Sturz in die Sonne - Charles Ferdinand Ramuz - E-Book

Sturz in die Sonne E-Book

Charles Ferdinand Ramuz

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Beschreibung

Am Anfang steht eine wissenschaftliche Entdeckung: Wegen eines Unfalls im Gravitationssys-tem stürzt die Erde in die Sonne zurück. «Es wird immer heisser werden, und schnell wird alles sterben», schreibt C. F. Ramuz lakonisch dazu. Die Menschen am Ufer des Genfersees wollen das erst nicht glauben und erfreuen sich am schönen Wetter. Aber dann wird klar, dass es vor der Hitze kein Entkommen gibt, die Freude schlägt um in Angst, als die Gletscher schmelzen, die Flüsse austrocknen, die Bäume verdorren. 1922, als der Roman erstmals erschien, wusste C. F. Ramuz noch nichts von der Bedro-hung der globalen Erwärmung, der wir heute gegenüberstehen. Doch das düstere Bild, das er in diesem visionären Text in seiner einzigartig verdichteten Sprache zeichnet, liest sich wie eine Prophezeiung.

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Seitenzahl: 183

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Am Anfang steht eine wissenschaftliche Entdeckung: Wegen eines Unfalls im Gravitationssystem stürzt die Erde in die Sonne zurück. «Es wird immer heisser werden, und schnell wird alles sterben», schreibt C.F. Ramuz lakonisch dazu. Die Menschen am Ufer des Genfersees wollen das erst nicht glauben und erfreuen sich am schönen Wetter. Aber dann wird klar, dass es vor der Hitze kein Entkommen gibt, die Freude schlägt um in Angst, als die Bäume verdorren, die Gletscher schmelzen und die soziale Ordnung zu zerfallen beginnt.

1922, als der Roman erstmals erschien, wusste C.F. Ramuz noch nichts von der Bedrohung der globalen Erwärmung, der wir heute gegenüberstehen. Doch das düstere Bild, das er in diesem visionären Text in seiner einzigartig verdichteten Sprache zeichnet, liest sich wie eine Prophezeiung.

©

KEYSTONE

/

ROGER VIOLLET

/Gaston Paris

Charles Ferdinand Ramuz (1878–1947), geboren in Lausanne. Nach dem Studium der Klassischen Philologie ging er 1900 erstmals nach Paris, wo er von 1904–1914 lebte. Seine Romane wurden mehrfach verfilmt und er wurde wiederholt als Nobelpreiskandidat gehandelt. 1936 erhielt er den Großen Preis der Schweizer Schillerstiftung. Fast sechzig Jahre nach seinem Tod erschienen 2005 zweiundzwanzig seiner Romane in der renommierten Bibliothèque de la Pléiade in Paris.

C. F. Ramuz

Sturz in die Sonne

Roman

Aus dem Französischen vonSteven Wyss

Limmat VerlagZürich

INHALT

KAPITEL I

KAPITEL II

KAPITEL III

KAPITEL IV

KAPITEL V

KAPITEL VI

KAPITEL VII

KAPITEL VIII

KAPITEL IX

KAPITEL X

KAPITEL XI

KAPITEL XII

KAPITEL XIII

KAPITEL XIV

KAPITEL XV

KAPITEL XVI

KAPITEL XVII

KAPITEL XVIII

KAPITEL XIX

KAPITEL XX

KAPITEL XXI

KAPITEL XXII

KAPITEL XXIII

KAPITEL XXIV

KAPITEL XXV

KAPITEL XXVI

KAPITEL XXVII

KAPITEL XXVIII

KAPITEL XXIX

KAPITEL XXX

NACHWORT

DANK

DER ÜBERSETZER

I

Dann kamen die großen Worte; die große Botschaft wurde von einem Kontinent zum anderen über den Ozean gesandt.

Die große Nachricht bahnte sich die ganze Nacht mit Fragen und Antworten ihren Weg über das Wasser.

Gehört, allerdings, wurde sie nicht.

