Doppelbock - Thomas Salzmann - E-Book

Doppelbock E-Book

Thomas Salzmann

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Beschreibung

Ein Umweltaktivist kämpft für das Ruhrgebiet . . . und eine charismatische Ex-Polizistin ermittelt. Ein Essener Aktivist wird erschlagen aufgefunden. Er war einem Umweltskandal im Zusammenhang mit den Spätfolgen des Steinkohlebergbaus auf der Spur – und hat sich damit nicht nur Freunde gemacht. Ex-Hauptkommissarin Frederike Stier, die das Opfer gut kannte, bringt Machenschaften ans Licht, die mancher gerne unter Tage gelassen hätte. Zwischen Ewigkeitslasten, Klimaveränderung und skrupelloser Umweltverschmutzung lauert ein unerwarteter Täter auf sie.

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Thomas Salzmann wurde 1960 in Pirmasens, Rheinland-Pfalz, geboren und studierte in Köln Betriebswirtschaftslehre. Nach mehreren Stationen in der Industrie widmet er sich seit fünf Jahren dem Schreiben. Er ist verheiratet und lebt mit seiner Frau in Mettmann.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Jochen Tack/imageBROKER

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Lothar Strüh

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-742-2

Originalausgabe

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Gewidmet dem UNESCO-Welterbe Zollverein,

1

»Hier lag die Leiche von Freistein.« Frederike Stier zeigte auf die Stelle neben der orangefarbenen Rolltreppe auf Zeche Zollverein. »Direkt vor der Plakatwand.« Ein Film lief in ihrem Kopf ab.

Hartmut legte seinen Arm um sie und drückte sie liebevoll an sich. »Vermisst du es?«

Sie wusste, dass Hartmut auf ihre vergangene Polizeiarbeit anspielte. Deshalb antwortete sie mit einem vielsagenden »Hmm«, womit sie meinte: »Sehr sogar«, es für Hartmut aber wie »Ein bisschen« klingen ließ.

Um sie herum hämmerten und bohrten, sägten und schraubten Arbeiter, die das Zechenfest »ExtraSchicht« am Wochenende vorbereiteten. Sie bauten Buden auf, Bühnen, Stände und installierten jede Menge Technik. Es herrschte ein Chaos, das Frederike förmlich inhalierte.

»Lass uns gehen. Mir wird das zu viel.« Hartmut ließ die Rolltreppe rechts liegen, und sie verließen das Forum vor der ehemaligen Kohlenwäsche. Sie überquerten die Gleise in Richtung des Skulpturenparks. Der Lärm der Arbeiter nahm ab.

Frederike atmete schneller, als sie den kurzen Anstieg zum Park geschafft hatten. Auch kleine Belastungen strengten sie noch an.

Den ersten Tropfen spürte sie auf dem Kopf, dann sah sie weitere dicke Tropfen auf dem Weg aufschlagen.

Sofort zog Hartmut seine Jacke aus und hielt sie schützend über Frederikes Kopf. Eine Böe zerrte am Stoff. Der Regen begann erbarmungslos zu prasseln.

»So einen Abschluss hat dieser Tag nicht verdient.« Frederike lugte unter der Jacke hervor und sah nach oben. »Vielleicht ist es auch die Einstimmung auf heute Abend.«

Hartmut ging nicht auf ihre Anspielung auf das Treffen von Alexanders Umweltgruppe ein. Hartmut war die Diskussion um die Klimaveränderung suspekt. Er sah in umweltbewusstem Verhalten ein sinnloses Unterfangen, wenn der Rest der Welt nur an seinen ökonomischen Vorteil dachte und einfach weitermachte wie bisher.

Und Frederike ließ sein Schweigen unkommentiert.

Noch enger aneinandergedrückt marschierten sie weiter, während die Füße nass und die Hosen schmutzig wurden.

Sie passierten die Birkengruppe, die links von ihnen den Blick auf das erste Objekt des Skulpturenparks verdeckte. Dann tauchten die Steinblöcke auf, die als Kunstobjekt dort aufgestellt worden waren. Das Gebilde, das der Künstler »Castell« getauft hatte, befand sich etwa fünfzig Meter von ihnen entfernt auf einer freien Fläche. Die Steinquader mochten zwar als »Festung« bezeichnet werden, Schutz vor dem Regen boten sie den vier Besuchern im Innenraum dennoch nicht.

»Komm, wir beeilen uns lieber«, forderte Frederike Hartmut auf, der noch immer mit seiner Jacke kämpfte.

Er sah sie skeptisch an. »Denke bitte an mein Herz.«

Woran sollte sie auch sonst denken, wenn ihr das Wasser in die Schuhe lief und der Regen sie immer mehr wie eine Vogelscheuche aussehen ließ? Sie ging langsamer, hakte sich sogar unter und tröstete sich damit, dass nach jedem Wolkenbruch auch die Sonne wieder strahlen würde.

»Es ist doch nicht mehr weit.« Er klang ärgerlich und zog sie am Arm zurück.

Genau, was sind schon zehn Minuten in einem Platzregen?, dachte sie. Sie drehte sich zu ihm und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. »Danke für deinen Jackenschirm.« Ab hier verzichtete sie auf den Schutz, denn gerade ließ der Regen etwas nach, außerdem wurde es ihr unter der Jacke zu eng.

Kurz bevor sie Kallis Eckkneipe erreichten, zuckte ein Blitz am Himmel, und fast zeitgleich erschütterte ein Donner die Luft. Zum Glück lag ihre Hand bereits auf dem Türgriff. Eilig schlüpften sie hinein, bevor es erneut richtig losging.

Drinnen waberte die Luft. Frederike trat augenblicklich Schweiß auf die Stirn. Hartmut sagte etwas, doch seine Stimme ging im Palaver der Leute unter, die dicht an dicht den Raum füllten.

»Jetzt brauch ich ein Pils«, sagte sie und bestellte zwei, indem sie den Arm hob und zwei Finger in die Luft streckte. Kalli nickte, und Hartmut wusste nicht, wie er noch ein Veto einlegen konnte. Frederike und Hartmut schoben nach Schweiß stinkende Menschen zur Seite, um zur Theke zu kommen. Als sie endlich ankamen, beugte sich Kalli vor, um Frederike mit einem Wangenkuss zu begrüßen. Hartmut reichte er die Hand.

»Ganz schön viel los bei dir«, sagte sie.

Kalli winkte genervt ab. »Die Leute kennen kein Mittelmaß mehr. Entweder bleiben sie zu Hause, oder sie strömen in Scharen, dass ich nicht mehr hinterherkomme.«

»Wenn es Brei regnet, musst du den Löffel nehmen.«

Er lachte und zapfte ihr Bier weiter.

Frederike sah sich um. Sie fühlte sich wohl in Kallis Kneipe. Sie war so typisch, dass sie als Blaupause durchgehen konnte. Harte, alte Holzstühle, ein dicker Aschenbecher mit der Aufschrift »Für Angler, Jäger und andere Lügner« markierte den Stammtisch, signierte Fotos echter und vermeintlicher Promis gerahmt an der Wand neben den Fahnen von Rot-Weiss Essen und FC Schalke 04. Dazu jede Menge Schnapsflaschen hinter der Theke, Gläser in einem Regal darüber, und im Hintergrund wollte Grönemeyer während einer Schussfahrt wenden.

Sie erkannte viele aus Alexanders Umweltgruppe.

Alexander hatten sie in der Rehaklinik kennengelernt, seither verband sie ein schwaches Herz und vier unvergessliche Wochen. Heute kamen das Engagement für die Umwelt und das Ruhrgebiet mit seinen Problemen dazu.

