieber, wenn sie nichts machen. Sind sie bewaffnet?”

”Wenn ja, dann zeigen sie es nicht. Aber bis auf die, sind die Straßen wie ausgestorben.”

”Ich mach wieder J-1 an. Vielleicht wissen die mehr? Vielleicht sind die Aufstände vorbei?”

Heinerleutner nahm die Fernbedienung und verbannte den heimatlichen Sender vom Bildschirm. Auf den Straßen vor dem Hotel regte sich nichts, und die Nachrichten brachten keine Neuigkeiten. Sie verbrachten die nächsten Stunden lauernd, alle dreißig Minuten hob einer von ihnen den Hörer ab und sprach kurz mit der Rezeption, doch auch dort hatte sich nichts geändert. Die Leitungen waren außer Betrieb.

Kapitel 3

”Sie kommen zu uns! Wahrscheinlich wollen sie sich in der Lobby verschanzen.” Heinerleutner drängte sich neben seinen Zimmergenossen und spähte über dessen Schulter. ”Wie viele sind es? Ich sehe ein Dutzend.”

”Da sind zwei, die müssen sie stützen. Wahrscheinlich war das Feuergefecht vorher mehr als nur eine Finte.”

”Sind das die Soldaten, die vorher am Kaufhaus waren?”

”Kann man nicht erkennen. Das liegt immer noch im Rauch. Aber ich glaube, die Schützenpanzer sind noch da. Ich schätze, sie haben den Haufen hier abgelöst.”

”Wollen wir runter? Da erfahren wir sicher mehr.”

”Gehen wir.”

Sie trabten den Gang entlang und die Treppen hinunter. Als sie im Erdgeschoss ankamen, bedienten sich die Soldaten schon am Mittagsbuffet. Ein Offizier konferierte mit dem Leiter des Sicherheitsdienstes und dem Manager des Hotels. Ein Dutzend Gäste hatte sich um das Grüppchen versammelt, hielt aber respektvollen Abstand. Alexander fiel der Geruch von Rauch und Dreck auf, den die Neuankömmlinge verbreiteten.

”Versuch du mal zu hören, was die besprechen”, wies er seinen Begleiter an. Er sah sich nach den beiden verwundeten Soldaten um, die er vom Fenster aus gesehen hatte. Sie hatten sich auf die pastellfarbenen Lobbysessel gesetzt und ließen sich von ihren Kameraden das Essen bringen. Der eine hatte einen Druckverband um den rechten Unterschenkel, dem anderen lief eine dünne Blutspur vom Kopf den Kragen hinunter. Er nahm gerade den Helm ab, unter dem ein rötlich-brauner Verband zum Vorschein kam. Er wirkte erschöpft, und Alexander bemerkte mit Erstaunen, dass auch dunkelhäutige Menschen bleich werden können. Er ging hinüber zu dem Mann mit der Beinwunde und sprach ihn an.

”Alles in Ordnung mit dem Bein? Hat es sich ein Arzt schon angesehen?”

”Sind Sie Arzt?”, fragte der Soldat. Er sprach sehr starken Akzent, und der Deutsche verstand ihn kaum.

”Nein. Kann ich Ihnen noch etwas bringen? Ich möchte Ihnen gerne helfen.”

Der Soldat grinste unverschämt. ”Dann nehmen Sie meine Wasserflasche, gehen Sie zur Bar und lassen sie mit Gin füllen. Weißer Rum geht auch, oder Tequila”, raunte er. ”Verstehen wir uns?”

Alexander stutzte kurz, dann nahm er dem Verwundeten die leere Evian-Flasche ab, die unzweifelhaft vom Buffet des Hilton stammte. Er eilte in die Bar, vorbei an den müden Gesichtern derer, die sich seit dem vergangenen Abend Mut antranken Der Barmann runzelte die Stirn, als er die Bestellung hörte, akzeptierte Alexanders Zimmernummer aber ohne weiteres als Abrechnungsmodalität. Er nahm eine ungeöffnete Bacardi-Flasche aus dem Regal und gab sie dem Deutschen.

”Umfüllen müssen Sie selber. Wir schenken nur in Gläsern aus. Richtlinie des Hauses.”

”Sie sind nicht zufällig ein Landsmann von mir?”, ärgerte sich Alexander. Er entfernte die Schutzfolie, schraubte die Flasche auf und verschüttete beim Versuch, den Inhalt in die Plastikflasche zu transferieren, fast die Hälfte des Rums.

”Noch eine”, forderte er, als er sah, dass das Gefäß nicht einmal halb voll wurde. ”Und einen Trichter, bitte.”

Der Barmann brachte ihm beides, berechnete insgesamt 120 US-Dollar und sah beim nächsten Versuch unverhohlen zu.

”Sind Sie durstig?”, fragte er. Der Ingenieur warf ihm einen finsteren Blick zu, stellte die leere Rumflasche mit lautem Klirren auf die Theke und strebte wieder der Lobby zu.

”Ihr Wasser.”

”Danke, Mann.” Er nahm einen tiefen Schluck und verzog das Gesicht. ”Was kann ich für Sie tun?”

”Ich möchte wissen, was da draußen los ist. Werden die Gangs kommen?”

”Die Oxford Road ist jetzt von den Panzern bewacht. Da kommt keiner mehr durch. Nein, ich denke, die kommen nicht hierher.”

Er nahm einen weiteren Schluck. ”Aber sie gehen auch nicht weg.”

”Wer ist das eigentlich? Niemand scheint zu wissen: sind das Gangster, Aufständische, Rebellen...”