Die großen Worte gingen unbemerkt vorbei, sie trübten nichts in der Luft über den warenbeladenen Schiffen und den weißen Atlantikkreuzern, nichts am Himmel, der nur der größeren Sterne wegen beachtet wurde – und sie gingen, in vollkommener Stille, über die Meeresbrandung dahin.

Diese Nacht, diese Worte, dann die gestellten Fragen und die Antwort auf diese Fragen – nun wird sich alles für alle Menschen so sehr ändern, dass sie sich selber nicht wiedererkennen werden, aber vorerst ändert sich nichts; alles bleibt so ruhig, so außergewöhnlich ruhig über dem Wasser mit der nahenden Dämmerung, und vor ihrer schönen weißen Farbe raucht der Kamin eines großen Schiffes, das man nicht sieht.

Durch einen Unfall im Gravitationssystem stürzt die Erde schnell in die Sonne zurück, strebt ihr entgegen, um darin zu zerschmelzen: So lautet die Botschaft.

Alles Leben wird enden. Es wird immer heißer werden. Die Hitze wird unerträglich sein für alles Lebende. Es wird immer heißer werden, und schnell wird alles sterben. Und trotzdem, noch sieht man nichts.

Noch hört man nichts: Sogar die Botschaft selber ist verstummt. Was zu sagen war, ist gesagt; Stille.

Es ist Morgen geworden auf dem Meer, wo das Schiff dem Horizont entgegenfährt, wo es die große Steigung aus den vielen kleinen, unterschiedlichen Steigungen nimmt, eine nach der anderen wie die Ameise ihre Erdfurchen.

II

Bis zu diesem Tag hatte es, abgesehen von der extremen Trockenheit, keine Anzeichen gegeben. Wir hatten Ende Juli; sie hielt schon drei Monate an. Vereinzelte Gewitterregen im Juni, einige fünffrankengroße Tropfen, die in diesem Monat an gewissen Abenden noch ohne Vorwarnung auf die Pflastersteine vor meinem Haus fielen: Das war’s. Das Heu war schön ausgefallen, die Getreideernte gut und üppig. Erst danach wurde die Erde rissig, das Gras vergilbte und wurde knapp.

Man nimmt diese Anfänge zur Kenntnis und dass es, alles in allem, bis Ende Juli keine außergewöhnlichen Anzeichen gegeben hatte. Draußen noch nichts als Trockenheit und große Hitze, das Thermometer stieg zur Mittagsstunde auf 30 Grad, dann auf 32, 34 Grad. Ein wenig litt man schon, aber es war auszuhalten, denn da war diese Schönheit des Himmels, und schließlich sind wir hier an einem See. Und von hier aus sieht man es kommen, das heißt, man sieht nichts, außer dass man dieses Himmelsgewölbe vor sich hat, das noch nie so satt gestrichen war, wie wenn die Maler dagewesen sind und zwei, drei Schichten aufgetragen haben; aber ein guter Arbeiter, der ist nie zufrieden, der sagt: «Das reicht noch nicht.»

Man lebte unter der Schönheit dieses Himmels. Die hohen Stockrosen waren vertrocknet über der gelb gewordenen Petersilie und den chinesischen Nelken, die sich gar nicht erst geöffnet hatten: Dieser Himmel verdrängte alles. Man sagte: «Ja, es ist wahr, es ist heiß, aber es ist schön!» Man sagte weiter: «Heu hat es ja gegeben, Weizen hat es ja gegeben!» Man sagte: «Es wird doch nur das Gemüse fehlen, man wird halt versuchen, ohne auszukommen … Und dafür wird der Wein gut sein.» Unsere Winzer im Lavaux sollten zufrieden gewesen sein mit ihrem letzten Jahr, angesichts der Versprechen, die man ihnen machte, obwohl es in der Höhe Frost gegeben hatte, wie sie sagen; dafür wird das, was übrig bleibt, gut werden, erstklassig, wie sie noch sagen, wenn es so weitergeht, nur ein paar hübsche warme Niederschläge gegen Ende August hätte man gerne, damit die Trauben richtig fett werden. Und mit schnalzender Zunge: «Wenig, aber erstklassig … Und wenn sich die Preise halten …» Dann sah man wieder zum Himmel auf.