Die Leute aus der Gruppe standen in Grüppchen zwischen den anderen Kneipengästen. Einige nickten ihr zu oder hoben grüßend die Hand, diskutierten aber gleich weiter. Das Wetter bot auch ausreichend Stoff für lebhafte Gespräche. Alexander würde sicherlich gleich ausführlich darauf eingehen, auf »die Wetterextreme und die daraus resultierende Bedrohung für das Ruhrgebiet«.

Das Umweltengagement bestimmte sein Leben, und der Klimawandel trieb ihn ständig an, mehr zu tun, mehr Menschen wachzurütteln und zum Handeln zu motivieren.

Die Bilder in den Nachrichten der letzten Tage waren da Wasser auf seine Mühlen. Autos, die bis zum Dach unter Wasser standen, umgeknickte Bäume, zersplitterte Dachpfannen.

»Eure Biere.« Kalli stellte zwei Gläser auf den Tresen und malte mit einem Bleistift Striche auf den Deckel.

»Dieses Jahr sind wir wirklich gestraft«, bemerkte Hartmut und wuschelte sich durch die Haare, dass die Tropfen davonflogen. »Das ist nur der Anfang, sagt der Wettervogel.«

Frederike war noch nicht auf das Thema des Abends eingestellt. Alexanders Lieblingsthema, das Absaufen des Ruhrgebiets nach der Sintflut, war gleich dran. Deshalb prostete sie Hartmut zu und nahm einen großen Schluck. »Damit wir auch von innen nass werden«, lenkte sie ab und ließ ihren Blick wieder schweifen.

Neben ihnen standen Männer, die sich über das Abschneiden von Schalke in der letzten Bundesligasaison stritten, links am Stammtisch wurde Skat geklopft, und am Tisch rechts saßen drei Männer, die Frederike noch nie hier gesehen hatte. Mit ihren Latzhosen und den karierten Hemden wirkten sie wie die Karikatur von Bauern.

Schon krachte eine Faust auf den Tisch. »Ich will ihn sehen!«

Frederike zuckte zusammen. Sie sah, wie sich eine Hand auf die Faust legte. Die Männer tuschelten. »Der sieht doch nur seine Bienen und seinen Scheißumweltschutz! Dass wir auch ihn ernähren –«

Der Nebenmann bremste erneut den Krakeeler, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte und »Pst« sagte.

Doch der schüttelte die Hand ab. »Guck dir doch die Typen an. Mit ihren Regenbogenhalstüchern und dem Strickzeug in der Tasche. Wenn ihr glaubt, mit denen diskutieren zu können, bitte. Ich kann das nicht. Dafür hab ich nicht die Geduld.« Er sprang auf.

»Vielleicht nutzt es ja doch etwas.«

»Träum weiter!« Der Kerl wollte noch etwas sagen, winkte ab und stürmte aus der Kneipe.

Der Mann, der zu schlichten versucht hatte, bemerkte Frederikes Blick und sah sie an. Sie erkannte in seinen Augen, dass auch er auf Krawall gebürstet war. Sie fragte sich, ob sich Alexander nun auch mit den Bauern angelegt hatte. Er suchte ständig neue Themen und prangerte an, was aus seiner Sicht falsch lief.

»Lass uns reingehen«, sagte Hartmut.

Frederike blieb am Tisch der Männer kurz stehen. »Es ist trotzdem ein Unterschied, ob mich jemand ernähren oder vergiften will.«

Sie spürte Hartmuts Hand an ihrem Arm, die sie weiterzog. Der Mann rief ihr etwas wie »Grüne Schlampe!« hinterher, was sie Hartmut zuliebe ignorierte.

Sie betraten den Nebenraum und liefen gegen eine Wand aus gebrüllten Worten und verbrauchter Luft. Was war bloß los heute? Hier wollte man doch gleich gemeinsam und einträchtig Maßnahmen gegen den Klimawandel und die Bedrohung des Ruhrgebiets diskutieren und beschließen.

»Bringen die Gewitter auch die Gehirne durcheinander?« Frederike schüttelte den Kopf.

Doch in ihrem tiefsten Inneren fühlte sie sich an alte Zeiten erinnert. Als sie bei der Kripo in Essen mit ihrem Ermittlungsteam kontrovers über Morde und Tathergänge diskutiert hatte, der Raum nach kaltem Kaffee, Zigaretten und Schweiß gestunken hatte und die Leute sich am liebsten an die Kehlen gegangen wären. Wenn die Luft knisterte und die Stimmung jeden Augenblick zu explodieren drohte, war dies ihre Version davon, in Hausschuhe zu steigen und im Fernsehsessel die Verfilmung eines Romans von Rosamunde Pilcher zu gucken.

Hartmuts Gesicht machte ihr klar, dass er am liebsten genau das jetzt tun würde. Doch ihr lief ein wohliger Schauer über den Rücken.

2

»Puh, das war hässlich.« Frederike stand mit Hartmut am Tresen. »Was ist nur in diesen Kerl gefahren, Alexander dermaßen anzugreifen? Wegen nichts und wieder nichts. Und dann einfach rauszurennen. Wie eine beleidigte Leberwurst. Das ist doch nicht normal.«

»Das müsste für dich doch wie ein Heimspiel gewesen sein. Hauptsache, die Fetzen fliegen. Weil es dir sonst zu langweilig ist.« Hartmut nahm sie wieder einmal auf den Arm.

»Schuft«, grinste sie und boxte ihm in die Rippen. Trotzdem empfand sie die Auseinandersetzung vorhin unmöglich.

»Wollen wir trotzdem wohin, wo es ruhiger ist?«

Frederike überlegte. Sie hatte sich auf einen interessanten Abend gefreut. Zur Begrüßung hatte Alexander gesagt, dass er entgegen seiner Ankündigung etwas zu den Entwicklungen im Ruhrgebiet, zu den stillgelegten Zechen, den Halden referieren wolle. Was sich grundsätzlich im Ruhrgebiet im Hinblick auf Nachhaltigkeit tun würde. Alexander war gut verdrahtet und wusste immer, wo was geplant war und wie es weiterging. Er fand zwar auch ständig ein Haar in der Suppe, aber das war bei einem Aktivisten genetisch bedingt. Vor allem, dass er wusste, wie es besser ging.

Andererseits hatte sie sich auch auf ein Glas Wein gefreut, das sie gerne nach solchen Treffen im Biergarten tranken und dabei die gemeinsame Zeit in der Reha wiederaufleben ließen. Denn ohne Hartmut und Alexander wäre sie damals in dieser Klinik schon am zweiten Tag abgereist.

Doch durch den Streit vorhin mit Kai und Thorsten war die Stimmung gekippt.

In diesem Moment kamen Alexander und Sandra, seine Lebensgefährtin, aus dem Saal. Kaum stand er neben ihnen, schimpfte er los: »Der spinnt doch. Warum will er Leute mit einer Gewaltaktion erschrecken und die Polizei gegen uns aufbringen? Der weiß doch genau, dass das nichts bringt. Davon abgesehen hat er gar keine Idee, wie er so etwas anstellen soll.« Vor Aufregung hatte er einen hochroten Kopf. Sandra legte ihm die Hand auf den Arm.

Die letzten Mitglieder der Umweltgruppe kamen aus dem Nebenraum, diskutierten noch oder sahen betreten zur Seite. Einige nickten Frederike und Alexander zu, sagten etwas Aufmunterndes zu ihm oder winkten einfach nur ab. Es hätte wirklich nicht schlimmer laufen können.

»Entschuldigt.« Alexander nahm sein Smartphone aus der Hosentasche und starrte auf das Display.