”Alles das, Mann. Gleichzeitig. Dazu sind es verschiedene Viertel, die sich gegenseitig bekämpfen. Die Easterners, die Wi’nesses. Meistens schießen sie aufeinander, aber manchmal auch auf uns.”

”Aber wieso haben sie dann den Premierminister umgebracht? Und seinen Nachfolger auch?”

”Keine Scherze? Den Nachfolger?”

”Ja, heut´ morgen haben sie es im Fernsehen gebracht.”

”Das sind ja interessante Tage. He, Jibbo. Hast du schon gehört? Sie haben Ewing Taylor umgelegt!”, rief er einem anderen Soldaten zu.

”Ich glaube, er hieß nicht Taylor“, verbesserte ihn Alexander. ”Langster war sein Name. Oder so ähnlich.”

”Hä? Aber Ewing war doch Stellvertreter? Was ist denn mit dem passiert?”

Alexander zuckte mit den Schultern. Der Offizier des Trupps war durch den Ausruf des Gesprächspartners auf die beiden aufmerksam geworden und kam nun herüber. Er wechselte einige rasche Worte mit seinem Untergeben, dann bat er Alexander, dem Verwundeten etwas Platz zu lassen, da er nicht gestört werden dürfe. Alexander entschuldigte sich für seine Aufdringlichkeit und drückte sich neben Heinerleutner in die Menschentraube, die sich um den Manager gebildet hatte.

”Und?”, fragte er.

”Keine Ahnung. Aber er will wohl was sagen.”

Tatsächlich hob der Hotelleiter beschwichtigend die Hände und wandte sich mit stentorischer Stimme an seine Gäste.

”Bitte einen Augenblick um Ruhe… Dankeschön. Ich möchte Ihnen für Ihre Geduld danken. Sergeant Miller hat mir erklärt, dass er von Schützenpanzern abgelöst wurde. Diese sichern das Viertel. Sie haben es abgeriegelt, so dass uns keine Gefahr droht. Ich möchte das unterstreichen. Die Verstärkung durch die Panzer garantiert unsere Sicherheit. Sergeant Millers Truppe ist hierhergekommen um sich auszuruhen und in der Nähe zu sein, falls doch noch etwas passiert. Wir haben sozusagen unsere eigene Armee.” Er lachte, und einige der Gäste stimmten höflich mit ein. Alexander konnte in der ersten Reihe den Amerikaner mit dem Bürstenschnitt sehen, der sichtlich missgelaunt die Nachricht aufnahm.

”Jetzt sind wir ein militärisches Ziel”, murmelte irgendwer halblaut. Der Manager verzog das Gesicht, ging aber nicht auf den Zwischenruf ein.

”Zusammen mit unserer Sicherheitsmannschaft werden die Offiziere der Jamaica Defence Army uns in den nächsten Tagen Schutz geben, bis die Lage sich normalisiert hat. Ich bedauere, dass ich Ihnen nicht sagen kann, wie lange das dauert. Ich habe aber gehört, dass Verstärkung auf dem Weg ist, um die Ordnung wieder herzustellen.”

Seine weiteren Äußerungen gingen in einem Gewirr von Fragen unter, die ihm von allen Seiten zugerufen wurden. Die beiden Deutschen zogen sich aus dem Gedränge zurück. Heinerleutner schlich zum Buffet, um sich Mittagessen zu holen, während Alexander durch die Tür des Hilton beobachtete, wie ein Ambulanzwagen in das Empfangsrondell der Hoteleinlage einfuhr und vor dem Eingang hielt. Zu seinem Erstaunen folgten dem Notarzt drei weiße Taxis. Er vergewisserte sich, dass er der erste war, der dies bemerkt hatte, und ging rasch zu seinem Kollegen, der zwei Teller auf seiner Linken balancierte, die er mit kleinen Bergen von Essen bestückte.

”Hast du alles dabei? Ausweis, Karte?”

”Logisch. Nur mein Necessaire liegt noch oben.”

”Vergiss es. Und vergiss die Teller. Komm mit.”

Sein Reisegefährte zögerte, bis Alexander ihm das Geschirr aus der Hand nahm, es an einen freien Tisch stellte und ihn am Ärmel zum Ausgang zog. Zwei hellblau gewandete Sanitäter kamen eben durch die gläserne Flügeltür. Draußen hupte eines der Taxis. Die Gäste in der Lobby wurden auf die neu angekommenen Autos aufmerksam. Alexander konnte sehen, wie einige nach ihren Taschen griffen. Er kam den schnellsten unter ihnen knapp zuvor und hielt auf das vorderste Fahrzeug zu. Der Lenker trug ein grünes, ärmelloses T-Shirt und hielt eine Flasche Red Stripe in der Hand. Seinem Lächeln fehlten vier Zähne.

”Willkommen in Jamaika, Mann”, begrüßte er seine potentiellen Kunden. ”Wohin?”

”Können Sie uns zur Deutschen Botschaft bringen?”

”Sicher, Mann. Dreihundert Dollar. US, versteht sich.”

Alexander schluckte trocken. ”Kreditkarte OK?”, brachte er hervor.

”Not today, Mon”, meinte der Fahrer. ”Heute nicht.”

Die beiden Deutschen leerten ihre Brieftaschen, während hinter ihnen ein Dutzend anderer Hotelgäste aus dem Eingang flutete. Sie kratzen den geforderten Betrag zusammen und stiegen ein.

”Willkommen in Garys Panzer. Unverwüstlich, unsichtbar und schnell”, begrüßte sie der geschäftstüchtige Transportunternehmer. Er fuhr mit quietschenden Reifen los und preschte die Auffahrt hinunter. In die Trafalgar Road bog er ohne zu bremsen ab. Alexander tastete nach dem Sicherheitsgurt und rutschte tiefer in seinen Sitz.

