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Doktor Gräsler verbringt die Winter als Badearzt auf Lanzarote. Nach dem Suizid seiner ledigen Schwester Friederike hält er sich den Sommer über daheim in Deutschland als Badearzt in einem Kurstädtchen auf. Dort lernt er die 27jährige Sabine Schleheim, Tochter eines gescheiterten Opernsängers, kennen und lieben ...
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Seitenzahl: 175
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Arthur Schnitzler
Doktor Gräsler, Badearzt
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Inhaltsverzeichnis
Titel
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Impressum neobooks
Das Schiff lag zur Abfahrt bereit. Doktor Gräsler, dunkel gekleidet, in offenem grauen Überzieher mit schwarzer Armbinde, stand auf dem Verdeck, ihm gegenüber barhaupt der Hoteldirektor, dessen braunes, glattgescheiteltes Haar sich trotz des leisen Küstenwindes kaum bewegte. »Lieber Doktor,« äußerte der Direktor, mit dem ihm eigenen Tone von Herablassung, der dem Doktor Gräsler seit jeher so unangenehm gewesen war, »ich wiederhole, wir rechnen mit Sicherheit darauf, Sie im nächsten Jahr wieder bei uns zu haben, trotz des höchst beklagenswerten Unglücksfalles, der Sie hier betroffen hat.« Doktor Gräsler antwortete nichts, sondern schaute mit feuchten Augen zum Ufer der Insel hin, von wo das große Hotelgebäude mit den der Hitze wegen festgeschlossenen weißen Fensterläden grell herüberleuchtete; dann schweifte sein Blick weiter über die verschlafenen gelblichen Häuser und verstaubten Gärten, die im Mittagssonnendunst träge straßaufwärts schlichen, bis zu den spärlichen alten Mauerresten, die die Hügel kränzten. »Unsere Gäste,« sprach der Direktor weiter, »von denen einige im nächsten Jahr wiederkommen dürften, haben Sie schätzen gelernt, lieber Doktor, und so hoffen wir zuversichtlich, daß Sie die kleine Villa,« er wies nach einem bescheidenen, hellen Häuschen in der Nachbarschaft des Hotels, »trotz der traurigen Erinnerung, die sie für Sie birgt, wieder beziehen werden, um so mehr, als wir Ihnen für die Hochsaison Nummer dreiundvierzig begreiflicherweise nicht zur Verfügung stellen könnten.« Und als Gräsler trübe den Kopf schüttelte und, den steifen, schwarzen Hut abnehmend, mit der linken Hand über sein straffes, blondes, etwas angegrautes Haar strich –: »O, mein lieber Doktor, die Zeit wirkt Wunder. Und wenn Sie sich vielleicht vor dem Alleinsein in dem kleinen weißen Haus fürchten, dagegen gibt es ja ein Mittel. Bringen Sie sich doch eine kleine, nette Frau aus Deutschland mit.« Und da Gräsler darauf nur mit einem zagen Augenaufschlag erwiderte, fuhr der Direktor lebhaft, fast befehlend, fort: »Ach, ich bitte Sie, zehn für eine. Eine nette, kleine, blonde Frau, sie kann übrigens auch brünett sein, das ist vielleicht das einzige, was Ihnen zur Vollkommenheit fehlt.« Doktor Gräsler zog die Brauen hoch, als folgten seine Augen schwindenden Bildern der Vergangenheit. »Nun, wie immer,« schloß der Direktor leutselig, »so oder anders, ledig oder vermählt, Sie werden uns in jedem Falle willkommen sein. Und am 27. Oktober, wenn ich bitten darf, wie besprochen, nicht wahr? Sonst könnten Sie bei den trotz unserer Bemühungen leider noch immer recht mangelhaften Schiffsverbindungen erst am 10. November eintreffen, was uns, da wir ja schon am 1. eröffnen« – und nun hatte er den etwas schnarrenden Leutnantston, den der Doktor garnicht leiden mochte – »nicht gerade erwünscht wäre.« Dann schüttelte er dem Doktor die Hand überaus heftig – eine Angewohnheit, die er aus den Vereinigten Staaten mitgebracht hatte –, tauschte einen flüchtigen Gruß mit einem eben vorübergehenden Schiffsoffizier, eilte die Treppe hinunter und war bald darauf auf der Landungsbrücke zu sehen, von wo er noch einmal dem Doktor zunickte, der immer noch, den Hut in der Hand, melancholisch an der Brüstung des Verdecks stand. Wenige Minuten darauf stieß der Dampfer vom Lande ab.
