Dostojewski - Zweig Stefan - E-Book

Dostojewski E-Book

Zweig Stefan

0,0

Beschreibung

Fjodor Dostojewski zählt zu den herausragenden Figuren der russischen Literatur. Seinem literarischen Talent verdankt die Literaturgeschichte Werke wie die Die Brüder Karamasow oder Schuld & Sühne. Dostojewskis Genialität entspringt nach Ansicht von Stefan Zweig zu einem Gutteil aus seiner Erkrankung, der Epilepsie und damit aus einer ganz gegensätzlichen Quelle als das Schaffen eines Tolstoi, der aus seiner übervollen Gesundheit schöpfte. Die Krankheit ermöglichte Dostojewski, in eine Sphäre so konzentrierten Gefühls aufzusteigen, wie sie von normalen Menschen selten erlebt wird. Sie erlaubte ihm, in die Unterwelt der Emotionen vorzudringen, in die versunkenen Regionen der Psyche. Diese biographische Studie ist eines der besten Beispiele für Stefan Zweigs psychologisch fundierte Literaturkritiken. Es handelt sich bei diesem Werk um den dritten Aufsatz aus dem Buch Drei Meister: Balzac, Dickens, Dostojewski. Teils Biographie, teils Literaturkritik, teils Kulturgeschichte bietet der Aufsatz einen Einblick in die Sichtweise eines Mitteleuropäers auf das russische Literaturgenie, das 1881, dem Geburtsjahr Zweigs, starb.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 157

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Dostojewski

Die Tragödie seines Lebens

 

von Stefan Zweig (1920)

 

 

 

 

Aureon Verlag GmbH

INHALTSVERZEICHNIS

EINKLANG

DAS ANTLITZ

DIE TRAGÖDIE SEINES LEBENS

SINN SEINES SCHICKSALS

DIE MENSCHEN DOSTOJEWSKIS

REALISMUS UND PHANTASTIK

ARCHITEKTUR UND LEIDENSCHAFT

DER ÜBERSCHREITER DER GRENZEN

DIE GOTTESQUAL

VITA TRIUMPHATRIX

 

 

 

 

Daß du nicht enden kannst,

das macht dich groß.

~ Goethe, Westöstlicher Divan

 

EINKLANG

 

Es ist schwer und verantwortungsvoll, von Fedor Michailowitsch Dostojewski und seiner Bedeutung für unsere innere Welt würdig zu sprechen, denn dieses Einzigen Weite und Gewalt will ein neues Maß.

Ein umschlossenes Werk, einen Dichter vermeinte erstes Nahen zu finden und entdeckt Grenzenloses, einen Kosmos mit eigen kreisenden Gestirnen und anderer Musik der Sphären. Mutlos wird der Sinn, diese Welt jemals restlos zu durchdringen: zu fremd ist erster Erkenntnis ihre Magie, zu weit ins Unendliche verwölkt ihr Gedanke, zu fremd ihre Botschaft, als daß die Seele unvermittelt aufschauen könnte in diesen neuen wie in heimatlichen Himmel. Dostojewski ist nichts, wenn nicht von innen erlebt. Nur dort, ganz im Untersten, im Ewigen und Unabänderlichen unseres Seins, Wurzel in Wurzel, können wir uns Dostojewski zu verbinden hoffen; denn wie fremd scheint äußerem Blick diese russische Landschaft, die, wie die Steppen seiner Heimat, weglose, und wie wenig Welt von unserer Welt! Nichts Freundliches umfriedet dort lieblich den Blick, selten rät eine sanfte Stunde zur Rast. Mystische Dämmerung des Gefühls, trächtig von Blitzen, wechselt mit einer frostigen, oft eisigen Klarheit des Geistes, statt warmer Sonne flammt vom Himmel ein geheimnisvoll blutendes Nordlicht. Urweltlandschaft, mystische Welt hat man mit Dostojewskis Sphäre betreten, uralt und jungfräulich zugleich, und süßes Grauen schlägt einem entgegen wie vor jeder Naheit ewiger Elemente. Bald schon sehnt sich Bewunderung gläubig zu verweilen, und doch warnt eine Ahnung das ergriffene Flerz, hier dürfe es nicht heimisch werden für immer, müsse es doch wieder zurück in unsere wärmere, freundlichere, aber auch engere Welt. Zu groß ist, spürt man beschämt, diese erzene Landschaft für den täglichen Blick, zu stark, zu beklemmend diese bald eisige, bald feurige Luft für den zitternden Atem. Und die Seele würde fliehen vor der Majestät solchen Grauens, wäre nicht über dieser unerbittlich tragischen, entsetzlich irdischen Landschaft ein unendlicher Himmel der Güte sternenklar ausgespannt, Himmel auch unserer Welt, doch höher ins Unendliche gewölbt in solchem scharfen geistigen Frost, als in unseren linden Zonen. Erst der befreundete Aufblick aus dieser Landschaft zu ihrem Himmel spürt die unendliche Tröstung dieser unendlichen irdischen Trauer, und ahnt im Grauen die Größe, im Dunkel den Gott.

