Dodans Reise - Stephan Birkholz-Hölter - E-Book

Dodans Reise E-Book

Stephan Birkholz-Hölter

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Beschreibung

Aus dem Dunkel trat ein großer Mann hervor. Er sah aus wie ein Zwerg, war aber etwa doppelt so groß. Man konnte sein alter kaum bestimmen, aber sein Gesicht strahlte eine Weisheit aus, die für mindestens tausend Jahre stand. Dodan war klar, dass er es mit einem höheren Wesen zu tun hatte, und er ging fast von allein auf die Knie. "Steh auf, Dodan," sagte der Mann, ohne die Lippen zu bewegen. Und Dodan gehorchte. "Du denkst, du kennst mich nicht," fuhr der Fremde fort, und das stimmt auch. Keiner von deinen Leuten kennt mich. Aber die anderen bilden sich ein, sie würden mich kennen. Und das unterscheidet dich von ihnen, nicht wahr?" Dodan hatte schon lange Zweifel an der Vorstellung seines Volkes,dass die Götter die Welt den Zwergen übergeben hätten, damit diese sie perfektionieren. Aber nach dieser Vision konnte er nicht mehr anders, als zu seinen Zweifeln auch öffentlich zu stehen. Und damit schloss er sich aus der vertrauten Gemeinschaft aus und es begann seine Reise: eine Suche nach Wahrheit. Aber würde er denen, die ihn verstoßen hatten, je vergeben können? Und würden die Elfen, denen er begegnet, ihm helfen können?

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Über den Autor

Stephan Birkholz-Hölter ist evangelischer Pastor und bekennender Fan ausgewählter Fantasy-Literatur. Mit seinem Debüt-Roman „Dodans Reise“ verbindet er berufliche und private Leidenschaft und möchte in Gestalt einer fantastischen Geschichte christlich-biblischen Glauben bezeugen. Er stammt gebürtig aus Schleswig-Holstein, wohnte als Jugendlicher im Großraum Hannover, studierte Theologie in Krelingen, Hamburg und Berlin, und lebt heute mit seiner Familie in Ostfriesland.

* * * * *

Dankesworte

Ich danke allen, die mich bei der Herstellung und Veröffentlichung dieses Romans unterstützt haben: Hans-Jürgen Sträter für die Unterstützung beim Layout und die Beratung beim Verlegen; Rudi Opper und Boris de Wolf für Gestaltung und Aufbereitung des Cover-Bildes; meiner lieben Frau für´s Korrekturlesen; dem unbekannten Erzähler der Josefsnovelle (1. Buch Mose, Kap. 37 ff) für die Vorlage zum Plot; und dem dreieinigen Gott für die Inspiration.

Inhaltsverzeichnis

Ein Fest für Dodan

Die Vision

Gefährliche Gedanken

Tribunal

Drachenfeuer I

Heilkunst und Alchemie

Aufbruch der Händler

Die Herde

Überfall

Die Lichtung

Unwetter

Die Wende

Lagerfeuergespräche

Die erste Begegnung

Ein Fest für die Gäste

Der Magistrat

Gastfreundschaft

Wie alles begann

Das Angebot

Aufruhr in Gatern

Das Verließ

Die Verhandlung

Drachenfeuer II

Die Berge von Einen

Spuk und andere Ängste

Wunderland

Stadt, Land, Fluss

Der erste Tanz

Harter Winter

Entscheidungen mit Tragweite

Als plötzlich alles ganz schnell ging

Fester Boden

Auf Kurs

Istina

Überraschungen

Stolz

Verhandlungen

Grund und Boden

Opfer

Krieg und Frieden

Das Tal

Die Rückkehr

Lehrstunden und Abschied

Wiedersehen

1. Ein Fest für Dodan

Als die Trommel aufhörte zu schlagen, spürte Dodan plötzlich seinen Herzschlag überdeutlich. Er hatte sich dem Rhythmus angepasst, so dass dieser jetzt immer noch in ihm nachklang. Der junge Zwerg hatte dem Ritual schon oft beigewohnt und fand nichts übermäßig Besonderes mehr daran, aber jetzt, wo er selbst dran war, war er doch sehr viel aufgeregter als er es erwartet hatte. Obikai, der Erzpriester von Wodia, nickte ihm sacht zu und Dodan trat einige Schritte vor. Das Horn wurde geblasen. Dodan wusste, wer es bläst – ein Freund von ihm, drehte sich aber nicht zu ihm um, sondern ließ seinen Blick nach vorne gerichtet sein, wie es die Zeremonie verlangt.

Aus dem Augenwinkel konnte er links noch seine Eltern sehen, rechts die Musiker. Vor ihm stand jetzt nur noch Obikai mit seinem langen, rot gefärbten Umhang aus Ziegenhaut. Alle anderen, es mochten um die hundert sein, standen oder saßen hinter ihm. Der Platz vor der Haupthöhle von Wodia war damit gut gefüllt. Der Priester stand genau vor dem Eingang zur Höhle. Nun hob er dort die Hände zum Himmel empor und begann zu beten: „Götter der Welt, Götter unserer Ahnen, die ihr uns diese Welt und das Leben in ihr gegeben habt. Ihr wollt, dass wir diese Welt nach eurem Vorbild weiterführen und gestalten. Ihr stattet einen jeden von uns mit Gaben dafür aus. Aber noch brauchen wir eure Hilfe und eure Weisungen. So erbitten wir diese auch für Dodan, den Sohn des Avid, der nun seine Reife erreicht hat. Legt euren Segen auf ihn!“

Dodan musste schlucken. Ihm behagte das alles nicht, aber es gehört nun einmal dazu. Es war sein dreißigster Herbst, die Zeit, in der ein Zwerg die Reife erlangt; andere würden sagen: in der er erwachsen wird. Und zu diesem Anlass werden die Götter angerufen und wird ein Fest gefeiert. Auf die Pflege dieses Brauchtums legten die Leute viel Wert, wie überhaupt auf Brauchtum. Es wirkte identitätsstiftend für die Baronie. Und wenn man der Sohn des Barons war, dachte Dodan, war es offenbar noch wichtiger. Immerhin stand es hier auch außer Frage, dass der Erzpriester selbst die Zeremonie leitete. Also bemühte sich Dodan, so gut wie nur möglich mit zu machen.

Obikai ließ sich nun von einem Zuschauer eine brennende Fackel bringen und fragte Dodan: „Welches Geschenk bringst du den Göttern zu diesem Anlass?“ Dodan kniete mit einem Bein nieder, wie es vorher abgesprochen war, ließ das andere stehen und hielt das geschlachtete Lamm hoch, das er die ganze Zeit dabei gehabt hatte. Obikai kam auf ihn zu und streckte die Fackel aus. Das Horn wurde erneut geblasen. Der Priester gestikulierte mit der freien Hand und schwang dabei mit der anderen die Fackel über Dodan und dem Lamm. Dann legte er dem jungen Mann die Hand auf den Kopf und sprach ihm den Segen Kasimirs, des höchsten Gottes, zu. Dodan konnte nicht anders, als sich geehrt zu fühlen. Er bekam eine Gänsehaut.

Der Priester gab die Fackel wieder ab, nahm das Stück Fleisch aus Dodans Händen und präsentierte es den Leuten. Ein fröhliches „Hej“ und „Ho“ ging durch die Reihen, während der Gesegnete wieder aufstand. Einige leckten sich schon den Mund, als der Spieß, auf dem das Lamm steckte, auf die vorbereitete Feuerstelle gelegt wurde und Dodan die Fackel gereicht bekam, um das Feuer darunter zu entzünden. Er wusste, dass man anschließend von ihm ein paar Worte erwartete.

„Ich danke euch allen, dass ihr hier seid,“ sagte er und merkte sofort, dass seine Stimme belegt war. Er musste sich räuspern und nochmal schlucken, bevor er fortfahren konnte. Viele grinsten verständnisvoll. Die, die nur wenige Jahre älter waren, nickten einander zu und ihre Gesichtsausrücke sagten: „Ja, so ging es uns damals auch, nicht wahr?“

Er sah seine engere Familie und auch die weitläufigere Verwandtschaft, sowie die meisten Mitglieder des Magistrats und diejenigen, die noch im näheren Umfeld der Haupthöhle wohnten. Auch eine ganze Reihe von Kindern und Jugendlichen war anwesend, denen in einigen Jahren dasselbe Ritual bevorstehen würde. Dodan erinnerte sich noch, wie auch er es in früheren Jahren immer besonders neugierig verfolgt hatte. Damals wusste er noch nicht, was er als Geschenk für die Götter bringen würde. Jetzt hatte er sich aus einem ganz banalen Grund für das Lamm entschieden: Er mochte Lammfleisch am liebsten.

„Es ist wirklich ein besonderer Tag für mich,“ fuhr er nun fort, „und ich freue mich darauf, ihn mit euch zu feiern. Ich danke meiner Familie für alles, was sie mir auf meinem bisherigen Lebensweg gegeben hat. Ich hoffe, ich kann an dem Platz der mir zugewiesen ist, ein gutes und förderliches Mitglied unserer Baronie werden. Für heute jedenfalls ist für alles gesorgt. Bitte lasst es euch schmecken!“ Er machte eine Handbewegung, die andeuten sollte, dass er fertig war, auch wenn er wusste, dass er im Grunde nicht viel gesagt hatte. Die meisten schien das aber nicht zu stören. Sie klatschten und brachen dann in Gemurmel aus.

