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Die Bewohnerinnen und Bewohner eines Bergdorfes steigen aus ihren Gräbern und gehen zurück in ihre Häuser. Im neuen, paradiesischen Dorf im Himmel ist alles perfekt, absolut makellos. Es gibt keine Trauer mehr, keine Müdigkeit, keine Sorgen. Die Menschen nehmen ihren Alltag wieder auf, aber nicht, weil sie müssen, sondern weil sie es gerne tun. Chemin, der Schreiner, braucht keine Särge mehr zu machen, der blinde Bé kann wieder sehen, die alte Catherine und ihre Enkeltochter Jeanne sind wieder vereint. Allmählich verlieren die Menschen die Erinnerung an ihr altes, irdisches Leben. Als die Ziegenhirtin Thérèse eines Tages mit einem Tier zu wenig von der Weide zurückkommt, gerät das Paradies ins Wanken. Ein meisterhaft erzählter Roman über die Relativität des Glücks.
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Seitenzahl: 115
Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Bewohnerinnen und Bewohner eines Bergdorfes steigen aus ihren Gräbern und gehen zurück in ihre Häuser. Im neuen, paradiesischen Dorf im Himmel ist alles perfekt, absolut makellos. Es gibt keine Trauer mehr, keine Müdigkeit, keine Sorgen.
Die Menschen nehmen ihren Alltag wieder auf, aber nicht, weil sie müssen, sondern weil sie es gerne tun. Chemin, der Schreiner, braucht keine Särge mehr zu machen, der blinde Bé kann wieder sehen, die alte Catherine und ihre Enkeltochter Jeanne sind wieder vereint. Allmählich verlieren die Menschen die Erinnerung an ihr altes, irdisches Leben.
Als die Ziegenhirtin Thérèse eines Tages mit einem Tier zu wenig von der Weide zurückkommt, gerät das Paradies ins Wanken. Ein meisterhaft erzählter Roman über die Relativität des Glücks.
Foto © keystone/rogerviollet/Gaston Paris
Charles Ferdinand Ramuz (1878–1947), geboren in Lausanne. Nach dem Studium der klassischen Philologie ging er 1900 erstmals nach Paris, wo er von 1904 bis 1914 lebte. Seine Romane wurden mehrfach verfilmt und er wurde wiederholt als Nobelpreiskandidat gehandelt. 1936 erhielt er den Großen Preis der Schweizer Schillerstiftung. Fast sechzig Jahre nach seinem Tod erschienen 2005 zweiundzwanzig seiner Romane in der renommierten Bibliothèque de la Pléiade in Paris.
C. F. Ramuz
Roman
Aus dem Französischen von
Steven Wyss
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
NACHWORT DES ÜBERSETZERS
Anmerkungen
DANK
DER ÜBERSETZER
Da standen diejenigen, die gerufen wurden, aus ihren Gräbern auf.
Sie haben die Erde mit dem Nacken nach hinten gestoßen; sie haben mit der Stirn die Erde durchbohrt, wie wenn das Korn keimt, seine grüne Spitze ins Freie drückt; sie hatten wieder einen Körper.
Da war eine große Sonne. Ein großes schönes Licht fiel auf ihre Hände, auf ihre Kleider, auf ihre Hüte, auf ihre Bärte, auf ihre Schnauzer.
Und es war ganz nah beim Dorf, da, wo man sie damals hingelegt hatte, wo man sie mit Seilen hinabgelassen hatte, auf dem neuen und dem alten Friedhof, neben der neuen Kirche und neben denjenigen, die es nicht mehr gab – denn sie kamen von überall in der Zeit. Und so stiegen sie aus ihren Löchern, und die Sonne fiel auf sie herab. Sie sahen die Sonne mit ihren wiedergefundenen Augen, sie tranken die Luft mit wiedergefundenem Mund. Und erst schwankten sie noch ein wenig, waren unsicher auf den Beinen, dann fanden sie festeren Stand.
Danach machten sie sich auf in Richtung Dorf, und jeder sah es vor sich, denn auch das Dorf war neu gemacht, mit seiner neu gemachten Kirche und seinen neu gemachten Häusern, haargenau so, wie sie gewesen waren, aber ganz neu, ganz hell, aus Stein und Holz, mit Schieferdächern – jeder bekam sein Haus zurück; jeder suchte mit den Augen zwischen den anderen danach; dann fand jeder das seine, und sie traten in ihre Häuser.