Nur solcher Aufblick zu seinem letzten Sinne vermag unsere Ehrfurcht vor dem Werke Dostojewskis in eine brennende Liebe zu verwandeln, nur der innerste Einblick in seine Eigenheit das Tiefbrüderliche, das Allmenschliche dieses russischen Menschen uns klarzutun. Aber wie weit und wie labyrinthisch ist dieser Niederstieg bis zum innersten Herzen des Gewaltigen; machtvoll in seiner Weite, schreckhaft durch seine Ferne, wird dies einzige Werk in gleichem Maße geheimnisvoller, als wir von seiner unendlichen Weite in seine unendliche Tiefe zu dringen suchen. Denn überall ist es mit Geheimnis getränkt. Von jeder seiner Gestalten führt ein Schacht hinab in die dämonischen Abgründe des Irdischen, hinter jeder Wand seines Werkes, jedem Antlitz seiner Menschen liegt die ewige Nacht und glänzt das ewige Licht: denn Dostojewski ist durch Lebensbestimmung und Schicksalsgestaltung allen Mysterien des Seins restlos verschwistert. Zwischen Tod und Wahnsinn, Traum und brennend klarer Wirklichkeit steht seine Welt. Überall grenzt sein persönliches Problem an ein unlösbares der Menschheit, jede einzelne belichtete Fläche spiegelt Unendlichkeit. Als Mensch, als Dichter, als Russe, als Politiker, als Prophet: überall strahlt sein Wesen von ewigem Sinn. Kein Weg führt an sein Ende, keine Frage bis in den untersten Abgrund seines Herzens. Nur Begeisterung darf ihm nahen, und auch sie nur demütig in der Beschämung, geringer zu sein als seine eigene liebende Ehrfurcht vor dem Mysterium des Menschen.

Er selbst, Dostojewski, hat niemals die Hand gerührt, um uns an sich heranzuhelfen. Die anderen Baumeister des Gewaltigen in unserer Zeit offenbarten ihren Willen. Wagner legte neben sein Werk die programmatische Erläuterung, die polemische Verteidigung, Tolstoi riß alle Türen seines täglichen Lebens auf, jeder Neugier Zutritt, jeder Frage Rechenschaft zu geben. Er aber, Dostojewski, verriet seine Absicht nie anders als im vollendeten Werk, die Pläne verbrannte er in der Glut der Schöpfung. Schweigsam und scheu war er ein Leben lang, kaum das Äußerliche, das Körperliche seiner Existenz ist zwingend bezeugt. Freunde besaß er nur als Jüngling, der Mann war einsam: wie Verminderung seiner Liebe zur ganzen Menschheit schien es ihm, einzelnen sich hinzugeben. Auch seine Briefe verraten nur Notdurft der Existenz, Qual des gefolterten Körpers, alle haben sie verschlossene Lippen, so sehr sie Klage und Notruf sind. Viele Jahre, seine ganze Kindheit sind von Dunkel umschattet, und schon heute ist er, dessen Blick manche in unserer Zeit noch brennen sahen, menschlich etwas ganz Fernes und Unsinnliches geworden, eine Legende, ein Heros und ein Heiliger. Jenes Zwielicht von Wahrheit und Ahnung, das die erhabenen Lebensbilder Homers, Dantes und Shakespeares umwittert, entirdischt uns auch sein Antlitz. Nicht aus Dokumenten, sondern einzig aus wissender Liebe läßt sich sein Schicksal gestalten.