Einige Zeit später saßen die Festbesucher überall vor und in der Haupthöhle verteilt und aßen gemeinsam. Jeder bekam ein großes Stück Lamm. Das eine, das Dodan in der Zeremonie dabei gehabt hatte, war nur symbolisch. Es waren anschließend schnell noch weitere übers Feuer gelegt worden, allerdings alles von seiner Familie, ebenso wie die Beilagen und Getränke. Es wurde ein ganz nettes Festgelage und Dodan vergaß bald sein Unbehagen gegenüber dem rituellen Teil dieser Feier, bis er davon wieder eingeholt wurde.

„Du hast den obligatorischen Dank an die Götter vergessen,“ sagte sein Vater Avid, als die beiden kurz unter sich waren und mit einem Becher Korn anstießen. „Ich habe alles gesagt, was mir in dem Moment auf dem Herzen lag,“ versuchte Dodan möglichst diplomatisch zu antworten. Denn er hatte es keineswegs vergessen. Es war ihm nur nicht wichtig. Aber er wusste auch, was nun kommen würde. „Ich bin der Baron von Wodia,“ sagte Avid, „von mir und meiner Familie erwartet man eine gewisse Vorbildlichkeit. Ich hoffe, du vergisst das nicht.“ „Nein, Vater!“ sagte Dodan und seufzte dabei nur innerlich.

Er wusste, dass er mit einer Tradition gebrochen hatte, dass dies sicher auch anderen aufgefallen war und dass sein Vater dazu vermutlich selbst von anderen befragt werden würde. Das tat ihm auch Leid. Er wollte seiner Familie keine Schwierigkeiten machen, der er wirklich dankbar war. Aber er konnte eben auch nicht über seinen Schatten springen. Die Götter seines Volkes waren ihm suspekt. Und wenn er mit ihnen doch noch in einigen Punkten einer Meinung war, dann gehörte dazu, dass Aufrichtigkeit ein hoher Wert ist. Darum widerstrebte es ihm, etwas vorzuheucheln, was er nicht wirklich empfand: Dank gegenüber den Göttern.

Seiner Familie hingegen war er wirklich dankbar. Er war der Jüngste von drei Söhnen des amtierenden Barons Avid und dessen Frau Bete. Sowohl seine Eltern als auch seine älteren Brüder hatten sich um Dodan immer gut gekümmert und ihr Bestes gegeben, damit er es gut hat. Auch für das heutige Fest hatten sie alles mit ihm gemeinsam gut vorbereitet und sich nicht lumpen lassen, wenn es um die Bewirtung der Freunde und Verwandten ging, auch wenn sein Bruder Orio ab und zu angemerkt hatte, dass man es nicht übertreiben sollte. Er war der Knauserer der Familie. Dafür war seine Mutter Bete um so großzügiger, wann immer Orio nicht hinsah.

Auch sie kam nun auf Dodan zu, nahm ihren Sohn in die Arme und wünschte ihm alles Gute, natürlich vor allem den Segen der Götter. Und da war es wieder: Dodans Problem. Er liebte seine Eltern, aber deren bedingungslose Akzeptanz dessen, was die Priester über die Götter lehrten, war ihm geradezu unheimlich. Bei Avid war dies wohl der Tatsache geschuldet, dass dies von einem Baron erwartet wurde und er möglichst noch lange Baron bleiben wollte, aber Bete war da fast völlig unreflektiert und nahm das, was die Priester lehrten, einfach bedingungslos als die Wahrheit hin.

„Ich danke dir, Mutter,“ sagte Dodan trotzdem, „ich hoffe, du kommst selber auch zum Feiern.“ „Das nicht,“ antwortete sie, „ich muss mich ja hier um alles kümmern, aber das mache ich gern.“ Der letzte Halbsatz war einer, den Dodan schon unendlich oft von ihr gehört hatte. Wann immer sich irgendwo irgendwer um andere kümmern musste, übernahm dies seine Mutter. Sobald sie den Kopf dafür frei hatte, sorgte sie aber auch dafür, dass alle mitbekamen, wie sie sich kümmert, nur um dann zu sagen „aber das mache ich gern.“ Das war eine Eigenschaft an ihr, die alle ihre drei Söhne ebenso sehr liebten, wie sie von ihr genervt waren. Aber die meiste Zeit über nahmen sie es mit Humor, so auch jetzt. Dodan lächelte seine Mutter verständnisvoll an und ging dann weiter.

Die Zwerge saßen überall auf dem Platz verteilt auf Steinen, Holzwurzeln oder dem Fußboden, an Tischen oder frei, und aßen. Geschirr gab es heute mal nicht. Das fertige Fleisch wurde auf großen Holzplatten serviert, von denen sich jeder bedienen konnte. Das gleiche galt für Brot, Kräuter und verschiedene Sorten Gemüse, die als Beilagen auf weiteren Platten lagen. Jetzt im Frühherbst war alles frisch und wurde deshalb auch gerne roh gegessen. Einiges aber war auch vorher gekocht worden, natürlich überwiegend von Dodans Mutter Bete.

Dodan selbst hielt seinen Becher mit Apfelsaft in der Hand und ging von Ecke zu Ecke. Überall reichte man ihm auch einen Happen zu essen. So brauchte er sich selbst nichts von den Platten zu holen, und kam außerdem mit vielen seiner Gäste mal kurz ins Gespräch. In diesem Punkt war er gerne bereit, dem nachzukommen, was man von ihm erwartete. Schließlich waren alle seinetwegen hier. Das Feste der Reife feierte jeder Zwerg im Herbst des Jahres, in dem er 30 Jahre auf der Welt war, jeweils kurz nach der Erntezeit, wenn alles eingebracht und verteilt war. Es war immer ein Ereignis für die ganze Großfamilie und z.T. noch darüber hinaus. Beim Sohn des Barons war das Interesse besonders groß.

Auch Dodans Urgroßvater Dedek, der Stammvater seiner Familie, war hier. Er war 212 Jahre alt und galt nach den Bräuchen seines Volkes seit dem Tod seines Vaters vor zwei Jahren als uneingeschränktes Oberhaupt der Familie. In der Baronie Wodia gab es zur Zeit acht Großfamilien. Die des Dedek war eine davon und gliederte sich in sechs Teilfamilien, von denen wiederum die meisten aus mehreren Kleinfamilien bestanden. Da Dedeks dritter Sohn bereits vor ihm gestorben war, war an dieser Stelle eine Generation übersprungen worden und die drei Enkel dieser Linie hatten bereits alles unter sich geregelt, was sonst ihrem Vater oblegen hätte.

Avid als der Mittlere dieser Drei war Händler geworden, während sein älterer Bruder als Bauer und sein jüngerer als Jäger und Sammler die Versorgung der Familie garantiert hatten. Und da Avid auch als Vertreter der Händler-Zunft im Magistrat saß, konnte er sich dort vor etwa fünf Jahren zum Baron wählen lassen. Somit war die Hälfte der üblicherweise zahnjährigen Amtszeit gerade rum.

Nach dem Essen wurde wieder Musik gemacht. Flöten, Rasseln, Schellen und Klanghölzer wurden gespielt und es klang sehr harmonisch in den Ohren der Anwesenden. Dodan überblickte von einer Ecke aus den ganzen Platz, auf dem gefeiert wurde. Einige aßen noch ein paar Reste, andere unterhielt sich, viele lauschten andächtig der Musik und fast alle tranken Bier oder Fruchtsaft.

Upart, Dodans ältester Bruder, kam auf ihn zu. Er war mit 71 Jahren mehr als doppelt so alt wie Dodan und eine wichtige Bezugsperson. Avid hatte früh begonnen, seinen mittleren Sohn Orio auch zum Händler auszubilden, so dass die beiden anderen für die Ernährung sorgen mussten. Upart hatte nach seiner Reife die Herden und Ländereien seines verstorbenen Großvaters übernommen, die Avid zugestanden hätten, wäre dieser nicht Händler geworden. Und Dodan lebte bei ihm, um ihm zu helfen.

Beide waren also Bauern. Und mit ihnen lebten und arbeiteten auch Uparts Frau und seine drei Söhne, von denen der Älteste, Dragi, mit Dodan ungefähr im gleichen Alter war. Er würde im folgenden Jahr das Fest der Reife feiern. Aber wie alle männlichen Familienmitglieder, sah er schon etwas älter aus als er war.

Auch Dragi kam jetzt mit seinem Vater Upart zusammen zu Dodan. „Ab jetzt muss du selbstständig sein,“ sagte Upart scherzhaft, „bist ja jetzt reif dafür.“ Dodan grinste. „Kein Problem,“ antwortete er, „wenn du mir zeigst, wie das geht.“ Er meinte es eigentlich ironisch, denn er war schon seit langem deutlich selbstständiger als Upart, der immer mal wieder seinen Vater konsultierte, wenn ihm das selbstständige Denken zu viel wurde. Aber Upart verstand die Ironie nicht, wie man an seinem Gesichtsausdruck erkennen konnte. Der dahinter stehende Dragi schon. Er feixte. Die beiden verstanden sich sehr gut, manchmal auch ohne Worte.

