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Alle Sherlock Holmes-Romane in einem Band
Sherlock Holmes ist der Inbegriff des scharfsinnigen Gentleman-Detektivs: Wenn er mit seinem Freund Dr. Watson ein wenig kombiniert, ist selbst der kniffligste Fall schon so gut wie gelöst. Die Welt des Sherlock Holmes ist eine Sammlung von Geschichten ganz unterschiedlicher Länge, an denen Arthur Conan Doyle zeitlebens geschrieben hat. Vier seiner Fälle wuchsen zu Romanform an, sie versammelt dieser zum Schmökern einladende Band: 'Eine Studie in Scharlachrot', 'Das Zeichen der Vier', 'Der Hund der Baskervilles' und 'Das Tal des Grauens'.
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Seitenzahl: 965
Arthur Conan Doyle
Die Romane
Aus dem Englischenvon Heinrich Darnoc, H. O. Herzogund Margarete Jacobi
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2013 Anaconda Verlag GmbH, KölnAlle Rechte vorbehalten.eISBN 978-3-7306-9060-4Print ISBN [email protected]
Eine Studie in Scharlachrot
Das Zeichen der Vier
Der Hund der Baskervilles
Das Tal der Grauens
Quellenverzeichnis
Im Jahre 1878 hatte ich mein Doktorexamen an der Londoner Universität bestanden und in Netley den für Militärärzte vorgeschriebenen medizinischen Kursus durchgemacht. Bald darauf wurde ich dem fünften Füsilierregiment Northumberland zugeteilt, welches damals in Indien stand. Bevor ich jedoch an den Ort meiner Bestimmung gelangte, brach der zweite afghanische Krieg aus, und bei meiner Landung in Bombay erfuhr ich, mein Regiment sei bereits durch die Gebirgspässe marschiert und weit in Feindesland vorgedrungen. In Gesellschaft mehrerer Offiziere, die sich in gleicher Lage befanden, folgte ich meinem Korps, erreichte dasselbe glücklich in Kandahar und trat in meine neue Stellung ein.
Der Feldzug, in welchem andere Ehre und Auszeichnungen fanden, brachte mir indessen nur Unglück und Misserfolg. Gleich in der ersten Schlacht zerschmetterte mir eine Kugel das Schulterblatt und ich wäre sicherlich den grausamen Ghazia in die Hände gefallen, hätte mich nicht Murray, mein treuer Bursche, rasch auf ein Packpferd geworfen und mit eigener Lebensgefahr mit sich geführt, bis wir die britische Schlachtlinie erreichten.
Lange lag ich krank, und erst nachdem ich mit einer großen Anzahl verwundeter Offiziere in das Hospital von Peshawar geschafft worden war, erholte ich mich allmählich von den ausgestandenen Leiden; ich war bereits wieder so weit, dass ich in den Krankensälen umhergehen und auf der Veranda frische Luft schöpfen durfte. Da befiel mich unglücklicherweise ein Entzündungsfieber, und zwar mit solcher Heftigkeit, dass man monatelang an meinem Wiederaufkommen zweifelte. Als endlich die Macht der Krankheit gebrochen war und mein Bewusstsein zurückkehrte, befand ich mich in solchem Zustand der Kraftlosigkeit, dass die Ärzte beschlossen, mich ohne Zeitverlust wieder nach England zu schicken. Einen Monat später landete ich mit dem Truppenschiff ›Orontes‹ in Portsmouth; meine Gesundheit war völlig zerrüttet, doch erlaubte mir eine fürsorgliche Regierung, während der nächsten neun Monate den Versuch zu machen, sie wiederherzustellen.
Verwandte besaß ich in England nicht; ich beschloss daher, mich in einem Privathotel einzuquartieren. Mein tägliches Einkommen belief sich auf elf und einen halben Shilling und da ich zuerst nicht sehr haushälterisch damit umging, machten mir meine Finanzen bald große Sorge. Ich sah ein, dass ich entweder aufs Land ziehen oder meine Lebensweise in der Hauptstadt völlig ändern müsse. Da ich letzteres vorzog, sah ich mich genötigt, das Hotel zu verlassen und mir eine anspruchslosere und weniger kostspielige Wohnung zu suchen.
Während ich noch hiermit beschäftigt war, begegnete ich eines Tages auf der Straße einem mir bekannten Gesicht, ein höchst erfreulicher Anblick für einen einsamen Menschen wie mich in der Riesenstadt London. Ich hatte mit dem jungen Stamford während meiner Studienzeit verkehrt, ohne dass wir einander besonders nahe getreten waren, jetzt aber begrüßte ich ihn mit Entzücken, und auch er schien sich über das Wiedersehen zu freuen. Bald saßen wir in einer nahen Restauration zusammen bei einem Glas Wein und tauschten unsere Erlebnisse aus.
»Was in aller Welt ist denn mit dir geschehen, Watson?«, fragte Stamford verwundert, »du siehst braun aus wie eine Nuss und bist so dürr wie eine Bohnenstange.«
Ich gab ihm einen kurzen Abriss meiner Abenteuer und er hörte mir teilnehmend zu.
»Armer Kerl«, sagte er mitleidig, »und was gedenkst du jetzt zu tun?«
»Ich bin auf der Wohnungssuche«, versetzte ich, »es gilt die Aufgabe zu lösen, mir um billigen Preis ein behagliches Quartier zu verschaffen.«
»Wie sonderbar«, rief Stamford, »du bist der zweite Mensch, der heute gegen mich diese Äußerung tut.«
»Und wer war der erste?«
»Ein Bekannter von mir, der in dem chemischen Laboratorium des Hospitals arbeitet. Er klagte mir diesen Morgen sein Leid, dass er niemand finden könne, um mit ihm gemeinsam ein sehr preiswürdiges, hübsches Quartier zu mieten, das für seinen Beutel allein zu kostspielig sei.«
»Meiner Treu«, rief ich, »wenn er Lust hat, die Kosten der Wohnung zu teilen, so bin ich sein Mann. Ich würde weit lieber mit einem Gefährten zusammenziehen, statt ganz allein zu hausen.«
Stamford sah mich über sein Weinglas hinweg mit bedeutsamen Blicken an. »Wer weiß, ob du Sherlock Holmes zum Stubengenossen wählen würdest, wenn du ihn kenntest«, sagte er.
»Ist denn irgendetwas an ihm auszusetzen?«
»Das will ich nicht behaupten. Er hat in mancher Hinsicht eigentümliche Anschauungen und schwärmt für die Wissenschaft. Im Übrigen ist er ein höchst anständiger Mensch, soviel ich weiß.«
»Ein Mediziner vermutlich?«
»Nein – ich habe keine Ahnung, was er eigentlich treibt. In der Anatomie ist er gut bewandert und ein vorzüglicher Chemiker. Aber meines Wissens hat er nie regelrecht Medizin studiert. Er ist überhaupt ziemlich überspannt und unmethodisch in seinen Studien, doch besitzt er auf verschiedenen Gebieten eine Menge ungewöhnlicher Kenntnisse, um die ihn mancher Professor beneiden könnte.«
»Hast du ihn nie nach seinem Beruf gefragt?«
»Nein – er ist kein Mensch, der sich leicht ausfragen lässt; doch kann er zuweilen sehr mitteilsam sein, wenn ihm gerade danach zumute ist.«
»Ich möchte ihn doch kennenlernen«, sagte ich, »ein Mensch, der sich mit Vorliebe in seine Studien vertieft, wäre für mich der angenehmste Gefährte. Bei meinem schwachen Gesundheitszustand kann ich weder Lärm noch Aufregung vertragen. Ich habe beides in Afghanistan so reichlich genossen, dass ich für meine Lebenszeit genug daran habe. Bitte, sage mir, wo ich deinen Freund treffen kann.«
»Vermutlich ist er jetzt noch im Laboratorium. Manchmal lässt er sich dort wochenlang nicht sehen und zu anderen Zeiten bleibt er wieder von früh bis spät bei der Arbeit. Wenn es dir recht ist, suchen wir ihn zusammen auf.«
Ich willigte mit Freuden ein und wir machten uns sogleich auf den Weg nach dem Hospital.