Frederike beobachtete ihn. Er hob die Augenbrauen leicht an. Doch dann steckte er das Smartphone zurück in die Tasche und widmete sich ihnen wieder. Er signalisierte Kalli, dass er ein Bier brauchte. »Was soll ich mit diesen Kerlen anfangen? Die wollen alles kaputtmachen, was ich, was wir mühsam aufgebaut haben.«

»Soll ich mit ihnen reden?«, fragte Frederike. »Vielleicht kann ich ihnen klarmachen, dass sie mit Gewalt nur das Gegenteil erreichen.« Als wüssten die das nicht selbst, dachte sie.

Alexander schüttelte den Kopf. »Wenn ich nur eine Idee hätte …«

Eva kam vorbei. »Mach dir nichts draus. Die sind einfach so. Es ist doch auch gut, wenn sie gehen. Wir machen friedlich weiter.« Jürgen und seine Frau bestätigten das, auch Petra sprach Alexander Mut zu, bevor sie ging.

Er nickte resigniert.

Zum Glück sind die Bauern nicht zur Versammlung gekommen, überlegte Frederike. Sonst wäre der Krach noch größer geworden. Sie sagte aber nichts, denn Alexander schien die Männer nicht gesehen zu haben. Jedenfalls hatte er keine Bemerkung in der Richtung gemacht.

»Ich wollte euch noch von etwas erzählen. Ich kann das nicht glauben. Da läuft eine Riesensauerei –« Floh, der Hund gewordene Duracell-Hase, eine Mischung aus unerziehbarem Spaniel und nimmermüdem Terrier, sprang bellend an Alexanders Bein hoch. »Er muss raus, tut mir leid.« Floh bellte weiter. »Lasst uns morgen reden. Kommt zum Kaffeetrinken vorbei. Am Nachmittag hab ich keinen Unterricht. Ich brauche dringend eure Meinung dazu.«

Floh kläffte schon wieder, und Alexander beugte sich hinunter und kraulte dem kleinen Hund den Kopf. »Wir gehen jetzt noch eine Runde. Dann kann ich auch besser schlafen.« Endlich, schien Floh mit wedelndem Schwanz sagen zu wollen.

»Bleib nicht so lang«, sagte Sandra und gab Alexander einen Kuss. »Ich bin müde und will ins Bett.«

»Du musst nicht auf mich warten. Geh schon und schlaf gut.« Alexander strich ihr über die Wange und legte ihr vorsichtig die Hand auf ihren kugelrunden Bauch. »Schlaft gut«, korrigierte er sich, »und pass gut auf sie auf.«

Kalli reichte Alexander das Bier, das er in einem Zug austrank. Er stellte das Glas zufrieden ab und verabschiedete sich mit einem »Wir sehen uns morgen« von Frederike und Hartmut, gab Sandra einen weiteren Kuss und verschwand durch die Tür. Floh aufgeregt an seiner Seite.

»Das geht ihm mehr an die Nieren, als er zugibt«, sagte Sandra und sah ihm nach. »Er ist so von seiner Sache überzeugt und davon, dass es der richtige Weg ist.« Sie seufzte. »Seit ich schwanger bin, ist er noch fanatischer. Seine Tochter soll in einer sauberen Welt aufwachsen. Sie soll ihm keine Vorwürfe machen können, dass er die Hände in den Schoß gelegt und nichts getan hat.«

Frederike sah zum Tisch, an dem vorhin die Bauern gesessen hatten, und fragte: »Hat er sich jetzt auch mit den Bauern angelegt?«

»Eine neue Aktion von ihm. Er macht Stimmung, dass sie weniger Gülle ausbringen, weniger Pestizide und Fungizide einsetzen. Nachdem er gelesen hat, dass mit dem Schweinemist auch resistente Bakterien auf die Felder kommen, ist er dort ebenfalls aktiv. Rennt von Wochenmarkt zu Wochenmarkt, verteilt Handzettel und prangert die Landwirte an, mit ihren Kartoffeln und dem Gemüse die Menschen zu vergiften.«

Sandra legte die Hand in ihren Rücken und atmete tief aus. »Ich muss ins Bett. Zum Glück ist es bald vorbei.« Dabei strich sie mit der anderen Hand über ihren Bauch.

Sie nahmen sich zum Abschied fest in den Arm und versprachen, zum Kaffeetrinken zu kommen.

Frederike und Hartmut bezahlten und gingen ebenfalls.

Als sie auf der Straße standen, stellten sie fest, dass der Puls noch hoch und die Luft lau war. »Im Grunde ist es viel zu schade, jetzt schon nach Hause zu gehen«, merkte Frederike an. »Wie wär’s mit einem Glas Wein?«

Es war bereits halb elf, zu spät, um noch irgendwo anders einzukehren. Also beschlossen sie, doch noch zu bleiben und in Kallis Biergarten den Abend ausklingen zu lassen.

3

Als Frederike am nächsten Morgen die Küche betrat, blieb sie abrupt stehen. Der Anblick von Hartmut mitten in ihrem eigenen Reich war neu und ein bisschen beängstigend.

Dann holte sie zwei Kaffeetassen aus dem Schrank und stellte eine vor Hartmut auf den Frühstückstisch. Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Danke.«

»Wofür?«, fragte er mit unschuldiger Miene.

»Deine Geduld.«

Frederike richtete sich auf. Die Situation fühlte sich fremd an und irgendwie falsch. Andererseits auch gut. Wie man sich fühlt, wenn man sich jahrelang eingeredet hat, so wie man etwas sieht oder macht, sei es gut und richtig. Und plötzlich, quasi über Nacht, wird das in Frage gestellt, und man weiß noch nicht, ob man die letzten Jahre danebengelegen oder sich über Nacht weiterentwickelt hat.

Bei Kalli hatten Hartmut und sie sich dann doch noch festgequatscht, Kalli war nach Mitternacht zu ihnen an den Tisch gekommen, hatte Grappa ausgegeben, Anekdoten erzählt, sie lachten, genossen die Sommernacht, und erst als das Lebenslicht der Kerze auf ihrem Tisch in einer Rauchsäule endete, erklärten sie den Tag für beendet.

Der weitere Abend lag unter einer Nebeldecke. Frederike hörte noch Kallis Schlüssel, wie er sich hinter ihnen im Schloss drehte. Sie und Hartmut standen auf der Straße, und sie dachte, hoffentlich fragt er nicht »Zu dir oder zu mir?«. Stattdessen hatte sie gefragt: »Kommst du mit zu mir?« Der Satz war raus gewesen, bevor sie ihn zu Ende gedacht hatte.

Und jetzt saß er hier.

In ihrer Wohnung.

Natürlich war ihr klar gewesen, dass es irgendwann einmal passieren würde. Trotzdem sollte die erste Übernachtung etwas Besonderes werden. Ein romantischer Abend mit einem schönen Essen, vielleicht Kino oder ein Konzert, danach zu ihr.

Jetzt war es das Resultat eines turbulenten Abends und einer anschließenden Schnaps-und Bier-Laune. Vielleicht passte das ja, dass sie den Alkohol gebraucht hatte, um die letzte Hemmung abzulegen. Na ja, nicht ganz. So mutig hatte sie der Alkohol dann doch nicht gemacht, dass nach dem Gutenachtkuss und ein bisschen Aneinanderkuscheln mehr passiert wäre. Sie hatten im selben Bett geschlafen.

Fürs erste Mal reichte ihr das.

Entschlossen zog sie den Gürtel des Bademantels enger. Dann gab sie Kaffeepulver in den Filter, füllte Wasser in die Maschine und drückte den Schalter.