Doch als sein Vater weg war, kam auch Dragi auf die Frage, warum Dodan den obligatorischen Dank an die Götter weggelassen hatte. Dodan hatte mittlerweile genug getrunken, um seine Zunge zu lösen, und wenn es jemanden gab, dem er endlich mal offen sagen konnte, was ihn beschäftigte, dann war es sowieso Dragi. Also seufzte er und nahm diesen ein Stück beiseite. Beide setzten sich ein Stück abseits auf den Boden an einem Abhang und Dragi merkte, dass sein Onkel, der eher wie ein Bruder für ihn war, ihm jetzt etwas Wichtiges anvertrauen wollte.

Dodan holte tief Luft und begann: „Hast du wirklich den Eindruck, dass die Welt immer besser wird und das obendrein auch noch unser Verdienst ist?“ Dragi sagte nichts. „Das behaupten doch die Priester, nicht wahr?“ fragte Dodan weiter. Sein Neffe nickte. „Ich glaube das nicht,“ fuhr Dodan fort, „klar ändert sich manches zum Guten, aber anderes doch auch zum Schlechten. Und oft sind wir Sterblichen gerade für Letzteres verantwortlich. Wie können die Götter das gutheißen?“ „Was meinst du denn?“ fragte Dragi nach, „Vieles, was wir Zwerge machen, ist doch gut. Findest du die Kunstwerke unseres Volkes nicht bewundernswert?“ „Oh doch,“ antwortete Dodan, „aber ich finde nicht, dass durch sie die Welt verbessert wird. Ich meine, andere Geschöpfe haben doch nichts davon.“

„Trotzdem sehe ich darin nichts Schlechtes,“ entgegnete Dragi. „Ist es ja auch nicht,“ sagte Dodan, „ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.“ Er überlegte kurz und setzte dann nochmal an: „Unsere Priester lehren doch, dass die Welt vor langer Zeit von Übergöttern geschaffen wurde.“ Dragi nickte. „Die lehrten dann die heutigen Götter, die Geschicke der Welt zu lenken und übergaben sie schließlich in deren Hände.“ Dragi nickte wieder. So lehrten es die Priester. „Und diese heutigen Götter sind ihrem Wesen nach soviel primitiver als die Übergötter, wie wir primitiver sind als die Götter,“ fasste Dodan weiterhin die Lehren der Priester zusammen, „und die werden die Welt eines Tages unseresgleichen übergeben und wir sie wiederum in ferner Zukunft noch primitiveren Wesen und immer so weiter, nicht wahr.“

Das in etwa war das Weltbild, an welches die Leute in Wodia glaubten. Es nennt sich Dokonalostik, benannt nach dem Dokonalost, dem Ziel-Zustand, auf den die Welt zuläuft, auch wenn es bis dahin noch viele Generationen dauern sollte. „Und doch soll das Dokonalost eine Art perfekter Zustand der Welt sein,“ sagte Dodan, „und jeder Schritt bis dahin soll immer eine Verbesserung zum vorherigen Zustand sein, stimmt´s?“ Dragi nickte fast die ganze Zeit. „Wie kommt es, dass die Welt in immer primitivere Hände übergeben wird und dabei immer perfekter werden soll?“ fragte Dodan seinen Neffen und Freund schließlich.

Dragi überlegte. „Das muss kein Widerspruch sein,“ erklärte er dann, „vielleicht kann sie gerade deshalb von immer schlichteren Wesen geführt werden, weil sie immer perfekter wird. Sie wird eines Tages keine intelligente Leitung mehr brauchen, sondern von selbst funktionieren.“ „Und wozu dann die Kunst und die Kultur?“ fragte Dodan nach, „wenn Zwerge eines Tages die Welt leiten, um sie dann an Tiere oder so zu übergeben, inwiefern sind dann Musik, Dichtung, Bilder oder Handwerk nützlich? Kleidung, Werkzeuge, Waffen, Schnitzereien, Bildhauerei oder gar Kupfer- und Bronzeguss. Tiere können damit nichts anfangen. Wenn die Übergabe der Welt an sie das Ziel unseres Strebens ist, wozu dann all diese Erfindungen?“ Dragi zuckte mit den Schultern. „Vielleicht sind die nur für unsere Epoche,“ murmelte er. „Aber sie werden immer als Beispiele für unsere Art, die Welt zu verbessern, aufgezählt,“ sagte Dodan, „für mich ist das eben doch ein Widerspruch.“

Beide schwiegen eine Weile. „Misstraust du den Göttern?“ fragte Dragi schließlich. „Ich misstraue den Lehren der Priester,“ antwortete Dodan, „die Götter sind vermutlich ganz anders, als wir sie uns vorstellen. So, wie die Priester sie uns schildern, kann ich sie nicht akzeptieren. Wenn die Welt durch das Tun ihrer Beherrscher immer besser werden soll, dann können und dürfen diese Beherrscher nicht immer primitiver werden. Wenn die Götter uns wirklich eines Tages die Welt überlassen, dann lassen sie sie und uns im Stich. Solche Götter aber will ich nicht. Und was die Übergötter angeht: Wenn sie noch perfekter waren als die Götter, wieso haben sie die Welt dann so schlecht geschaffen, dass daran noch über Epochen hinweg soviel verbessert werden muss?“

„Ich habe nicht gewusst, dass du dir solche Gedanken machst,“ sagte Dragi, nachdem wieder beide eine ganze Weile geschwiegen hatten, „aber ich fürchte, die Priester werden …“ „Ich fürchte, die Priester sind auch nur Zwerge wie wir,“ unterbrach ihn Dodan, wissend, dass es gefährlich war, so etwas zu sagen, „sie geben nur wieder, was ihre Lehrer ihnen erzählt haben. Und so können Wahrheit und Irrtum gleichermaßen viele Generationen überdauern. Sie erzählen immer und immer wieder dasselbe, bis alle denken, das allein sei die Wahrheit. Begründungen, Argumente haben sie schon gar nicht mehr nötig. Dabei gibt es große Widersprüche, wenn man genau hinsieht.“ „Die Priester wissen, was wahr ist und was nicht,“ sagte Dragi, nun mit viel Ehrfurcht in der Stimme, „sie stehen doch den Göttern viel näher als wir.“ „Tun sie das?“ fragte Dodan, „oder ist das auch nur ein Teil der Überlieferung, der dadurch zur vermeintlichen Wahrheit wurde, so dass ihn keiner mehr hinterfragt?“ Und er sah an Dragis Blick, dass dieser nun auch ins Grübeln gekommen war.

Mehr wollte Dodan allerdings nicht sagen. Er wusste, dass er sich schon sehr weit vorgewagt hatte. Es war das erste Mal, dass er jemandem so viele von seinen Zweifeln anvertraut hatte. Es gab aber noch mehr. Er hatte den Verdacht, dass das gesamte Lehrgebäude der Dokonalostik im Grunde ausgedacht war. Warum und wozu, das war ihm nicht klar. Und er wusste auch, dass er eine Diskussion darüber nicht gewinnen konnte. Zum einen fühlte er sich den Gelehrten argumentativ nicht gewachsen und zum anderen würde eine so weitgehende Infragestellung dessen, was offenbar alle glaubten, auch schwere Konsequenzen haben. Wahrscheinlich würde man ihn aus Wodia verbannen oder so. Und seinen Vater, den Baron, würde er auch in Verruf bringen. Vermutlich wäre dieser dann die längste Zeit Baron gewesen, was nach nur fünf Jahren nicht gerade lang war.

Aber Dodan brauchte auch nicht mehr zu Dragi sagen, denn die beiden wurden von Upart unterbrochen, der sie nun aufforderte, sich wieder unter die anderen zu mischen, wie es sich gehört.

2. Die Vision

Am späten Abend waren Upart, seine Familie und Dodan wieder in ihrer eigenen Höhle und machten sich bereit, schlafen zu gehen. Es war im Ganzen ein sehr schönes Fest gewesen, aber Dodan und Dragi waren mehr noch durch ihr Gespräch aufgewühlt. Es fiel beiden schwer, zur Ruhe zu kommen. Das fiel selbst Upart auf, der dafür sonst wenig Gespür hatte, weil er selbst sowieso nur sehr selten richtig entspannen konnte. Bei ihm hatte es aber andere Gründe. Er lebte in der ständigen Angst, bei allem, was er tat, nicht genug getan zu haben. Und so war er es auch, den sie als Letzten dazu bewegen konnten, den Festplatz zu verlassen. Es hätte ja sein können, dass seine Mutter ihn dort noch für irgendwas braucht.

Als irgendwann doch alle auf ihren Lagern lagen, lag Dodan noch lange wach. Er musste über Vieles nachdenken. Hatte er Dragi zu viel erzählt? Eigentlich war er sicher, ihm vertrauen zu können, aber wenn es nun doch zuviel verlangt war, dass er das alles für sich behält? Außerdem hatte er seinen Lieblingsneffen, der eher wie ein fast gleichaltriger Bruder für ihn war, mit dem Anvertrauten ja auch belastet. War das ihm gegenüber fair? Und was war es eigentlich, was Dodan zu diesen Zweifeln an der Dokonalostik trieb? Manchmal wünschte er sich, er könnte sie einfach so akzeptieren, wie seine Mutter es tat. Aber das ging irgendwie nicht. Und er verstand immer noch nicht richtig, warum eigentlich.