Allein also und führerlos muß man hinab in das Herz dieses Labyrinths zu tasten suchen und den Faden Ariadnes, der Seele, vom Knäuel der eigenen Lebensleidenschaft ablösen. Denn je tiefer wir uns in ihn versenken, desto tiefer fühlen wir uns selbst. Nur wenn wir an unser wahres allmenschliches Wesen hinangelangen, sind wir ihm nah. Wer viel von sich selbst weiß, weiß auch viel von ihm, der wie kaum einer das letzte Maß aller Menschlichkeit gewesen. Und dieser Gang in sein Werk führt durch alle Purgatorien der Leidenschaft, durch die Hölle der Laster, führt über alle Stufen irdischer Qual: Qual des Menschen, Qual der Menschheit, Qual des Künstlers und der letzten, der grausamsten, der Gottesqual. Dunkel ist der Weg, und von innen muß man glühen in Leidenschaft und Wahrheitswillen, um nicht in die Irre zu gehen: unsere eigene Tiefe erst müssen wir durchwandern, ehe wir uns in die seine wagen. Er sendet keine Boten, einzig das Erlebnis führt Dostojewski zu. Und er hat keine Zeugen, keine anderen als des Künstlers mystische Dreieinheit in Fleisch und Geist: sein Antlitz, sein Schicksal und sein Werk.

 

DAS ANTLITZ

 

Sein Antlitz scheint zuerst das eines Bauern. Lehmfarben, fast schmutzig falten sich die eingesunkenen Wangen, zerpflügt von vieljährigem Leid, dürstend und versengt spannt sich mit vielen Sprüngen die rissige Haut, der jener Vampir zwanzigjährigen Siechtums Blut und Farbe entzogen. Rechts und links starren, zwei mächtige Steinblöcke, die slawischen Backenknochen heraus, den herben Mund, das brüchige Kinn überwuchert wirrer Busch von Bart. Erde, Fels und Wald, eine tragisch elementare Landschaft, das sind die Tiefen von Dostojewskis Gesicht. Alles ist dunkel, irdisch und ohne Schönheit in diesem Bauern- und beinahe Bettlerantlitz; flach und farblos, ohne Glanz dunkelt es hin, ein Stück russische Steppe auf Stein versprengt. Selbst die Augen, die tief eingesenkten, vermögen aus ihren Klüften nicht diesen mürben Lehm zu erleuchten, denn nicht nach außen schlägt klar und blendend ihre gerade Flamme, gleichsam nach innen ins Blut hinein brennen zehrend ihre spitzen Blicke. Wenn sie sich schließen, stürzt der Tod sofort über dies Gesicht, und die nervöse Hochspannung, die sonst die mürben Züge zusammenhält, sinkt nieder ins lethargisch Unbelebte.