Hartmut saß am Tisch und beobachtete sie. Sie drehte sich zu ihm.

Er schmunzelte. »Es ist gut.«

Was immer er damit sagen wollte.

Er stand auf und nahm sie in den Arm. Sie schloss die Augen und legte den Kopf auf seine Brust.

Die Kaffeemaschine blubberte.

Sie spürte seine Hand auf dem Rücken. Wie ein Panzer gegen das Böse der Welt schlangen sich seine Arme um sie.

Bevor sie anfing, es zu genießen, löste sie sich. »Willst du Brötchen?« Sie versuchte, ihre Frage selbstverständlich klingen zu lassen, als wäre das hier in ihrer Küche das Normalste der Welt.

Mit der Rückseite seiner Finger strich er ihr über die Wange. »Es ist schön mit dir.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich würde es zu gerne glauben.«

»Frederike …«

Sie legte ihm den Finger auf den Mund.

Die Kaffeemaschine zischte und fauchte und spie eine Dampfwolke aus. Frederike schaltete sie aus und goss die zwei Tassen voll.

»Hast du einen Schluck Milch?«

»Stimmt.« Hartmut verdünnte Kaffee. Sie hatte nicht daran gedacht.

»Das ist dein Telefon«, kommentierte Hartmut das plötzlich aufheulende Martinshorn. Der Klingelton war eine Reminiszenz an vergangene Zeiten.

»Sandra, guten Morgen.«

Sie hörte zu, fragte nach und sagte dann: »Ich bin auf dem Weg. Das klärt sich. Mach dir keine Sorgen.« Sie ließ die Hand mit dem Telefon sinken.

»Was ist los?«

»Alexander ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen. Sandra macht sich große Sorgen. Ich muss zu ihr.«

»Jetzt sofort?«, fragte Hartmut irritiert.

»Was glaubst du?«

Unbewusst war der Schalter umgesprungen und ihr Polizistinnentonfall reaktiviert worden. Jemand wurde vermisst und sie gebraucht. Frederike diskutierte nicht und verlor kein Wort zu viel. Mit ihrem Ton stellte sie das klar.

Sie hatte nicht bedacht, dass Hartmut das nicht kannte. Erst als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte, wurde es ihr bewusst.

»Tut mir leid, aber Sandra ist durch den Wind.«

Er drückte sie an sich. »Es ist gut. Die Polizistin erwacht zum Leben.«

Jetzt empfand sie seine Geste als Festhalten. Trotzdem zählte sie bis drei, bevor sie sich aus der Umklammerung befreite. »Ich muss mich anziehen.«

»Ich fand es übrigens schön letzte Nacht.«

Frederike sah Hartmut in die Augen. Er meinte es ernst. »Du bist zu genügsam«, sagte sie.

Er lachte. »Und ich bin geduldig.«

Sie sah auf den Boden. »Das ist lieb von dir«, erwiderte sie pflichtbewusst, als sie merkte, dass Hartmut nicht auf ihre Ausweichmanöver einging.

Er löste die Situation auf. »Ich muss jetzt sowieso los. Mein Termin beim Kardiologen.«

Sie erinnerte sich.

»Meldest du dich, wenn du mehr weißt?« Hartmuts Blick war zu sehr Seifenoper und unpassend für die Aufregung, die gerade in ihr hochkochte. Ein Freund wurde vermisst.

Sie nickte. Es fühlte sich nicht richtig an, ihn jetzt gehen zu lassen. Sie sollten noch einmal über den Abend und die Nacht reden. Doch ihr fehlte die Übung, sich über Emotionen und Befindlichkeiten auszulassen.

Er nahm seine Jacke vom Haken. »Du rufst an«, sagte er und gab ihr einen Kuss, bevor er sich lächelnd auf den Weg machte.

Sie sah ihm hinterher, wie er den Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, sich noch einmal zu ihr umdrehte. »Da steckt bestimmt nichts dahinter«, sagte er beschwichtigend.

»Hoffen wir’s.«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. Mit erhobenem Zeigefinger ergänzte er: »Falls doch etwas sein sollte, gönnst du der KHK Stier bitte trotzdem genug Ruhe?«

Wie er es sagte, zeigte Frederike, dass er besorgt um sie war. So lange lag die Reha noch nicht zurück. Sie wusste, dass er recht hatte und sie sich noch schonen sollte.

Wann war ein Mann eigentlich das letzte Mal besorgt um sie gewesen? Es fühlte sich seltsam an.

Dann war er fort.

Sie ging in die Wohnung und drückte die Tür zu. Mit dem Rücken lehnte sie sich dagegen und legte den Kopf in den Nacken. Das war jetzt also die erste gemeinsame Nacht? Was für ein Reinfall. Konnte so eine lange Freundschaft beginnen?

Sie orderte ein Taxi, das sie zu Sandra bringen sollte, und ging ins Schlafzimmer. Durch das offene Fenster wehte eine frische Brise herein.

Während sie sich anzog, beschäftigte sie sich bereits mit Alexander und Sandra und der Frage, was dort los sein könnte.

Sie zog den Reißverschluss der Hose hoch und stellte fest, dass sie wieder passte.

4

Frederike drückte so heftig und ausdauernd auf den Klingelknopf, dass die Fingerkuppe weiß anlief. Sie schloss die Augen und hoffte so sehr, dass Alexander mit einem breiten Grinsen gleich die Tür öffnen und »Überraschung« rufen würde.

Floh bellte. Schritte näherten sich, und die Tür schwang auf.

Sie kannte den Mann nicht. »Ja?«

»Stier. Frederike. Wo ist Sandra?«

Vor ihr stand ein aufgeregtes Rumpelstilzchen, das sie mit vorgeschobenem Kinn ansah.

»Sandra hat mich angerufen. Wo ist sie?« Frederike machte einen Schritt nach vorne.

»Ah. Ja. Kommen Sie rein.« Das Rumpelstilzchen wich zur Seite.

Sie marschierte los und hörte nur »Wohnzimmer«. Am Ende des Flurs stand die Tür offen.

Sandra saß auf dem Sofa und putzte sich die Nase. Ihre Augen waren verquollen, neben ihr lagen Dutzende zusammengeknüllter Papiertaschentücher.

Frederike setzte sich neben sie und nahm sie in den Arm. Das zuckende Häufchen Elend legte den Kopf an ihre Schulter und wollte sich gar nicht beruhigen.

»Aber es ist doch gar nichts passiert.« Behutsam strich sie Sandra über den Rücken.

Sie löste sich und sah Frederike an. »Reicht es nicht, dass er nicht nach Hause gekommen ist?«

Frederike wich erschrocken zurück.

Sandra wechselte zurück zur sorgenvollen Ehefrau. »Kannst du nachsehen, ob du ihn findest? Deine Kollegen anrufen? In den Krankenhäusern nachfragen?«

Frederike nickte. »Warum glaubst du, dass etwas passiert ist?«

»Weil er immer heimkommt.«

Frederike wandte sich an den Mann, der mittlerweile im Türrahmen lehnte und ihnen zusah. »Sie sind Sandras Bruder?«

»Matze. Ja.«

Schon an der Haustür hatte Frederike die gestrige Kneipentour an ihm gerochen. Auch der Rest deutete darauf hin, dass die Nacht lang und es nicht die erste dieser Art war.