In den nächsten fünf Minuten passierten sie drei verschiedene Kontrollpunkte der Polizei, ohne aufgehalten zu werden. Bei einer Abkürzung durch eine Nebengasse legte Gary eine Vollbremsung hin. Er kam vor einem Autowrack zum Stehen, das in einer unübersichtlichen Kurve mitten auf der Straße stand.

”Heute Morgen war das noch nicht da. Drive-by Schießereien”, erklärte er.

So erreichten sie die Deutsche Botschaft wohlbehalten. Eine Armada von Autos war in den Straßen rings umher ohne Rücksicht auf Parkplätze oder Verkehrsregeln abgestellt. Wie der Rest des Botschaftsviertels, war auch die Waterloo Road, in der das Gebäude lag, gut bewacht. Patrouillen von je fünf Mann sicherten die Straßen. Das Tor der Botschaftsmauer stand offen, dass Drehkreuz an der Pforte war ausgehängt. Im Garten saßen und lagen gut zweihundert Urlauber, teilweise mit Zelt und Campingausrüstung. Ein junger Mann im Anzug nahm die beiden Neuankömmlinge in Empfang.

”Kann ich Ihnen helfen?”, fragte er sie auf Deutsch.

”Wir kommen aus dem Hotel Hilton und wollen möglichst schnell nach Frankfurt zurück. Ist der Flughafen schon wieder offen?”

”Nein. Er wird vermutlich auch nicht vor nächster Woche in Betrieb genommen.”

”Und die Telefone? Kann man mit Zuhause telefonieren?”

”Die Leitungen sind leider unterbrochen. Soweit man weiß, liegt das Problem an der Schaltstelle im Hafenviertel. Der Rest des Landes hat Verbindung.”

”Können wir hier bleiben? Das Hilton ist nicht sicher. Vom Fenster aus sieht man Schießereien.”

”Das Hilton liegt am Knutsford Boulevard. Eigentlich ist das Viertel verhältnismäßig sicher. Die meisten hier…”, er machte eine ausholende Bewegung zu den Campierenden, ”…kommen aus den direkt betroffenen Stadtteilen. Ich würde Ihnen gerne einen Platz anbieten, aber unsere Mittel sind begrenzt. Wie gesagt, im Hilton sind Sie gut aufgehoben.”

”Aber Sie können uns doch nicht einfach wegschicken”, empörte sich Heinerleutner. ”Wir werden doch erschossen!”

”Was sollen wir denn machen? Wir haben nicht mal genug Wasser für die Leute hier, geschweige denn Decken oder Essen. Wir müssen Prioritäten setzen”, verteidigte sich der Botschaftsangehörige mit ruhiger Stimme. ”Ich versichere Ihnen, wir schicken niemanden zurück in gefährdete Gebiete. Wir stehen in engem Kontakt mit den Behörden hier. Aber es ist am besten, wenn jeder für sich selber sorgt, der es kann. Und im Hilton sind Sie gut versorgt. Wir haben hier seit gestern nur Konserven und Tütensuppe ausgeschenkt.”

”Können wir wenigstens unseren Familien eine Nachricht zukommen lassen?”, fragte Alexander.

”Wir haben über Langwelle Kontakt mit Berlin. Wenn Sie uns die Anschrift Ihrer Angehörigen mitteilen, lassen wir sie unterrichten, dass es Ihnen gut geht.”

Sie stimmten zu und schrieben die Namen und Adressen auf. Der Botschaftsangehörige überprüfte die Lesbarkeit der Angaben, dann lud er sie ein, im Verpflegungszelt etwas Tee zu trinken, bevor sie wieder aufbrächen. Sie stimmten zu und setzten sich im Schatten eines Sonnensegels auf eine importierte Bierbank.

”Da fühlt man sich gleich wie daheim”, kommentierte Heinerleutner.

”Bis darauf, dass die Leute hier nicht so viel jammern.”

”Und kein Fußball im Fernsehen läuft. Schau mal, das sieht aus wie eine neue Bekanntmachung.“

”Was? Wo?”

”Da, im Fernsehen.” Heinerleutner wies auf einen 15-Zoll Apparat, der auf einer Kommode im hinteren Teil des Zelts stand. Er wurde über eine Kabeltrommel mit Strom versorgt und verfügte nur über eine kleine ausziehbare Antenne, die ein streifiges Bild mit gelegentlichem Schneetreiben produzierte. Auf dem Bildschirm gab ein bärtiger Jamaikaner mit einer dicken Hornbrille eine Erklärung ab. Im Hintergrund standen einige Männer in Anzügen, die für Alexander wie die Leibwächter aus Hollywood-Filmen aussahen. Zu seinem Erstaunen erkannte er unter ihnen Roger Libling. Er hielt die lederne Handtasche in der Hand, die er einige Abende zuvor in der Bar des Hilton schon mit sich geführt hatte.

”Mensch, den kenne ich“, entfuhr es ihm. “Habe ich neulich getroffen. Der kommt ja wirklich rum. Wo ist denn das?”

”Shttt!”, mahnte Heinerleutner. ”Ich versuche es gerade heraus zu finden.”

”Gerade heute, in der aktuelle Lage, haben wir keine Zeit für irgendwelche prozeduralen Verzögerungen”, erklärte der Bärtige. ”Ich werde mich allen Untersuchungen stellen, sobald die Lage unter Kontrolle ist. Bis dahin braucht das Land eine starke Hand und einheitliche Führung. Mit Zustimmung und auf Drängen des Kabinetts und großer Teile des Parlaments habe ich deshalb heute um acht Uhr Morgens den Ausnahmezustand über das Land verhängt.”

