Doyle,A.C.,Sherlock Holmes-Gesammelte Werke - Arthur Conan Doyle - E-Book

Doyle,A.C.,Sherlock Holmes-Gesammelte Werke E-Book

Arthur Conan Doyle

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Beschreibung

Sherlock Holmes, das ist der Inbegriff des Detektivs in der Literatur. Und das ist ein Universum aus mehreren Romanen und Dutzenden Erzählungen, an dem Arthur Conan Doyle sein Leben lang geschrieben hat. Mit Scharfsinn und Kombinationsgabe lösen Sherlock Holmes und sein Freund Dr. Watson jeden noch so vertrackten Fall, ob es um den Hund der Baskervilles geht oder das getupfte Band. Keine Romanfigur wurde häufiger zum Leinwandhelden als der Mann aus der Londoner Baker Street. Genießen Sie das Original in seiner ganzen Pracht in dieser außergewöhnlich umfangreichen Sammlung. Neben den Erzählungen hat Doyle auch vier Holmes-Romane veröffentlicht, die in der Sammlung 'Sherlock Holmes - Die Romane' zu finden sind.

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Seitenzahl: 1821

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Arthur Conan Doyle

Sherlock Holmes

Arthur Conan Doyle

SHERLOCK HOLMES

Gesammelte Werke

Aus dem Englischenvon Adolf Gleiner, Margarete Jacobi,Louis Ottmann und Rudolf Lautenbach

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 Anaconda Verlag GmbH, Köln

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-86647-850-3

eISBN 978-3-7306-9051-2

www.anacondaverlag.de

[email protected]

INHALT

Eine Skandalgeschichte im Fürstentum O.

Der Bund der Rothaarigen

Ein Fall geschickter Täuschung

Der geheimnisvolle Mord im Tal von Boscombe

Fünf Apfelsinenkerne

Der Mann mit der Schramme

Die Geschichte des blauen Karfunkels

Das getupfte Band

Der Daumen des Ingenieurs

Die verschwundene Braut

Die Geschichte des Beryll-Kopfschmuckes

Das Landhaus in Hampshire

Silberstrahl

Das gelbe Gesicht

Eine sonderbare Anstellung

Holmes’ erstes Abenteuer

Der Katechismus der Familie Musgrave

Die Gutsherren von Reigate

Der Krüppel

Der Doktor und sein Patient

Der griechische Dolmetscher

Der Marinevertrag

Das letzte Problem

Der Hund der Baskervilles

Im leeren Haus

Der Baumeister von Norwood

Die tanzenden Männchen

Die einsame Radfahrerin

Die Entführung aus der Klosterschule

Der schwarze Peter

Sherlock Holmes als Einbrecher

Die sechs Napoleonbüsten

Die drei Studenten

Der goldene Klemmer

Der vermisste Fußballspieler

Der Mord in Abbey Grange

Der zweite Blutflecken

Die gestohlenen Unterseebootszeichnungen

Der sterbende Sherlock Holmes

Quellenverzeichnis

EINE SKANDALGESCHICHTE IM FÜRSTENTUM O.

I.

Ich hatte mich vor Kurzem verheiratet und daher in letzter Zeit nur wenig von meinem Freund Sherlock Holmes gesehen. Mein eigenes Glück und meine häuslichen Interessen nahmen mich völlig gefangen, wie es wohl jedem Mann ergehen wird, der sich ein eigenes Heim gegründet hat, während Holmes, seiner Zigeunernatur entsprechend, jeder Art von Geselligkeit aus dem Weg ging. Er wohnte noch immer in unserem alten Logis in der Baker Street, begrub sich unter seinen alten Büchern und wechselte zwischen Kokain und Ehrgeiz, zwischen künstlicher Erschlaffung und der aufflammenden Energie seiner scharfsinnigen Natur. Noch immer wandte er dem Verbrecherstudium sein ganzes Interesse zu, und seine bedeutenden Fähigkeiten sowie seine ungewöhnliche Beobachtungsgabe ließen ihn den Schlüssel zu Geheimnissen finden, welche die Polizei längst als hoffnungslos aufgegeben hatte. Von Zeit zu Zeit drang irgendein unbestimmtes Gerücht über seine Tätigkeit zu mir. Ich hörte von seiner Berufung nach Odessa wegen der Mordaffäre Trepoff, von seiner Aufklärung der einzig dastehenden Tragödie der Gebrüder Atkinson in Trimonale und schließlich von der Mission, die er im Auftrag des holländischen Herrscherhauses so taktvoll und erfolgreich zu Ende geführt hatte. Sonst wusste ich von meinem alten Freund und Gefährten wenig mehr als alle Leser der täglichen Zeitungen.