»Du darfst mir aber keine Vorwürfe machen, wenn ihr nicht miteinander auskommt«, sagte Stamford, als wir in die Droschke stiegen, »ich möchte dir weder zu- noch abraten.«
»Wenn wir nicht zueinander passen, können wir uns ja leicht wieder trennen. Deine Vorsicht scheint mir fast übertrieben, es muss noch etwas anderes dahinterstecken, heraus mit der Sprache, was hast du gegen den Menschen einzuwenden?«
»Nichts, gar nichts; er ist nur nach meinem Geschmack seiner Wissenschaft allzu sehr ergeben. – Das grenzt schon an Gefühllosigkeit. Ich halte es nicht für undenkbar, dass er einem guten Freund eine Prise des neuesten vegetabilischen Alkaloids eingeben würde – nicht etwa aus Bosheit, nein, aus Forschungstrieb – um die Wirkung genau zu beobachten. Ebenso gern würde er freilich die Probe an sich selber machen, die Gerechtigkeit muss man ihm widerfahren lassen. Überhaupt ist Klarheit und Genauigkeit des Wissens seine größte Leidenschaft; aber zu welchem Zweck er alle seine Studien betreibt, weiß der liebe Himmel.«
Vor dem Hospital angekommen, stiegen wir aus, gingen ein Gässchen hinunter und traten durch eine Tür in den Nebenflügel des weitläufigen Gebäudes. Hier war mir alles wohlbekannt und ich brauchte keinen Führer mehr. Es ging die kahle Steintreppe hinauf durch den langen weißgetünchten Korridor mit den Türen auf beiden Seiten, an den sich der niedrige Bogengang anschloss, welcher nach dem chemischen Laboratorium führte.
In dem großen Saal, den wir betraten, waren sämtliche Tische mit Retorten, Reagenzgläsern und kleinen Weingeistlampen besetzt, während rings an den Wänden und überhaupt, wohin man blickte, Flaschen von allen Größen und Formen umherstanden. Wir dachten zuerst, der Raum sei leer, bis wir an dem andern Ende einen jungen Mann gewahrten, der in seine Beobachtungen versunken über einen Tisch gebeugt dasaß. Beim Schall unserer Fußtritte blickte er von seinem Experiment auf und sprang mit einem Freudenruf in die Höhe. »Viktoria, Viktoria«, jubelte er und kam uns mit der Retorte in der Hand entgegen. »Ich habe das Reagens gefunden, das sich mit Hämoglobin zu einem Niederschlag verbindet und sonst mit keinem Stoff.«
Er sah so glückstrahlend aus, als hätte er eine Goldmine entdeckt.
»Mein Freund, Doktor Watson – Mr Sherlock Holmes«, sagte Stamford, uns einander vorstellend.
»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen«, erwiderte Holmes in herzlichem Ton und mit kräftigem Händedruck. »Sie kommen aus Afghanistan, wie ich sehe.«
Ich blickte ihn verwundert an. »Wieso wissen Sie denn das?«
»Oh, das tut nichts zur Sache«, rief er, sich vergnügt die Hände reibend, »ich denke jetzt nur an Hämoglobin. Sicherlich werden Sie die Tragweite meiner Erfindung begreifen.«
»Es mag wohl als chemisches Experiment sehr interessant sein, aber für die Praxis …«
»Gerade in der Praxis ist es von größter Wichtigkeit für die Gerichtschemie, weil es dazu dient, das etwaige Vorhandensein von Blutflecken zu beweisen. – Bitte, kommen Sie doch einmal her.« In seinem Eifer ergriff er meinen Rockärmel und zog mich zum Tisch hin, an welchem er experimentiert hatte. »Wir müssen etwas frisches Blut haben«, sagte er und stach sich mit einer großen Stopfnadel in den Finger, worauf er das herabtropfende Blut in einem Saugröhrchen auffing. »Jetzt mische ich diese kleine Blutmenge mit einem Liter Wasser – das Verhältnis ist etwa wie eins zu einer Million – und die Flüssigkeit sieht ganz aus wie reines Wasser. Trotzdem wird sich, denke ich, die gewünschte Reaktion herstellen lassen.« Er hatte, während er sprach, einige weiße Kristalle in das Gefäß geworfen und goss jetzt noch mehrere Tropfen einer durchsichtigen Flüssigkeit hinzu. Sofort nahm das Wasser eine dunkle Färbung an und ein bräunlicher Niederschlag erschien auf dem Boden des Glases.
»Sehen Sie«, rief er und klatschte in die Hände wie ein Kind vor Freude über ein neues Spielzeug. »Was sagen Sie dazu?«
»Es scheint mir ein sehr gelungenes Experiment.«
»Wundervoll, wundervoll! Die alte Methode, die Probe mit Guaiacum anzustellen, war sehr umständlich und unsicher, die mikroskopische Untersuchung der Blutkügelchen aber ist wertlos, sobald die Flecken ein paar Stunden alt sind. Meine Erfindung wird sich dagegen ebenso gut bei altem wie bei frischem Blut bewähren. Wäre sie schon früher gemacht worden, so hätte man Hunderte von Verbrechern zur Rechenschaft ziehen können, die straflos davongekommen sind.«
»Meinen Sie wirklich?«
»Ohne Frage. Bei der Kriminaljustiz dreht sich ja meist alles um diesen einen Punkt. Vielleicht Monate, nachdem die Missetat begangen ist, fällt der Verdacht auf einen Menschen, man untersucht seine Kleider und findet braune Flecke am Rock oder in der Wäsche. Das können Blutspuren sein, aber auch Rostflecke, Obstflecke oder Schmutzflecke. Mancher Sachverständige hat sich darüber schon den Kopf zerbrochen und zwar bloß, weil es an einer zuverlässigen Beweismethode fehlte. Nun man aber das Sherlock Holmes’sche Mittel besitzt, ist jede Schwierigkeit beseitigt.«
Seine Augen funkelten, während er sprach, er legte die Hand aufs Herz und machte eine feierliche Verbeugung, als sähe er sich im Geist einer Beifall klatschenden Menge gegenüber.
»Da kann man Ihnen ja Glück wünschen«, sagte ich, verwundert über seinen Feuereifer.
»Hätte man die Probe schon letztes Jahr anstellen können«, fuhr er fort, »es wäre dem Mason aus Bradford sicherlich an den Hals gegangen; auch der berüchtigte Muller sowie Lefevre aus Montpellier und Samson aus New Orleans wären überführt worden. Ich könnte Ihnen Dutzende von Fällen nennen, bei denen meine Erfindung den Ausschlag gegeben hätte.«
»Sie scheinen ja ein wandelnder Verbrecheralmanach zu sein«, meinte Stamford lachend, »schreiben Sie doch ein Buch über Kriminalstatistik.«
»Das möchte wohl des Lesens wert sein«, erwiderte Holmes, der sich eben ein Pflaster auf den verwundeten Finger klebte. »Ich muss sehr vorsichtig sein«, fügte er erklärend hinzu, »denn ich mache mir viel mit Giften zu schaffen.« Als er die Hand in die Höhe hielt, sah ich, dass sie an vielen Stellen bepflastert war und von scharfen Säuren gefärbt.
»Wir kommen in Geschäften«, sagte Stamford und schob mir einen dreibeinigen Schemel zum Sitzen hin, während er ebenfalls Platz nahm. »Mein Freund hier sucht eine Wohnung, und da Sie gern mit jemand zusammenziehen möchten, dachte ich, es wäre Ihnen vielleicht beiden geholfen.«
Sherlock Holmes ging mit Freuden auf den Vorschlag ein. »Ich habe ein Auge des Wohlgefallens auf ein Quartier in der Baker Street geworfen, das vortrefflich für uns passen würde«, sagte er. »Sie haben doch nicht etwa eine Abneigung gegen Tabakdampf?«
»Oh nein, ich bin selbst ein starker Raucher.«
»Das trifft sich gut. Ferner habe ich häufig Chemikalien bei mir herumstehen, die ich zu meinen Experimenten brauche. Würde Sie das belästigen?«
»Durchaus nicht.«
»Warten Sie – was habe ich sonst noch für Fehler? Manchmal bekomme ich Anfälle von Schwermut und tue dann tagelang den Mund nicht auf. Sie müssen mir das nicht übelnehmen. Kümmern Sie sich nur dann gar nicht um mich, und die Anwandlung wird bald vorüber sein. So – nun ist die Reihe an Ihnen, mir Bekenntnisse zu machen. Wenn zwei Menschen zusammenleben wollen, ist es gut, wenn sie im Voraus wissen, was sie voneinander zu erwarten haben.«
Ich musste über diese Generalbeichte lachen. »Ich halte mir einen jungen Bullenbeißer«, gestand ich, »und kann keinen Lärm vertragen, weil meine Nerven angegriffen sind; auch schlafe ich oft in den Tag hinein und bin überhaupt sehr träge. In gesunden Zeiten fröne ich noch Lastern anderer Art, aber für jetzt sind dies die hauptsächlichsten.«
»Würden Sie unter ›Lärm‹ auch das Spielen auf einer Violine verstehen?«, fragte er besorgt.