”Das muss der neue Premier sein”, flüsterte Heinerleutner. Eine Handvoll Leute hatte sich um den Fernseher versammelt und lauschte der Erklärung. ”Weiß irgendwer, wer das ist?”, fragte er in die Runde. Ein Bediensteter der Botschaft, der hinter der Theke Tee ausschenkte, beugte sich zu ihm.

”Der Mann heißt Ewing Taylor, Stellvertreter von Premier Pontimore. Heute Nacht als Nachfolger eingesetzt worden.”

”Der wievielte Premier ist das denn?”, wunderte sich Alexander.

”Der dritte.”

”Mein Gott!”

”Von dem weiß ich nichts. Aber der Teufel macht gerade hier Urlaub.”

Es gelang ihnen, ein Taxi zu finden, dass sie zurück zum Hilton brachte. Nachdem sie sich auf ihrem Zimmer frisch gemacht hatten, gingen sie in die Bar. Heinerleutner bestellte zwei Red Stripe, dann drehte er sich auf dem Hocker um und ließ seinen Blick über den Raum streifen.

”Hast du Lust auf Billard?”, fragte er.

”Ich weiß nicht. Bin nicht so gut darin.”

”Ich geb' dir drei Kugeln vor.”

Ein Fernseher, der in einem Eck unter der Decke hing, zeigte einen Boxkampf in Las Vegas. Während die beiden Kontrahenten lautlos Schläge austeilten, stieß Heinerleutner an. Er verlor das erste Spiel mit einer Kugel Abstand und bezahlte die nächste Runde Eistee. Die Revanche ging an ihn, ebenso das dritte Spiel. Sie unterbrachen ihr kleines Turnier, um im Restaurant Kaffee zu trinken, dann gewann Alexander zwei Spiele in Folge, was er mit dem zweiten Bier des Tages feierte. Sie sahen sich die Sechsuhr Nachrichten an und spielten weiter. Währenddessen unterhielten sie sich über Sport, über die aktuellen Bauprojekte in Schwaferstetten und die Börse. Als es dunkel wurde, stießen mit irischem Whiskey an. Alexander genoss das brennende Gefühl in Kehle und setzte eben das Glas ab, als es einen gewaltigen Knall gab. Die beiden Deutschen zuckten zusammen und duckten sich nach einer Schrecksekunde unter den Tisch. Doch es flogen ihnen keine Splitter um die Ohren, und niemand hatte das Hilton unter Feuer genommen. Dennoch hörten sie durch die Doppelglasscheiben der Lobby und die gekippten Oberlichter der Bar Schussgeräusche auf der Westseite des Gebäudes.

”Jetzt geht’s wieder los”, kommentierte Heinerleutner.

”Wenn die sich mit den Schützenpanzern anlegen, dann ist schnell Ruhe.”

Doch der Kampf auf den Straßen dauerte an. Über eine Stunde lang versuchten sie, den ominösen Lärm zu ignorieren und ihr Spiel fortzusetzen. Vier Spiele in Folge gingen durch das falsche Einlochen der Acht verloren und wurden mit jeweils einer Runde Bier begossen. Mit der letzten Flasche in der Hand blieben sie auf den Barhockern wie verwurzelt sitzen und lauschten dem Geräusch des Mordens in der Stadt.

”Es wird echt Zeit, dass die hier aufräumen”, meinte Alexander bitter.

”Dritte Welt”, schnaubte Heinerleutner. ”Wir sollten hier keine Aufträge annehmen, sondern Entwicklungshilfe leisten.”

”Vielleicht fehlt Jamaika einfach der richtige Mann. Mit der richtigen Führung könnte das doch so gehen wie in Taiwan oder Korea.”

”Sind das nicht Diktaturen?”

”Heißt es nicht, die beste Regierungsform ist ein gütiger Diktator? So als Anschub für ein rückständiges Land. Ein Tritt in den Hintern quasi.” Er fühlte sich ruhig und selbstsicher. Zwar wusste er, dass seine Argumentation eine Folge des Bieres war, aber er genoss es. Nach den Tagen von Unsicherheit und Machtlosigkeit nun die Glorie des Machismo.

”Beim Thema Hintern... Ich komme gleich wieder”, meinte Heinerleutner und erhob sich. Alexander bemerkte, dass sein Kollege schwankte, als er durch die Lobby ging. Er näherte sich den Aufzügen, stützte sich mit einer Hand an der Wand neben deren Bedienungsfeld ab und drückte den Rufknopf.

”Machst du jetzt den ganzen Trip rauf ins Zimmer?”

”Ich kann doch wohl pissen wo ich will?”

Gerade als sich die silbernen Türen vor Heinerleutner öffneten, betrat ein Mann das Hotel. Er trug einen roten Anzug, der bereits etwas aus der Bügelform geraten war.

Der Neuankömmling ragte hoch auf, und an dieser Eigenschaft erkannte ihn Alexander zuerst: es war der exzentrische Roger Libling. Der Ingenieur spähte durch den dämmerhellen Raum, ob der Amerikaner in seiner Hand die Handtasche trug, die schon bei ihrem ersten Treffen seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Er erkannte das Accessoire, doch just in dem Augenblick, als Libling sich im Raum umgeschaut hatte und des Deutschen auf dem Hocker ansichtig geworden war, versagten die Lichter des Hotels. Es wurde dunkel in Lobby und Bar, nur noch der letzte Schein des Abends drang durch die Glasfront und warf sein rotes Leuchten auf die beiden Männer. Das Geräusch des Fernsehers in der Lobby verstummte, das Summen der Kühlschränke hinter der Theke klang ab, die Klimaanlage versagt ihren Dienst. Alexander stöhnte auf, Libling fluchte. Im Halbdunkel führte der Amerikaner die Hände in einer unentschlossenen Geste zusammen, pochte mit der freien Hand zwei-, dreimal auf das Leder seiner Handtasche, dann hielt er mit strammen Schritten auf Alexander zu.