Eines Abends, es war am 20. März 1888, führte mich mein Weg durch die Baker Street; ich kam gerade von einer Konsultation zurück, da ich wieder meine Privatpraxis aufgenommen hatte. Als ich mich der wohlbekannten Tür näherte, ergriff mich der unwiderstehliche Drang, Holmes aufzusuchen, um zu erfahren, welcher Angelegenheit er augenblicklich sein außergewöhnliches Talent widmete. Seine Zimmer waren glänzend erleuchtet, und beim Hinaufsehen gewahrte ich den Schatten seiner großen, mageren Gestalt. Den Kopf auf die Brust gesenkt und die Hände auf dem Rücken, durchmaß er schnell und eifrig das Zimmer. Ich kannte seine Stimmungen und Angewohnheiten viel zu genau, um nicht sofort zu wissen, dass er wieder in voller Tätigkeit war. Er hatte sich aus seinen künstlich erzeugten Träumen emporgerafft und war nun einem neuen Rätsel auf der Spur. Ich zog die Glocke und wurde in das Zimmer geführt, das ich früher mit ihm geteilt hatte.

Sein Benehmen war nicht übermäßig herzlich zu nennen. Das war bei ihm überhaupt selten der Fall, und doch hatte ich das Gefühl, dass er sich freute, mich zu sehen. Er sprach kaum ein Wort, aber nötigte mich mit freundlichem Gesicht in einen Lehnstuhl, reichte mir seinen Zigarrenkasten herüber und zeigte auf ein Likörschränkchen in der Ecke. Dann stellte er sich vor das Feuer und betrachtete mich in seiner sonderbar forschenden Manier.

»Die Ehe bekommt Ihnen, Watson«, bemerkte er. »Ich glaube, Sie haben siebeneinhalb Pfund zugenommen, seit ich Sie zuletzt sah.«

»Sieben«, antwortete ich.

»Wirklich? Ich hätte es für etwas mehr gehalten. Nur eine Kleinigkeit mehr, Watson. Und Sie praktizieren wieder, wie ich bemerke; Sie erzählten mir nichts von Ihrer Absicht, wieder ins Joch gehen zu wollen.«

»Woher wissen Sie es denn?«

»Ich sehe es, ich folgere es eben. Ich weiß auch, dass Sie kürzlich in einem tüchtigen Unwetter draußen gewesen sind und dass Sie ein sehr ungeschicktes, nachlässiges Dienstmädchen haben müssen.«

»Mein lieber Holmes«, sagte ich, »nun hören Sie auf; vor einigen Jahrhunderten würden sie Sie wahrscheinlich verbrannt haben. Ich habe allerdings am vorigen Donnerstag eine Landtour gemacht und kam furchtbar durchnässt und beschmutzt nach Hause, aber woraus Sie das schließen wollen, weiß ich doch nicht, da ich ja sofort meine Kleider wechselte. Und Marie Johanne ist wirklich unverbesserlich, meine Frau hat ihr schon den Dienst gekündigt, aber um alles in der Welt, wie können Sie das wissen?«

Er lachte in sich hinein und rieb seine schmalen, nervösen Hände.