»Das kommt auf den Musiker an. Gutes Violinspiel ist ein Genuss für Götter – aber schlechtes …«
»Freilich, freilich«, rief er vergnügt. »Nun, ich denke, die Sache ist abgemacht – das heißt, wenn Ihnen das Quartier gefällt.«
»Wann können wir es besichtigen?«
»Holen Sie mich morgen Mittag hier ab, dann gehen wir zusammen hin und bringen gleich alles ins Reine.«
»Sehr wohl, also Punkt zwölf Uhr«, sagte ich, ihm zum Abschied die Hand schüttelnd.
Wir ließen ihn dort bei seinen Chemikalien und gingen nach meinem Hotel zurück. »Erklären Sie mir nur«, wandte ich mich, plötzlich stehend bleibend, an Stamford, »was ihn auf die Idee gebracht haben kann, dass ich aus Afghanistan komme?«
Mein Gefährte lachte geheimnisvoll. »Schon mancher hat gern wissen wollen, wie Sherlock Holmes gewisse Dinge ausfindig macht. Er besitzt eben eine besondere Gabe.«
»Aha, es steckt ein Rätsel dahinter«, rief ich belustigt, »das ist ja höchst interessant. Ich bin dir sehr verbunden für die neue Bekanntschaft. Das beste Studium für den Menschen bleibt ja doch immer der Mensch.«
»Studiere ihn nur«, entgegnete Stamford. »Du wirst dabei manche Nuss zu knacken finden. Ich wette darauf, er kennt dich bald besser als du ihn.«
An der nächsten Straßenecke verabschiedeten wir uns und ich schlenderte allein nach Hause.
Unsere verabredete Besichtigung des Quartiers in der Baker Street Nr. 221b fand am nächsten Tag statt. Es gefiel mir außerordentlich; das große, luftige Wohnzimmer, welches sich an zwei behagliche Schlafstuben anschloss, war freundlich möbliert und sehr hell, da es sein Licht durch zwei große Fenster erhielt. Unter uns beide geteilt, erschien auch der Preis der Wohnung so gering, dass wir sie auf der Stelle mieteten und sogleich einzuziehen beschlossen. Noch am selben Abend ließ ich meine Besitztümer vom Hotel hinüberschaffen und Sherlock Holmes folgte bald darauf mit verschiedenen Koffern und Reisetaschen. In den ersten Tagen waren wir eifrig beschäftigt, auszupacken und unsere Sachen auf das vorteilhafteste unterzubringen. Als dann die Einrichtung fertig war, begannen wir uns in Ruhe an unsere neue Umgebung zu gewöhnen.
Holmes war ein Mensch, mit dem sich leicht leben ließ, von stillem Wesen und regelmäßig in seinen Gewohnheiten. Selten blieb er abends nach zehn Uhr auf, und wenn ich morgens zum Vorschein kam, hatte er immer schon gefrühstückt und war ausgegangen. Den Tag über war er meist im chemischen Laboratorium oder im Seziersaal, zuweilen machte er auch weite Ausflüge, welche ihn bis in die verrufensten Gegenden der Stadt zu führen schienen. Seine Tatkraft war unverwüstlich, so lange die Arbeitswut bei ihm dauerte; von Zeit zu Zeit trat jedoch ein Rückschlag ein, dann lag er den ganzen Tag im Wohnzimmer auf dem Sofa, fast ohne ein Glied zu rühren oder ein Wort zu reden. Dabei nahmen seine Augen einen so traumhaften, verschwommenen Ausdruck an, dass sicher der Verdacht in mir aufgestiegen wäre, er müsse irgendein Betäubungsmittel gebrauchen, hätte nicht seine Mäßigkeit und Nüchternheit im gewöhnlichen Leben diese Annahme völlig ausgeschlossen.
Nach den ersten Wochen unseres Beisammenseins war mein Interesse für ihn und der Wunsch zu ergründen, welche Zwecke er eigentlich verfolgte, in hohem Maße gestiegen. Schon seine äußere Erscheinung fiel ungemein auf. Er war über sechs Fuß groß und sehr hager; sein scharfkantig vorstehendes Kinn drückte Festigkeit des Charakters aus, der Blick seiner Augen war lebhaft und durchdringend, außer in den schon erwähnten Zeiten völliger Erschlaffung, und eine spitze Habichtsnase gab seinem Gesicht etwas Aufgewecktes und Entschlossenes. Die Hände schonte er nicht, sie trugen fortwährend Spuren von Tinten und Chemikalien, auch hatte ich oft Gelegenheit, seine große Geschicklichkeit bei allen Handgriffen zu bewundern, wenn er mit seinen feinen physikalischen Instrumenten experimentierte.
Kein Wunder, dass meine Neugier in hohem Grad rege war und ich immer wieder versuchte, die strenge Zurückhaltung zu durchbrechen, die er in allem beobachtete, was ihn selbst betraf. Das Geheimnis, welches meinen Gefährten umgab, beschäftigte mich um so mehr, als mein eigenes Leben damals völlig zweck- und ziellos war und wenige Zerstreuungen bot. Mein Gesundheitszustand erlaubte mir nur bei besonders günstiger Witterung auszugehen, und Freunde, die mich hätten besuchen können, um etwas Abwechslung in mein einförmiges Dasein zu bringen, besaß ich nicht.
Dass Holmes nicht Medizin studiere, wusste ich aus seinem eigenen Mund. Auch schien er keinen bestimmten Kursus in irgendeiner andern Wissenschaft durchgemacht zu haben, der ihm auf herkömmliche Weise die Eingangspforte in die Gelehrtenwelt geöffnet hätte. Trotzdem verfolgte er gewisse Studien mit wahrem Feuereifer und besaß innerhalb ihrer Grenzen ein so ausgedehntes und umfassendes Wissen, dass er mich oft höchlich dadurch überraschte. – War es denkbar, dass ein Mensch so angestrengt arbeitete, sich so genau zu unterrichten suchte, ohne einen bestimmten Zweck vor Augen zu haben? – Ein planloses Studium ist meist auch oberflächlich, und wer sich den Kopf mit hunderterlei Einzelheiten anfüllt, tut dies schwerlich ohne einen triftigen Grund.
Merkwürdigerweise war seine Unwissenheit auf manchen Gebieten ebenso erstaunlich als seine Kenntnisse in anderen Fächern. Von Astronomie und Philosophie z. B. wusste er so viel wie gar nichts. Musste es mir schon auffallen, als er sagte, er habe noch nie etwas von Thomas Carlyle gelesen, so erreichte meine Verwunderung doch den Gipfelpunkt, als sich zufällig herausstellte, dass er sich über unser Sonnensystem ganz falsche Vorstellungen machte. Wie in unserem neunzehnten Jahrhundert irgendein zivilisiertes menschliches Wesen darüber im Unklaren sein kann, dass die Erde sich um die Sonne dreht, war mir völlig unbegreiflich.
»Setzt Sie das in Erstaunen?«, fragte er lächelnd. »Nun Sie es mir gesagt haben, werde ich suchen, es so schnell wie möglich wieder zu vergessen.«
»Es zu vergessen?!«
»Ja. – Sehen Sie, meiner Ansicht nach gleicht ein Menschenhirn ursprünglich einer leeren Dachkammer, die man nach eigener Wahl mit Möbeln und Geräten ausstatten kann. Nur ein Tor füllt sie mit allerlei Gerümpel an, wie es ihm gerade in den Weg kommt und versperrt sich damit den Raum, welchen er für die Dinge braucht, die ihm nützlich sind. Ein Verständiger gibt wohl acht, was er in seine Hirnkammer einschachtelt. Er beschränkt sich auf die Werkzeuge, deren er bei der Arbeit bedarf, aber von diesen schafft er sich eine große Auswahl an und hält sie in bester Ordnung. Es ist ein Irrtum, wenn man denkt, die kleine Kammer habe dehnbare Wände und könne sich nach Belieben ausweiten. Glauben Sie mir, es kommt eine Zeit, da wir für alles Neuhinzugelernte etwas von dem vergessen, was wir früher gewusst haben. Daher ist es von höchster Wichtigkeit, dass unsere nützlichen Kenntnisse nicht durch unnützen Ballast verdrängt werden.«
»Aber das Sonnensystem …«, warf ich ein.