Auf der Heimreise, die vom schönsten Wetter begünstigt war, gingen die Abschiedsworte des Direktors dem Doktor Gräsler oftmals durch den Sinn. Und wenn er nachmittags auf dem Promenadendeck in seinem bequemen Streckstuhl leise schlummerte, den schottischen Plaid über die Knie gebreitet, zeigte sich ihm zuweilen, einem Traumbild gleich, eine hübsche, rundliche Frau in weißem Sommerkleid, durch Haus und Garten schwebend, mit einem rotbäckigen Puppengesicht, das ihm irgendwie, nicht aus der Wirklichkeit, sondern etwa aus einem Bilderbuch oder einem illustrierten Familienblatt, bekannt vorkam. Dieses Traumwesen aber besaß die geheimnisvolle Macht, das Gespenst seiner toten Schwester zu verscheuchen, so daß ihm diese dann wie vor längerer Zeit und gewissermaßen auf natürlichere Weise aus der Welt geschieden schien, als es in Wahrheit geschehen war. Freilich gab es auch andere Stunden, wache, erinnerungsschwere, in denen er das furchtbare Begebnis mit unerträglicher Deutlichkeit wie etwas Gegenwärtiges durchlebte.
Eine Woche, ehe Doktor Gräsler die Insel verließ, hatte das Unheil sich zugetragen. Wie es ihm manchmal begegnete, war er im Garten, nach dem Mittagessen, über seiner medizinischen Zeitung eingenickt, und als er erwachte, sah er an dem länglichen Schatten der Palme, der indes unter seinen Füßen über die Breite des Kieswegs hingelaufen war, daß er mindestens zwei Stunden geschlummert haben mußte, was ihn verstimmte, weil er mit seinen achtundvierzig Jahren sich versucht fühlte, dies als ein Zeichen abnehmender Jugendfrische zu deuten. Er erhob sich, steckte die Zeitung ein, und, lebhafte Sehnsucht nach den verjüngenden Frühlingslüften Deutschlands im Herzen, spazierte er langsam dem kleinen Häuschen zu, das er mit seiner um wenige Jahre älteren Schwester bewohnte. An einem der Fenster sah er sie selbst stehen, was ihm auffiel, da um diese schwüle Stunde sonst alle Läden fest geschlossen zu sein pflegten, und, näher herankommend, merkte er, daß Friederike ihm nicht, wie er von weitem zu bemerken geglaubt hatte, zulächelte, sondern daß sie ihm in vollkommen regungsloser Stellung den Rücken zugewandt hielt. In einer gewissen, ihm selbst nicht ganz verständlichen Unruhe eilte er ins Haus und, rasch auf die Schwester zutretend, die noch immer unbeweglich am Fenster zu lehnen schien, merkte er mit Entsetzen, daß ihr Kopf auf die Brust gesunken war, ihre Augen weit offen standen und sich um ihren Hals eine am Fensterkreuz befestigte Schnur schlang. Er rief laut Friederikens Namen, griff aber zugleich nach seinem Taschenmesser und durchschnitt die Schlinge, worauf die Leblose schwer in seine Arme sank. Er rief nach der Dienerin, die aus der Küche kam und durchaus nicht begriff, was geschehen war, bettete mit ihrer Hilfe die Schwester auf den Diwan hin und begann sofort mit allen möglichen Wiederbelebungsversuchen, wie sie ihm von seinem Berufe herwohlvertraut waren. Die Dienerin war indes zu dem Direktor geeilt; doch als dieser eintrat, war Doktor Gräsler eben, die Vergeblichkeit all seiner Bemühungen erkennend, ermattet und fassungslos an der Leiche seiner Schwester in die Knie gesunken.