»Das ist doch so einfach«, meinte er, »meine Augen sehen deutlich, dass auf der Innenseite Ihres linken Stiefels, die gerade jetzt vom Licht erhellt wird, das Leder durch sechs nebeneinanderlaufende Schnitte beschädigt ist. Das kann nur jemand getan haben, der sehr achtlos den getrockneten Schmutz von den Rändern der Sohle abkratzen wollte. Daher meine doppelte Vermutung, dass Sie erstens bei schlechtem Wetter ausgegangen sind und zweitens ein besonders nichtswürdiges, stiefelaufschlitzendes Exemplar der Londoner Dienstbotenwelt haben. Und was nun Ihre Praxis betrifft, so müsste ich doch wirklich schwachköpfig sein, wenn ich einen Herrn, der nach Jodoform riecht, auf dessen rechtem Zeigefinger ein schwarzer Fleck von Höllenstein prangt, während die Erhöhung seiner linken Brusttasche deutlich das Versteck seines Stethoskops verrät, nicht auf der Stelle für einen praktischen Arzt halten würde.«

Ich musste lachen, mit welcher Leichtigkeit er diese Folgerungen entwickelte. »Wenn ich Ihre logischen Schlüsse anhöre, erscheint mir die Sache lächerlich einfach, und ich glaube es ebenso gut zu können«, bemerkte ich. »Und doch überrascht mich jeder Beweis Ihres Scharfsinns aufs Neue, bis Sie mir den ganzen Vorgang erklärt haben. Nichtsdestoweniger sehe ich genauso gut wie Sie.«

»Sehr richtig«, entgegnete er, steckte sich eine Zigarette an und warf sich in den Lehnstuhl. »Sie sehen wohl, aber Sie beobachten nicht. Der Unterschied ist ganz klar. Sie haben z. B. häufig die Stufen gesehen, die vom Flur in dies Zimmer hinaufführen.«

»Sehr häufig.«

»Wie oft?«

»Nun, sicher einige Hundert Mal.«

»Dann werden Sie mir auch wohl sagen können, wie viele es sind?«

»Wie viele? Nein, davon hab ich keine Ahnung.«

»Sehen Sie wohl, Sie haben zwar gesehen, aber nicht beobachtet. Das meine ich ja eben. Ich weiß ganz genau, dass die Treppe siebzehn Stufen hat, weil ich nicht nur gesehen, sondern auch beobachtet habe. – A propos, da ich Ihr Interesse für meine kleinen Kriminalfälle kenne – Sie hatten sogar die Güte, eine oder zwei meiner geringen Erfahrungen aufzuzeichnen –, wird Sie vermutlich auch dies interessieren.« Er reichte mir einen Bogen dicken, rosenfarbenen Briefpapiers, der geöffnet auf dem Tisch lag. »Dies Schreiben kam mit der letzten Post an, bitte lesen Sie vor.«

Der Brief, der weder Datum noch Unterschrift und Adresse trug, lautete:

»Ein Herr, der Sie in einer sehr bedeutungsvollen Angelegenheit zu sprechen wünscht, wird Sie heute Abend um drei Viertel acht aufsuchen. Die Dienste, die Sie unlängst einem regierenden europäischen Haus erwiesen, geben den Beweis, dass man Ihnen Dinge von allerhöchster Wichtigkeit anvertrauen kann. Dies Urteil wurde uns von allen Seiten bestätigt. Bitte also zur bezeichneten Zeit zu Hause zu sein und es nicht falsch zu deuten, wenn Ihr Besucher eine Maske trägt.«

»Dahinter steckt ein Geheimnis«, bemerkte ich. »Können Sie sich das erklären?«

»Bis jetzt habe ich noch keine Anhaltspunkte. Es ist aber ein Hauptfehler, ohne dieselben Vermutungen aufzustellen. Unmerklich kommt man so der Theorie zuliebe zum Konstruieren von Tatsachen, statt es umgekehrt zu machen. Doch was schließen Sie aus dem Brief selbst?«

Ich prüfte sorgfältig Schrift und Papier.