Als er näher kam, erkannte der Deutsche, dass Libling einiges mitgemacht haben musste. Sein Fünf-Uhr-Schatten ging fast schon in einen Dreitagebart über, er hatte Ringe unter den Augen, und die Linien um Mund und Nase schienen tiefer als bei ihrem ersten Treffen. Seine Haare waren ungewaschen, es hing Asche darin.

Alexander stand auf und gab Libling die Hand. Der Amerikaner schüttelte sie mit einem gezwungenen Lächeln.

”Herr Eyser-Dreik. Gut Sie zu treffen. Wohlbehalten, wie ich sehe.”

”Zum Glück. Sie auch, Mr. Libling. Wollen wir einen Drink nehmen?”

”Noch einmal das gleiche für den Herren, für mich einen Bourbon. On the rocks”, bestellte der Amerikaner. ”Wer weiß, wie lange die Eiswürfel noch halten, wenn der Strom schon wieder ausgefallen ist.” Er zögerte, hob die Augenbrauen und blickte zum Barmann. ”Warum ist denn das Aggregat nicht angesprungen?”

”Weiß nicht. Ich bin sicher, dass der Techniker schon daran arbeitet.”

”Nicht die beste Organisation, wie?”, ulkte der Deutsche.

”Schlimmer als Sie denken”, antwortete Libling. In seiner Stimme glaubte Alexander Verbitterung zu hören.

”Wissen Sie eigentlich, dass Sie im Fernsehen waren? Bei der Ansprache des neuen Premiers. Des neuen, dem dritten, wie hieß er noch?”

Libling verzog das Gesicht. ”War ich? Verdammt.” Die Drinks kamen, und er nahm sein Glas geistesabwesend in die Hand.

”Taylor. War ein guter Mann.”

”War? Wie meinen Sie?”

”Herr Eyser-Dreik”, hob der Amerikaner an, setzte sich auf und drehte sich seinem Gesprächspartner zu. ”Halten Sie sich für einen guten Führer?”

”Ich mag das Wort nicht. Ich bin ein Manager. Das Projekt in Jamaika ist mein erster Misserfolg. Nicht wirklich meine Schuld.”

”Taylor Ewing ist tot, und das Land steht am Rande eines Abgrundes. Die Unruhen sind inzwischen politisch, und in ein paar Stunden droht uns ein zweites Haiti.”

Alexander nahm die Nachricht mit stummer Fassungslosigkeit auf. Er wusste nicht, wie er Liblings Aussagen einzuschätzen hatte. Bei jedem anderen hätte er vermutet, dass es sich nur um panisches Gerede handelte. Doch der Amerikaner war offensichtlich gut informiert. Nicht jeder dahergelaufene Geschäftsmann stand bei der Antrittsansprache des Staatsoberhaupts im Hintergrund.

”Aber wann...?”

”Vor einer halben Stunde. Noch weiß es keiner. Aber wenn die Stadt morgen keine Führung hat, dann hält sie nichts mehr zusammen. Die Soldaten kommen aus den Slumvierteln. Die Offiziere sind von den Drogenbanden geschmiert. Da braucht bloß ein Gangsterboss auf die Idee kommen, sich zum Präsidenten ausrufen zu lassen.”

”Die Soldaten... Soll das heißen wir sind hier nicht mehr sicher?”

”Hier nicht. Nirgendwo. Oder vielleicht passiert Ihnen auch gar nichts, außer dass Sie ausgeraubt werden.” Er nahm noch einen Schluck aus dem Glas, schwenkte es und lauschte dem Klimpern der Eiswürfel. ”Worauf ich hinaus will, ist folgendes: es ist Zeit etwas zu unternehmen. Wenn Sie sich weiter verstecken, sind Sie auf jeden Fall auf der Verliererseite. Sie haben kein Gewehr, die Aufständischen haben welche. Ihr einziger Schutz ist der Staat.”

”Was ist von dem denn noch übrig? Drei tote Premiers in Folge!” Alexander fühlte langsam Panik in sich aufsteigen, Furcht, und die Entschlossenheit des Angetrunkenen. Er stellte sich vor, dass er dem nächsten Soldaten die Waffe entriss und sich zur Wehr setzte. Seine Muskeln spannten sich an, und die Müdigkeit des Abends wich mit einem Schlag von ihm.

”Der Staat ist, woran die Bürger glauben”, antwortete Libling und legte dem Deutschen eine Hand auf den Arm. ”Wenn sie glauben, dass jemand sie regiert, dass jemand die Zügel in der Hand hält, dann ist alles gut. Wenn sie begreifen, dass da niemand ist, dann gehen sie durch. Wir brauchen einen Mann auf dem Kutschbock, Herr Eyser-Dreik. Wir brauchen einen Führer für das Land.”

Alexander hielt verdutzt inne und blickte sein Gegenüber an. ”Schön und gut. Aber...” Er stockte, während er versuchte zu verstehen, was der Amerikaner da sagte. ”Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen.”

”Aber Sie sehen ein, dass wir etwas tun müssen? Und zwar schnell?”

”Wir? Was können wir denn...?”

”Später. Haben Sie Ihre Papiere dabei? Sehr gut. Kommen Sie.”

”Jetzt mal langsam. Wohin wollen wir?”