Offenbar bemerkte er ihren abschätzenden Blick und strich sich über das unrasierte Kinn. »Wurde spät gestern. Bin gleich hierhergefahren, als Sandra angerufen hat.« Matze steckte die Hände in die Jeans. »Kaffee?«

»Schwarz, ohne Zucker«, sagte sie und widmete sich wieder Sandra. »Wann bist du ins Bett gegangen?«

»Gleich nachdem ich zu Hause war. Ich war hundemüde und bin dann auch sofort eingeschlafen.«

»Kannst du durchschlafen?«

»Schön wär’s.«

»Trotzdem hast du nicht gemerkt, dass Alexander nicht gekommen ist?«

»Er hat sich ein Bett in sein Arbeitszimmer gestellt. Ich bin ihm zu unruhig.«

Floh kam zu Sandra, wedelte mit dem Schwanz und leckte ihr die herabhängende Hand. Sie streichelte ihm über den Kopf, worauf der Schwanz noch schneller wedelte. »Heute Morgen saß Floh alleine vor der Tür.«

Seltsam, dass der Hund alleine nach Hause gegangen ist, vor allem, wenn dem Herrchen etwas passiert sein sollte, dachte Frederike. »Wo geht Alexander mit ihm abends hin?«

»In den Park.« Sandra zeigte in die Richtung, die sie meinte.

»Geht Alexander immer denselben Weg, wenn er abends mit Floh unterwegs ist?«

»Soviel ich weiß, ja. Er geht eine Runde durch den Skulpturenpark. Dort trifft er manchmal Nachbarn.«

»Kann er mit einem Nachbarn noch auf ein Bier gegangen sein? Oder bei ihm übernachtet haben?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Wir kennen die Nachbarn, wechseln ein paar Worte, sind aber mit keinem enger befreundet.«

Matze stellte eine Kaffeetasse auf den Tisch. Frederike nahm einen kleinen Schluck und schüttelte sich.

Eine aufkeimende Unruhe begann sich in ihr breitzumachen. Auch ihr war es rätselhaft, warum Alexander wegblieb, ohne sich auch nur zu melden.

Was konnte passiert sein? Natürlich fiel ihr zuerst sein Herz ein. Gerade nach der Aufregung bei und nach dem Treffen. Schließlich hatten sie sich in der Reha kennengelernt. Alle anderen Gründe schob sie beiseite.

»Wohnt ein Freund hier in der Nähe, zu dem er gegangen sein könnte?«

Sandra verneinte.

»Wollte er sich womöglich noch mit jemandem treffen?«

»Keine Ahnung, glaube ich aber nicht. Höchstens Thorsten, der wohnt um die Ecke.«

Thorsten. Mit dem sich Alexander gestern Abend so heftig gestritten hatte.

»Wird Alexander bedroht? Gab es Angriffe?«

»Was glaubst du denn?« Sandras Ton war scharf.

»Wird er?«

»Manchmal kommen böse E-Mails oder auch ein Brief. Nichts, was er ernst nimmt.«

»Hast du die gelesen?«

»Nein, er zeigt mir nichts, sondern erzählt immer nur davon.«

»Sammelt er das Zeug?«

»Er hat einen Ordner in seinem Zimmer, glaube ich.«

Frederike überlegte.

»Alexander würde nicht einfach so wegbleiben. Nicht, ohne Bescheid zu sagen.« Sandra schluchzte, ihre Stimme klang verzweifelt.

Die nächste Frage war heikel, und Frederike formulierte sie im Kopf mehrmals um. »Gibt es sonst jemanden, bei dem Alexander übernachtet haben könnte?«

Sandra wusste sofort, worauf Frederike hinauswollte. »Wir kriegen ein Kind. Es gibt keine andere.« Sie flüsterte die Antwort beinahe.

Wieder legte Frederike Sandra den Arm um die Schulter. »Tut mir leid. Manchmal bin ich noch zu sehr Hauptkommissarin und sehe überall das Schlechte.« Sie leerte ihre Kaffeetasse. Dann fragte sie abschließend, um sicher zu sein: »Die Polizei hast du noch nicht angerufen?«

»Ich dachte, dass du … Es ist doch nichts passiert, und wenn er gleich wieder da ist, dann wären alle umsonst alarmiert.«

Irgendwie verständlich, dass Sandra den Gedanken an Schlimmeres verdrängte.

Frederike versuchte es auch. Sie stand auf und ließ sich von Sandra zur Haustür begleiten. »Wenn Alexander in den Park geht, nimmt er die Straße hier und dann rechts?« Sie zeigte auf den Weg, den sie meinte.

Sandra bestätigte es. »Matze kann mitgehen«, schlug sie vor.

Das kam gar nicht in Frage. »Es ist besser, wenn er bei dir bleibt«, wiegelte sie ab. Sollte doch mehr hinter dem Verschwinden stecken, wollte sie keinen Matze an ihrer Seite haben.

Sie nahm Sandra noch einmal in den Arm. »Das klärt sich auf. Mach dir keine Sorgen.«

Frederike marschierte los. Eine schwüle Glocke hing bereits über der Stadt. Kein Lüftchen regte sich. Kein Vogel sang.

5

Es war kurz vor neun, die Sonne verdampfte gerade die letzten Wolken am Himmel. Von der Straße stieg die Feuchtigkeit des nächtlichen Gewitterregens auf und trieb Frederike den Schweiß auf die Stirn.

Sie hörte Alexanders mahnende Stimme, die vorhersagte, dass extreme Unwetter bald die Regel sein würden, wenn es nicht gelänge, den CO2-Ausstoß zu verringern. Dann bräuchte jeder Gummistiefel und ein Schlauchboot im Keller, denn irgendwann wäre der eine Wolkenbruch einer zu viel für die Dämme, und dann würden sich Rhein und Emscher ins Ruhrgebiet ergießen und ein Chaos anrichten.

Wenn er mit seinen Klimastatistiken anfing und die Eigenarten des Ruhrgebiets beschrieb, das sich durch den Steinkohlebergbau fünf, zehn, zwanzig Meter abgesenkt hatte und dadurch tiefer lag als alle Flüsse drum herum, wurde ihr manchmal mulmig. Dann verglich er das Ruhrgebiet mit einer Badewanne ohne Abfluss, das einströmende Wasser konnte nicht entweichen und verwandelte ihr geliebtes Ruhrgebiet in eine ausgedehnte Seenlandschaft.

Sie selbst fand das übertrieben. Auch wenn die Kanalisation manchmal überlief, so musste man nicht gleich die Apokalypse an die Wand malen.

Sie ging denselben Weg, den sie gestern Nachmittag mit Hartmut in umgekehrter Richtung gegangen war, und bog rechts in den schmalen Fußweg ein. Der Untergrund war noch immer matschig, Frederike balancierte zwischen Pfützen und Schlammlöchern hindurch und verfluchte sich dafür, keine festen Schuhe angezogen zu haben.

Sie überquerte den Bach über eine aus Metallplatten bestehende Brücke. Nach wenigen Metern erreichte sie das große Areal, das früher die Halde des Welterbes Zollverein gewesen war. Hier hatte sich durch den vielen Regen ein See gebildet, auf dem zwei Enten schwammen.

Sie ging nach links, vorbei an Brombeerhecken, ihr Blick wanderte dabei die ganze Zeit über die Fläche, ging abwechselnd in das Gestrüpp neben ihr und nach oben in den wolkenlosen Himmel. Im Hintergrund ragten die Türme der Kokerei auf, neben der Kohlenwäsche ein weiterer Besuchermagnet von Zeche Zollverein.

Endlich erreichte sie den befestigten Weg. Auf dem Asphalt sah sie die Hinweismarkierung: links zur Kokerei, rechts zum Schacht XII und geradeaus, die Treppe hinauf, zum Skulpturenpark. Sie bog rechts ab.