»Der Schreiber lebt augenscheinlich in guten Verhältnissen«, meinte ich, bemüht, das Verfahren meines Freundes so getreu als möglich zu kopieren. »Das Papier ist sicher kostspielig, es ist ganz besonders stark und steif.«

»Ganz richtig bemerkt«, sagte Holmes. »Auf keinen Fall ist es englisches Fabrikat. Halten Sie es mal gegen das Licht.«

Ich tat es und sah links als Wasserzeichen ein großes E und C und auf der rechten Seite ein fremdartig aussehendes Wappen in das Papier gestempelt. »Nun, was schließen Sie daraus?«, fragte Holmes.

»Links ist der Namenszug des Fabrikanten.«

»Gut, aber rechts?«

»Ein Wappen als Fabrikzeichen, ich kenne es jedenfalls nicht«, antwortete ich.

»Dank meiner heraldischen Liebhaberei kann ich es Ihnen verraten«, sagte Holmes. »Es ist das Wappen des Fürstentums O…«

»Dann ist der Fabrikant vielleicht Hoflieferant«, meinte ich.

»So ist’s. Doch der Schreiber dieses Briefes ist ein Deutscher. Fiel Ihnen nicht der eigentümliche Satzbau auf? ›This account of you we have from all quarters received.‹ Ein Franzose oder Russe kann das nicht geschrieben haben, nur der Deutsche ist so unhöflich gegen seine Verben. Haha, mein Junge, was sagen Sie dazu?«

Seine Augen funkelten, und aus seiner Zigarette blies er große blaue Triumphwolken.

»Nun müssen wir noch herausfinden, was dieser Deutsche wünscht, der auf diesem fremdartigen Papier schreibt und es vorzieht, sich unter der Maske vorzustellen. Wenn ich nicht irre, kommt er jetzt selbst, um den Schleier des Geheimnisses zu lüften.«

Der scharfe Ton von Pferdehufen und das knirschende Geräusch von Rädern ließ sich hören, dann wurde stark an der Glocke gezogen. Holmes pfiff. »Das klingt ja, als wären es zwei Pferde«, sagte er. Er blickte aus dem Fenster. »Ja«, fuhr er fort, »ein hübscher Brougham und ein Paar Prachtgäule, jeder mindestens seine hundertundfünfzig Guineen wert. Na, Watson, wenn auch sonst nichts an der Sache ist, jedenfalls ist da Geld zu holen.«

»Ich glaube, es ist wohl besser, ich gehe jetzt.«

»Auf keinen Fall, Doktor, Sie bleiben, wo Sie sind; was sollte ich wohl ohne Sie anfangen? Außerdem verspricht die Geschichte interessant zu werden, und warum wollen Sie sich das entgehen lassen?«

»Aber Ihr Klient?«

»Darüber machen Sie sich keine Skrupel. Vielleicht brauchen wir beide wirklich Ihre Hilfe. Er kommt jetzt. Setzen Sie sich ruhig in den Lehnstuhl und passen auf.«

Ein langsamer, schwerer Tritt, den man auf der Treppe und dem Gang gehört hatte, hielt plötzlich vor der Tür an. Gleich darauf wurde laut und energisch geklopft.

»Herein!«, sagte Holmes.

Ein Mann trat ins Zimmer, dessen Größe wohl sechs Fuß sechs Zoll betragen mochte, er hatte die Brust und die Glieder eines Herkules. Seine Kleidung war auffallend reich, aber kein feiner Engländer hätte sie für geschmackvoll gehalten. Breite Streifen von Astrachan schmückten die Ärmel und den Kragen seines doppelreihigen Rockes, der tiefblaue Mantel, den er über die Schultern geworfen hatte, war mit flammend roter Seide gefüttert und wurde am Hals durch einen funkelnden Beryll zusammengehalten. Seine Stiefel reichten bis zur halben Wade und waren oben mit reichem braunem Pelzwerk besetzt; sie vervollständigten den Eindruck fremdartiger Pracht, den seine ganze Erscheinung hervorbrachte. Er trug einen breitkrempigen Hut in der Hand; die schwarze Halbmaske, die den oberen Teil seines Gesichts bedeckte, musste wohl eben erst angelegt sein, denn seine Hand hielt sie noch beim Eintritt gefasst. Die starke, etwas vorstehende Unterlippe und das lange, gerade Kinn sprachen von Entschlossenheit, wenn nicht Eigensinn.