”Ich habe wirklich nicht die Zeit Ihnen das jetzt zu erklären. Auf der Fahrt. Kommen Sie. Kommen Sie schon.” Er zog Alexander am Arm in die Höhe und bugsierte ihn in die Lobby.

”Nicht alleine. Ich möchte gerne meinen Freund mitnehmen. Fritz Heinerleutner.”

”Ist das der Herr, der gerade in den Lift gestiegen ist, als ich gekommen bin?”

”Ich denke schon”, antwortete Alexander. Sein Blick fiel auf die tote Anzeigetafel des Aufzugs. ”Oh verflixt.”

”Dem wird schon nichts passieren. Wir können nicht warten, bis er da raus kommt. Hier lang.”

Eyser-Dreik fand sich auf einmal vor dem Hotel wieder, sanft gezogen von Libling. Sie hielten auf einen dunklen Opel Senator zu, dessen Lichtanlage in diesem Moment zweimal aufblinkte. Der Amerikaner hatte den Schlüsselbund in der Hand und schob seinen zögerlichen Gefährten in Richtung der Beifahrertür.

”Ist offen”, meinte er. ”Was ist, wollen Sie warten, bis Sie umgebracht werden? Es ist an der Zeit zu handeln.”

Alexander Eyser-Dreik schloss seine Hand um den Türgriff, holte tief Luft und starrte über das Dach des Wagens auf die dunklen Häuser der Stadt. Von irgendwo konnte man Schüsse hören. Sein Herzschlag pochte in den Ohren wie eine Erwiderung. Er biss sich auf die Unterlippe, riss die Tür auf, stieg in den Wagen und gab Libling das Zeichen zur Abfahrt. Dann legte er den Sicherheitsgurt an.

Die Fahrt durch die verdunkelte Stadt war weniger aufregend, als Alexander es sich vorgestellt hätte. Libling fuhr schnell und kannte sich ebenso gut aus wie der Taxifahrer, der sie am Mittag zur Botschaft kutschiert hatte.

Trotz der Dunkelheit konnte der Deutsche Spuren der Krawalle sehen. Ausgebrannte Fahrzeuge blockierten Seitenstraßen. Große Pflastersteine lagen wild verstreut auf den Boulevards herum, Glasscherben glänzten im Scheinwerferlicht. Das Bild erinnerte ihn an die Schäden nach einem Unwetter in Schwaferstetten, Blätter und Äste überall. Als Jugendlicher hatte ihn die Gewitterstimmung stets inspiriert, er war barfuss durch das Wasser gelaufen und hatte sich zwischen Donner und Blitzen ausgetobt. Aus dem Alter für spontane Erektionen war er zwar heraus, doch das gleiche wilde Gefühl der aufgewühlten Elemente regte sich auch jetzt in ihm. Dies war nur die Ruhe vor dem Sturm.

An den Ecken und auf den Plätzen lungerten junge Männer in Tarnhosen herum. Sie beobachteten den Opel auf seiner Fahrt mit gelangweilten, lauernden Blicken. Aus manchen Bars tönte laute Raggae-Musik. Libling hielt auf die Hügel zu und folgte einer Straße, die sich durch ein Villenviertel langsam in die Höhe schlängelte. An den Kehren bot sich ein guter Blick über Kingston. Das Crowne Plaza war hell erleuchtet, ebenso die Villen am Ufer, der Flughafen im Osten ebenso wie die großen Häuser der Innenstadt. Im Ring der ärmeren Viertel brannten da und dort Feuer, die ihr infernalisches Licht unter Rauchschwaden verdeckten. Alexander erinnerte sich an einen Spruch, den er bei seinem Besuch in Montego Bay von einem Reiseleiter gehört hatte. ”Kingston ist ein Ghetto für Touristen inmitten von Slums.”

Schließlich wand sich die Straße wieder ins Tal, und der Wagen näherte sich einem prunkvollen Gebäudekomplex. Es waren das Jamaica House und das King’s House. Die weiße Mauer, die das Gelände umgab, wurde von Scheinwerfern erleuchtet, die in den Grünstreifen zwischen Wand und Gehsteig eingelassen waren. Das schmiedeeiserne Tor wurde von zwei schwer bewaffneten Uniformierten bewacht. Alexander erkannte, dass es sich um britische Soldaten handelte.

Libling wurde nach Vorlage seines Ausweises ohne weiteres durchgewunken. Auf dem Parkrondell vor dem viktorianischen Haupthaus standen bereits zwei schwarze Limousinen.

”Wir sind da”, meinte er knapp. Alexander stieg aus und folgte Libling, der die Treppen zum Eingang hinauf eilte. Ein livrierter Diener öffnete den rechten Flügel des Mahagonitors. Innen bot sich ein beeindruckender Anblick. Ein Empfangssaal erstreckte sich über fünfzehn mal acht Meter und zwei Stockwerke. Wie in einem Hollywood-Film führte ein Paar Treppenfluchten symmetrisch auf eine Galerie im hinteren Teil des Hauses. Blumen, Stuck und Spiegel schmückten die Wände, auf den Simsen der großen Kamine zu beiden Seiten standen Porzellanfiguren. Ein Kronleuchter mit fünfzig einzelnen Lichtern erhellte den Raum.

Sechs Personen standen hier, teils mit einem Glas in der Hand, und blickten den Neuankömmlingen erwartungsvoll bis gelangweilt entgegen. Drei von ihnen schienen Leibwächter zu sein, die mit breiten Schultern und lasziv verschränkten Händen aussahen wie die Türsteher einer Nobeldisko. Zwei der Anwesenden waren Damen. Eine trug ein beiges Kostüm unter einer Frisur, die nur mit dem Dampfbügeleisen und einer Unmenge an Haarspray in die rigide Form gezwängt hatte werden können, in der sie sich präsentierte. Alexander kam unwillkürlich das Wort ”Betonkopf” in den Sinn.