So kam es, dass die alte Catherine vor ihrem Haus auf ihre Enkeltochter Jeanne traf.
Plötzlich blieb sie stehen, machte noch einen Schritt, dann blieb sie erneut stehen.
Sie wollte es nicht glauben, sie hatte Jeanne doch verloren – sie wollte nicht glauben, dass sie sie jemals wiedersehen könnte, denn das Unglück macht einen misstrauisch.
Es war eine enge gepflasterte Gasse, die am Haus entlang hinaufführte. Sie war am einen Ende eingebogen, Jeanne am anderen. Catherine sah sie kommen und rührte sich nicht mehr.
Unten an der Steintreppe, die hinauf zum Absatz führte, von wo man in die Küche gelangte, stand sie mit ihren gekreuzten, hageren Händen aus braunem Holz; und die kleine Jeanne stürmte auf sie zu, erst rannte sie noch, so schnell sie konnte, dann blieb auch sie stehen; aber weil sie ein noch ganz junges Herz hatte, ein Herz noch ganz neu und bereit zu glauben, nicht das betrogene Herz von später, ging sie als erste weiter. Und ein Schrei kommt ihr aus dem Mund: «Großmutter, Großmutter, bist du das?»
Sie kam auf sie zu. Sie drückte sich fest an den dicken Faltenrock und das dicke Wolljäckchen, fest an die gestreifte Drillichschürze – da stellt sie sich auf die Zehenspitzen, hebt die Arme, hebt die Augen: «Großmutter, du bist’s! Ich erkenne dich … Und du, erkennst du mich nicht?»
Und Catherine zögert noch immer, doch dann konnte sie nicht länger.
Sie neigt den alten Kopf, sie beugt ihren einst steifen und tauben Rücken, der wieder geschmeidig wird; ihre Hände kommen, ihre langen hageren Hände; ihre Hände kommen immer näher:
«Bist du es? Bist du es, kleine Jeanne? … Aber ja, du bist es!»
Und dann:
«Wie ist das möglich?»
Aber Catherine sah, dass alles möglich war, denn nichts war mehr wie vorher.
Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf, gemeinsam traten sie in die Küche. Es war eine Küche mit schön gefugten, großen Steinfliesen, mit einem Geschirrschrank aus braunem Holz. Alles war wie damals, aber schöner, heller, neuer; alles war wie frisch gestrichen. Man sah die Teller und die Gläser glänzen. Auf dem Tisch stand ein Dahlienstrauß.
Die kleine Jeanne sagte:
«Das sind Dahlien aus unserem Garten.»
Catherine sagte:
«Erinnerst du dich an unseren Garten?»
«Oh ja, du hast mich an der Hand durch den Garten geführt, und als ich zu krank geworden war, hast du mich hinausgetragen.»
«Ich sehe, du erinnerst dich.»
Die beiden traten ans Fenster, auferstanden.
An diesem Sommertag (oder an diesem Tag, der wie ein Sommertag von damals war) machten sich die Bienen wieder überall mit ihrem Summen bemerkbar, wie wenn man die Dreschmaschine laufen lässt; man sah auch, dass überall die Blumen blühten, alle gemeinsam; an den Bäumen gab es gleichzeitig Blüten und Früchte.
Ah! Vergangene Zeit! Zeit des anderen Lebens! Harte Zeit, grausame, schwere, ungerechte Zeit! Denn Catherine erinnerte sich.
Sie erkannte die Zeit von damals wieder, zwischen den Büscheln der weißen Nelken, den Löwenmäulern, den Glockenblumen, den weißen und den violetten Schwertlilien.
Reife Erdbeeren und blühende Erdbeeren, die Johannisbeersträucher voller schwarzer Beeren und grüner Früchte, Moos aller Art und Eustett.
Sie konnte nicht nicht an die Zeit von früher denken; das Zimmer war fast genauso, wie unser Zimmer jetzt war; aber da drinnen, drinnen in den Mauern und vor allem drinnen in uns …
Sie ließ die kleine Jeanne auf einem Stuhl Platz nehmen, sie legte ihr ein Tuch über die Knie, und es war wieder wie damals.