Denn, sehen Sie, ist es sauber genug, lackiert genug, poliert genug, glatt genug? Ist die Farbe satt genug? Über dem kleinen roten Schuppendach und dem runden Holunder, um die spitze Stechpalme, über dem Hang zum See hinunter und über dem See, über dem Wasser und über den Bergen. Über mir und über uns. Über uns allen. Und er wirkt so dauerhaft, dieser Himmel. Oh, so dauerhaft! Man sagte sich: «Es ist für immer …» Man muss sich freuen und geduldig sein, die Erschöpfung, die man spürt, wird vergehen, und man ist nicht sehr hungrig, stimmt schon, und man magert etwas ab, aber man kann ja im Herbst wieder zulegen.

Es geht gut! Der Gärtner selber sagt: «Es geht gut.» Guignet, der Gärtner, ist in diesem Punkt mit den Leuten einig, auch wenn es lästig ist, weil sich für ihn die Frage des Gießens stellt, heute Morgen hat er seinen Wasserschirm wieder mitten in einem Salatbeet aufgestellt, aber der Boden ist bis in die Tiefe von sechzig Zentimetern trocken, und die Erde so heiß, dass das Wasser gleich wieder verdampft. Sagt er, während er seinen Strohhut nach hinten schiebt, spuckt, seine Tonpfeife aus der Tasche zieht, seine Tonpfeife stopft und den Gemüsegarten um sich herum betrachtet.

Da sind Blumentöpfe, wegen der Maulwurfsgrillen bis zum Rand in die Erde eingelassen.

Da ist auch eine Spatzenfalle. Guignet steckt die Spatzen in die Tasche für seine Katze.

Wir haben an diesem Morgen noch eine Weile geplaudert, keinerlei Anzeichen, alles ist so schön!

Und nichts als diese Trockenheit, die immer mehr wird. Guignet hatte den Hahn mit dem Wasser vom Lac de Bret aufgedreht; tatsächlich, der Druck in den Leitungen fällt ab: Anstatt des großen Schirms, der sich vor einem öffnete, gab es rund um den Schaft nur noch einen kleinen Kreis aus feinem weißem Staub.

Es wird jeden Tag ein bisschen weniger; bald nichts mehr! Immer weniger; «also», hat Guignet gesagt (der seine Pfeife endlich angezündet hat, in deren Holm er bläst, weil sie nicht gut zieht), «also, wenn man nicht mehr gießen kann!»

Ich schaue mir indessen wieder diesen schönen Himmel an, in dem die eingerollten Blätter eines Flieders hängen.

Unser Savoyen, so sanft und schön, schiebt sich scharf nach vorne; seit mehreren Wochen sieht man es ganz nah, wie wenn das Wetter schlecht wird; aber das Wetter wird nie wieder schlecht.

Neulich in der Nacht fingen gegen zwei Uhr morgens die Läden zu schlagen an, die Fenster klapperten, die Türen rüttelten, die Ziegel flogen von den Dächern.

Ein starker, heißer Wind stieß durch die Fenster, die man Tag und Nacht offenstehen ließ. Ein starker, heißer Wind stürzte, von Süden kommend, mit seinem ganzen Gewicht von den Höhen der gegenüberliegenden Berge auf uns herab. Ich bin nachsehen gegangen. Von Wolken keine Spur. Nur diese derart großen Sterne, derart weiß, dass sie den Himmel ganz schwarz machten. Sterne wie Papierlaternen. Bei diesem Wind wurde einem noch heißer, obwohl er so heftig war, dass man rückwärts geschoben wurde. Und man bekam Angst, aber man konnte dieser Angst nicht wirklich nachgehen, weil da war es auch schon vorbei. Schlagartig, aber so ganz und gar vorbei, dass man sofort wieder das Ticktack der Uhr auf dem Nachttisch hören konnte.