»Sie haben meinen Brief erhalten?«, fragte er mit tiefer, rauer Stimme und ausgeprägt deutschem Akzent. »Ich habe Sie auf mein Erscheinen vorbereitet« – er blickte ungewiss von einem zum ändern.

»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Holmes. »Dies ist mein Freund und Kollege Dr. Watson, der die Güte hat, mir gelegentlich bei schwierigen Fällen zu helfen. Mit wem habe ich die Ehre?«

»Nennen Sie mich Graf von Kramm – aus X. Ich nehme an, dass ich in Ihrem Freund einen Mann von Ehre und Diskretion vor mir habe, dem ich eine Sache von höchster Wichtigkeit anvertrauen darf. Sonst würde ich es vorziehen, mit Ihnen allein zu verhandeln.«

Ich erhob mich sofort, um das Zimmer zu verlassen, doch Holmes ergriff mich am Handgelenk und drückte mich auf meinen Sitz nieder. »Entweder beide oder keiner«, erklärte er fest. »Was Sie mir zu sagen haben, darf dieser Herr ebenso gut anhören.«

Der Graf zuckte seine breiten Schultern. »Dann muss ich Sie beide auf zwei Jahre zu absolutem Schweigen verpflichten. Später hat die Sache bis auf meinen Namen keine Bedeutung mehr. Es ist aber nicht zu viel gesagt, wenn ich behaupte, dass augenblicklich die betreffende Angelegenheit imstande wäre, einen Einfluss auf die europäische Geschichte auszuüben.«

»Ich verpflichte mich, zu schweigen«, sagte Holmes.

»Ich ebenfalls.«

»Sie entschuldigen diese Maske«, fuhr unser seltsamer Besucher fort, »doch ist es der Wunsch der hohen Persönlichkeit, in deren Auftrag ich handle, dass sein Agent Ihnen unbekannt bleibe. Gleichzeitig muss ich bekennen, dass ich mich unter falschem Namen eingeführt habe.«

»Das wusste ich«, sagte Holmes trocken.

»Die Umstände erfordern das äußerste Zartgefühl. Ein großer Skandal muss unter allen Umständen von einem fürstlichen Haus abgewendet werden, der es ernstlich kompromittieren könnte. Offen gestanden, die Angelegenheit betrifft das erlauchte Geschlecht der … das regierende Haus in O…«

Holmes lehnte sich bequem in den Lehnstuhl zurück und schloss die Augen. »Das wusste ich auch schon«, murmelte er.

Anscheinend überrascht blickte der Fremde auf die lässig hingestreckte Gestalt des geschicktesten und tatkräftigsten Polizeiagenten Europas. Holmes hob langsam die Lider und sah ungeduldig zu seinem hünenhaften Klienten auf.

»Wenn Eure Hoheit nur geruhen wollten, mir den Fall zu erzählen«, bemerkte er, »ich wäre dann viel besser imstande, einen Rat zu erteilen.«

Der Mann sprang von seinem Stuhl auf und schritt erregt im Zimmer auf und ab. Zuletzt riss er mit einer Gebärde der Verzweiflung die Maske vom Gesicht und warf sie zu Boden. »Sie haben recht«, rief er. »Ich bin der Fürst. Warum soll ich es zu verbergen suchen?«

»Ja, warum eigentlich?«, murmelte Holmes. »Bevor Eure Hoheit ein Wort äußerten, wusste ich, mit wem ich die Ehre hatte zu unterhandeln.«

Unser sonderbarer Besucher nahm wieder Platz und strich mit der Hand über seine hohe, weiße Stirn. »Aber Sie verstehen, Sie müssen verstehen, dass ich es nicht gewohnt bin, mich persönlich mit solchen Dingen zu befassen. Und doch konnte ich diese delikate Angelegenheit keinem Vermittler anvertrauen, ohne mich gänzlich in seine Hand zu geben. In der Hoffnung auf Ihren Rat bin ich inkognito nach London gekommen.«

»Dann bitte sprechen Eure Hoheit«, sagte Holmes, wieder die Augen schließend.