«Kleines, weißt du noch? Als du hier warst, und ich kam zu dir; ich habe mich ganz nah zu dir gesetzt, bin nicht mehr von deiner Seite gewichen, aber du hast mich verlassen. Jeden Tag, und ich konnte noch so machen; jeden Tag ein bisschen mehr, und ich konnte noch so reden und machen, noch so flehen, dich noch so an mich drücken, ich wurde nicht erhört; du bist gegangen, du hast mich zurückgelassen.»
Sie schüttelte den Kopf: «Wie sehr wir doch daran hingen.»
Ah! Was für Unglück und Elend in dieser Zeit, und trotzdem mussten wir uns binden und wir konnten gar nicht anders, weil wir einen Körper hatten, ein Herz, das dafür gemacht war, extra dafür, nur dafür.
Gemacht einzig und allein dafür, wie der Efeu, der Efeu mit seinen Tausenden kleinen Händen und Krallen, und nichts als Hände; aber auch wir, wir brauchten das, denn wir hatten doch auch nur das Glatte und Nackte, hielten uns am Gekrümmten, klammerten uns an das, was schwankte; mit diesem Hunger nach dem Beständigen in uns, und nichts ließ ihn vergehen außer die Abkehr vom Beständigen. Plötzlich sagte sie:
«Kleines!»
Und dann rief sie nach ihr, und sie sagte:
«Du! Du!»
Sie sagte nichts; sie sagte «Du!». Sagte nichts, und gleichzeitig: «Du!» … Noch immer voll Erstaunen.
«Du! Du!» Kann das sein? Und noch einmal: «Kann das sein?» Aber so war es.
Nach und nach lernten sie sich kennen; die einen besuchten die anderen, alle erzählten sie einander ihre Geschichten.
Die Jungen waren am liebsten mit den Jungen, die Alten mit den Alten; die Frauen trafen sich wie damals am Brunnen; man plauderte wieder miteinander über den Gartenzaun hinweg; und abends setzten sie sich zu dritt oder zu viert vor die Häuser, die Hände auf den Schenkeln, und rauchten Pfeife.
Und da saß eben an einem dieser ersten Abende auch der alte Sarment mit zwei oder drei Männern, etwa in seinem Alter – er sprach ins Rosa hinaus, er sprach ins Graue hinaus, dann sprach er ins Schwarze hinaus.
Er sagte:
«Mich dünkt, ich spüre immer noch manchmal den Rücken. Mich dünkt, ich habe immer noch steife Beine, wenn ich morgens aufstehe. Oh! Ich weiß natürlich, dass ich mir das nur einbilde, aber muss das Übel nicht tief in uns eingedrungen sein, muss es uns nicht tief unter die Haut gegangen sein, dass es trotz allem immer noch da ist?»
Während über sechzig Jahren (damals, als es noch Jahre gab und man noch nicht von der Zeit geheilt war) hatte er gesät, gemäht, geerntet, gepflügt, gejätet, gesägt, Holz gehackt, er hatte den Mist ausgebracht, er hatte die Reben gepflegt. Und noch immer machte er manchmal, während er sprach, eine Bewegung mit den Schultern, wie als er die Hutte trug, eine Bewegung mit den Händen nach vorne, wie als er sie am Werkzeuggriff übereinanderlegte.
Ab und an streckte er die Beine, mal das eine, mal das andere, schwerfällig zog er sie unter sich hervor, und er spuckte; das Seufzen, das aus Gewohnheit unter seinem weißen Schnurrbart aufsteigen wollte, konnte er gerade noch unterdrücken.
Denn es war hart gewesen für uns in jener Zeit. Um vier Uhr morgens hieß es aufstehen und vor zehn Uhr abends kam man nicht ins Bett (als es noch Stunden gab).
Jetzt schlägt die Uhr nur noch, um der Luft ein bisschen zu schmeicheln, lässt da oben ihre Glocke baumeln, wie wenn eine Kuh den Hals an einem Baumstamm reibt. Aber davor, erinnert ihr euch? Da kam die Glocke wie ein Befehl, sie scheuchte dich aus dem Bett, in die größte Kälte hinaus, in den Regen, in den Schnee, und in den tiefsten Morast genauso wie auf die Wege, die vom Eis glitzerten, egal wie erschöpft man war. Denn man tat nichts so, wie es einem gefiel, man tat nicht, was man wollte, sondern was die Dinge wollten; man machte und es wurde kaputt gemacht, und man musste wieder von vorne anfangen; und man machte es noch mal, und es wurde kaputt gemacht … Erinnert ihr euch?