Man geht im See baden. Der große Strand ist, wohin man blickt, braun vor nackten Leuten.

In einer kleinen Bude verkauft eine Frau Gebäck. Aus einem Holzkübel voller Eis ragen Bierflaschenhälse. Leute, die ihr Lebtag nie gebadet haben, sind gekommen. Auf dem Kiel eines alten Bootes saß ein kleiner Alter mit seiner Pelerine auf dem Schoß und las ein Buch. Seine Haut war so weiß, als wäre sie mit Mehl eingerieben. Der Körper des riesigen Fährmannes gleich neben ihm hatte die Farbe eines zu stark gebrannten Ziegelsteins, das heißt, etwas zwischen Braun, Rot und Schwarz. Kleine Mädchen spielen rondin picotin; Frauen tragen Badeanzüge. Der Sand rinnt einem wie Wasser durch die Zehen; da sind bunte Scherben, schöne Kieselsteine, rund, flach oder eiförmig. Die Stadt leert sich jeden Nachmittag, und man sieht sie auf alle möglichen Arten hinuntersteigen, zu Fuß, mit der Straßenbahn, mit der Standseilbahn, mit dem Fahrrad, hin zur Frische, hin zum Wohlgefühl – wie auch heute wieder zwei dicke Prostituierte, die sittsam mit ihren Blumenhüten auf dem Kopf bis zum Hals im Wasser sitzen.

Kinder sind herbeigeschwommen und auf die Ruder der vorbeifahrenden Dampfschiffe geklettert.

Man sieht, dass diese Dampfschiffe voll von Leuten sind, die es mögen, im Schatten des Drillichverdecks gegen den Wind zu fahren.

Diese großen weißen Maschinen mit ihren drehenden Schaufelrädern und einem Kamin, der raucht, wie wenn man beim Matratzenmacher die Rosshaare verzupft.

III

Da fingen sich also diese Nachrichten zu verbreiten an, zunächst von den Redaktionen nur ungläubig aufgenommen; dann auf die Titelseite der Zeitungen gehoben, gehisst wie schwarzweiße Fahnen, Trauerfahnen.

Bei uns allerdings löste das in den ersten Tagen kaum etwas aus. Hier bei uns hat man nicht viel Vorstellungskraft.

Diese Stadt, die sich da oben über ihre drei Hügel zieht, sie ließ weiterhin, in mehr oder weniger großer Zahl, die mehr oder weniger weit auseinanderliegenden Stundenschläge ihrer Uhren zu uns herabrollen.

Dieser Vorort, wo ich bin, nicht weit vom See, ist noch immer recht ländlich, auch wenn es viele Neubauten gibt. Die Abendzeitung kommt kaum vor sechs Uhr, und sie wird zuerst von den Frauen gelesen, da sind die Männer noch nicht von der Arbeit zurück. 36 Grad im Schatten heute Abend, trotzdem nicht das geringste Anzeichen eines Gewitters, nicht eine dieser dicken, weißen, schäfchenhaften oder glatten, keine dieser schieferigen oder schwarzen Wolken, und auch nicht diese Schwere der Luft, die das schlechte Wetter ankündigt. Das Licht ist noch kein bisschen weißer, es scheint sogar goldener über diesen Stimmen, die von unten kommen. Das Blau des Himmels ist blauer geworden, wenn das überhaupt möglich ist. Und alles geht seinen gewohnten Gang. Im Café trinkt man, im Lebensmittelladen wiegt man den Zucker und in der Bäckerei das Brot (wie immer). Und vielleicht geht schon ein großes Gerücht um den Rest der Welt: Hier kommt nur die Straßenbahn gemächlich angefahren; sie hat vor dem Café gehalten. Da der Wagen leer ist, gehen die Angestellten noch einen trinken.

Eine Frau lehnt sich aus dem Fenster: «Haben Sie es gelesen?»

Die Stimme einer Frau aus dem unteren Stock:

«Nein.»