Die zweite Frau war etwas älter als die Kostümträgerin. Ihre Haare waren offensichtlich gefärbt, um weiße Ansätze zu verdecken, und sie trug eine bifokale Brille. Ihr Kleid war ebenfalls formell und business-like, wirkte aber wesentlich weiblicher und war mit seinem rosa Pastellton auch weniger streng. Die Fingernägel waren feuerrot lackiert, die Schuhe orange, was alles in allem eine etwas unglückliche Kombination ergab.

Zwischen den beiden Frauen und sichtlich im Mittelpunkt des Gesprächs stand ein kantiger Mann in olivgrünem Anzug mit brauner Krawatte. Er trug die Haare sehr kurz und war trotz der fortgeschrittenen Stunde sauber rasiert. Er lächelte nicht, als Libling näher kam und Alexander vorstellte.

”Herr Eyser-Dreik, Corina Mannel, Ministerin für Tourismus”, wies er auf die betonfrisierte. ”Frau Moore, Staatssekretärin. Mr. Jack Hunter, Verteidigungsminister.”

”Freut mich”, begrüßte Alexander die drei. Er bemerkte, dass ihn vor allem die Tourismusministerin mit eindringlichen Blicken musterte.

”Frau Moore, haben Sie die Papiere dabei?”, wandte sich Libling an die Staatssekretärin.

”Natürlich.” Sie ließ sich von einem der Leibwächter eine Mappe bringen, aus der sie einige offiziell wirkende Dokumente nahm.

”Herr Eyser-Dreik, würden Sie Frau Moore ihren Ausweis überlassen?”, bat Libling.

”Warum ist das nötig?”, fragte Alexander, während er in die Tasche griff und den Reisepass zu Tage förderte. Er reichte ihn Libling, der ihn ungeöffnet an Moore weitergab. Sie ging einige Schritt abseits und begann auf einem Tischchen Daten aus dem Pass in ihre Formulare zu übertragen.

Aus dem oberen Stockwerk ertönte das Schlagen einer Tür. Alexander blickte auf und sah einen ergrauten Schnauzbartträger, den er als Governor Stark erkannte. Der Weißhaarige hatte seit der Ansprache im Fernsehen noch weiter gelitten und stützte sich mit einer müden Bewegung auf die Balustrade der Galerie.

”Warten Sie hier”, wies Libling an. Er stieg die Treppen hinauf, begrüßte den Alten und zog ihn am Ellenbogen durch eine der Türen, die er hinter ihm schloss.

”Sie sind also Liblings Mann”, fragte ihn Hunter, sobald der Amerikaner verschwunden war.

”Ich nehme es mal an. Nur weiß ich nicht wofür”, gestand Alexander.

”In der Tat?” Der Verteidigungsminister zog mit einem Ausdruck von Amüsement an seiner Zigarette. ”Haben Sie Erfahrung in der Politik?”

”Nein.”

”Wie haben Sie ihn kennen gelernt?”, wollte Staatssekretärin Moore wissen.

”Ganz zufällig, in einer Bar.”

”Sie sind kein Amerikaner, ihrem Akzent nach”, schloss sie.

”Ich bin Deutscher. Ich installiere im Auftrag des D-Sycom-Konzerns eine Utility-Lösung in Montego Bay und Kingston.”

”Ein deutscher Ingenieur?” Hunter hob die Augenbrauen. ”Sieh an. Ich kann mir denken, was Roger sich dabei gedacht hat.” Alexander verkniff sich eine dumme Nachfrage und kaschierte seine Irritation über die arrogante Art des Ministers. Irma Moore kehrte zurück und hielt ihm einen Stift und die aufgeschlagene Mappe hin. Es lag eine Art Urkunde oben auf, gestempelt und auf den gleichen Tag datiert.

”Wenn Sie bitte hier unterschreiben wollen”, forderte sie ihn auf.

”Aber was ist das denn?”, fragte Alexander. Er las die Überschrift: Certificate of Citizenship.

”Ihre Einbürgerungsurkunde für den Staat Jamaika”, antwortete sie. Verteidigungsminister Hunter schüttelte missbilligend den Kopf und wandte sich ab.

”Ich verstehe noch immer nicht...”

”Ich werde es Ihnen erklären”, bot ihm Moore an. Sie blickte ihn über die Brille hinweg in die Augen und schloss die Mappe. ”Sie wissen, wie es steht. Wir sind ohne Führer, und das zu einem äußerst kritischen Moment. Wenn die Regierung nicht sichtbar in der Hand eines offiziellen Repräsentanten liegt, droht uns ein Bürgerkrieg. Leider sind die üblichen Wege, schnell einen Ersatz zu benennen, ausgeschöpft. Der Stellvertreter ist tot, der hastig gewählte Nachfolger ebenso. Es wird Wochen dauern, bis das Parlament einen neuen Premier präsentieren kann. Wochen, die wir nicht haben.”

”Das soll doch nicht heißen...”

”Wir wollen Sie zum Premier von Jamaika ernennen”, antwortete Moore und fuhr fort:

”Mit Minister Hunter und Ministerin Mannel sind die beiden führenden Vertreter der Regierungskoalition vertreten. Wenn einer von beiden das Amt übernehmen würde, entstände bei den Leuten - und in der Welt -der Eindruck, dass es sich hier um eine geplante gewalttätige Machtübernahme durch eine der beiden Parteien handelt. Das muss unter allen Umständen verhindert werden, denn dann wäre uns ein Aufstand der benachteiligten Partei und vor allem ihrer militanten Anhänger sicher. Wir brauchen einen neutralen Mann für den Posten. Eine Art Blauhelm-Premier. Jemanden, dem man keine politischen Ambitionen nachsagen kann. Jemanden wie Sie.”