»Was zum Kuckuck kümmert mich das?«, unterbrach er mich ungeduldig. »Sie sagen, die Erde dreht sich um die Sonne. Wenn sie sich um den Mond drehte, so würde das für meine Zwecke nicht den geringsten Unterschied machen.«
Mir schwebte schon die Frage auf der Zunge, was denn eigentlich seine Zwecke wären, doch behielt ich sie für mich, um ihn nicht zu verdrießen. Unser Gespräch gab mir indessen viel zu denken, und ich begann meine Schlüsse daraus zu ziehen. Wenn er sich nur Kenntnisse aneignete, die ihm für seine Arbeit Nutzen brachten, so musste man ja aus den Zweigen des Wissens, mit denen er am vertrautesten war, auf den Beruf schließen können, dem er sich gewidmet hatte. Ich zählte mir nun alles auf, was er mit besonderer Gründlichkeit studierte, ja, ich machte mir ein Verzeichnis von den einzelnen Fächern. Lächelnd überlas ich das Schriftstück noch einmal, es lautete:
Geistiger Horizont und Kenntnisse von Sherlock Holmes
1.Literatur – Mit Unterschied.
2.Philosophie – Null.
3.Astronomie – Null.
4.Politik – Schwach.
5.Botanik – Mit Unterschied. Wohlbewandert in allen vegetabilischen Giften, Belladonna, Opium u. drgl. Eigentliche Pflanzenkunde – Null.
6.Geologie – Viel praktische Erfahrung, aber nur auf beschränktem Gebiet. Er unterscheidet sämtliche Erdarten auf den ersten Blick. Von Ausgängen zurückgekehrt, weiß er nach Stoff und Farbe der Schmutzflecke auf seinen bespritzten Beinkleidern die Stadtgegend von London anzugeben, aus welcher die Flecken stammen.
7.Chemie – Sehr gründlich.
8.Anatomie – Genau, aber unmethodisch.
9.Kriminalstatistik – Erstaunlich umfassend. Er scheint alle Einzelheiten jeder Gräueltat, die in unserem Jahrhundert verübt worden ist, zu kennen.
10. Ist ein guter Violinspieler.
11. Ein gewandter Boxer und Fechter.
12. Ein gründlicher Kenner der britischen Gesetze.
Weiter las ich nicht; ich zerriss meine Liste und warf sie ärgerlich ins Feuer. »Wie kann der Mensch behaupten, dass es einen Beruf gibt, in dem sich alle diese verschiedenartigen Kenntnisse verwerten und unter einen Hut bringen lassen«, rief ich. »Es ist vergebliche Mühe, dies Rätsel lösen zu wollen.«
Holmes’ Fertigkeit auf der Violine war groß, aber ganz eigener Art, wie alles bei diesem ungewöhnlichen Menschen. Gelegentlich spielte er mir wohl des Abends von meinen Lieblingsstücken vor, was ich verlangte; war er aber sich selbst überlassen, so ließ er selten eine bekannte Melodie hören. Er lehnte sich dann in den Armstuhl zurück, schloss die Augen und fuhr mechanisch mit dem Bogen über das Instrument, welches auf seinen Knien lag. Die Töne, die er dann den Saiten entlockte, waren stets der Ausdruck seiner augenblicklichen Empfindung, bald leise und klagend, bald heiter, bald schwärmerisch. Ob er dabei nur den wechselnden Launen seiner Einbildung folgte oder durch die Musik die Gedanken, welche ihn gerade beschäftigten, besser in Fluss bringen wollte, vermochte ich nicht zu sagen. Ich hätte sicherlich gegen seine herzzerreißenden Solovorträge Einspruch erhoben, allein, um mich einigermaßen für die Geduldsprobe zu entschädigen, die er mir auferlegte, endigte er gewöhnlich damit, dass er rasch hintereinander eine ganze Reihe meiner Lieblingsmelodien spielte und das versöhnte mich wieder.
In der ersten Woche bekamen wir keinen Besuch, und ich fing schon an zu glauben, mein Gefährte stehe ebenso allein in der Welt wie ich selber. Bald stellte sich jedoch heraus, dass er viele Bekannte hatte und zwar in allen Schichten der Gesellschaft. Der kleine Mensch mit dem blassgelben Gesicht, der einer Ratte ähnelte und mir als Mr Lestrade vorgestellt wurde, kam im Lauf von acht Tagen mindestens drei- oder viermal. Eines Morgens erschien ein elegant gekleidetes junges Mädchen, das über eine halbe Stunde dablieb. Am Nachmittag desselben Tages fand sich ein schäbiger Graubart ein, der wie ein jüdischer Hausierer aussah und hinter dem ein hässliches altes Weib hereinschlurfte. Bei einer späteren Gelegenheit hatte ein ehrwürdiger Greis eine längere Unterredung mit Holmes und dann wieder ein Eisenbahnbeamter in Uniform. Jedes Mal, wenn sich einer dieser merkwürdigen Besucher einstellte, bat mich Holmes, ihm das Wohnzimmer zu überlassen, und ich zog mich in meine Schlafstube zurück. Er entschuldigte sich vielmals, dass er mir diese Unbequemlichkeit auferlege. »Ich muss das Zimmer als Geschäftslokal benutzen, die Leute sind meine Klienten.«
Auch diese Gelegenheit, mir Aufschluss über sein Tun zu verschaffen, ließ ich aus Zartgefühl ungenützt vorübergehen. Mir widerstand es, ein Vertrauen zu erzwingen, das er mir nicht von selbst entgegenbrachte, und schließlich bildete ich mir ein, er habe einen bestimmten Grund, mir sein Geschäft zu verheimlichen. Dass ich mich hierin getäuscht hatte, sollte ich indessen bald erfahren.
Am vierten März – der Tag ist mir im Gedächtnis geblieben – war ich früher als gewöhnlich aufgestanden und fand Sherlock Holmes beim Frühstück. Mein Kaffee war noch nicht fertig, und ärgerlich, dass ich warten musste, nahm ich ein Journal vom Tisch, um mir die Zeit zu vertreiben, während mein Gefährte schweigend seine gerösteten Brotschnitten verzehrte.
Mein Blick fiel zuerst auf einen Artikel, der mit Blaustift angestrichen und »Das Buch des Lebens« betitelt war. Der Verfasser versuchte darin auseinanderzusetzen, dass es für einen aufmerksamen Beobachter von Menschen und Dingen im alltäglichen Leben unendlich viel zu lernen gäbe, wenn er sich nur gewöhnen wollte, alles, was ihm in den Weg käme, genau und eingehend zu prüfen. Die Beweisführung war kurz und bündig, aber die Schlussfolgerungen schienen mir weit hergeholt und ungereimt, das Ganze eine Mischung von scharfsinnigen und abgeschmackten Behauptungen. Ein Mensch, der zu beobachten und zu analysieren verstand, musste danach befähigt sein, die innersten Gedanken eines jeden zu lesen, und zwar mit solcher Sicherheit, dass es dem Uneingeweihten förmlich wie Zauberei vorkam.
»Das Leben ist eine große gegliederte Kette von Ursachen und Wirkungen«, hieß es weiter, »an einem einzigen Glied lässt sich das Wesen des Ganzen erkennen. Wie jede andere Wissenschaft, so fordert auch das Studium der Deduktion und Analyse viel Ausdauer und Geduld; ein kurzes Menschendasein genügt nicht, um es darin zur höchsten Vollkommenheit zu bringen. Der Anfänger wird immer guttun, ehe er sich an die Lösung hoher geistiger und sittlicher Probleme wagt, welche die größten Schwierigkeiten bieten, sich auf einfachere Aufgaben zu beschränken. Zur Übung möge er zum Beispiel bei der flüchtigen Begegnung mit einem Unbekannten den Versuch machen, auf den ersten Blick die Lebensgeschichte und Berufsart des Menschen zu bestimmen. Das schärft die Beobachtungsgabe und man lernt dabei richtig sehen und unterscheiden. An den Fingernägeln, dem Rockärmel, den Manschetten, den Stiefeln, den Hosenknien, der Hornhaut an Daumen und Zeigefinger, dem Gesichtsausdruck und vielem andern lässt sich die tägliche Beschäftigung eines Menschen deutlich erkennen. Dass ein urteilsfähiger Forscher, der die verschiedenen Anzeichen zu vereinigen weiß, nicht zu einem richtigen Schluss gelangen sollte, ist einfach undenkbar.«
»Was für ein törichtes Gewäsch«, rief ich und warf das Journal auf den Tisch, »meiner Lebtag ist mir dergleichen nicht vorgekommen.«
Sherlock Holmes sah mich fragend an.