Im dritten Stock sieht man den oberen Teil der weißen, nicht richtig zugehakten Bluse der Frau, die die Frage gestellt hat, aus dem Fenster schauen; sie hält die Zeitung in der Hand. Sie liest die Nachricht vor. Die Frau von unten kippt den Kopf nach hinten, zieht dabei ein kleines Mädchen an sich heran, dem sie die Haare für die Nacht kämmt, während sie unablässig mit den Fingern durch die langen blonden Strähnen streicht.

Und die Frau von oben, die fertig gelesen hat, zeigt auf die Stelle, wo es abgedruckt ist, aber die andere: «Was geht mich das an?»

Am Anfang ist der Entdecker einer Idee mit seiner Idee allein. Die Nachricht wird mit Gleichgültigkeit und Lächeln aufgenommen. Über den mehr oder weniger nah beieinanderliegenden Dächern bricht ein Abend wie jeder andere an. Es ist der Moment, da die Badenden, nachdem sie noch ein letztes Mal mit beiden Händen aufs Wasser geklatscht und ihr Stück Marseiller Seife in die gestreifte Badehose geklemmt haben, wieder hinaufgehen. Die Schultern brennen ihnen unter den Hemden, die Frauen haben scharlachrote Nacken, und Arme, deren Farbe von den Musselinärmeln kaum abgeschwächt wird. Da sind Mütter, die sich verspätet haben und den Wagen mit ihrem Jüngsten vor sich herschieben, während die anderen Kinder zu folgen versuchen, so gut sie können. Gleich kommt der Mann nach Hause. Vielleicht ist er schon zu Hause. Schnell, schnell in dieser Sonne, die rot geworden ist, erst orangerot, dann rotrot, dann schwarzrot.

Man muss am Bauernhof vorbei. Man sieht, wie im Innenhof die abendliche Arbeit verrichtet wird, so wie immer. Zwei oder drei Männer, einer davon der Meister; sie gehen hin und her. Sie stellen sich nichts vor, das über sie hinausgeht. Sie halten die Beständigkeit der Dinge für so beständig, dass sie sich niemals ändern wird.

Die Schubkarre dreht ihr einziges Rad, so wie sie es schon gestern gedreht hat, und so, wie sie es auch morgen drehen wird. Das Rad der Schubkarre quietscht. Man kann die Kuh, die am nächsten bei der Stalltür steht, vom Weg aus sehen. Da sind rote Fensterläden. Das Scheunentor ist rot. Da ist eine alte Tanne, die krumm an der Schuppenecke steht.

Und doch ist die Zeitung auch hier angekommen. Eine kleine magere Frau, den Körper ganz schief in ihrer grauen Drillichbluse, trägt einen Weidenkorb am Arm, ohne zu wissen, was sich in diesem Korb befindet. Darin liegt die zusammengefaltete Nachricht, daneben dieselbe, ebenfalls zusammengefaltete Nachricht. Sie legt sie vor jede Tür. Auf der alten, grün gestrichenen Bank an der Scheunenwand beginnt der Meister, der sein Tagwerk beendet hat, zu lesen: Er hat es nicht verstanden, es ist zu groß. Das ist nicht für uns, es ist zu groß. Unsere Welt ist so klein. Unsere Welt geht so weit, wie unser Auge reicht. Der Meister, der zu Ende gelesen hat, schaut sich um, am Anfang vielleicht mit einer leichten Unruhe; die Unruhe verschwindet wieder.

Man müsste sich den Himmel vorstellen können, die Gestirne, die Kontinente, die Ozeane, den Äquator, die zwei Pole. Aber man stellt sich nichts vor außer sich selber und was um einen herum ist. Ich strecke die Hand aus, ich berühre. Der Meister legt die Zeitung auf die Bank, zieht seine Uhr hervor, sieht die Zeit auf seiner Uhr. Er spürt nur, dass ihm der Hunger kommt.

IV

Dann im Laden. Sieben Uhr. Sieben Uhr dreißig.

«Oh! Mein Gott, mein Gott, mein Gott!»