Doch diese Nacht sollte seinen Umgang mit diesen Fragen nochmals deutlich verändern. Als er nämlich endlich doch eingeschlafen war, hatte er einen Traum, den er nie wieder vergessen sollte:

Aus dem Dunkel, in dem er stand, trat ein großer Mann hervor. Er sah aus wie ein Zwerg, war aber etwa doppelt so groß, also über zweieinhalb Meter. Man konnte sein Alter kaum bestimmen, aber sein Gesicht strahlte eine Weisheit aus, die für mindestens tausend Jahre stand, und so alt wurde kein Zwerg. Sein Körperbau war kräftig und seine Haltung ehrfurchtgebietend. Er hatte lange, dicke, graue Haare und einen ebensolchen Bart. Bekleidet war er mit einem Lederwams, wie Dodan ihn noch nie gesehen hatte, sowie einem langen, wallenden Umhang. Insgesamt strahlte er eine geradezu mystische Aura aus.

Dodan war klar, dass er es mit einem höheren Wesen zu tun hatte, und er ging fast von alleine, ohne nachzudenken, auf die Knie. War das einer der Götter, denen er heute nicht gedankt hatte? Hatten die Priester doch recht? Und kam jetzt gleich die Bestrafung? Aber er wusste, dass er träumte. Und das war das merkwürdigste überhaupt. Er hatte noch nie etwas geträumt und dabei gewusst, dass es ein Traum war. Das wurde ihm für gewöhnlich immer erst nach dem Aufwachen klar.

„Steh auf, Dodan,“ sagte der Mann, ohne die Lippen zu bewegen. Es war eine sonore, freundliche Stimme. Und Dodan gehorchte. „Du denkst, du kennst mich nicht,“ fuhr der Fremde fort, „und das stimmt auch. Keiner von deinen Leuten kennt mich. Aber die anderen bilden sich ein, sie würden mich kennen. Das unterscheidet dich von ihnen, nicht wahr?“ Bei diesen Worten konnte Dodan für einen kurzen Moment hinter dem Fremden seinen Neffen schlafen sehen. Dann war dieser wieder weg. Nun war klar, worum es ging. Das höhere Wesen hatte Dodans Gespräch mit Dragi offenbar mitbekommen, auch wenn nicht klar war, wie das möglich sein konnte.

„Du weißt, was ich denke?“ fragte Dodan vorsichtig. „Teilweise,“ antwortete der Fremde. Wie war das möglich? „Weißt du, wer ich bin?“ fragte nun die große Gestalt. Und in dem Moment erschienen in seinen Händen ein Hammer und eine Schaufel, beides aus Kupfer und reich verziert, sowie auf seinem Kopf ein Kranz mit Steinen, Edelsteinen und anderen Bodenschätzen. Auch diese Dinge waren nach wenigen Augenblicken wieder verschwunden. Aber es reichte, um die Insignien des Gottes Kasimir zu erkennen. Dodan fiel wieder auf die Knie. Er war bereit, alle Zweifel über den Haufen zu werfen und nun doch gelten zu lassen, was die Priester lehrten. Es war doch alles so, wie sie gesagt hatten. Oder?

„Steh auf!“ befahl das Wesen nochmals, jetzt deutlicher, aber immer noch freundlich, und weiterhin ohne die Lippen zu bewegen. „Ich kann nicht,“ sagte Dodan wahrheitsgemäß, denn er versuchte es vergeblich, „du bist ein Gott.“ „Nein,“ antwortete der Mann und öffnete dabei erstmals die Lippen, was aber nur zur Folge hatte, dass Dodan seinen Blick zu Boden warf (obgleich es in dem dunklen Nichts, in dem er sich hier befand, eigentlich keinen richtigen Boden gab). Er konnte den vermeintlichen Gott nicht ansehen.

„Es gibt keinen Gott außer Jargo,“ fuhr das Wesen fort, „und ich bin Kasimir, sein Diener.“ Dodan blickte vorsichtig auf. „Ein Diener?“ fragte er verständnislos. Er konnte sich nicht vorstellen, dass eine so machtvoll wirkende Gestalt wie sein Gegenüber irgendjemandes Diener sein sollte. „Ja,“ antwortete Kasimir, „ein Diener Jargos. Alle, die ihr für Götter haltet, sind Diener Jargos.“ Dodan konnte sich nicht erinnern, mal von einem Jargo gehört zu haben, und war nun neugierig geworden. War das einer der Über-Götter? Er traute sich aber nicht, zu fragen, so dass Kasimir fortfuhr: „Auch ihr Sterblichen solltet Diener Jargos sein. Denn die Welt, in der ihr leben dürft, gehört ihm und wird immer ihm gehören.“

Dodan war sehr verwirrt. „Du bist Kasimir,“ stotterte er in Ermangelung einer anderen Aussage, „unsere Priester sagen, du seist ein Gott.“ Kasimir deutete nach links und als Dodan seinen Blick dorthin richtete, sah er sich selbst am vergangenen Nachmittag mit Dragi im Gespräch und hörte sich sagen: „Die Priester sind auch nur Zwerge wie wir, sie geben nur wieder, was ihre Lehrer ihnen erzählt haben. Und so können Wahrheit und Irrtum gleichermaßen viele Generationen überdauern. Sie erzählen immer und immer wieder dasselbe, bis alle denken, das allein sei die Wahrheit. Begründungen, Argumente haben sie schon gar nicht mehr nötig. Dabei gibt es große Widersprüche, wenn man genau hinsieht.“ „Kennst du alle meine Worte und Gedanken?“ fragte Dodan ängstlich. „Jargo kennt alle,“ antwortete Kasimir freundlich und geduldig, „und ich weiß alles, was Jargo mich wissen lässt. Aber auch du sollst noch vieles erfahren.“ Er deutete nach rechts und Dodan blickte dort hin.

Wieder erschien ein nebulöses Bild. Er sah einige Zwerge im Kreis sitzen, die offenbar beteten. Aber in ihrer Mitte war nichts: kein Symbol irgendeines Gottes. Zu wem beteten sie? Und sie sahen sich immer wieder um, ob auch keiner sie beobachtete. Offenbar trafen sie sich zu diesem Gebet im Geheimen. Mehrmals blickte einer von ihnen in Dodans Richtung und er hätte sich fast reflexartig geduckt, um seinerseits nicht entdeckt zu werden, aber dann machte er sich wieder klar, dass es ja nur ein Bild war, das Kasimir ihm zeigte. „Kasimir“ – dachte Dodan immer wieder – „der höchste Gott, wie man sagt. Ich stehe hier und unterhalte mich mit Kasimir. Aber er behauptet, kein Gott zu sein.“

Dann erblickte er unter den Betenden einen Priester, erkennbar an der Kleidung. „Suche diesen Mann,“ sagte Kasimir, „er wird viele deiner Fragen beantworten.“ „Wer ist das?“ fragte Dodan. „Ein Priester Jargos,“ war die Antwort. Und Dodan prägte sich das Gesicht des Mannes ein. „Du wurdest heute in meinem Namen gesegnet,“ sagte Kasimir, „Vergiss das, denn ich kann dir nicht helfen. Du weißt noch nicht, was dir bevorsteht.

Der Weg, der dir bestimmt ist, wird nicht leicht sein. Aber wenn du ihn gehst, stehst du unter Jargos Segen.“

Es fiel Dodan inzwischen etwas leichter, Kasimir direkt anzublicken, und so wurde er gewahr, dass dieser nun wieder dazu überging, mit geschlossenem Mund zu sprechen. Seine Stimme klang die ganze Zeit gütig, aber zugleich erhaben. Und die ganze Erscheinung war noch immer die eines viel, viel höheren Wesens. Es fiel schwer, sich vorzustellen, dass es nur ein Diner sein sollte. Aber Dodan glaubte ihm jetzt. „Es gibt keinen Gott außer Jargo,“ betonte Kasimir noch einmal, bevor er sich umdrehte und ging, so das Dodan allein im Dunkeln kniete. Während er aufstand, merkte er, dass alles um ihn herum verschwamm und dieser Traum endete.

Als Dodan am nächsten Tag erwachte, war er schweißgebadet. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, wer er war und wo er war. Für kurze Zeit fragte er sich, ob alles nur Einbildung war und er vielleicht am Vorabend etwas zu heftig gefeiert hatte. Aber er konnte sich an jede Einzelheit aus dem Traum erinnern, sogar daran, dass er im Traum wusste, dass es ein Traum war. Das konnte kein Zufall sein. Er hatte tatsächlich eine Vision gehabt. Er war dem wirklichen und echten Kasimir begegnet. Es gab ihn wirklich, aber er war kein Gott und war ganz anders als die Priester ihn beschrieben. Dodans Zweifel waren berechtigt gewesen, aber die Wahrheit hatte auch er noch lange nicht erkannt.