Wie sein Werk ruft dies Antlitz erst das Grauen vom Reigen der Gefühle auf, dem sich zögernd Scheu und dann leidenschaftlich, in wachsender Bezauberung, Bewunderung gesellt. Denn nur die irdische Niederung, die fleischliche, seines Antlitzes dämmert hin in dieser düster-erhabenen naturhaften Trauer. Aber wie eine Kuppel, weißstrahlend und gewölbt, hebt sich ragend über dem engen bäuerischen Gesicht die aufstrebende Rundung der Stirne: aus Schatten und Dunkel steigt blank und gehämmert der geistige Dom: harter Marmor über den weichen Lehm des Fleisches, das wüste Dickicht des Haares. Alles Licht strömt in diesem Antlitz nach oben, und blickt man in sein Bild, so fühlt man immer nur sie, diese breite mächtige, königliche Stirne, sie, die immer strahlender leuchtet und sich zu weiten scheint, je mehr das alternde Antlitz in Krankheit vergrämt und vergeht. Wie ein Himmel steht sie hoch und unerschütterlich über der Hinfälligkeit des gebrestigen Körpers, Glorie von Geist über irdischer Trauer. Und auf keinem Bilde leuchtet dies heilige Gehäuse des sieghaften Geistes glorreicher als von jenem des Totenbetts, da die Lider schlaff über die gebrochenen Augen gefallen sind, die entfärbten Hände, fahl und doch fest, das Kreuz gierig umfassen (jenes arme kleine Holzkruzifix, das einst eine Bäuerin dem Zuchthäusler schenkte). Da strahlt sie wie morgens die Sonne über nächtiges Land nieder auf das entseelte Antlitz und kündet mit ihrem Glanz die gleiche Botschaft wie alle seine Werke: daß der Geist und der Glaube ihn erlösten vom dumpfen niederen und körperlichen Leben. In letzter Tiefe ist immer Dostojewskis letzte Größe: und nie spricht sein Antlitz stärker als aus seinem Tod.

 

DIE TRAGÖDIE SEINES LEBENS

Non vi si pensa quanto sangue costa.

~ Dante

 

 

Immer ist bei Dostojewski Grauen der erste Eindruck und der zweite erst Größe. Auch sein Schicksal scheint anfangs dem flüchtigen Blick so grausam und gemein, wie sein Antlitz bäuerisch und gewöhnlich. Zuerst empfindet man es nur als eine sinnlose Marter, denn mit allen Instrumenten der Qual foltern diese sechzig Jahre den hinfälligen Körper. Die Feile der Not reibt seiner Jugend und seinem Alter die Süße weg, die Säge des körperlichen Schmerzes knirscht in sein Gebein, die Schraube der Entbehrung wühlt ihm hart bis an den Lebensnerv, die brennenden Drähte der Nerven zucken und zerren unaufhörlich durch seine Glieder, der feine Stachel der Wollust reizt unersättlich seine Leidenschaft. Keine Qual ist gespart, keine Marter vergessen. Eine sinnlose Grausamkeit, eine blindwütige Feindseligkeit scheint dies Schicksal vorerst. Rückschauend nur begreift man, daß es sich so hart zum Hammer geschmiedet, weil es Ewiges aus ihm meißeln wollte, daß es gewaltig war, um einem Gewaltigen gemäß zu sein. Denn nichts mißt es dem Maßlosen gemächlich zu, nirgends ähnelt sein Lebensgang dem gut gepflasterten breiten Bürgersteig aller anderen Dichter des neunzehnten Jahrhunderts, immer fühlt man hier eines finsteren Schicksalsgottes Lust, sich stark an dem Stärksten zu versuchen. Alttestamentarisch, heroisch und in nichts neuzeitlich und bürgerlich ist Dostojewskis Schicksal. Ewig muß er mit dem Engel ringen wie Jakob, ewig sich gegen Gott empören und ewig sich beugen wie Hiob. Nie läßt es ihn sicher werden, nie träge, immer muß er den Gott spüren, der ihn straft, weil er ihn liebt. Nicht eine Minute darf er rasten im Glück, damit sein Weg bis ins Unendliche gehe. Manchmal scheint der Dämon seines Schicksals schon innezuhalten in seinem Zorn und ihm zu verstatten, wie alle anderen die gemeine Straße des Lebens zu gehen, aber immer wieder reckt sich die gewaltige Hand und stößt ihn ins Dickicht zurück, in die brennenden Dornen. Schleudert es ihn hoch, so ist's nur, um ihn in tiefere Abgründe hinabzustürzen, ihn die ganze Weite der Ekstase und Verzweiflung zu lehren; es hebt ihn auf in Höhen des Hoffens, wo andere schwach zerschmelzen in Wollust, und wirft ihn in Schlünde des Leidens, wo alle andern zerschellen in Schmerz: und eben wie Hiob zerschmettert es ihn immer in den Augenblicken der höchsten Sicherheiten, nimmt ihm Frau und Kind, belädt ihn mit Krankheit und schändet ihn mit Verachtung, damit er nicht innehalte, mit Gott zu rechten, und ihm durch seine unaufhörliche Empörung und seine unaufhörliche Hoffnung nur mehr gewonnen sei. Es ist, als hätte sich diese Zeit lauer Menschen gerade diesen einen aufgespart, um zu zeigen, welche titanischen Maße in Lust und Qual auch unserer Welt noch möglich seien, und er, Dostojewski, scheint dumpf den gewaltigen Willen über sich zu spüren. Denn niemals wehrt er sich gegen sein Schicksal, niemals hebt er die Faust. Der Körper, der wunde, bäumt sich konvulsivisch in Zuckungen empor, aus seinen Briefen bricht manchmal wie Blutsturz ein heißer Schrei, aber der Geist, der Glaube, zwingt die Revolte nieder. Der mystisch Wissende in Dostojewski spürt das Heilige dieser Hand, den tragisch fruchtbaren Sinn seines Schicksals. Aus seinem Leid wird Liebe zum Leiden, und mit der wissenden Glut seiner Qual umflammt er seine Zeit, seine Welt.