Genau so; zwei-, drei-, vier-, fünfmal nacheinander.

Eine Frau ist eingetreten, und sie sagt es, einmal, zwei-, drei-, vier-, fünfmal, und sonst nichts; darauf die Krämerin:

«Also wirklich, Madame Corthésy!»

Alle diese barfüßigen Kinder (die Buben haben gar nur eine Hose), die sich wundern und, mit ihrem Geldstück zwischen zwei Fingern, hinter der großen Schale der gut polierten Kupferwaage hervorschauen, die in einem beginnenden Schatten glänzt.

«Also wirklich, Madame Corthésy!»

Die gute dicke Krämerin mit ihrem Bauch und einem kleinen Strauß roter Venen auf jeder Wange.

Aber die Frau schüttelt den Kopf, während sich ihre Hände vor ihr heben und wieder senken: «Aber», sagt sie, «es könnte doch sein, dass es stimmt …»

«Dummes Zeug!», fängt da der Schreiner an. «Die Nachricht kommt aus Amerika, Sie wissen doch, was das bedeutet. Die Zeitungen haben sich nicht mehr verkauft; was soll man da machen?»

Fährt der Mann, der Schreiner der Gegend, fort, ein hagerer Mann mit schlauer Miene, der vor einem Kartonrechteck mit aufgenähten Kragenknöpfen steht.

«Die lügen hemmungslos …»

In einer Seelenruhe, mit den Händen in der Tasche seiner grünen Serge-Schürze.

«Was willst du, Henri? … Und du, Georges? … Ein Kilo Salz, hast du eine Tüte? … Geh rasch und frag deine Mutter …»

Laden, Telefonklingeln, Vitrinen, Gläser, Fliegen.

Dann kommt noch eine Frau, ein Mann, zwei oder drei Kinder; wie geht’s? Und die Krämerin tippt sich, während sie zwei Franken herausgibt, mit dem Finger an die Stirn, denn die erste Frau, diese Madame Corthésy, ist gerade gegangen.

Eine Verrückte, eine Gestörte. Die Krämerin traut sich nicht, laut zu sagen, was sie denkt, wegen der Leute, aber der Schreiner hat verstanden. Sie und der Schreiner schauen sich an.

Die nackten Füße der Kinder, die auf dem Trottoir kein Geräusch machen, machen auch keins auf dem Holzfußboden; diese kleinen, runden und frisch geschorenen Köpfe, die sie haben, die sich aneinanderdrücken.

Geld wird gereicht, Päckchen werden entgegengenommen, oder Brot, oder Zuckerpackungen, oder Saft für fünf Rappen; während die Erwachsenen, die hier sind, ihr Taschentuch hervornehmen und sich damit immer wieder über die Stirn wischen, denn heute Abend hofft man vergebens auf Abkühlung.

Und noch eine Stimme:

«Tja, was halten Sie davon?»

Und der Schreiner:

«Gar nichts.»

Er lacht. Er hat wieder zu lachen angefangen; aber der andere:

«Ja, aber wer weiß!»

Und der andere, ein kleiner Dicker mit Bauch, der gekommen ist, um Tabak zu kaufen, er meint es halbwegs ernst, als der Schreiner trotzdem wieder damit anfängt: «Lügen! Märchen! …», – in der linken Hand seine gelbe Packung mit dem grünen Band, ohne sie zu öffnen; weil er vielleicht versucht, sich vorzustellen, wie es wäre, und die Pfeife hängt leer in seinem Mundwinkel, ohne dass es ihm in den Sinn kommt, sie zu stopfen.

Er versucht, es sich vorzustellen; es ist schwer, er lässt es.

Er reißt das Band an der Packung auf, er steckt zwei dicke Finger in die Öffnung.

Dann ein Schulterzucken, ein «Ich muss los!», ein «Schönen Abend».

Das Geräusch der Waage.