Dodan wurde sich an diesem Morgen über einiges klar, aber es warf leider nur neue Fragen auf. Am meisten fragte er sich, was er nun tun sollte. Mit seinem neuen Wissen (oder was immer es war) konnte er sich wohl kaum irgendjemandem anvertrauen. Oder doch? Musste er es nicht sogar? Kasimir hatte von einem schweren Weg gesprochen, der Dodan bevorstand. Was hatte es damit auf sich? Sollte er dafür jetzt irgendwas tun oder es einfach auf sich zukommen lassen? Für kurze Zeit fragte er sich sogar, ob jeder junge Mann in der Nacht nach seinem Reife-Fest solche und ähnliche Visionen hatte. Aber den Gedanken verwarf er wieder.

Während er von seiner Schlafstätte aufstand und sich den anderen zuwandte – er schlief mit den drei Kindern Uparts im selben Raum – erinnerte er sich noch einmal an das Gesicht des Priesters Jargos, den er suchen sollte. Von ihm würde er hoffentlich ein paar Antworten bekommen. Aber jetzt forderte seine Familie seine Aufmerksamkeit. Die anderen waren schon wach und zogen sich gerade etwas über. Dodan sinnierte noch kurz vor sich hin. Dann tat er es ihnen gleich und folgte ihnen in den Nebenraum.

Upart lebte in einer Behausung, die halb Höhle, halb Holzhütte war. Der Mittelpunkt war ein großer Höhlenraum, der von Natur aus nach außen offen gewesen wäre. Aber ihm hatten die Bewohner schon vor langer Zeit einen Holzbau vorgelagert, in dem einige Tiere und Utensilien untergebracht waren. Von dem so vergrößerten Raum aus gab es zwei Durchgänge zu je einer Nebenhöhle. In der linken schliefen Upart und seine Frau, in der rechten die Kinder und Dodan. In dem großen Raum in der Mitte befanden sich die Feuerstelle und genügend Sitzplätze für alle und bei Bedarf noch für Gäste. Es waren einfache Verhältnisse, aber kaum jemand in dieser Zeit und dieser Gegend hatte bessere.

Als alle im großen Raum versammelt waren, machte Uparts Frau Arka das Frühstück. Es gab ein paar Reste, die man vom Fest am Vorabend mitgenommen hatte. Dabei unterhielt man sich über vieles, was gestern los war. Nur Dodan, der ja eigentlich die Hauptperson war, sagte dazu nichts. Dragi, der älteste Sohn Uparts, sah ihn immer wieder fragend an. Es war klar, dass der sich auch noch sehr genau an das denkwürdige Gespräch am Rande des Festes erinnerte. Und irgendwann fühlte Dodan sich durch Dragis Blicke so herausgefordert, dass er nicht anders konnte, als von seiner Vision zu erzählen.

„Wisst ihr,“ begann er vorsichtig, „wieviele Leute mich gestern gefragt haben, warum ich in meiner Rede den Göttern nicht gedankt habe?“ „Nein, wissen wir nicht,“ antwortete eines der Kinder, „wieviele waren es?“ Aber Dodan hatte die Frage nicht wörtlich gemeint. Er wusste natürlich auch nicht, wieviele es waren, sondern wollte auf etwas ganz anderes hinaus. Dragis Blick verriet, dass der das sofort verstand, wirkte aber zugleich verwundert darüber, dass er es jetzt so vergleichsweise offen ansprach.

Zum Glück sprangen Upart und Arka in der richtigen Weise auf das Thema an und fragten fast aus einem Munde: „Warum hast du es nicht getan, Dodan?“ Er holte tief Luft und antwortete dann: „Gestern wusste ich es selbst nicht, aber jetzt: … Es gibt keine Götter, … außer Jargo.“ Die beiden letzten Worte fügte er erst nach einer Pause an, in der es absolut still in der Höhle geworden war und sich alle Blicke auf ihn richteten. „Außer wer?“ fragte Dragi. „Was sagst du da?“ fragte Arka. Und „Wie kommst du denn darauf?“ fügte Upart kurz darauf hinzu. Alle blickten komplett verständnislos.

Dodan fühlte sich überhaupt nicht wohl in seiner Haut, aber jetzt hatte er angefangen und musste fortfahren. Er seufzte, holte noch zweimal tief Luft und fragte dann: „Ist einem von euch schon einmal einer der Götter begegnet?“ Er sah dabei seinen großen Bruder an. Der schüttelte den Kopf, andere antworteten mit leisem „Nein“. „Mir schon,“ erklärte Dodan, „heute Nacht. Aber es war kein Gott.“ „Hä?“ fragte Upart und auch die Übrigen hatten fragende Gesichtsausdrücke, „dir ist ein Gott begegnet, aber es war kein Gott? Wieviel hast du gestern getrunken?“ „Kasimir ist mir im Traum begegnet,“ antwortete Dodan, „aber er sagte mir, er sei nicht der Gott, für den wir ihn halten. Es gibt keinen Gott außer einem gewissen Jargo.“ „Jargo,“ wiederholte Upart. Dann entstand eine lange Pause.

„Es war nur ein Traum,“ sagte Arka schließlich, „das hast du doch gerade selbst gesagt.“ „Ja,“ entgegnete Dodan, „aber es war kein gewöhnlicher Traum. Ich habe im Traum gewusst, dass ich träume. Ich kann mich an jede Einzelheit erinnern. Und ich konnte Kasimir Fragen stellen. Ich bin sicher, es war eine Vision.“ „Du glaubst wohl, du bist jetzt was Besonderes, nur weil gestern dein großer Tag war,“ kommentierte Dragi, was Dodan von ihm nicht erwartet hätte. „Nein,“ antwortete er schnell und wahrheitsgemäß, „ich wünschte, es wäre nicht passiert. Aber ich habe Kasimir gesehen. Und er sagte mir, er wäre nur der Diener eines Gottes.“ „Jargo?“ fragte Upart. Und Dodan bestätigte.

„In Ordnung,“ sagte Upart, „das reicht. Wir wollen nichts mehr davon hören.“ „Ich schon,“ fiel ihm Dragi ins Wort. „Nein,“ unterstrich sein Vater, „keiner von uns. Was immer du gesehen hast, Dodan, behalte es für dich! Geh damit zu Obikai, wenn es dir keine Ruhe lässt. Er wird dir helfen, es zu verstehen. Aber lass uns damit in Ruhe! Wir wollen nichts mehr davon hören.“ „Kasimir hat gesagt, die Priester haben selbst keine Ahnung,“ wandte Dodan ein. „Nein,“ widersprach ihm Dragi, „das hast du selbst gesagt, schon vor deinem Traum. Meinst du, es wird aufgewertet, wenn du es jetzt einem Gott in den Mund legst?“ Upart sah Dragi an und fragte sich, woher der das wusste, während Arka nochmals bekräftigte: „Schluss jetzt damit! Wo kommen wir denn hin, wenn wir jetzt morgens aufstehen und erstmal alles in Frage stellen, was immer so war.“

„Immer“ seufzte Dodan und verstummte dann. Ihm wurde schon teilweise klar, was Kasimir mit dem schweren Weg gemeint hatte, der nun beginnen würde. Und er merkte, dass er hier nicht weiterkam. Also aß er stumm sein Frühstück, während Arka ihren Kindern noch einmal einschärfte, dass sie das alles möglichst schnell wieder vergessen sollten. Upart hingegen bleib ebenfalls stumm und sah Dodan nur in einer Weise an, die verriet, dass von ihm noch etwas kommen sollte.

Zunächst aber ging jeder an sein Tagewerk. Dodan hatte heute zunächst die Tiere zu versorgen. Zu Uparts Hof gehörten einige Kaninchen, die in einem hölzern umzäunten Bereich des Stallschuppens vor der Höhle untergebracht waren. Sie mussten gefüttert und ausgemistet werden. Dann gab es eine ganze Reihe Tauben, die kommen und gehen konnten, wie sie wollten. Aber die Zwerge fütterten sie bewusst in einigen engen Luken im Inneren eines separaten Teils des Schuppens, wo man sie zum Schlachten leicht einfangen konnte, wenn es soweit war. Die Tiere waren an diesen Futterplatz so gewöhnt, dass sie immer wieder kamen. Auch sie fütterte Dodan nun, aber fangen musste er heute keine.

Dann waren die Hühner an der Reihe, die vor dem Stall herumliefen. Nach dem Füttern sammelte Dodan ihre Eier ein und brachte sie zu Arka. Und danach führte er die Ziegen raus auf die Wiese, wo sie sich selbst satt fressen würden. Die ganze Zeit aber merkte er, dass er von seiner Familie merkwürdig behandelt wurde. Nicht, dass ihn das wunderte, aber stören tat es ihn dennoch. Keiner wollte mehr als nötig mit ihm sprechen. Im Grunde wollten sie ihm noch nicht einmal ins Gesicht sehen. So hatte er sich seinen ersten Tag als Erwachsener nicht vorgestellt. Und er fragte sich immer wieder, wie es nun für ihn weitergehen sollte.