Ein Rotkehlchen setzte sich auf einen Brombeerzweig und piepte sie frech an. Früher hätte sie das Vieh erschreckt, dass es keifend davongeflogen wäre. Durch Alexander hatte sich ihr Blick auf die Natur verändert. Sie sah jetzt Bäume, Sträucher, Blumen, wo früher Grünzeug wucherte. Ein zarter Vogel, der sich in dieser Stadtlandschaft einen Lebensraum erobert hatte, brachte sie neuerdings zum Lächeln.

Mit jedem Schritt veränderte sich ihr Blick. Sie nahm die Umgebung mehr und mehr als Kommissarin wahr. Eine ausgetretene Zigarette auf dem Weg wurde zu einem potenziellen Spurenträger; auch ein Taschentuch im Dreck, ein Kaugummi. Sie konzentrierte sich auf jede Kleinigkeit, blieb mehrmals stehen und sah sich die Umgebung genauer an. So entwickelte sie ein Gefühl für das Umfeld, sie suchte nach Verstecken und Fluchtwegen.

Rechts im Hintergrund sah sie das Castell, die Skulptur aus mächtigen Steinquadern. Vom Weg konnte man meinen, dass es aus vielen Blöcken bestand, es waren jedoch nur vier in Form eines L-Winkels. Die beiden Kanten waren jeweils etwa vier Meter lang. Zwischen den Blöcken gab es schmale Durchlässe, durch die man auf einen Platz in der Mitte der vier L-Winkel gelangte.

Der Weg stieg leicht an. Ihr Blick klebte an der flachen Skulptur, während sie direkt auf den Eckpunkt des vorderen L zusteuerte.

Als sie sich neben Alexander kniete, konnte sie nicht sagen, was sie hierherdirigiert hatte. Eine Ahnung, ein unbewusstes Signal oder einfach ihre Erfahrung in solchen Situationen.

Sie kam zu spät. Die gelbe Haut, die sichtbaren Totenflecken an der unteren Wange und dem Hals, Fliegen überall.

»Ach, Alexander. Wer rettet jetzt das Ruhrgebiet?«, fragte sie sich, als sie wieder stand und auf den toten Freund hinuntersah. Dann breitete sich die Sorge um Sandra und ihre ungeborene Tochter aus.

Mit dem dritten Gedanken lief die Routine der ehemaligen Hauptkommissarin ab. Tatort sichern, Spuren sichern – sie sollte die Polizei informieren, damit die das tat. Gleich.

Ihr Blick wanderte zurück zu Alexander. Wie er auf der Seite lag, den Kopf etwas erhöht, wirkte er beinahe, als würde er schlafen.

War es doch das Herz gewesen? Oder hatte jemand nachgeholfen?

Sie öffnete ihren Rucksack, holte die Einweghandschuhe heraus, die immer noch sicherheitshalber in einer Seitentasche lagen, und streifte sie über. Erneut kniete sie sich neben Alexander, bemerkte erst jetzt den Stein, auf dem sein Kopf lag. Als sie den Kopf leicht anhob, sah sie, dass der Stein spitz war, kegelförmig und ein Loch in die Schläfe gedrückt hatte. Blut war ausgetreten.

Kein Problem mit dem Herzen.

Als wäre ein Schalter umgelegt worden, erhob sie sich und inspizierte die Umgebung. Bewegte sich etwas? Wurde sie beobachtet? Lauerte jemand möglicherweise hinter einem Baum? Nachdem sie nichts Auffälliges wahrnahm, kehrten ihre Überlegungen zu Alexander zurück. War es ein Unfall, war Alexander unglücklich gestürzt, oder befand sie sich an einem Tatort?

Sie suchte den Boden ab. Hier lagen keine losen Steine herum und schon gar keine mit einer solchen Form. Sie musste gleich nachsehen, ob sich außerhalb der Quader solche Steine befanden. Kampfspuren erkannte sie nicht. Die schwach erkennbaren Fußspuren lieferten keinen Hinweis.

Mit ihrem Smartphone schoss sie einige Aufnahmen. Dann wählte sie den Notruf und informierte die Diensthabende über die Details. Die Kripo musste anrücken und den Fall übernehmen.

Zurück bei Alexander begann sie mit ersten Ermittlungen. Ihr blieb nicht viel Zeit. Sie versuchte einen Arm, danach ein Bein zu heben, doch die Totenstarre war bereits ausgebildet. Bei der Wärme kein Wunder. Sie tastete vorsichtig die Hosentaschen ab, bemüht, nichts zu verändern. Sein Smartphone steckte in der linken. Sie konnte es herausziehen. In der Reha hatte sie regelmäßig sein Telefon entsperrt, wenn er wieder seine Lesebrille vergessen hatte und die Nachrichten von Sandra nicht lesen konnte. Sie gab die Ziffern von Sandras Geburtstag ein und suchte in den Nachrichten.

Das Martinshorn kündigte frühzeitig den ersten Einsatzwagen an.

»Thorsten und Kai hecken etwas aus, das dir nicht gefällt. Wenn du es nicht verhinderst, gibt es großen Ärger.« Der Absender war anonym, eine unterdrückte Nummer. Sie fotografierte mit ihrem Smartphone die Nachricht. Um zweiundzwanzig Uhr neununddreißig war sie eingegangen. Da hatte sie bei Kalli neben ihm gestanden.

Sie suchte weiter. Zum Nachdenken hatte sie nachher noch genügend Zeit.

Ein zweites Martinshorn ertönte.

Frederike steckte das Telefon zurück in die Hosentasche. Dann richtete sie sich auf, verstaute die Einweghandschuhe im Rucksack und machte einige Aufnahmen von Alexander und der Umgebung. Danach filmte sie alles. Sicher war sicher.

Erst als sie noch einmal die Qualität der Aufnahmen prüfte, wurde ihr bewusst, dass da ein Freund lag. Ein lieber Mensch, der gestern noch strotzend vor Energie eine Versammlung geleitet hatte. So schnell wurde aus einem Freund ein Fall, dachte sie. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Bilder gemeinsamer Abende schossen durch ihren Kopf. Sein Lachen. Seine mahnende Stimme. Für immer verstummt. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Augen.

Zu Hause warteten eine Frau und ein ungeborenes Kind auf ihn. Eine Frau, die sich Sorgen machte. Die eine Zukunft mit ihm geplant hatte und der nun der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.

Ich werde mich um Sandra kümmern, nahm Frederike sich vor.

Mit einem Ruck kehrte sie zum Tatort zurück. In wenigen Minuten würde die Ermittlungsmaschine anlaufen. Sie gehörte nicht mehr dazu. Andere würden übernehmen, ihr blieb die ungewohnte Rolle der Zuschauerin.

Sie sah Kowalczyk und Julian Potthoff gleich hier auflaufen und das Kommando übernehmen, sie befragen, nachbohren, wissen wollen, was sie mit dem Toten zu tun hatte. Sie würde zur Zeugin degradiert, die ihre Aussage macht und verschwinden muss. Ihre Fingernägel bohrten sich in die Handflächen. Bei dieser Vorstellung schlug ihr Herz, dass sie es im Hals spürte.

Also traf sie eine Entscheidung: Egal wie, eins würde sie für Alexander, ihren Freund, noch tun – sich persönlich um den Mörder kümmern. »Das tu ich für dich«, murmelte sie und sah Alexander noch einmal an.

Dann trat sie aus dem Steinquadrat.

Vom Weg kamen gerade die Streifenkollegen angerannt. Kaum standen sie neben ihr, fragten sie bereits: »Haben Sie uns informiert?«

Frederike nickte und erklärte ihnen die Lage. Damit war sie raus. Widerwillig stellte sie sich abseits und beobachtete, wie der Tatort gesichert und eine erste Meldung abgesetzt wurde.