»Sie haben den Artikel angestrichen«, fuhr ich fort, »und müssen ihn also gelesen haben. Dass er geschickt abgefasst ist, will ich nicht bestreiten. Mich ärgern aber solch widersinnige Theorien, die daheim im Lehnstuhl aufgestellt werden und dann an der Wirklichkeit elend scheitern. Der Herr Verfasser sollte nur einmal in einem Eisenbahnwagen dritter Klasse fahren und probieren, das Geschäft eines jeden seiner Mitreisenden an den Fingern herzuzählen. Ich wette tausend gegen eins, er wäre dazu nicht imstande.«
»Sie würden Ihr Geld verlieren«, erwiderte Holmes ruhig. »Was übrigens den Artikel betrifft, so ist er von mir.«
»Von Ihnen?«
»Ja; ich habe ein besonderes Talent zur Beobachtung und Schlussfolgerung. Die Theorien, welche ich hier auseinandersetze und die Ihnen so ungereimt erscheinen, finden in der Praxis ihre volle Bestätigung, ja, was noch mehr ist – ich verdiene mir damit mein tägliches Brot.«
»Wie ist das möglich?«, fragte ich unwillkürlich.
»Mein Handwerk beruht darauf. Ich bin beratender Geheimpolizist, wenn Sie verstehen, was das heißt – vielleicht bin ich der einzige meiner Art. Es gibt hier in London Detektive die Menge, welche teils im Dienst der Regierung stehen, teils von Privatpersonen gebraucht werden. Wenn diese Herren nicht mehr aus noch ein wissen, kommen sie zu mir und ich helfe ihnen auf die richtige Fährte. Sie bringen mir das ganze Beweismaterial und ich bin meist imstande, ihnen mit Hilfe meiner Kenntnis der Geschichte des Verbrechens den rechten Weg zu weisen. Die Missetaten der Menschen haben im Allgemeinen eine starke Familienähnlichkeit untereinander und wenn man alle Einzelheiten von tausend Verbrechen im Kopf hat, so müsste es wunderbar zugehen, vermöchte man das tausendunderste nicht zu enträtseln. Lestrade ist ein bekannter Detektiv. Er hat sich kürzlich mit einer Falschmünzergeschichte herumgequält und mich deshalb so häufig aufgesucht.«
»Und die andern Leute?«
»Sie kamen meist auf Veranlassung von Privatagenten. Jeder von ihnen hat irgendeine Sorge auf dem Herzen und holt sich Rat bei mir. Sie erzählen mir ihre Geschichte und hören auf meine erklärenden Bemerkungen und dann streiche ich mein Honorar ein.«
»Können Sie wirklich, während Sie ruhig auf Ihrem Zimmer bleiben, die verwickelten Knoten lösen, welche die andern nicht zu entwirren vermögen, selbst wenn sie mit eigenen Augen gesehen haben, wo sich alles zugetragen hat?«
»Das habe ich oft getan; es ist bei mir eine Art innerer Eingebung. Liegt ein besonders schwieriger Fall vor, so besehe ich mir den Schauplatz der Tat wohl auch einmal selbst. Ich habe so mancherlei Kenntnisse, die mir die Arbeit wesentlich erleichtern. Meine große Übung in der Schlussfolgerung, wie sie jener Artikel darlegt, ist für mich zum Beispiel von hohem praktischem Wert. Mir ist die Beobachtung zur zweiten Natur geworden. Als ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung sagte, Sie kämen aus Afghanistan, schienen Sie sich darüber zu verwundern.«
»Irgendjemand muss es Ihnen gesagt haben.«
»Bewahre; ich wusste es ganz von selbst. Da mein Gedankengang meist sehr schnell ist, kommen mir die Schlüsse in ihrer Reihenfolge kaum zum Bewusstsein. Und doch steht alles in logischem Zusammenhang. Ich folgerte etwa so: Der Herr sieht aus wie ein Mediziner und hat dabei eine soldatische Haltung. Er muss Militärarzt sein. Die dunkle Gesichtsfarbe hat er nicht von Natur, denn am Handgelenk ist seine Haut weiß, also kommt er geradewegs aus den Tropen. Dass er allerlei Beschwerden durchgemacht hat, zeigen seine abgezehrten Wangen; sein linker Arm muss verwundet gewesen sein, er hält ihn unnatürlich steif. In welcher Gegend der Tropen kann ein englischer Militärarzt sich Wunden und Krankheit geholt haben? – Versteht sich in Afghanistan. – In weniger als einer Sekunde war ich zu dem Schluss gelangt, der Sie in Erstaunen setzte.«
»Wie Sie die Sache erklären, scheint sie sehr einfach. In Büchern liest man wohl von solchen Dingen, aber dass sie in Wirklichkeit vorkämen, hätte ich nicht gedacht.«
»Wenn es nur noch Verbrechen gäbe, zu deren Entdeckung man besonderen Scharfsinn braucht«, fuhr Holmes missmutig fort. »Ich weiß, es fehlt mir nicht an Begabung, um meinen Namen berühmt zu machen. Kein Mensch auf Erden hat jemals so viel natürliche Anlage für mein Fach besessen oder ein so tiefes Studium darauf verwendet. Aber was nützt mir das alles? Die Missetäter sind sämtlich solche Stümper und ihre Zwecke so durchsichtig, dass der gewöhnliche Polizeibeamte sie mit Leichtigkeit zu ergründen vermag.«
Es verdross mich, ihn mit solcher Selbstüberschätzung reden zu hören. Um der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben, trat ich ans Fenster.
»Was mag wohl der Mann da drüben suchen?«, fragte ich, auf einen einfach gekleideten, stämmigen Menschen deutend, welcher sämtliche Häusernummern auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu mustern schien. Er hielt einen großen, blauen Umschlag in der Hand und hatte offenbar eine Botschaft auszurichten.
»Sie meinen den verabschiedeten Marinesergeanten?«, fragte Sherlock Holmes.
Ich machte große Augen. »Er hat gut mit seiner Weisheit prahlen«, dachte ich bei mir, »wer will ihm denn beweisen, dass er falsch geraten hat?«
In dem Augenblick hatte der Mann, den wir beobachteten, unsere Nummer erblickt und kam rasch quer über die Straße gegangen. Gleich darauf klopfte es laut an der Haustür unten, man vernahm eine tiefe Stimme und dann schwere Schritte auf der Treppe.
Der Mann trat ein.
»Für Mr Sherlock Holmes«, sagte er, meinem Gefährten den Brief einhändigend.
Ich ergriff die günstige Gelegenheit, um Holmes von seiner Einbildung zu heilen. An die Möglichkeit hatte er wohl nicht gedacht, als er den raschen Schuss ins Blaue tat. »Darf ich Sie wohl fragen, was Sie für ein Geschäft betreiben?«, redete ich den Boten freundlich an.
»Dienstmann«, lautete die kurze Antwort. »Uniform gerade beim Schneider zum Ausbessern.«
»Und früher waren Sie …«, fuhr ich mit einem schlauen Blick auf Holmes fort.
»Sergeant bei der leichten Infanterie der königlichen Marine. – Keine Rückantwort? – Sehr wohl. Zu Befehl.«
Er schlug die Fersen aneinander, erhob die Hand zum militärischen Gruß und fort war er.
Dieses neue Beispiel von der praktischen Anwendbarkeit der Theorien meines Freundes überraschte mich höchlich und flößte mir großen Respekt vor seiner Beobachtungsgabe ein. Zwar wollte mich ein leiser Argwohn beschleichen, ob die Sache nicht doch am Ende ein zwischen den beiden abgekartetes Spiel sei, aber welchen möglichen Zweck hätte das haben können? – Als ich mich nach Holmes umwandte, hatte er eben den Brief durchgelesen und starrte mit ausdruckslosem Blick, wie geistesabwesend, vor sich hin.
»Wie in aller Welt haben Sie denn das wieder erraten?«, fragte ich.
»Erraten – was?«, rief er gereizt auffahrend.
»Nun, dass der Mann ein abgedankter Marinesergeant war.«
»Jetzt ist keine Zeit zu Spielereien«, stieß er in rauem Ton hervor, fuhr aber gleich darauf lächelnd fort: »Entschuldigen Sie meine Grobheit, Sie haben meinen Gedankengang unterbrochen; doch das schadet vielleicht nichts. – Also Sie haben wirklich nicht sehen können, dass der Mann Sergeant in der Marine gewesen ist?«
»Wie sollte ich?«
»Es scheint mir doch sehr einfach. Freilich ist es nicht leicht zu erklären, wie ich zur Kenntnis solcher Tatsachen komme. Dass zweimal zwei vier ist, leuchtet jedem ein, forderte man Sie aber auf, es zu beweisen, so würden Sie es schwierig finden. Schon über die Straße hatte ich den blauen tätowierten Anker auf der Hand des Mannes gesehen und die See gewittert; zudem bemerkte ich seine militärische Haltung und das verriet mir den Marinesoldaten. Er trug den Kopf hoch und schwang seinen Stock mit Selbstbewusstsein und einer gewissen Befehlshabermiene; dabei trat er fest und würdevoll auf und war ein Mann in mittleren Jahren – natürlich musste er Sergeant gewesen sein.«
»Wunderbar!«, rief ich.