Am Abend schließlich, als doch wieder alle gemeinsam beim Essen saßen, war die Stimmung ebenso merkwürdig und angespannt. Und es wurde noch schlimmer, als Upart zu Dodan sagte: „Du sollst morgen nach dem Frühstück zu unserem Vater kommen. Er will mit dir reden.“ Dodan sah Upart gereizt an. „Was hast du ihm erzählt?“ fragte er, denn ihm war sofort klar, dass sein Bruder heute beim Baron gewesen sein musste, weil er ihm von dem Gespräch beim Frühstück erzählen wollte. Das war auch typisch für Upart. Er fühlte sich mit Ungewohntem meist schnell überfordert und versuchte dann, sich Rat bei seinem Vater zu holen. Für seine 71 Jahre war er noch ziemlich unselbstständig, wie seine beiden jüngeren Brüder übereinstimmend fanden.

Dennoch war Upart schlau genug, Dodans Frage nicht zu beantworten. „Morgen nach dem Frühstück gehst du zu ihm,“ wiederholte er nur, „und hier wird nicht mehr darüber gesprochen.“ Damit war Dodan für´s Erste auch einverstanden.

3. Gefährliche Gedanken

Als der nächste Tag begann, der zweite, an dem Dodan mit seinen dreißig Jahren nach den Bräuchen seines Volkes als erwachsen galt, war er von gemischten Gefühlen durchdrungen. Zum einen war er froh, noch eine Nacht über alles geschlafen zu haben, was ihn bewegte. Nicht weil er jetzt genau wusste, was er tun sollte, aber er hatte zumindest den Kopf etwas freier und klarer, um eben darüber nachzudenken. Zum anderen aber fürchtete er sich vor dem Gespräch mit seinem Vater. Denn von diesem war wohl kaum Verständnis zu erwarten. Er würde nichts akzeptieren, was einen seiner Söhne und damit letztlich ihn selbst in Verruf bringen könnte, dachte Dodan. Denn sein Vater hing an seinem Amt als Baron, das ihm viel Ruhm, Einfluss und darüber letztlich auch Profit einbrachte.

Nach dem Frühstück, bei dem tatsächlich nicht über das Thema gesprochen worden war und es auch insgesamt ziemlich still blieb, machte sich der junge Zwerg also auf den Weg. Die Höhle seines Bruders lag ein Stück abseits vom Zentrum der Baronie, welches aus der Haupthöhle, dem Platz davor, dem Heiligtum und einigen weiteren Höhlen, sowie von den Zwergen selbst gebauten Häusern und Hütten unmittelbar drumherum bestand. Dort lebten außer dem Baron und dem Erzpriester vor allem die Krieger, Künstler, Gelehrten und Druiden, also alle, die selbst nichts zum Überleben produzierten und auf Versorgung durch die Jäger, Bauern und Handwerker angewiesen waren, dafür aber die kulturelle Identität des Volkes und der Baronie sicherten. Das Bindeglied, durch welches jeder mit allem versorgt wurde, was er brauchte oder wollte, waren die Händler, die dadurch großen Einfluss gewannen.

Um dieses Zentrum herum erstreckte sich eine Gebirgslandschaft mit vielen Felsformationen, aber auch Wäldern, Wiesen und Auen, wo inzwischen nahezu alle natürlich vorkommenden Höhlen von Zwergen bewohnt waren und zu diesem Zweck ausgebaut worden waren. Der Bergbau und die Baukunst gehörten zu den wichtigsten Handwerken der Zwerge. Dazu liebten sie vor allem die schönen Künste wie Malen, Bildhauen, Schnitzerei und verschiedenen Schmuck. Der Übergang zum Handwerk war fließend, besonders bei den Handwerkern, die mit Materialien wie Holz, Stein, Edelstein, Metall oder Edelmetall zu tun hatten. Und auch der Bronzeguss wurde neben seinem praktischen Nutzen für das Kriegswesen und anderes immer noch vor allem als eine Kunst betrachtet. Das Perfektionsstreben der Zwerge dieses Volkes, das ihnen sowohl im Blut lag als auch anerzogen wurde, hatte eine hohe Kultur hervorgebracht.

Über all dies dachte Dodan auf seinem Weg nach. Ja, seinesgleichen hatte es schon weit gebracht. Zwar hatte er nicht viele Vergleichsmöglichkeiten, aber zumindest eine ganz kleine schon: Sein Vater hatte ihn schon auf Handlungsreisen mitgenommen, und zwar unter anderem zu den Zentauren. Das war eine völlig andere, aber eben auch intelligente und kulturschaffende Spezies, die weiter nördlich und eben viel primitiver lebte. Sie waren Nomaden und lebten in Gruppen, in denen es kaum Spezialisten für irgendetwas gab, sondern im Grunde noch fast jeder fast alles machte. Auch hatte sie keine höheren Künste oder Technologien entwickelt: Für Avid eine gute Möglichkeiten, mit ihnen Geschäfte zu machen, denn er konnte ihnen viel anbieten, was ihnen sonst nicht zur Verfügung gestanden hätte.

Das Überlegenheitsgefühl der Zwerge gegenüber anderen Spezies wurde durch solche Eindrücke genährt. Würde Dodan das alles nun in Frage stellen müssen, weil es auf einer Lüge oder einem Irrtum der Priester basierte? Oder war das meiste davon auch ohne Dokonalostik möglich? Wie weit ging sein Auftrag? Hatte er überhaupt einen? Im Grunde hatte Kasimir ihm nur etwas mehr von der Wahrheit verraten als ihm bis dahin klar war. Und viel mehr als den meisten anderen klar war. Aber was er mit diesem Wissen anfangen sollte, war ihm nicht klar. Er würde unbedingt diesen Jargo-Priester suchen müssen.

Schließlich erreichte er den Hauptplatz und stand vor der Höhle des Barons. Sie war deutlich größer als die meisten anderen in Wodia. Im größten Raum fanden die Sitzungen des Magistrats statt. Jede Zunft ernannte einen Vertreter für den Magistrat, der die Geschicke der Baronie lenkte und alle großen Entscheidungen traf, wie z.B. wer welchen Beruf erlernen darf und in welche Zunft aufgenommen wird, ob Zuwanderer aufgenommen werden oder nicht, welche allgemeinen Regeln für alle in Wodia gelten sollten und so weiter. Natürlich wählte der Magistrat auch den Baron, der seine Sitzungen leitete und dazwischen die kleinen Entscheidungen traf, die keinen Aufschub duldeten. Seine Amtszeit betrug zehn Jahre, aber er konnte wiedergewählt werden. Und genau das hatte Avid, der noch ein recht junger Baron war, auch vor.

Dodan ging in die Höhle und durch diesen Sitzungsraum, der „Große Halle“ genannt wurde. Von ihm gingen zu zwei Seiten kurze, schmale Gänge ab, die in tiefergelegene, kleinere Höhlen führten. In einer davon erwartete Avid seinen Sohn und war gerade dabei, etwas aufzuräumen, als dieser kam. „Mein Junge,“ begrüßte er ihn, „da bist du ja. Nimm Platz!“ Er deutete auf den Tisch in der Mitte des mit Fackellicht erleuchteten Raumes, um den herum einige Hocker aus Baumstümpfen standen. Avid war erst hier eingezogen, als er vor fünf Jahren Baron geworden war. Zur selben Zeit, als seine Eltern ihre alte Wohnung aufgaben, war Dodan deshalb zu Upart gezogen. Trotzdem fühlte er sich hier auch fast wie zu Hause, denn natürlich war er oft bei seinen Eltern.

Vater und Sohn setzten sich an den Tisch, nachdem Avid noch etwas Wasser in Bechern zum Trinken bereitgestallt hatte. „Wie ich höre, plagt dich eine Vision, durch die du vieles in Frage stellst,“ begann Avid dann sehr direkt. Er formulierte es so, dass es klang, als ob seine Sorge um Dodan dabei im Vordergrund stand. Aber dieser wusste genau: Wenn es nur das wäre, hätte sein Vater es nicht so eilig mit dem Gespräch gehabt und vermutlich erstmal seine Mutter vorgeschickt. „Dein Bruder hat mir erzählt, was du gestern beim Frühstück gesagt hast,“ ergänzte der Baron noch. Dodan nickte. „Ja, ich hatte eine Vision und ich habe den anderen davon erzählt. Ich konnte nicht anders. Und ja, es plagt mich in gewisser Weise wirklich. Aber es ist eigentlich nichts Schlimmes.“

„Nichts Schlimmes,“ fragte Avid mit verärgertem Unterton nach, „du stellst die Existenz der Götter in Frage und sagst, es sei nichts Schlimmes?“ „Ich weiß nicht, was Upart dir erzählt hat, Vater,“ begann Dodan zu erklären, „aber wenn einer weiß, dass es zum Beispiel Kasimir wirklich gibt, dann bin ich das. Denn ich bin ihm begegnet.“ „Ach tatsächlich,“ meinte Avid und verschränkte die Arme, „du bist also einem Gott begegnet, noch dazu unserem höchsten. Mein Sohn, der Auserwählte. Und warum stellst gerade du dann die Götter in Frage?“ „Weil Kasimir selbst es mir gesagt hat,“ antwortete Dodan, „und bevor ich fortfahre, will ich etwas von dir wissen. Wirst du dir meine ganze Geschichte anhören, mich ausreden lassen und dann entscheiden, was du glaubst? Oder steht für dich schon fest, was du mit diesem Gespräch erreichen willst? Dann sag es!“ Beide gerieten langsam ein wenig in Rage.