Dreimal schwingt ihn das Leben empor, dreimal reißt es ihn nieder. Früh schon atzt es ihn mit der süßen Speise des Ruhms: sein erstes Buch schenkt ihm einen Namen; aber rasch faßt ihn die harte Kralle und schleudert ihn wieder zurück ins Namenlose: ins Zuchthaus, in die Katorga, nach Sibirien. Wieder taucht er, nur noch stärker und mutiger, empor: seine Memoiren aus dem Totenhause reißen Rußland in einen Taumel. Der Zar selbst netzt das Buch mit seinen Tränen, die russische Jugend steht in Flammen für ihn. Er gründet eine Zeitschrift, seine Stimme tönt zum ganzen Volke, die ersten Romane entstehen. Da bricht im Wettersturz seine materielle Existenz zusammen, Schulden und Sorgen peitschen ihn aus dem Land, Krankheit beißt sich in sein Fleisch, ein Nomade, irrt er durch ganz Europa, vergessen von seiner Nation. Aber zum drittenmal, nach Jahren der Arbeit und Entbehrung, taucht er aus den grauen Gewässern namenloser Not: die Rede zu Puschkins Gedächtnis bezeugt ihn als den ersten Dichter, den Propheten seines Landes. Unauslöschlich ist nun sein Ruhm. Aber gerade jetzt schlägt ihn die eiserne Hand nieder, und die verzückte Begeisterung seines ganzen Volkes schäumt ohnmächtig gegen einen Sarg. Das Schicksal bedarf seiner nicht mehr, der grausam weise Wille hat alles erreicht, aus seiner Existenz das Höchste gewonnen an geistiger Frucht: achtlos wirft es nun die leere Hülse des Körpers hin.