Im Anfang mühte er sich vergeblich, eine Erklärung für diesen Selbstmord zu finden. Daß das ernste, in Würde alternde Mädchen, mit dem er sich noch während des letzten Mittagsmahls in harmloser Weise über die bevorstehende Abreise unterhalten hatte, mit einem Male verrückt geworden sein sollte, war nicht wahrscheinlich. Näher lag die Annahme, daß Friederike sich schon geraume Zeit, vielleicht jahrelang, mit Selbstmordgedanken getragen und aus irgendeinem Grunde gerade jene ungestörte Nachmittagsstunde für geeignet erachtet hatte, den allmählich gereiften Plan auszuführen. Daß sich unter ihrer gleichmäßig stillen Laune eine linde Schwermut verbergen mochte, war dem Bruder manchmal flüchtig durch den Sinn gegangen, wenn er auch, von Berufspflichten allzusehr in Anspruch genommen, sich nicht weiter darum zu kümmern pflegte. Wirklich heiter, das wurde ihm allerdings erst allmählich bewußt, hatte er sie seit ihrer Kindheit kaum jemals gesehen.
Von ihren Mädchenjahren war ihm wenig bekannt geworden, da er als Schiffsarzt diese Epoche beinahe durchaus auf Reisen verbracht hatte. Als sie endlich vor fünfzehn Jahren, kurz nach des Bruders Austritt aus dem Lloyd, das Vaterhaus in der kleinen Stadt, aus dem die Eltern rasch hintereinander fortgestorben waren, verlassen und sich ihm zugesellt hatte, um ihm als Haushälterin in seine verschiedenen Aufenthaltsorte zu folgen, war sie weit über dreißig Jahre alt gewesen; doch ihre Gestalt hatte so jugendliche Anmut, ihre Augen einen so rätselhaft dunklen Glanz bewahrt, daß es ihr an Huldigungen nicht fehlte und Emil manchmal nicht ohne Grund besorgte, sie könnte ihm von irgendeinem Bewerber in eine späte Ehe entführt werden. Als mit den Jahren auch die letzten Aussichten dieser Art schwanden, schien sie sich wohl ohne Klage in ihr Los zu fügen, doch glaubte sich der Bruder nun manchen stummen Blicks aus ihren Augen zu erinnern, der mit leisem Vorwurf auf ihn gerichtet war, als hätte auch er die Glücklosigkeit ihres Daseins irgendwie mit zu verantworten gehabt. So mochte das Bewußtsein eines verlorenen Lebens mit den Jahren sich immer entschiedener in ihr geltend gemacht haben, je weniger sie sich ausgesprochen, und sie hatte endlich der nagenden Pein einer solchen Erkenntnis ein rasches Ende vorgezogen. Den ahnungslosen Bruder hatte sie hierdurch freilich in die Notwendigkeit versetzt, sich in einer Lebensperiode, die neuen Gewöhnungen im allgemeinen abhold zu sein pflegt, um Angelegenheiten des Haushaltes und der Wirtschaft zu kümmern, was ihm bisher durch Friederikens Fürsorge erspart geblieben war; und in den letzten Tagen der Schiffsreise, unbeschadet aller Trauer, zog ein kühles, aber irgendwie tröstliches Gefühl der Entfremdung gegenüber der Dahingeschiedenen in sein Herz, die ihn ohne Abschied und völlig unvorbereitet auf Erden allein gelassen hatte.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin, wo er sich bei einer Anzahl klinischer Professoren für die beginnende Kurzeit in Erinnerung brachte, traf Doktor Gräsler an einem schönen Maitag in dem kleinen, hügelwaldumgebenen Badestädtchen ein, wo er seit nun sechs Jahren im Sommer die ärztliche Praxis auszuüben pflegte. Er wurde von der Hauswirtin, einer ältlichen Kaufmannswitwe, mit herzlicher Teilnahme begrüßt und freute sich der bescheidenen Feldblumen, mit denen sie die Wohnung zu seinem Empfang geschmückt hatte. Das kleine Zimmer, das im vorigen Jahre seine Schwester bewohnt hatte, betrat er nicht ohne Scheu, doch fand er sich nicht so tief ergriffen, als er eigentlich gefürchtet hatte. Im übrigen ließ das Leben sich gleich im Anfang ganz leidlich an. Der Himmel war von gleichmäßig milder Klarheit, die Luft frühlingshaft lau; und manchmal, zum Beispiel beim Frühstück auf seinem kleinen Balkon, wo auf reinlich gedecktem Tisch die weiße blaugeblümte Kanne, aus der er sich nun freilich den Kaffee selbst in die Tasse eingießen mußte, in der Morgensonne glänzte, kam ein Gefühl von Behaglichkeit über ihn, wie es ihm in Gesellschaft seiner Schwester, zum mindesten in den letzten Jahren, nicht mehr geworden war. Die anderen Mahlzeiten nahm er in dem stattlichen Hauptgasthof des Ortes in Gesellschaft einiger ihm von früher her bekannter, achtungswerter Bürger, mit denen sichs zwanglos und manchmal recht unterhaltsam plaudern ließ. Die Praxis aber setzte gleich recht vielversprechend ein, ohne daß Fälle von besonderer Schwere sein ärztliches Verantwortungsgefühl allzusehr belastet hätten.