»Die Tatsachen sind in Kürze folgende: Vor fünf Jahren machte ich während eines längeren Aufenthalts in Warschau die Bekanntschaft einer wohlbekannten Abenteurerin: Irene Adler. Der Name wird Ihnen wahrscheinlich nicht fremd sein.«

»Seien Sie doch so gut, Doktor, und schlagen Sie in meinem Verzeichnis nach«, sagte Holmes, ohne die Augen zu öffnen. Schon vor Jahren hatte er angefangen, alles ihm wichtig Erscheinende, mochte es nun Menschen oder Dinge betreffen, systematisch einzutragen, sodass man kaum eine Person oder Sache erwähnen konnte, von der er nichts Näheres zu berichten wusste. Diesmal fand ich die gesuchte Biografie zwischen der eines hebräischen Rabbiners und der eines Contre-Admirals, des Verfassers einer Abhandlung über die Tiefseefische.

»Nun wollen mir mal sehen«, meinte Holmes. »Hm! Geboren in New Jersey im Jahr 1858. Altstimme, hm. La Scala, hm! Primadonna an der kaiserlichen Oper in Warschau – ja! Von der Bühne zurückgetreten – aha. Lebt in London – ganz recht! Eure Hoheit knüpften nun mit dieser jungen Person Beziehungen an und schrieben ihr einige kompromittierende Briefe, deren Rückgabe jetzt wünschenswert wäre. Ist es nicht so?«

»Ganz genau so – aber wie …«

»Hat eine heimliche Ehe stattgefunden?«

»Nein.«

»Es existieren auch keine Verträge oder Abmachungen?«

»Keine.«

»Dann begreife ich Eure Hoheit nicht recht. Wenn diese junge Person die fraglichen Briefe behufs Erpressung oder zu anderen Zwecken benutzen wollte, wie vermöchte sie dann deren Echtheit zu beweisen?«

»Aber die Handschrift?«

»Pah! Fälschung!«

»Doch mein besonderes Briefpapier?«

»Ist gestohlen.«

»Mein Siegel?«

»Nachgeahmt.«

»Meine Fotografie?«

»Gekauft.«

»Aber wir sind ja beide zusammen auf dem Bild.«

»O weh! Das ist sehr böse. Damit haben Hoheit allerdings eine Unvorsichtigkeit begangen.«

»Ich war verrückt – von Sinnen.«

»Euer Hoheit haben sich ernstlich kompromittiert.«

»Ich war damals noch sehr jung und nicht an der Regierung. Ich zähle jetzt erst dreißig.«

»Das Bild muss wieder herbeigeschafft werden.«

»Bis jetzt war alles vergebens.«

»Haben Sie es mit Geld versucht?«

»Sie gibt es um keinen Preis her.«

»Na, dann wird es gestohlen.«

»Das ist schon fünf Mal versucht worden. Zweimal ließ ich in ihrer Wohnung einbrechen, einmal wurde ihr Gepäck auf einer Reise durchstöbert. Zweimal wurde sie überfallen. Alles umsonst.«

»Keine Spur davon?«

»Nicht die geringste.«

Holmes lachte. »Die kleine Geschichte ist ja recht nett.«

»Aber für mich ist sie verteufelt ernst«, meinte der Fürst vorwurfsvoll.

»Das stimmt. Was beabsichtigt sie nur mit der Fotografie?«

»Sie will mich ins Unglück stürzen.«

»Wie das?«

»Ich stehe im Begriff, mich zu verheiraten.«

»Ich hörte davon.«

»Und zwar mit Klothilde, der zweiten Tochter des Königs von … Sie kennen wahrscheinlich die starren Grundsätze dieser Familie, die Prinzessin selbst ist die personifizierte Empfindsamkeit. Fiele der leiseste Schatten auf mich, würde man den Plan sofort aufgeben.«