Avid trank einen Schluck Wasser. „Ich will,“ sagte er dann in ruhigem Ton, „dass du alles, was du in deinem Traum gesehen und gehört hast, für dich behältst. Es war nur ein Traum. Du bist keinem Gott begegnet und er hat dir keine höhere Wahrheit anvertraut. Wenn du glaubst, du seist etwas Besonderes, dann musst du uns davon auf andere Weise überzeugen. Ich bin hier der Baron und kann dir viele Möglichkeiten eröffnen. Wenn du einen besonderen Beruf erlernen und es zu was Großem bringen willst, ist es noch nicht zu spät dafür. Ich könnte das für dich regeln.“ Dodan schüttelte den Kopf, aber sein Vater fuhr fort: „Vielleicht kannst du sogar eines Tages mein Nachfolger werden. Nur weil Orio mich als Händler beerbt, muss er mich nicht auch als Baron beerben. Und was Upart angeht: Ja, er hat das Land bekommen, weil er der Älteste ist. Aber das muss für dich nicht bedeuten, dass du dich klein fühlen musst. Du kannst gerne auch was Besonderes machen. Aber lass es sein, dafür unsere Kultur in Frage zu stellen!“

Dodan schwieg lange. Dann nahm er allen Mut zusammen und fragte seinen Vater etwas, was er schon lange vermutete: „Ist der Glaube an das, was die Priester lehren, für dich also nur ein Teil unserer Kultur oder glaubst du, dass es wirklich wahr ist? Bist du eigentlich selbst überzeugt davon, dass unsere Priester wissen, wie die Götter so sind und was sie von uns wollen, oder weißt du nur, dass es schlecht für deinen Machterhalt wäre, wenn du das auch mal in Frage stellen würdest?“ Nun war es Avid, der den Kopf schüttelte und in dem außerdem sichtbar die Wut aufstieg, aber Dodan fuhr fort: „Ich denke, du willst von mir nur, dass ich alles für mich behalte, weil es dir Schwierigkeiten im Magistrat machen könnte, wenn dein Sohn herumläuft und die Lehre der Priester anzweifelt. Aber ich kann dich beruhigen: Ich habe nicht vor, damit herumzulaufen. Für´s Erste wäre es mir völlig genug, wenn meine eigene Familie mir glauben würde.“

Das schien Avid tatsächlich ein Stück weit zu beruhigen, denn er hatte sich bereits vorgebeugt und wollte mit der Faust auf den Tisch hauen, ließ es nun aber sein, setzte sich wieder etwas zurück und atmete noch einmal tief durch. Dann sah er seinen Sohn durchdringend an und überlegte dabei offenbar lange, was er als nächstes sagen sollte. „Was ich dir jetzt sage, will ich nur einmal sagen, und dann nicht mehr darüber sprechen. Also hör gut zu,“ begann er dann und erzählte Dodan etwas, was dieser bis dahin tatsächlich noch nie gehört hatte.

Dodan erfuhr von seinem Vater, dass nicht alle Zwerge in diesem Land Anhänger der Dokonalostik waren, auch nicht alle Priester. Es gab daneben auch eine kleine Minderheit von sogenannten Jargoisten. Was genau die glauben, wusste Avid auch nicht, aber auf jeden Fall beteten sie einen Gott namens Jargo an. Und als Upart ihm gestern erzählt hatte, dass Dodan diesen Namen erwähnt hatte, war ihm heiß und kalt geworden. Die Sekte der Jargoisten war in allen ihm bekannten Baronien verboten und existierte nur im Geheimen. Wenn es in Wodia Zwerge gab, die dazu gehörten, dann durfte er als Baron überhaupt nichts davon wissen. Er wäre sonst gezwungen, gegen sie vorzugehen. Und das konnte und wollte er nun einmal nicht in der eigenen Familie. Das müsse Dodan doch wohl verstehen.

Auch Upart wusste von den Jargoisten, wie Avid weiter berichtete. Die meisten Erwachsenen wussten von ihnen. Aber man sprach nicht ständig darüber, insbesondere nicht vor Kindern. Es war wie mit Räubern, Geistern, Urdrachen oder der Pest. Man wusste, dass es sie gab, dass das schlimm war und Kindern Alpträume bereiten würde, dass man aber ansonsten im Grunde nichts dagegen tun konnte und deshalb auch nicht all zu viel darüber reden musste. Eines war jedenfalls klar: Alle Avid bekannten Priester lehrten, dass es keinen Gott namens Jargo gibt und die Jargoisten auch sonst in jeder Hinsicht nur Irrlehren verbreiten. Und somit war es nach seiner Ansicht tatsächlich ein Baustein der Kultur dieser Gesellschaft, der nicht einfach verändert werden durfte.

Dodan konnte nicht leugnen, dass er Verständnis für diese Ansichten seines Vaters hatte. Aber dem entgegen stand nun einmal nicht mehr und nicht weniger als die Frage nach der Wahrheit. Er war sich einfach absolut sicher, dem echten Kasimir begegnet zu sein. Und dieser hatte ihm nun einmal doch gesagt, dass es Jargo gibt und dass er sogar der einzige Gott ist. Verwundert allerdings war Dodan jetzt darüber, dass sein Vater und die meisten anderen von Jargo wussten und es von ihm und allen anderen Jugendlichen bisher nur ferngehalten hatten. Sollte er jetzt derjenige sein, der die nächste Generation doch damit konfrontiert und damit womöglich Alpträume auslöst, wie befürchtet? Seinen Neffen hatte er es schon erzählt und nun wurde ihm auch klar, warum das Upart und Arka solche Angst machte. Das tat ihm leid.

Was ihn aber nach den Ausführungen seines Vaters am meisten beschäftigte, war die Tatsache, dass es sogenannte Jargoisten gab, die auch eigene Priester hatten. Die wollte er nun trotz allem irgendwie finden. Denn einer von ihnen musste der Mann sein, den Kasimir ihm gezeigt hatte und den er suchen sollte. Von ihm erhoffte er sich Antworten. Fieberhaft überlegte er, wie er seinem Vater gegenüber so reagieren könnte, dass er darüber noch mehr erfuhr, ohne ihn wieder in Rage zu bringen.

„Das alles habe ich tatsächlich nicht gewusst,“ sagte er erstmal, „Ich habe den Namen Jargo in meinem Traum zum ersten Mal gehört.“ „Du denkst jetzt also auch, dass es nur ein Traum war?“ fragte Avid gleich nach. Das brachte Dodan wieder aus dem Konzept. Er dachte kurz nach und setzte noch einmal neu an: „Wenn man in einem Traum etwas erfährt, was man bis dahin nicht wusste, was aber Wirklichkeit ist, woher kommt dann diese Information?“ „Was du geträumt hast, ist nicht Wirklichkeit,“ beharrte Avid. „Ich träumte den Namen Jargo,“ entgegnete Dodan, „ich träumte von Zwergen, die ihn anbeten und von Priestern unter ihnen. Sie trafen sich im Geheimen. Und du hast mir eben erzählt, dass es das alles gibt, auch wenn ich es bisher noch nie gehört habe. Wie kamen diese Informationen in meinen Traum?“

„Du glaubst immer noch, etwas Besonderes zu sein, indem du eine Vision hattest,“ seufzte Avid. „Und du weichst meiner Frage aus,“ sagte Dodan, „Woher kamen die Informationen?“ „Was weiß ich,“ sagte Avid, „ich weiß nur, dass du dich in Gefahr begibst, wenn du was mit den Jargoisten zu tun bekommst. Und ich werde dich dann nicht schützen können. Ich muss diese Sekte verfolgen, falls es sie in meiner Baronie gibt. Sie würden unsere Gesellschaft spalten. Man darf sie nicht gewähren lassen.“ „Auch nicht, wenn sie im Recht wären?“ fragte Dodan. „Das sind sie nicht,“ erklärte Avid. „Und wieder weichst du meiner Frage aus,“ beharrte Dodan, „Was wäre wenn?“

„Jetzt reicht es,“ sagte Avid auf einmal mit enormem Nachdruck, „auch wenn du jetzt die Reife erlangt hast, bin ich immer noch dein Vater. Wenn mein Vater noch leben würde, könnte ich mir nicht erlauben, so mit ihm zu sprechen. Jeder von uns hat seinen Platz im Leben und in der Gemeinschaft. Damit das funktioniert, muss man sich auch mal einfügen. Das gehört zum Erwachsensein dazu. Ich erwarte von dir, dass du dich daran gewöhnst und dich entsprechend verhältst. Wenn jeder glaubt, sagt und tut, was er will, versinken wir ja im Chaos.“ „Und deshalb darf jeder nur glauben, sagen und tun, was du willst?“ fragte Dodan nach, der jetzt auch etwas sauer vor Ungeduld wurde. Daraufhin stand sein Vater auf, kam um den Tisch herum, zog auch ihn vom Sitz hoch und sagte: „Wenn es nicht anders geht, ja! Dafür hat man mich zum Baron gewählt.“

Der Abschied wurde schwierig und Dodan erinnerte sich kurze Zeit später schon nicht mehr genau, wie die beiden an diesem Tag auseinander gegangen waren, aber vieles andere aus diesem Gespräch ging ihm auf dem Heimweg noch durch den Kopf. Sein Vater hatte ihm die Frage nicht beantwortet, woher die Informationen in seinem Traum kamen, die objektiv richtig waren und von denen er vorher nichts wissen konnte. Sie konnten also nicht aus seinem eigenen Kopf kommen. Für Dodan gab es daher nur die Antwort, dass es eben doch eine Vision war und dass dann wohl auch alles andere darin stimmte. Er war nun fest entschlossen, die Jargoisten zu finden und von ihnen mehr zu erfahren. Wenn es in Wodia keine gab, würde er sie eben außerhalb suchen müssen. Er war jung. Er hatte Zeit. Aber was er jetzt schon wusste, konnte ihm keiner mehr nehmen.