So ging der Frühsommer ohne bemerkenswerte Ereignisse dahin, als an einem Juliabend, nach einem ziemlich arbeitsreichen Tage, Doktor Gräsler durch einen Boten, der sich eiligst wieder entfernte, in das Forsthaus gerufen wurde, das eine gute Wagenstunde von dem Städtchen entfernt lag. Der Doktor war hiervon wenig erfreut, wie er überhaupt für ortsansässige Kranke, deren Behandlung weder viel Ruhm, noch viel Gewinn zu bringen pflegte, keinerlei Vorliebe hegte. Doch als er, eine gute Zigarre rauchend, in der milden Abendluft die liebliche Straße zwischen hübschen Landhäusern, dann zwischen gelben Feldern im kühlen Hügelschatten und endlich durch den hohen Buchenwald talaufwärts fuhr, ward ihm behaglicher zumute; und als er gar des Forsthauses ansichtig wurde, dessen anmutvolle Lage ihm von Spaziergängen vergangener Jahre her in guter Erinnerung stand, bedauerte er beinahe, daß die Fahrt so schnell vorüber war. Er ließ den Wagen am Straßenrand halten und ging den schmalen Wiesenweg zwischen jungen Tannen dem Hause zu, das mit blinkenden Fenstern, ein ungeheures Geweih über der schmalen Eingangstür, die Abendsonne auf dem rötlichen Dach, ihm freundlich entgegengrüßte. Über die Holzstufen der im Verhältnis zum Hause auffallend geräumigen Seitenterrasse kam dem Doktor eine junge Dame entgegen, die ihm gleich auf den ersten Blick bekannt erschien. Sie reichte ihm die Hand und berichtete, daß ihre Mutter an Magenbeschwerden erkrankt sei. »Nun schläft sie schon seit einer Stunde ganz ruhig,« erzählte sie weiter. »Das Fieber ist offenbar zurückgegangen. Um vier Uhr nachmittags war es noch achtunddreißig vier Zehntel. Und da sie sich schon seit gestern Abend elend fühlt, habe ich mir erlaubt, Sie herzubitten, Herr Doktor. Es wird hoffentlich nichts sein.« Dabei sah sie ihm bescheiden bittend ins Auge, als hinge die weitere Entwicklung des Falles von seiner Entscheidung ab.
Er erwiderte ihren Blick mit angemessenem, aber mildem Ernst. Freilich kannte er sie. Schon manchmal war er ihr im Städtchen begegnet, doch hatte er sie für einen Sommergast gehalten. »Nun, wenn Ihre Frau Mama jetzt ruhig schläft,« sagte er, »wird es wohl nichts Schlimmes sein. Vielleicht sagen Sie mir noch etwas Näheres, Fräulein, ehe wir die Kranke am Ende ganz überflüssigerweise aufwecken.« Sie lud ihn ein, weiterzuspazieren, ging ihm voraus auf die Veranda und bot ihm einen Stuhl an, während sie an dem Pfosten der offenen, ins Innere des Hauses führenden Tür stehenblieb. In strenger Sachlichkeit gab sie eine Darstellung des bisherigen Krankheitsverlaufes, der für Doktor Gräsler keinen Zweifel übrig ließ, daß es sich hier um nichts anderes handeln könne, als um eine vorübergehende Magenverstimmung. Immerhin war er genötigt, allerlei medizinische Fragen an die junge Dame zu richten, wurde durch die höchst unbefangene Art überrascht, mit der sie natürliche Vorgänge mit einer Unbedenklichkeit, wie er sie von Mädchenlippen nicht gewohnt war, mitteilte und erläuterte, und fragte sich flüchtig während des Zuhörens, ob sie sich wohl einem jüngeren Arzt gegenüber mit der gleichen Unbefangenheit ausgedrückt hätte. Sie selbst mochte seiner Schätzung nach kaum weniger als fünfundzwanzig Jahre zählen, wenn es nicht etwa die großen, ruhigen Augen waren, die ihrem Antlitz den Ausdruck höherer Reife verliehen. In den blonden, hochgesteckten Zöpfen trug sie einen unverzierten Silberkamm. Ihre Kleidung war einfach, aber durchaus ländlich, der weiße Gürtel durch eine zierlich vergoldete Schnalle verschlossen. Was dem Doktor am meisten auffiel, ja irgendwie verdächtig erschien, wären die höchst eleganten hellbraunen Halbschuhe aus Wildleder, die genau zur Farbe der Strümpfe gestimmt waren.