»Höchst alltäglich«, versetzte Holmes, doch sah ich ihm am Gesicht an, dass er sich geschmeichelt fühlte. »Eben noch behauptete ich«, fuhr er fort, »es gäbe keine geheimnisvollen Verbrechen mehr zu enträtseln. Das scheint ein Irrtum gewesen zu sein – hiernach zu urteilen.« Er schob mir den Brief hin, welchen der Dienstmann gebracht hatte.
»Wie schrecklich«, rief ich, ihn überfliegend.
»Es klingt allerdings etwas ungewöhnlich; wären Sie so gut, mir den Brief noch einmal vorzulesen?«
Der Brief lautete wie folgt:
»Lieber Mr Holmes!
Heute Nacht hat sich in der Brixton Road Nr. 3 ein schlimmer Fall zugetragen. Unser Posten sah dort auf seinem Rundgang gegen zwei Uhr einen Lichtschimmer, und da das Haus unbewohnt ist, schöpfte er Verdacht. Er fand die Tür offen und in dem unmöblierten Vorderzimmer den Leichnam eines gutgekleideten Herrn am Boden liegen. Enoch J. Drebber, Cleveland, Ohio U.S.A. stand auf den Visitenkarten, die er in seiner Brusttasche trug. Eine Beraubung ist nicht erfolgt und die Todesursache noch unermittelt, denn es finden sich zwar Blutspuren im Zimmer, aber keine Wunde an dem Toten. Wir wissen nicht, wie er in das leere Haus gekommen sein kann, und die ganze Angelegenheit ist uns ein Rätsel.
Wären Sie geneigt, vor zwölf Uhr den Schauplatz zu besichtigen, so finden Sie mich dort. Ich lasse alles in statu quo bis zu Ihrer Ankunft. Sind Sie verhindert zu kommen, so werde ich Ihnen alle Einzelheiten berichten, und Sie täten mir einen großen Gefallen, wenn Sie mir Ihre Ansicht mitteilen wollten.
Ihr ergebener Tobias Gregson.«
»Gregson ist der schlaueste Fuchs in der ganzen Polizeimannschaft«, bemerkte mein Freund. »Er und Lestrade sind rasch und tatkräftig, aber durch nichts aus dem einmal hergebrachten Geleise zu bringen; dabei sind sie einander fortwährend in den Haaren und sind eifersüchtig wie zwei gefeierte Ballschönheiten. Wenn sie etwa beide auf dieselbe Fährte kommen, gibt es einen Hauptspaß.«
Die behagliche Ruhe, mit der er sprach, schien mir unbegreiflich. »Es ist doch sicherlich kein Augenblick zu verlieren«, rief ich, »soll ich Ihnen eine Droschke holen?«
»Noch weiß ich gar nicht, ob ich hingehen werde. Ich habe gerade einen Anfall von Trägheit und dann bin ich der faulste Kerl unter der Sonne; ein andermal kann ich freilich flink genug bei der Hand sein.«
»Aber dies ist doch gerade ein Fall, wie Sie ihn sich gewünscht haben.«
»Jawohl; aber was kommt schließlich dabei heraus, liebster Freund? Gelänge es mir auch, den Knoten zu lösen, so würden doch Gregson, Lestrade und Co. sich alles auf ihr Konto schreiben. Das hat man davon, wenn man kein Angestellter ist.«
»Aber er bittet ja um Ihre Hilfe.«
»Ja, er weiß, dass ich mehr verstehe als er, und gibt das mir gegenüber auch zu; doch würde er sich lieber die Zunge abbeißen, als vor einem Dritten meine Überlegenheit anzuerkennen. Wir wollen uns die Sache indessen doch ansehen. Ich übernehme sie vielleicht auf eigene Faust. Dann kann ich die beiden wenigstens auslachen, wenn ich auch sonst nichts davon habe. Also vorwärts!«
Er fuhr rasch in seinen Überzieher und ging so geschäftig hin und her, dass ich wohl sah, die gleichgültige Stimmung war bei ihm vorüber und seine volle Tatkraft zurückgekehrt.
»Wo ist Ihr Hut?«, fragte er.
»Wünschen Sie denn, dass ich mitkomme?«
»Ja, wenn Sie nichts Besseres vorhaben.«
Schon im nächsten Augenblick saßen wir in einer Droschke und fuhren mit Windeseile nach der Brixton Road.
Es war ein bewölkter, nebliger Morgen, alle Häuser lagen in einen Schleier gehüllt, von derselben grauen Schmutzfarbe wie die Straßen. Jetzt ließ die Laune meines Gefährten nichts mehr zu wünschen übrig; er sprach mit großer Zungengeläufigkeit über Cremoneser Geigen und den Unterschied zwischen einer Amati und einer Stradivarius. Ich verhielt mich ziemlich still; das trübe Wetter und das traurige Geschäft, welches wir vorhatten, drückten auf mein Gemüt.
»Es scheint, dass Sie sich in Ihren Gedanken gar nicht mit der Sache beschäftigen, um die es sich handelt«, unterbrach ich Holmes endlich in seinen musikalischen Auseinandersetzungen.
»Noch fehlen mir alle Einzelheiten«, erwiderte er, »es ist ein großer Irrtum, sich eine Theorie zu bilden, ehe man sämtliches Beweismaterial in Händen hat; das beeinflusst das Urteil.«
»Sie werden bald genug Gelegenheit bekommen, Ihre Beobachtungen anzustellen«, sagte ich, »hier sind wir schon in der Brixton Road und das dort muss das Haus sein, wenn ich nicht sehr irre.«
»Kein Zweifel. – Halt, Kutscher, halt! …« Wir waren noch eine ziemliche Strecke entfernt, doch bestand er darauf, dass wir ausstiegen und das letzte Ende zu Fuß zurücklegten.
Das Haus Nummer 3 machte einen düsteren, unheimlichen Eindruck. Es gehörte zu einer Gruppe von vier Gebäuden, die etwas abseits von der Straße lagen; zwei waren bewohnt, zwei standen leer. An den trüben Fensterscheiben der letzteren fielen nur hier und da die angeklebten Zettel in die Augen, auf denen ›Zu vermieten‹ stand. Jedes der Häuser hatte ein kleines Vorgärtchen mit wenigen kränklichen Pflanzen auf den Beeten; mitten hindurch führte ein schmaler, mit Kies bestreuter Pfad von gelblichem Lehm, der durch die Regengüsse der vergangenen Nacht völlig aufgeweicht worden war. Eine drei Fuß hohe Backsteinmauer, die ein hölzernes Gitter trug, bildete die Einfassung des Gartens. Am Gittertor lehnte ein handfester Polizist, von einer Schar Neugieriger umringt, die ihre Hälse reckten und sich vergeblich abmühten, zu sehen, was drinnen im Haus vorging.
Ich hatte erwartet, Sherlock Holmes würde sich sofort hineinbegeben, um seine Untersuchungen zu beginnen. Nichts schien ihm jedoch ferner zu liegen. Mit einer Gelassenheit, welche mir unter den obwaltenden Umständen unnatürlich erschien, schlenderte er vor dem Haus auf und ab, den Blick bald auf den Boden gerichtet, bald in die Luft, bald wieder nach dem Gitterzaun oder den gegenüberliegenden Häusern. Nach einer Weile betrat er den Kiesweg, das heißt, er ging auf dem Grasstreifen neben dem Pfad, die Augen forschend zur Erde gesenkt. Zweimal blieb er lächelnd stehen und ein Ausruf der Befriedigung entfuhr ihm. Es waren zwar viele Fußspuren in dem nassen Lehmboden eingedrückt, sie konnten jedoch von den Polizisten herrühren, die gekommen und wieder gegangen waren. Wie mein Gefährte hoffen konnte, da noch etwas Wesentliches zu entdecken, begriff ich nicht; allein nach den Proben seiner Beobachtungskunst, die ich schon von ihm erhalten hatte, musste ich mir sagen, dass er ohne Zweifel vieles sah, was mir gänzlich verborgen blieb.