Das elektrische Licht, das wie ein dicker Mond hoch über der Straße hängt, ist angegangen. Mit einer Kurbel holt man es von Zeit zu Zeit herunter zum Putzen oder für eine Reparatur. Es gibt da oben erst ein Knistern von sich, so als wäre ein Nachtfalter in der Glaskugel gefangen, zerstreut sich dann rings um sich selber als feiner, violetter Staub. Das Licht sieht aus wie der echte Mond, bevor das schlechte Wetter kommt. Und dann sucht man den echten Mond, und nach einer Weile, da, hat man ihn gefunden, dort hinter den Dächern, hinter den Kastanienbäumen, noch ganz tief am Himmel und nicht kleiner als der andere, aber bleich, so bleich und reglos, wie zur Zier mit dem Pinsel an den Himmel gemalt.

Auch in den Wohnungen schalten sie die Lampen ein. In den Fassaden der Häuser entstehen, nicht weit über dem Boden, weiße oder gelbe Rechtecke. Die Häuser sieht man nicht mehr. Nichts als ein kleiner Hinweis, wo man ist und wo man sich befindet; ein Licht, das einem sagt, dass da jemand ist, meist auf halber Höhe, schwebend, übereinander; und man sieht, dass sich die Menschen übereinander zum Schlafen hinlegen, man sieht, dass sie sich einnisten wie Vögel. Die Geräusche legen sich; man bringt die Kinder ins Bett, man isst. Was denkt man? Denn jetzt kommt die Zeit, da man wieder zu denken anfangen kann.

Aber die Dinge, an die sie denken (wenn sie denn daran denken), sind Dinge, die man nicht sieht. In der Ferne rollt die Straßenbahn durch die Nacht; im Hafen ist das Horn des letzten Schiffes ertönt.

Und der See ist still heute Abend, schon lange hört man ihn nicht mehr – während er doch früher mit seinen Wellen bis zu uns gekommen war, jede wie ein großer Satz, schnell und mit dumpfer Stimme hingeworfen. Zu Zeiten, da alle zwei oder drei Tage ein heftiger Südwind aufkam: Dann war die tiefe Stimme da.

Aber heute Abend kein See mehr, und schon lange kein See mehr; das ist es vielleicht, was Angst macht, das ist es, was begonnen hat, Angst zu machen, diese Art Loch, das im Raum entstanden ist. Die Leute auf der Straße spüren eine leichte Unruhe. Und da ist auch noch das Café. Nachdem der Laden gegenüber geschlossen hat, ist es immer größer und dicker geworden, mit seiner Tür, an der ein Cretonnevorhang mit Blumenmotiven hängt, und seiner Gartenlaube mit grünem Spalier, wo der Stamm einer Glyzinie aus vielen kleinen, krumm zusammengewachsenen Stämmen besteht. Neun Uhr; da ist es voll. In diesem Moment wird mit der Faust auf einen Tisch geschlagen. Nicht auf den großen, der die Mitte des Raumes einnimmt, sondern auf einen der zwei kleinen zu beiden Seiten.

Ein Mann, der schon eine ganze Weile dort gesessen hatte, zeigt zwei Männern neben sich die Stelle in der Zeitung; er fährt mit dem Finger die Schlagzeile entlang; er hat zum einen der beiden gesagt: «Siehst du?»; und zum anderen:

«Siehst du?»

Dann hat er die Hand gehoben.

«Schon komisch, oder nicht? Wir waren es doch so gewohnt, dass jeder für sich stirbt …»

Er redet immer lauter:

«Jeder für sich, jeder in seinem Bett … Sieht so aus, als würde sich das ändern … Alle zusammen! Du … du … ich … und dann die …»

Er zeigt auf die Leute, die da sind:

«Ich werde jetzt wohl auch diese Herren einladen müssen …»

Er lacht.

«Denn alle würden sich am Hals fassen … Wir würden eine Kette bilden.»

«Schweigen Sie!»

Es ist einer, der an dem Tisch in der Mitte sitzt, da hat sich eine große Stille ausgebreitet; und dieser dann:

«Schweigen Sie, habe ich gesagt!»

Mit böser Stimme, wie jemand, der Angst hat.

V



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