Doch sie war noch nicht mit ihrem Bericht und Doktor Gräsler noch nicht mit seinen Betrachtungen zu Ende, als es aus dem Innern des Hauses »Sabine« rief. Der Doktor erhob sich, das junge Mädchen wies ihm den Weg durch das geräumige, schon halbdunkel gewordene Speisezimmer in das nächste, hellere, wo in einem der beiden Betten, eine weiße Haube auf dem Kopfe, in einer weißen Nachtjacke, die Kranke aufrecht saß, und dem Eintretenden mit etwas erstaunten, im übrigen aber ganz frischen, beinahe lustigen Augen entgegenschaute.
»Herr Doktor Gräsler,« stellte Sabine vor und trat rasch an das Kopfende des Bettes, die Stirn der Mutter zärtlich mit der Hand berührend.
Die Frau, die nicht alt, sehr wohlgenährt und freundlich aussah, schüttelte mißbilligend das Haupt. »Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Doktor,« sagte sie, »aber wozu liebes Kind –«
»Es scheint ja wirklich,« bemerkte der Doktor, indem er die dargebotene Hand der Patientin ergriff und zugleich den Puls fühlte, »daß ich hier ziemlich überflüssig bin, um so mehr, als ja Ihr Fräulein Tochter,« er lächelte fein, »über ganz verblüffende medizinische Kenntnisse zu verfügen scheint. Aber da ich nun schon einmal da bin, nicht wahr« – Und indes die Frau sich achselzuckend in ihr Schicksal zu ergeben schien, nahm er seine nähere Untersuchung vor, der Sabine mit ruhigen Augen aufmerksam folgte, worauf er tatsächlich, soweit es überhaupt notwendig war, sowohl die Patientin als deren Tochter vollkommen beruhigen konnte. Schwierigkeiten ergaben sich jedoch, als Doktor Gräsler die Kranke für die nächsten Tage auf strenge Diät setzen wollte. Dagegen verwahrte sich die Frau aufs heftigste. Sie behauptete, in früheren Jahren derartige Zufälle, die sie als nervös bezeichnete, gerade durch Genuß von Schweinefleisch mit Sauerkraut und einer gewissen Sorte von Bratwürstchen, die hier leider nicht zu beschaffen wären, aufs rascheste kuriert zu haben; und nur diesmal hatte sie sich von Sabine abhalten lassen, mittags eine reichlichere Mahlzeit zu sich zu nehmen, welche Entsagung höchstwahrscheinlich das Fieber zur Folge gehabt hätte. Der Doktor, der diese Bemerkungen anfangs für Scherz hielt, erkannte im weiteren Verlauf der Unterhaltung, daß die Frau, im Gegensatz zu ihrer Tochter, über die medizinische Wissenschaft durchaus laienhaft, ja ketzerisch dachte, wie sie sich denn auch nachher an spöttischen Bemerkungen über die Heilquelle des Badestädtchens nicht genug tun konnte. So behauptete sie, daß zu Versandzwecken die Flaschen mit gewöhnlichem Brunnenwasser gefüllt würden, in das man Salz, Pfeffer und wohl auch noch bedenklichere Gewürze hineintäte, so daß Doktor Gräsler, der sich stets an dem Rufe der Badeorte, in denen er gerade praktizierte, mitbeteiligt und für Erfolge und Mißerfolge mitverantwortlich fühlte, eine gewisse Verletztheit nicht völlig unterdrücken konnte. Doch widersprach er der Mutter nicht ernstlich, sondern begnügte sich, mitder Tochter einen verständnisvoll lächelnden Blick zu wechseln, womit er seinen Standpunkt genügend und in würdiger Weise gewahrt zu haben meinte.