An der Haustür kam uns ein großer, blasser, flachshaariger Mann mit einem Notizbuch entgegen. Er eilte auf Holmes zu und schüttelte ihm mit großer Wärme die Hand. »Sehr freundlich von Ihnen, dass Sie kommen«, sagte er, »alles ist noch ganz unberührt geblieben.«
»Nur nicht der Fußweg«, erwiderte mein Freund. »Wäre eine Büffelherde drübergelaufen, sie hätte ihn kaum mehr zertrampeln können. Natürlich haben Sie erst genaue Beobachtungen angestellt, Gregson, bevor Sie das zuließen.«
»Ich hatte drinnen im Haus zu viel zu tun«, sagte der Detektiv ausweichend. »Mein Kollege Lestrade ist hier; ich dachte, er würde sich darum kümmern.«
Holmes zog die Augenbrauen spöttisch in die Höhe und sah mich an. »Wo zwei Männer wie Sie und Lestrade an Ort und Stelle sind, hat ein Dritter nicht mehr viel zu suchen«, bemerkte er.
Gregson schmunzelte selbstgefällig und rieb sich die Hände. »Wir haben getan, was wir konnten; aber es ist ein wunderlicher Fall – ich kenne ja Ihre Vorliebe für dergleichen.«
»Sind Sie in einer Droschke hergekommen?«
»Nein, ich nicht.«
»Aber Lestrade?«
»Der kam auch zu Fuß.«
»So? – Dann können wir wohl das Zimmer besehen.«
Wie das zusammenhing, war mir nicht recht ersichtlich, auch Gregson machte ein verwundertes Gesicht, während er Holmes in das Haus folgte.
Ein sehr staubiger gedielter Korridor führte nach Küche und Speisekammer, rechts und links befanden sich noch zwei Türen. Die eine mochte wohl wochenlang nicht geöffnet worden sein, die andere führte in das Zimmer, wo die geheimnisvolle Missetat verübt worden war. Holmes trat dort ein, und ich begleitete ihn, von unheimlichen Gefühlen ergriffen, wie sie die Gegenwart des Todes uns einzuflößen pflegt. Das große, viereckige Gemach sah noch geräumiger aus, weil keine Möbel darin standen. Die grelle Tapete an den Wänden war hie und da mit Schimmel überzogen, an einigen Stellen hing sie in Fetzen herunter, so dass der helle Kalkbewurf zum Vorschein kam. Der Tür gegenüber befand sich ein großer, offener Kamin mit einem Gesims, an dessen einer Ecke ein rotes Wachslichtstümpchen klebte. Das einzige Fenster, welches den Raum erhellte, war mit einer Schmutzkruste überzogen, die nur ein mattes, ungewisses Licht hindurchließ. Die düstere, graue Beleuchtung passte so recht zu der dicken Staubschicht, welche auf der Zimmerdiele lagerte.
Alle diese Einzelheiten fielen mir jedoch erst später auf. Anfangs richtete ich mein ganzes Augenmerk auf die leblose Gestalt, welche ausgestreckt am Boden lag, den stieren Blick nach der Decke gerichtet. Es war ein mittelgroßer Mann von etwa vierundvierzig Jahren, breitschultrig, mit krausem schwarzem Haar und kurzem Stoppelbart. Sein Anzug bestand aus Rock und Weste von schwerem Doppeltuch, hellen Beinkleidern und tadellosem Weißzeug. Auch gehörte ihm wohl der glatt gebürstete hohe Hut, den ich neben ihm sah. Er hatte die Arme weit von sich gestreckt, die Fäuste geballt und die Beine fest übereinander geschlagen, wahrscheinlich im Todeskampf. In seinen starren Zügen lag ein Ausdruck des Entsetzens und eines so grimmigen Hasses, wie ich ihn noch nie zuvor in einem Menschenantlitz erblickt zu haben glaubte. Dieser bösartige Zug, dazu die niedere Stirn, die breite Stumpfnase und das vorstehende Kinn gaben dem Toten ein widerliches, tierisches Aussehen, das durch seine gekrümmte, unnatürliche Lage noch abschreckender wurde. Ich habe den Tod schon in mancher Gestalt gesehen, aber nie hat er mir einen so grauenvollen Eindruck gemacht wie in jenem öden Haus der Londoner Vorstadt.
Der Geheimpolizist Lestrade hatte uns an der Stubentür empfangen. »Der Fall wird Aufsehen machen«, sagte er mit Nachdruck; »ich bin wahrhaftig kein Neuling mehr, aber etwas Ähnliches habe ich noch nie erlebt.«
»Wir suchen vergeblich nach einem Aufschluss«, fiel Gregson ein.
Sherlock Holmes war neben dem Leichnam niedergekniet, den er genau untersuchte.
»Eine Wunde haben Sie also nicht entdeckt?«, fragte er, auf die zahlreichen Blutspuren am Fußboden deutend.
»Nein, es ist keine zu finden«, versicherten beide.
»So rührt das Blut also von einem andern Menschen her, von dem Mörder vermutlich, wenn nämlich ein Mord verübt worden ist. Der Fall erinnert mich an Van Jansens Tod in Utrecht im Jahre 1834. Haben Sie den im Gedächtnis, Gregson?«
»Nein, ich weiß nichts davon.«
»Sie sollten die Geschichte nachlesen. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, alles ist schon dagewesen.«
Während er sprach, fuhren seine geschickten Finger bald hierhin, bald dorthin; er drückte, befühlte, betastete alle Glieder und zwar mit solcher Schnelligkeit, dass ich kaum begriff, wie er die einzelnen Ergebnisse seiner Untersuchung aufzufassen vermochte. Sein Blick trug dabei denselben geistesabwesenden Ausdruck, den ich schon öfter an ihm bemerkt hatte. Schließlich roch er an den Lippen des Toten und betrachtete die Sohlen seiner feinen Lederstiefel.
»Liegt er noch genau so, wie man ihn gefunden hat?«, fragte er.
»Wir haben ihn untersucht, ohne ihn von der Stelle zu bewegen.«
»Gut, dann lassen Sie ihn jetzt nur ins Leichenhaus schaffen. Es ist nichts Tatsächliches mehr zu ermitteln.«
Eine Tragbahre stand schon in Bereitschaft, und auf Gregsons Ruf kamen vier seiner Leute herbei. Als sie die Leiche aufluden, um sie fortzutragen, fiel ein Ring zu Boden und rollte über die Diele. Lestrade fuhr wie ein Stoßvogel darauf zu, hob ihn auf und betrachtete ihn mit verblüffter Miene.
»Der Trauring einer Frau – wie kommt der hierher?«, rief er.
Wir starrten alle nach dem goldenen Reif auf seiner flachen Hand; welche Braut mochte den am Finger getragen haben?
»Die ohnehin schon verwickelte Angelegenheit wird durch diesen Fund noch schwieriger«, bemerkte Gregson.
»Vielleicht vereinfacht er sie auch«, äußerte Holmes bedächtig. »Jedenfalls nützt es nichts, den Ring noch länger anzusehen; wir werden nicht klüger davon. Haben Sie nichts in den Taschen gefunden?«
»Im Flur liegt alles beisammen!«, erwiderte Gregson, »kommen Sie!« Wir verließen das Zimmer. »Hier ist der ganze Inhalt«, fuhr er fort, auf einen Haufen verschiedener Gegenstände deutend. »Eine goldene Uhr Nr. 97163 von Barraud in London, eine kurze Uhrkette von massivem Gold, ein goldener Ring mit dem Freimaurerzeichen; ein Hundekopf mit Rubinaugen als Vorstecknadel; ein Visitenkartentäschchen von russischem Leder, auf den Karten steht Enoch J. Drebber aus Cleveland, das stimmt mit den Zeichen der Wäsche überein. Kein Portemonnaie, aber loses Geld in der Westentasche im Betrag von sieben Pfund dreizehn Shilling. Eine Taschenausgabe von Boccaccios Decamerone, auf dem Titelblatt der Name Joseph Stangerson. Zwei Briefe, einer an E. J. Drebber, der andere an Joseph Stangerson.«
»Wohin adressiert?«
»An die amerikanische Wechselbank. Beide Briefe kommen von der Dampfschiffgesellschaft Guion und betreffen die Abfahrt ihres Dampfers von Liverpool. Offenbar stand der Unglückliche im Begriff, nach New York zurückzukehren.«
»Haben Sie über jenen Stangerson Erkundigungen eingezogen?«
»Versteht sich«, versetzte Gregson, »an sämtliche Zeitungen sind Anzeigen geschickt worden; auch ist einer meiner Leute nach der Wechselbank gegangen, ich erwarte ihn bald zurück.«
»Haben Sie in Cleveland angefragt?«
»Ja, die Depesche ist heute früh abgegangen.«
»Was war der Wortlaut?«
»Wir gaben einfach die Umstände an und baten um Mitteilung der einschlägigen Tatsachen.«
»Sie haben nicht etwa über einen Punkt, der Ihnen besonders wichtig schien, eingehendere Nachricht verlangt?«
»Ich habe nach Stangerson gefragt.«
»Weiter nichts? Liegt nicht eine Tatsache vor, um die sich der ganze Fall dreht? Wollen Sie nicht noch einmal telegrafieren?«
»Meine Depesche enthielt alles Erforderliche«, versetzte Gregson in beleidigtem Ton.