Alexander musste sich setzen. Er schaffte es gerade noch bis zu einem zierlichen Teakstuhl, bevor ihm die Beine den Dienst versagten. ”Warum mich?”, brachte er hervor.

”Ich nehme an, Herr Libling war von Ihrer Aufrichtigkeit überzeugt. Und einem deutschen Ingenieur sagt sicher niemand politische Ambitionen nach. Sie sind ja praktisch berühmt dafür, sich um die Politik nicht zu kümmern”, bemerkte Hunter trocken.

”Aber was, wenn mich jemand erschießt? Wie lange soll ich überhaupt... na ja... im Amt sein?”

”Niemand wird Sie erschießen. Wir haben beim Schutz des letzten Premiers versagt, weil wir das Ausmaß des Problems falsch eingeschätzt haben. Jetzt wissen wir es besser. Sie werden zudem keinen Grund haben, den Regierungssitz zu verlassen. Damit sind Sie relativ sicher”, erklärte Hunter. ”In ein paar Tagen ist das alles vorbei, und sie werden durch den demokratisch gewählten Nachfolger abgelöst.”

Alexander wusste nicht, was er sagen sollte. Der Vorschlag war völlig absurd. In jeder anderen Situation hätte er den Sprecher für verrückt erklärt. Doch hier saß er, im Vorzimmer des Governor-Generals, und unterhielt sich mit dem Verteidigungsminister von Jamaika. Das allein war so außergewöhnlich, dass er bereit war, auch scheinbar unmögliche Dinge zu glauben. Eine Mondrakete in einem Vulkankrater der Insel? Warum nicht!

”Das muss ich mir erst überlegen”, stammelte er. ”Was wird meine Frau dazu sagen?”

”Sie wird froh sein, Sie wohlbehalten zurück zu bekommen.”

Irma Moore legte ihm einen Arm um die Schultern. Sie musste dafür auf die Zehenspitzen gehen. Als sie abließ und wieder auf festen Füßen stand, hielt sie ihm die geöffnete Mappe noch einmal hin.

”Sehen Sie es als einen Urlaub der besonderen Art”, empfahl sie.

Alexander nahm mit tauben Fingern den Stift. Seine Augen hingen an der gestrichelten Linie, auf die er seinen Namenszug setzen sollte.

”Wer kann schon von sich behaupten, eine Woche lang Staatsoberhaupt einer Karibikinsel gewesen zu sein”, munterte Hunter ihn auf.

”Da haben Sie auch wieder recht”, meinte Alexander und unterschrieb. Irma Moore gab ihm die Hand und gratulierte. Er wollte etwas erwidern, als sich im Stockwerk über ihnen die Tür öffnete. Der Governor trat heraus, hochrot im Gesicht. Er bewahrte sichtlich nur mühsam seine Fassung.

”Das ist eine Farce”, polterte er. ”Das Commonwealth ist kein Bund von Bananenrepubliken.”

”Governor-General, ich stimme Ihnen ja zu”, beschwichtigte Libling, der hinter ihm die Galerie betrat. ”Keiner von uns ist damit glücklich. Aber es ist der einzige Weg, schlimmeres zu verhindern.”

”Schlimmeres! Was denken Sie, was mir passiert, wenn ich hier mitspiele?”

”Nichts anderes als was passiert, wenn man von Bischoff Oconor erfährt. Vielleicht sogar noch weniger.”

Diese Aussage hatte einen unerwarteten Effekt auf den Governor. Alexander konnte sehen, wie er eine gebrüllte Antwort herunter schluckte. War er eben noch in einem Wutausbruch entflammt gewesen, so riss er sich auf einmal am Riemen. Er bebte, als er sich zu Libling umdrehte.

”Das wagen Sie nicht.”

”Zum Wohle Jamaikas bin ich zu fast allem bereit.”

”Pah!” Stark setzte sich in Richtung der Treppen in Bewegung. ”Wer soll denn nun der Glückliche sein? Keine Angst, den Hintern weggesprengt zu bekommen? Das müssen Sie sein”, wies er auf Eyser-Dreik. ”Nun, solche Menschen muss es ja wohl in allen Farben und Formen geben.”

”Darf ich Ihnen Alexander Eyser-Dreik vorstellen, Governor”, fiel Moore ein. ”Herr Eyser-Dreik, Sir Rodney Stark, Governor-General von Jamaika.

”Freut mich sehr.” Sie gaben sich die Hand.

”Ein Deutscher, wie? Sauerkraut und Bier”, unkte Stark. ”Das passt ja wunderbar. Bringen wir es also hinter uns.”

”Herr Eyser-Dreik ist jamaikanischer Staatsbürger, Governor”, ermahnte Moore.

”Dafür haben Sie also schon gesorgt. Out of Many One People, wie?”, zitierte der Alte das Motto des jamaikanischen Staates. Er imitierte dazu einen deutschen Akzent und erhob die Rechte mit einer zackigen Bewegung. ”Also, mein Herr. Legen Sie die Hand auf... Haben wir eine Bibel?”

”Ich habe mir erlaubt, sie aus Ihrem Zimmer an mich zu nehmen”, meldete sich Libling und reichte ihm einen gebundenen Band, in dessen polierten Lederumschlag goldene Lettern punziert waren.

”Dann sprechen Sie mir nach”, forderte der Governor Alexander auf. Satz um Satz gab er den Text vor, den Alexander mit stockender Stimme wiederholte.