Der Rettungswagen tauchte auf, und schon eilte der Notarzt mit seinem Koffer zu Alexander, kniete nieder, richtete sich aber rasch wieder kopfschüttelnd auf.

Frederike wollte nicht weiter hinsehen. Sie rief Hartmut an. Da direkt seine Mailbox ansprang, vermutete sie, dass er noch beim Arzt saß. Sie hinterließ die Information zu Alexanders Tod und bat ihn, sie zurückzurufen. Sandra wollte sie nicht telefonisch informieren. Direkt zu ihr gehen wollte sie auch nicht, denn gleich würden die Spurensicherung und danach Kowalczyk und wahrscheinlich Julian kommen. Vielleicht auch der Staatsanwalt. Das wollte sie noch abwarten.

Es dauerte fünfzehn Minuten, bis Patrick, der Leiter der Spurensicherung, auflief. Natürlich war er der Erste. Er übernahm auch gleich das Kommando, nachdem er sich mit dem Notarzt verständigt hatte. Sie verstand nur Wortfetzen, konnte seine wilden Gesten aber deuten. Er ließ den Bereich großräumig absperren und wollte, dass die Umgebung nach Spuren und Hinweisen abgesucht wurde.

Wie vertraut alles noch war und wie deprimierend, nicht mehr Teil davon zu sein.

Als Patrick über das Areal blickte und sie sah, kam er auf sie zu.

»Wer hat dich so früh geweckt?« Unter dem Gelächter zweier Kollegen, die in der Nähe standen, stellte sich Patrick zu ihr.

»Wenn ich gewusst hätte, dass ich dich heute treffe, wäre ich im Bett geblieben. Aber jetzt liegt das Kind im Brunnen.«

»Versaue ich dir gerade den Tag?«, fragte er.

»Das sag ich dir in fünf Minuten.«

Patrick kratzte sich im Nacken. Dachte er tatsächlich über ihre Antwort nach? Doch nicht Patrick, die Krone der forensischen Schöpfung. Immerhin. Sein Ton schien ihr milder, nicht so aggressiv, wie sie ihn gewohnt war.

Sie solle gnädiger mit ihren Mitmenschen umgehen, hatte ihr Kardiologe ihr mit auf den Weg gegeben. Kannte Patrick den Unterschied zwischen gnädig sein und einknicken? Sie gab sich einen Ruck und meinte: »Ich glaube nicht, dass du mir den Tag versaust. Wenn ich dich damals gemocht hätte, würde ich fast sagen: Schön, dich wiederzusehen.«

Er lachte.

Frederike hielt ihm die Hand hin.

Patrick drillte seine Schnurrbartspitze einige Male zwischen Daumen und Zeigefinger, dann streckte auch er seine Hand aus.

Sie ergriff sie.

Patrick drückte nicht zu, wie er es früher gerne getan hatte. Seine Mundwinkel zuckten. »Wie geht es dir?«

Sie erzählte vom Krankenhaus, von der Reha und vom langweiligen Ruhestand. »Alle sagen, ein Rentner hetzt von Termin zu Termin und hat keine Zeit für irgendwas. Ich sitze zu Hause und verfolge eure Arbeit in der Zeitung oder im Internet.«

Er nickte und drehte sich zum Fundort. »Bist du deshalb hier? Weil dir langweilig ist?« Er klang amüsiert.

»Ich kenne ihn. Alexander Röttgen.« Sie erklärte kurz, warum sie hier war.

»Angefasst hast du nichts?«

»Ich gehöre nicht mehr dazu«, antwortete sie knapp.

»Ich melde mich, wenn ich eine Speichelprobe von dir brauche.«

»Ich hoffe, vorher.« Sie gab ihm eine Visitenkarte, die sie irgendwo einmal als Werbegeschenk bekommen hatte.

Patrick warf einen Blick darauf und schob sie in die Gesäßtasche seiner Jeans. »Es war schön, dich zu sehen. Und die Farbe im Gesicht steht dir gut.«

Ohne ein weiteres Wort ging er zu seinem Team.

Frederike hob die Hand zum Abschied. War das gerade ein Kompliment gewesen? Von Patrick? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Die Begegnung hatte etwas Gespenstisches, fand sie. Wollte er sie auf den Arm nehmen, oder hatte er sich tatsächlich gefreut, sie wiederzusehen? Sie spürte noch seinen Händedruck, der etwas Verbindliches, Annäherndes ausdrückte. Er hatte ihr noch nie die Hand gegeben, ohne ihr wehzutun. Außerdem hatte der Händedruck länger gedauert, als es für eine geschäftsmäßige Begegnung notwendig gewesen wäre.

Sie ging zum befestigten Weg, blieb stehen und sah dem Treiben zu.

Weitere Kollegen trafen ein, wurden von Patrick angebellt, dann zu Arbeiten eingeteilt. Schließlich kam auch Julian, und in seinem Windschatten trabte Kowalczyk heran. Sie blieben vor ihr stehen.

»Frederike«, begrüßte Julian sie knapp.

»Ich freue mich auch«, entgegnete sie.

Kowalczyk schüttelte ihr ohne ein Wort der Begrüßung die Hand, wobei er ihren Blick mied. Die Größen der Essener Kripo, dachte sie beim Anblick der Kerle und schmunzelte.

Kowalczyk wollte sofort wissen, wieso und wann sie den Toten gefunden hatte und warum keine Vermisstenmeldung von der Ehefrau eingegangen sei. Fragen, die wohl seine neue Rolle als leitender Kommissar unterstreichen sollten.

Ihre Geschichte war schnell erzählt, auch wenn es ihr widerstrebte, sich ausfragen zu lassen. Sie ließ es über sich ergehen, weil sie ja die Routinen kannte.

Sie wollte zu Sandra. Die schlimme Nachricht sollte sie von ihr und nicht von Kowalczyk bekommen.

»Aber du hältst dich raus.« Julian zeigte mit dem Zeigefinger auf ihre Brust.

Wo hatte sie das heute so ähnlich schon einmal gehört?

»Ich mache in meiner Freizeit, was ich will. Und da redet mir auch die Polizei nicht hinein.« Frederike verschränkte die Arme. Auf diese blöde Tour musste er ihr nicht kommen.

»Frederike, du überlässt das uns.« Julian wurde lauter.

»Hast du Angst, ich präsentiere dir den Mörder schneller als Kowalczyk?« Sie deutete mit einer Kopfbewegung zu ihrem ehemaligen Kollegen.

Kowalczyk wollte etwas erwidern, doch Julian legte ihm die Hand auf den Arm. »Du willst doch keinen Ärger. Halte dich also raus.« Hinter Julians ruhigem Ton schwang eine Drohung mit, die sie sich nicht bieten lassen wollte. Trotzdem schwieg sie.

»Das ist ein Freund«, sagte sie nur.

»Schön, dass du wenigstens im Alter einen Freund gefunden hast.« Julian grinste sie herausfordernd an.

»Ich drücke dir die Daumen, dass auch du dieses Alter erreichst.« Damit ließ sie ihn stehen.

6

Wie gerne hätte Frederike jetzt gegen eine Blechdose getreten. Oder laut geschrien. Oder laut schreiend gegen eine Blechdose getreten. Doch sie unterließ es. Sie musste mit ihren Kräften haushalten.