Sherlock Holmes lachte in sich hinein und wollte eben noch eine Bemerkung machen, als Lestrade, der inzwischen im Zimmer geblieben war, zu uns in den Flur kam.
»Soeben habe ich eine Entdeckung gemacht, Gregson«, sagte er, sich mit selbstgefälliger Miene die Hände reibend. »Hätte ich nicht die Stubenwände genau untersucht, wir wären schwerlich darauf aufmerksam geworden.«
Die Augen des kleinen Detektivs funkelten vor innerem Triumph, dass er seinem Kollegen den Rang abgelaufen hatte. »Kommen Sie«, sagte er, in das Zimmer zurückeilend, das uns weit weniger grausig erschien, seit die Leiche fortgeschafft war, »so, jetzt treten Sie dorthin.«
Er strich ein Schwefelholz an seiner Stiefelsohle an und hielt es gegen die Wand. In einer Ecke war die Tapete abgerissen und auf dem hellen Kalkbewurf, der darunter zum Vorschein kam, stand mit großen, blutroten Buchstaben das Wort
RACHE
zu lesen.
»Das hat der Mörder mit seinem eigenen Blut geschrieben«, fuhr Lestrade fort, »hier auf der Diele sieht man noch, wo es hinuntergetropft ist. Einen besseren Beweis, dass kein Selbstmord vorliegt, könnten wir gar nicht haben. Sehen Sie das abgebrannte Licht auf dem Kaminsims? Beim Schein desselben ist das Wort in dieser sonst so dunklen Ecke geschrieben worden!«
»Ich habe noch keine Zeit gehabt, mich in dem Zimmer umzusehen«, sagte Holmes, ein Vergrößerungsglas und ein Zentimetermaß aus der Tasche ziehend. »Sie erlauben mir wohl, das jetzt nachzuholen.«
Geräuschlos ging er in dem Raum hin und her; bald stand er still, bald kauerte er am Boden, einmal legte er sich sogar mit dem Gesicht platt auf die Diele. Er war so vertieft in seine Beobachtungen, dass er unsere Anwesenheit ganz vergessen zu haben schien; auch hielt er fortwährend leise Selbstgespräche, dazwischen stöhnte er laut oder pfiff wohlgefällig vor sich hin und feuerte sich durch ermutigende Ausrufe zu neuer Hoffnung an. Er kam mir vor wie ein edler Jagdhund, der rückwärts und vorwärts durch das Dickicht springt, vor Begierde heult und winselt und keine Ruhe findet, bis er die verlorene Fährte wieder aufgespürt hat. Wohl zwanzig Minuten lang setzte er seine Untersuchungen fort, maß mit der größten Genauigkeit die Entfernung zwischen verschiedenen Punkten am Boden, die für mein Auge ganz unsichtbar waren und dann die Höhe und Breite der Wände. Was er damit bezweckte, war mir unerklärlich. An einer Stelle las er behutsam ein Häufchen grauen Staubes von der Erde auf und verwahrte es sorgfältig in einem Briefumschlag. Zuletzt richtete er sein Vergrößerungsglas auf das rätselhafte Wort an der Wand und betrachtete jeden Buchstaben aufs Genaueste. Das Ergebnis schien ihn zu befriedigen und er steckte das Glas wieder ein.
»Man sagt, das Genie sei nichts als unermüdliche Ausdauer«, bemerkte er lächelnd; »so falsch das an und für sich auch ist, auf die Arbeit des Geheimpolizisten lässt es sich doch anwenden!«
Gregson und Lestrade waren dem seltsamen Gebaren des eifrigen Dilettanten mit neugierigen, aber etwas verächtlichen Blicken gefolgt. Sie schienen sich nicht klarzumachen, was ich längst wusste, dass nämlich Sherlock Holmes selbst bei seinen scheinbar unbedeutendsten Handlungen stets ein bestimmtes Ziel fest im Auge behielt.
»Nun, was halten Sie von dem Fall?«, fragten beide jetzt in einem Atem.
»Sie sind auf so gutem Wege, meine Herren«, erwiderte Holmes nicht ohne einen leisen Anflug von Spott, »da wäre es die größte Anmaßung von meiner Seite, wollte ich mich Ihnen zur Hilfe anbieten. Den Ruhm, der Ihren Verdiensten gebührt, sollen Sie auch allein ernten. Vielleicht kann ich Ihnen im weiteren Verlauf Ihrer Forschungen noch von Nutzen sein, dann stehe ich gern zu Diensten. Es wäre mir übrigens doch erwünscht, wenn ich den Schutzmann sprechen könnte, der die Leiche gefunden hat. Sagen Sie mir bitte, wie er heißt und wo er wohnt.«
Lestrade schlug sein Notizbuch auf. »John Rance hat jetzt keinen Dienst; Sie werden ihn sicher in seiner Wohnung Kennington Park Gate, Audley Court Nr. 46 finden.« Holmes notierte sich die Adresse.
»Kommen Sie mit, Doktor«, rief er mir zu, »wir suchen ihn auf.« Dann verabschiedete er sich von den beiden Geheimpolizisten. »Ich will Sie noch auf einiges aufmerksam machen, was Ihnen vielleicht einige Mühe ersparen kann«, sagte er. »Hier ist ein Mord begangen worden; der Täter ist sechs Fuß groß, im besten Mannesalter, hat verhältnismäßig kleine Füße, trug Stiefel mit breiten Spitzen und rauchte eine Trichinopoly-Zigarre. Er kam mit seinem Opfer in einer Droschke angefahren; von den Hufeisen des Pferdes waren drei alt und das am linken Vorderfuß neu. Der Mörder hat eine rötliche Gesichtsfarbe und ungewöhnlich lange Fingernägel an der rechten Hand. – Das sind nur ganz unbedeutende Einzelheiten, aber sie könnten Ihnen doch einen Anhaltspunkt geben.«
Lestrade und Gregson sahen einander ungläubig lächelnd an.
»Wie ist denn der Mann umgebracht worden, wenn ein Mord vorliegt?«, fragte ersterer.
»Vergiftet«, gab Holmes kurz zur Antwort. Nach diesem kategorischen Ausspruch entfernte er sich rasch, und seine beiden Nebenbuhler blickten ihm mit offenem Mund nach.
Es war ein Uhr, als wir das Haus in der Brixton Road verließen, um uns sofort auf das nächste Telegrafenbureau zu begeben. Holmes schickte eine lange Depesche ab, dann fuhren wir zusammen nach der Wohnung des Schutzmanns.
»Man muss sich die Zeugenaussagen wo möglich immer aus erster Hand holen«, bemerkte er. »Wenn mir der Fall auch im Allgemeinen ganz klar ist, so halte ich es doch für richtig, mich auch von allem Übrigen so viel als tunlich zu unterrichten.«
»Aber Holmes«, rief ich in höchster Verwunderung, »Sie können doch unmöglich über alle jene Einzelheiten zu so unumstößlicher Gewissheit gelangt sein, wie Sie uns glauben machen wollen.«
»Jawohl, jeder Zweifel ist ausgeschlossen«, entgegnete er. »Als wir ankamen, war das Erste, was mir auffiel, die doppelte Räderspur einer Droschke, die bis an das Gittertor führte. Seit einer Woche hatte es vergangene Nacht zum ersten Mal geregnet, und die tiefen Wagengeleise konnten erst entstanden sein, nachdem das Erdreich gehörig aufgeweicht war. Auch die Spuren der Pferdehufe waren erkennbar, drei nur undeutlich, die vierte klar ausgeprägt, folglich war das Eisen neu. War die Droschke erst nach dem Regen am Haus vorgefahren und am Morgen nicht mehr da, wie Gregson versichert, so hatte sie also die beiden Leute während der Nacht dahin befördert.«
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