Nichtsdestotrotz tat es ihm leid, dass er Unruhe in seine Familie gebracht hatte, und als er kurz vor dem Abendessen wieder zuhause war – er war noch einen Umweg gegangen, um mehr Zeit zum Nachdenken zu haben – entschuldigte er sich bei Upart und Arka, noch bevor deren Kinder wieder herein kamen: „Tut mir leid, dass ich gestern mit dem Thema Jargo angefangen habe. Ich wusste nicht, dass man darüber nicht vor Kindern spricht. Ich war ja bis vor kurzem selbst eines und hatte noch nie davon gehört.“ „Verstehe,“ sagte Upart, „das ist tatsächlich nicht deine Schuld. Wirst du es ab jetzt für dich behalten?“ Zögerlich nickte Dodan, obwohl er wusste, dass Dragi ihn garantiert wieder darauf ansprechen würde.

4. Tribunal

Tatsächlich fragte Dragi bei nächster Gelegenheit nach, wie denn das Gesprächs Dodans mit seinem Vater verlaufen sei. Aber um seinen Neffen zu schützen, erzählte Dodan nur in sehr groben Zügen davon. Als er dennoch nicht verhindern konnte, dass irgendwann das Stichwort „Jargoisten“ fiel, fragte er Dragi, ob der schon jemals von diesen gehört hätte, aber er verneinte. Und das hatte Dodan auch nicht anders erwartet. Die beiden waren zusammen aufgewachsen und zusammen von diesen Dingen abgeschirmt worden. Und so sehr Dodan auch im Innersten glaubte, dass es für alle gut wäre, die Wahrheit zu kennen, wollte er doch Dragi im Moment nicht weiter in die Sache hineinziehen und sein Versprechen gegenüber Upart halten.

Also versuchte er, in den nächsten Tagen und Wochen, auf andere Weise, herauszufinden, ob es in Wodia Jargoisten gab. Er konnte zwar mit niemandem mehr offen über seine Vision sprechen, weil das sofort an seines Vaters Ohren gedrungen wäre. Aber er konnte ja offen damit umgehen, dass er selbst nun von dieser Sekte wusste, über die man mit Kindern nicht sprach, und konnte andere Erwachsene danach fragen, was sie meinen, warum das so ist, und ob diese Leute denn wirklich so gefährlich sind. Und irgendwann im Verlaufe eines solchen Gesprächs konnte er eben auch fragen, ob sie je welchen begegnet sind oder von welchen in der Nähe wüssten. Dodan war durchaus intelligent und konnte sich ganz gut einen solchen Gesprächsfaden zurechtlegen.

Wodia war eine weitläufige Baronie mit ungefähr 350 Bewohnern, was im Vergleich mit den anderen Baronien ungefähr durchschnittlich war. Etwa ein Drittel der Bewohner lebte im Zentrum rund um die Haupthöhle. Der Rest verteilte sich auf das gebirgige Umland. Das Zentrum befand sich an der Quelle der Skotingau, die als kleiner Wasserfall von etwa zwei Metern Höhe aus einem Felsen entsprang und sich dann nach Norden hin zwischen den Bergen hindurch schlängelte. In dieser Richtung ging es relativ schnell bergab und die meisten Erhebungen hatten nur noch Höhen zwischen tausend und zweitausend Metern, während das Gebirge nach Süden hin sehr bald bis auf sechstausend Meter anstieg. Dort siedelten keine Leute mehr.

Wodia zog sich also vom Zentrum aus vor allem in Richtung Norden und breitete sich links und rechts der Skotingau auch bis weit ins Hinterland aus. Dodan selbst wohnte auf der westlichen Seite, wo es ein weiteres kleines Zentrum gab, zu dem er nun häufig ging, wenn er etwas Zeit hatte, weil man dort immer ein paar Leute einfach so rumstehen oder rumsitzen sah, mit denen man sich unverbindlich unterhalten konnte. Aber er ließ auch bewusst etwas Zeit zwischen den Gesprächen vergehen, damit sein Interesse an diesem Thema nicht zu sehr auffiel, obwohl er trotzdem nicht verhindern konnte, dass er irgendwann mal gefragt wurde, warum er schon wieder damit anfängt.

Von da an ließ er es fast ganz sein und versuchte es lieber auf der anderen Seite des Baches, der mit relativ wenigen Kurven, vielen Zuflüssen und steilem Abgang noch innerhalb Wodias zum reißenden Fluss wurde. Auch östlich davon gab es nochmals ein kleines Zentrum, wo sich ein paar Handwerker und andere Nicht-Bauern in unmittelbarer Nähe zueinander angesiedelt hatten. Da die erste und einzige Brücke über die Skotingau noch im Bau war, war der Weg hinüber aber so lang, dass die Abstände, in denen Dodan nun mit Leuten über seine Fragen ins Gespräch kommen konnte, noch größer wurden. Und irgendwann fiel selbst dem langsam denkenden Upart auf, wie häufig sein Bruder scheinbar völlig grundlos dort hinüber geht.

Inzwischen vergingen die Herbstwochen und der Winter rückte näher. Auf den Feldern wurde nicht mehr gearbeitet. Eines Abends kam Dodan vom Ziegenhüten nach Hause und erschrak, als er die Höhle betrat. Upart unterhielt sich dort mit einem Zwerg von der Ostseite, mit dem Dodan gerade am Tag zuvor über die Jargoisten gesprochen hatte. Dummerweise hatte er ihm gegenüber auf Nachfrage doch so etwas anklingen lassen, wie dass er eigentlich gerne mal einen von denen kennenlernen würde, um sich ein eigenes Bild zu machen. Daraufhin waren dem Mann gestern schon die Gesichtszüge entglitten. Und jetzt hatte er offensichtlich mit Upart darüber gesprochen, der nur noch zwei und zwei zusammenzählen brauchte.

„Du tust es doch immer noch,“ sagte mit finsterem Blick Upart zu Dodan, „obwohl du mir versprochen hast, nicht wieder mit dem Thema anzufangen.“ Dodan überlegte kurz, ob er sich dumm stellen sollte, aber dann ging er lieber in die Gegenoffensive und sagte: „Ich habe versprochen, es von der Familie fern zu halten, mehr nicht.“ Upart ging nicht weiter darauf ein und drehte sich wieder zu seinem Gast, einem Bergarbeiter und Maurer. „In Ordnung,“ sagte er, „ich denke über dein Angebot nach und melde mich dann.“

Beide standen auf und während Upart den Mann nach draußen begleitete, erklärte seine Frau Arka Dodan, dass sein Bruder mit dem Gedanken spielt, die Höhle auszubauen, damit er, der jetzt erwachsen war, und nächstes Jahr auch Dragi, mehr Platz für sich hätten und nicht mehr bei den Kindern schlafen müssten. Deshalb hatte er einen erfahrenen Bergmann und Maurer kommen lassen. Aber als er ihm erzählt hatte, für wen der Ausbau sein sollte, erfuhr er, dass Dodan gerade gestern dort gewesen sei und worüber die beiden gesprochen hatten.

„Seit Wochen bist du ständig irgendwo unterwegs und erzählst mir nie, wo und warum,“ schimpfte Upart, als er wieder hereinkam, „hast du da auch jedesmal Leute nach den Jargoisten gefragt?“ „Was geht dich das an?“ konterte Dodan, „ich habe mein Versprechen gehalten und niemanden in der Familie mehr mit dem Thema belästigt. Außerdem habe ich niemandem mehr von meiner Vision erzählt, wie du und Vater es wollten. Und der Rest ist ja wohl meine Sache.“ „Das werden wir sehen,“ schnauzte Upart, „mal sehen, was unser Vater dazu sagt.“ Typisch für Upart, dachte Dodan: er wird damit sofort zu Avid rennen.

Und tatsächlich machte sich Upart am nächsten Morgen auf den Weg zur Haupthöhle, nachdem er alle anderen zur Arbeit eingeteilt hatte. Dodan hatte in der Nacht seine Vision noch einmal geträumt, war sich aber bewusst, dass es diesmal nur aus seinem eigenen Gedächtnis kam. Trotzdem bestärkte es ihn in dem Plan, demnächst auch außerhalb von Wodia nach Jargoisten zu suchen, bis er den Mann gefunden hätte, der in dieser Vision zu sehen war. Dieser Plan war in den letzten Wochen in ihm gereift, in denen ihm klar geworden war, dass es in seiner Baronie keine Anhänger des Gottes Jargo gab und dass alle hiesigen Priester seine bloße Existenz bestritten.