Mit jedem Schritt, den sie sich Sandra näherte, schob sie die Wut beiseite und machte sich klar, was vor ihr lag. Sie würde Sandra helfen, sie unterstützen und trösten. Doch sie wusste auch, dass am Ende ihre Freundin durch die Trauer und den Schmerz alleine durchmusste. Ihr eigenes Leben hatte sie das gelehrt. Sie selbst empfand geteiltes Leid nicht als halbes Leid. Denn selten wurden Worte dem gerecht, was in einem tobte, oder schmälerten die Wut und die Verzweiflung, die man der Welt gerne entgegengeschrien hätte.

Würde Sandra anders empfinden, wäre sie bereit, einen Teil für sie zu tragen.

Wenn Hartmut doch nur jetzt bei ihr sein könnte. Er war besser darin, Trost zu spenden und Mitgefühl zu zeigen. Als Kinderarzt hatte er sich oft auch um die Eltern und deren Schmerz und Sorgen gekümmert, genau wie um die Wunden der kleinen Patienten.

Als sie damals unvermittelt ihren Lebensmittelpunkt verloren hatte, den Menschen, um den sich ihr ganzes Sein gedreht hatte, Moritz, war sie durch die Hölle gegangen. Verwunden hatte sie den Verlust bis heute nicht. Tief eingegraben lauerte die Erinnerung an ihn und wartete darauf, wieder hochzukommen. Manchmal tat sie es ganz von allein, manchmal beschwor Frederike sie herauf. Trotzdem: Verarbeitet hatte sie den Verlust nicht.

Wie es Sandra gleich gehen würde, konnte sie sich vorstellen. Aber was würde Sandra wirklich helfen? Sie kannte sie zu wenig. In den Arm könnte sie sie nehmen.

Der nüchtern-pragmatische Umgang mit solchen Situationen war ihr vertrauter und auch lieber. Hinter dem dienstlichen Überbringen einer Todesnachricht mit anschließender Befragung ließ sich die eigene Betroffenheit gut verstecken.

Sie wählte nochmals Hartmuts Nummer. Dieses Mal nahm er das Gespräch schon während des ersten Klingelns an. »Hartmut, es ist schlimm. Alexander wurde erschlagen.«

Nach einem kurzen Bericht zum Stand der Dinge fragte sie: »Kannst du ebenfalls zu Sandra kommen? Es wäre gut, wenn wir jetzt bei ihr wären.«

Hartmut antwortete nicht sofort. Wahrscheinlich plante er gerade seinen Tag um. »Ich mache mich auf den Weg«, sagte er endlich.

»Danke.« Sie atmete erleichtert aus. Mit dem Telefon am Ohr erreichte sie das Haus. »Ich gehe schon zu ihr. Danke, dass du kommst. Bis gleich.«

Frederike atmete mehrmals durch, strich sich durch die Haare und hoffte, dass nur sie ihren Schweiß roch. Dann drückte sie auf die Klingel.

Wieder bellte Floh, und wieder näherten sich Schritte. Rumpelstilzchen öffnete und sagte: »Bitte nicht.«

War ihr die Nachricht so deutlich auf die Stirn geschrieben? Sie nickte.

Mit schweren Schritten ging sie durch den Flur zu Sandra ins Wohnzimmer, setzte sich neben sie aufs Sofa und nahm sie in den Arm. Als der erste Tränenfluss verebbt war, fragte Sandra: »Was ist passiert?«

»Lass uns rausgehen.« Frederike sah auf die Uhr. Hartmut würde noch etwas brauchen, bis er hier war.

Gemeinsam gingen sie auf die Terrasse und setzten sich an den Tisch. Matze brachte Tee und Taschentücher.

Frederike erzählte wieder, was passiert war, wobei sie auf eine detaillierte Darstellung verzichtete. »Meine ehemaligen Kollegen werden gleich hierherkommen. Die wissen bestimmt mehr. Sie werden dir aber auch Fragen stellen und alles über Alexander wissen wollen. Wahrscheinlich wirst du einige Fragen sehr indiskret finden. Das gehört leider zur Ermittlung dazu.«

Sandra sah sie mit aufgerissenen Augen an. »Du hilfst mir doch, oder?« Und nach einer kurzen Pause: »Der Polizei doch auch?«

»Ich bin immer für dich da.« Auch wenn sie im Stillen dem toten Alexander zugesichert hatte, seinen Mörder zu finden, wollte sie Sandra keine leeren Versprechungen machen.

Sandra wischte sich über die Augen. »Wurde er … Hat ihn jemand … umgebracht?«

Frederike hob die Schultern.

Sandra drückte den Rücken durch. »Wenn es nicht das Herz war, dann suchst du doch den, der das war. Frederike, versprich mir das. Die Polizei macht doch sowieso nichts. Die haben ihn noch nie ernst genommen.«

»Wie meinst du das?«

»Die Drohungen, Briefe, E-Mails. Die haben sich das alles angesehen und gemeint, dass sie da nichts machen können.«

»Hier geht es um etwas anderes. Das nimmt die Polizei sehr ernst.«

»Die sind hier doch alle froh, dass er endlich Ruhe gibt.«

»Auch das untersucht die Kripo. Die kümmern sich gewissenhaft darum.« Sandras Vorwurf traf sie persönlich, als gehörte sie weiterhin zum Team. Auch wenn die Behörde manchmal überlastet war, nahm sie eine Mordermittlung immer sehr ernst. Gegebenenfalls holte man Kollegen von anderen Dienststellen dazu oder gab den Fall komplett ab, wenn es gar nicht anders ging.

»Ich habe noch Kontakte und werde mich regelmäßig nach dem Stand erkundigen.«

»Frederike, versprich mir, dass du den Mörder findest. Wenn ich Alexander beerdige, muss ich wissen, was passiert ist.«

»Wir wissen doch noch gar nicht –«

»Frederike, du warst eine gute Polizistin, die Zeitungen haben geschrieben, eine sehr gute. Aber du bist eine miserable Schauspielerin.« Jetzt klang Sandra sehr bestimmt. Dahinter verschwand sogar die trauernde Witwe.

Frederike nickte. »Ich tu, was ich kann.« Wenigstens hatte sie versucht, sich zu widersetzen.

Wenn sie jetzt tatsächlich Ermittlerin sein wollte, dann durfte sie keine Zeit verlieren. Als Erstes überlegte sie, wie sie geschickt die Rolle wechseln konnte. Denn sie musste sich Alexanders Büro ansehen, bevor Kowalczyk kam.

»Entschuldige, wenn ich jetzt sehr sachlich werde. Aber wenn ich den Mörder finden soll, dann brauche ich Informationen.«

Sandra wich bei diesem direkten Ton zurück. Frederike ignorierte es.

»Zuerst die Drohbriefe. Du hast gesagt, dass Alexander das gesammelt hat. Bevor die Polizei kommt, muss ich mir das ansehen.« Sie stand auf und spürte sofort eine Energie durch ihren Körper fließen, die sie schon länger vermisst hatte. Es fühlte sich gut an.

Sandra zögerte.

Frederike konnte verstehen, dass Sandra sie nicht so gerne in Alexanders privaten Unterlagen wühlen lassen wollte. Aber es half nichts. »Die Polizei wird nachher sowieso alles mitnehmen und untersuchen. Danach habe ich keinen Einblick mehr, und es wird noch schwerer, etwas für dich zu tun. Deshalb muss ich das vorher noch sehen.«

Es klingelte an der Haustür. Inständig hoffte sie, dass es Hartmut war und dass er es schaffte, Sandra zumindest abzulenken.

Matze ging zur Tür.

»Wenn es so wichtig ist, dann such, was du brauchst. Das Zimmer ganz oben.«

Frederike erkannte die Stimme an der Haustür.