Die anderen nickten.
Das war unter einem feindseligen, missgünstigen Himmel gewesen, es war gegen die Natur. Es war gegen die Erde, die erzürnt darüber war, dass man sie anrührte, gegen die Pflanzen, die ihre eigenen Vorstellungen hatten. Gegen die Tiere, gegen die Menschen, alle einander feind, neidisch aufeinander und ständig im Krieg gegeneinander. Der Mensch den Tieren feind, die Tiere den Tieren feind, die Pflanzen den Pflanzen feind. Und überall die Zerstörung einer Sache durch ihre nächste, sodass man ständig reparieren musste, sich ständig verteidigen musste, und man war nur damit beschäftigt, nicht selbst zerstört zu werden.
«Oh! So war es doch», fuhr Sarment fort. «Erinnert euch, denn dann kam der Frost oder es kam zu viel oder zu wenig Regen: nie einfach gerade so viel von etwas, wie man brauchte; also versuchte man, nicht zu sterben, mehr nicht, und dann musste man ja doch sterben, was für ein Schwindel!»
Da hob Produit den Kopf, er sagte:
«Sogar das Gute war eine Täuschung.»
Er wandte sich an Sarment, er fuhr fort:
«Denn nichts war gut bis zum Ende. Denk doch nur daran, wie es mit dem Wein war.»
Damals war er Winzer und weitum bekannt für die Qualität seines Weines:
«Gerade als man den Geschmack zu spüren begann, ging er dahin; stahl sich vom Gaumen davon; man wollte ihn festhalten; und dann war er schon weg.»
Nie trank man, ohne dass man weitertrinken wollte. Man musste erneut anfangen zu trinken, und wieder eilte einem der Geschmack davon, ohne dass man ihn festhalten konnte, während man ihm sinnlos nachrannte. Und alles war wie der Wein, weil keine Sache je vollkommen war, keine Sache war abgeschlossen für uns, keine Sache kam je zur Erfüllung.
Wieder haben alle gesagt: «So ist es!» Sie saßen auf der Bank, während man auf der Gasse vorbeiging – danach sahen sie einander an, wunderten sich, dass sie immer noch waren, wie sie gewesen waren, und gleichzeitig anders.
Allmählich zeigte sich der Mond; man sah Adèle Genoud vorbeigehen, die Guten Abend sagte.
Sie sagten Guten Abend zu Adèle Genoud; und etwas weiter weg war die Werkstatt vom Schreiner Chemin; sie sahen ihn im Mondlicht, wie er vor der Werkstatt stehen blieb.
Sie sahen, wie er hineinging.
Und Adèle sagte zu Chemin:
«Wie kann ich hier sein, wie ist das möglich, nach dem, was ich getan habe?»
Und sie war ebenfalls ganz erstaunt, aber Chemin:
«Alles ist möglich.»
Und sie darauf:
«Ich habe ihn einfach zu sehr geliebt, den Kleinen, und nicht so, wie es richtig war. In dieser Zeit wusste man nicht zu lieben, wie es sich gehört. Ich hatte mir gesagt: ‹Ich will nicht, dass er unglücklich ist.› Ich hatte nur im Sinn, dass er nicht leiden musste, wie ich gelitten hatte. Ich hatte ihn aus seinem wohlig warmen Bettchen geholt; ich drückte ihn an mich. Verstehen Sie? Er hatte keinen Vater. Seinerzeit galten den Männern Versprechen nichts. Ich sagte mir: ‹Wozu soll er denn leben, wenn es nur ist, um unglücklich zu sein. Um von allen im Stich gelassen zu werden wie ich. Damit man mit dem Finger auf ihn zeigt, wie man auf mich gezeigt hat, damit er ausgelacht und gehänselt wird?› Es war, weil ich ihn so liebte. Ich sagte mir: ‹Er sollte nur die Sanftheit erfahren, nur, wie es ist, gehalten zu werden an meiner runden und warmen Brust, die nur ihm gehört.› Pierre Chemin!»
Pierre Chemin rauchte seine Pfeife; wieder rief sie nach ihm:
«Pierre Chemin!»
Aber der:
«Ach, kommen Sie, man muss die schlechten Erinnerungen loslassen, wie der Baum seine faulen Früchte fallen lässt.»