Durch diese sinnvolle Grausamkeit wird Dostojewskis Leben zum Kunstwerk, seine Biographie zur Tragödie. Und in wundervoller Symbolik nimmt sein künstlerisches Werk die typische Form des eigenen Schicksals an. Schon der Anbeginn seines Lebens ist Symbol: Fedor Michailowitsch Dostojewski wird im Armenhaus geboren. Mit der ersten Stunde ist ihm so schon die Stelle seiner Existenz angewiesen, irgendwo im Abseits, im Verachteten, nahe dem Bodensatz des Lebens und doch mitten im menschlichen Schicksal, nachbarlich von Leiden, Schmerz und Tod. Niemals bis zum letzten Tage (er starb in einem Arbeiterviertel, in einer Winkelwohnung des vierten Stocks) ist er dieser Umgürtung entronnen, alle die sechsundfünfzig schweren Jahre seines Lebens bleibt er mit Elend, Armut, Krankheit und Entbehrung im Armenhaus des Lebens. Sein Vater, Militärarzt wie der Schillers, ist adliger Abstammung, seine Mutter aus Bauernblut: beide Quellen des russischen Volkstums strömen so befruchtend in seine Existenz zusammen, strenggläubige Erziehung wendet schon früh seine Sinnlichkeit zur Ekstase. Dort im Moskauer Armenhaus, in einem engen Verschlag, den er mit seinem Bruder teilt, hat er die ersten Jahre seines Lebens verbracht. Die ersten Jahre; man wagt nicht zu sagen: seine Kindheit, denn dieser Begriff ist irgendwo aus seinem Leben verschollen. Niemals hat er von ihr gesprochen, und Dostojewskis Schweigen war immer Scham oder stolze Angst vor fremdem Mitleid. Ein grauer leerer Fleck ist dort in seiner Biographie, wo sonst bei Dichtern bunte Bilder lächelnd aufsteigen, zärtliche Erinnerungen und ein süßes Bedauern. Und doch meint man ihn zu kennen, blickt man tiefer in die brennenden Augen der Kindergestalten, die er schuf. Wie Kolja muß er gewesen sein, frühreif, phantasievoll bis zur Halluzination, voll jener flackernden, unsicheren Glut, etwas Großes zu werden, voll jenes gewaltsamen und knabenhaften Fanatismus, über sich selbst hinauszuwachsen und »für die ganze Menschheit zu leiden«. Wie der kleine Njetoscha Neswanowa muß er kelchvoll gewesen sein mit Liebe und zugleich der hysterischen Angst, sie zu verraten. Und wie jener Iljutschka, der Sohn des betrunkenen Hauptmanns, voll Scham über häusliche Kläglichkeiten und den Jammer der Entbehrungen, aber doch immer bereit, seine Nächsten vor der Welt zu verteidigen.

Wie er dann, ein Jüngling, aus dieser finsteren Welt vortritt, ist die Kindheit schon weggelöscht. In die ewige Freistatt aller Unbefriedigten, das Asyl der Vernachlässigten ist er geflohen, in die bunte und gefährliche Welt der Bücher. Er hat unendlich viel damals mit seinem Bruder gemeinsam gelesen, Tag um Tag und Nacht für Nacht – schon damals trieb er, der Unersättliche, jede Neigung bis zum Laster empor –, und diese phantastische Welt entfernt ihn noch mehr von der Wirklichkeit. Voll stärkster Begeisterung zur Menschheit ist er doch bis ins Krankhafte menschenscheu und verschlossen, Glut und Eis zugleich, ein Fanatiker gefährlichster Einsamkeit. Seine Leidenschaft tappt wirr umher, geht in diesen »Kellerjahren« alle dunklen Wege der Ausschweifung, aber immer einsam, mit Ekel in aller Lust, Schuldgefühl bei jedem Glück, und immer mit verbissenen Lippen. Aus Geldnot, nur um der paar Rubel willen, geht er zum Militär: auch dort findet er keinen Freund. Ein paar dumpfe Jünglingsjahre kommen. Wie die Helden aller seiner Bücher, lebt er in einem Winkel ein troglodytisches Dasein, träumend, sinnend, mit allen geheimen Lastern des Denkens und der Sinne. Sein Ehrgeiz weiß noch keinen Weg, er lauscht auf sich selbst und bebrütet seine Kraft. Er spürt sie mit Wollust und Grauen tief unten gären, er liebt sie und fürchtet sie, er wagt nicht, sich zu rühren, um dies dumpfe Werden nicht zu zerstören. Ein paar Jahre verharrt er in diesem schwarzen, formlosen Puppenstand von Einsamkeit und Schweigen, Hypochondrie fällt ihn an, eine mystische Angst zu sterben, ein Grauen oft vor der Welt, oft vor sich selbst, ein urmächtiger Schauer vor dem Chaos in der eigenen Brust. In den Nächten übersetzt er, um seinen verwirrten Finanzen aufzuhelfen (sein Geld zerfloß, typisch genug, in den gegensätzlichen Neigungen, in Almosen und Ausschweifungen), Balzacs Eugénie Grandet und Schillers Don Carlos. Aus dem trüben Dunst dieser Tage ballen sich langsam eigene Formen, und endlich reift aus diesem vernebelten, traumhaften Zustand von Angst und Ekstase sein erstes dichterisches Werk, der kleine Roman »Arme Leute«.