Als er, von Sabine begleitet, ins Freie trat, betonte er nochmals die vollkommene Harmlosigkeit des Falles, worin sich Sabine mit ihm einverstanden erklärte; doch müßte man, wie sie hinzufügte, gewissen Zufällen, die bei ganz jungen Leuten freilich ohne Bedeutung seien, in vorgerückteren Jahren immerhin größere Aufmerksamkeit schenken; und darum hätte sie heute, insbesondere wegen der Abwesenheit ihres Vaters, sich verpflichtet gefühlt, nach dem Doktor zu schicken.
»Der Herr Papa ist wohl auf einer Inspektionsreise?« meinte Doktor Gräsler.
»Wie meinen Sie das, Herr Doktor?«
»Auf einer Inspektionsreise durch das Revier?«
Sabine lächelte. »Mein Vater ist nicht Förster. Das ist auch schon lange nicht mehr das eigentliche Forsthaus. Es heißt nur so, weil bis vor sechs oder sieben Jahren der Förster des fürstlichen Reviers hier gewohnt hat. Aber so wie man dasHaus hier noch immer das Forsthaus nennt, so nennen sie in der Stadt drin den Vater immer den Förster, obwohl er niemals in seinem Leben irgend etwas dergleichen gewesen ist.«
»Sie sind das einzige Kind?« fragte Doktor Gräsler, während sie ihn, als verstünde sich das von selbst, unter den jungen Tannen auf dem schmalen Wege zur Straße hin begleitete.
»Nein«, erwiderte sie. »Ich habe noch einen Bruder. Der ist aber viel jünger als ich, erst fünfzehn. Er läuft natürlich den ganzen Tag im Wald herum, wenn er daheim auf Ferien ist. Zuweilen schläft er sogar im Freien.« Und als der Doktor etwas bedenklich den Kopf schüttelte, fügte sie hinzu: »O, das macht nichts, das hab' ich früher auch manchmal getan. Nicht oft, freilich.«
»Doch wohl nur ganz in der Nähe des Hauses,« fragte der Doktor leicht besorgt, »und« – setzte er zögernd hinzu – »als kleines Mädchen?«
»O, nein, ich war ja schon siebzehn Jahre alt, als wir das Haus hier bezogen. Früher haben wir nicht in dieser Gegend gewohnt, sondern in der Stadt . . . in verschiedenen Städten.«
Da sie sich so zurückhaltend vernehmen ließ, hielt es der Doktor für angemessen, nicht weiter zu fragen. Sie standen am Straßenrand. Der Kutscher war fahrbereit. Sabine reichte dem Doktor die Hand. Er hatte das Bedürfnis, noch ein Wort zu sagen. »Wenn ich mich nicht irre, sind wir einander schon einigemal im Städtchen begegnet?«
»Gewiß, Herr Doktor. Ich kenne Sie auch schon lang. Freilich vergehen manchmal Wochen, ehe ich hineinkomme. Im vorigen Jahr habe ich übrigens einmal Ihr Fräulein Schwester gesprochen, ganz flüchtig, beim Kaufmann Schmidt. Sie ist wohl wieder mit Ihnen da?«
Der Doktor blickte vor sich hin. Seine Augen trafen zufällig Sabinens Schuhe, und er schaute an ihnen vorbei. »Meine Schwester ist nicht mit mir gekommen,« sagte er. »Sie ist vor einem Vierteljahr gestorben, in Lanzarote.« Es war ihm weh ums Herz; doch daß er den Namen der fernen Insel aussprechen durfte, bereitete ihm eine keine Genugtuung.
Sabine sagte »Oh« und weiter nichts. Nun standen sie eine Weile schweigend, bis Doktor Gräsler seine Züge zu einem etwas förmlichen Lächeln zwang und Sabinen die Hand reichte. »Gute Nacht, Herr Doktor,« sagte sie ernst. »Gute Nacht, Fräulein,« erwiderte er und stieg in den Wagen. Sabine stand noch eine kleine Weile, bis sich der Wagen in Bewegung gesetzt hatte, dann wandte sie sich zum Gehen. Doktor Gräsler blickte nach ihr zurück. Mit leicht gesenktem Kopfe, ohne sich umzuwenden, ging sie zwischen den Tannen dem Hause zu, aus dem ein Lichtstrahl über den Weg schimmerte. Eine Biegung der Straße, und das Bild war verschwunden. Der Doktor lehnte sich zurück und sah zum Himmel auf, der dämmerkühl mit spärlichen Sternen über ihm hing.