»Und Irene Adler?«

»Droht, ihnen das Bild zu schicken. Sie tut es auch, ich weiß, dass sie es tut; Sie kennen ihren eisernen Willen nicht. Ach, ihr liebliches Madonnenantlitz verrät ja leider nichts davon. Es gibt nichts, dessen sie nicht fähig wäre, um diese Heirat zu verhindern, absolut nichts!«

»Es ist gewiss, dass sich das Bild noch in ihrem Besitz befindet?«

»Sicher.«

»Woher wissen Sie das?«

»Sie hat geschworen, es erst am Tag der Bekanntmachung der Verlobung abzuschicken. Der ist am nächsten Montag.«

»Oh, dann haben wir noch drei Tage vor uns«, sagte Holmes gemütlich. »Das trifft sich ja sehr glücklich, denn jetzt muss ich mich noch ein oder zwei wichtigen Angelegenheiten widmen. Hoheit bleiben doch fürs Erste in London?«

»Gewiss. Sie finden mich bei Langham unter dem Namen des Grafen von Kramm.«

»Dann werde ich also dorthin über unseren Erfolg berichten.«

»Ich bitte darum. Sie können sich meine Aufregung vorstellen.«

»Nun bleibt noch die Geldfrage zu erledigen.«

»Sie haben carte blanche.«

»Vollständig?«

»Eines meiner Schlösser wäre mir nicht zu viel für das Bild.«

»Und die augenblicklichen Ausgaben?«

Der Fürst zog ein dickes Portefeuille unter dem Mantel hervor und legte es auf den Tisch.

»Hier sind dreihundert Pfund in Gold und siebenhundert in Papier«, sagte er.

Holmes kritzelte eine Empfangsbescheinigung auf ein Blatt seines Notizbuchs und überreichte es ihm.

»Die Adresse der Dame?«

»Ist Briony Lodge, Serpentine Avenue, St. Johns Wood.«

Holmes notierte sie sich. »Noch eine andere Frage: War es ein Kabinettbild?«

»Allerdings.«

»Nun gute Nacht, Hoheit, und ich darf wohl die Hoffnung aussprechen, bald günstige Nachrichten senden zu können. – Gute Nacht auch, Watson«, fügte er hinzu, als die Räder des fürstlichen Wagens die Straße hinabrollten. »Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich morgen Nachmittag um drei Uhr aufsuchen würden, ich möchte gern mit Ihnen über die Sache plaudern.«

II

Pünktlich um drei Uhr erschien ich in der Baker Street, aber Holmes war noch nicht heimgekehrt. Die Wirtin erzählte mir, er wäre kurz vor acht Uhr morgens fortgegangen. Ich setzte mich mit der festen Absicht an den Kamin, ihn unter allen Umständen zu erwarten. Der vorliegende Fall erregte mein höchstes Interesse, und wenn er auch nicht den schrecklichen, seltsamen Charakter trug wie die beiden Verbrechen, die ich schon früher aufzeichnete, gaben ihm doch die Natur der Sache und die erlauchte Persönlichkeit des Klienten ein ganz eigenartiges Gepräge. Nebenbei gewährte es mir stets aufs Neue ein Vergnügen, die klare, schlagende Logik meines Freundes zu beobachten und den meisterhaften Griff, mit dem er eine Situation erfasste. Ich war an das beständige Gelingen seiner Aufgaben so gewöhnt, dass mir die Möglichkeit eines Misserfolgs überhaupt nie in den Sinn kam. Kurz vor vier Uhr wurde die Tür von einem angetrunken aussehenden Reitknecht mit schlecht gekämmtem Haar und Backenbart geöffnet, das gerötete Gesicht und die nachlässige Kleidung machten entschieden einen heruntergekommenen Eindruck. Trotzdem ich die auffallende Geschicklichkeit meines Freundes in Verkleidungen kannte, dauerte es doch geraume Zeit, bis ich sicher war, ihn vor mir zu haben. Mit einem leichten Kopfnicken verschwand er im Schlafzimmer und erschien nach fünf Minuten elegant gekleidet und tadellos wie immer. Die Hände in den Taschen, streckte er sich behaglich vor dem Kamin aus und fing herzlich an zu lachen.

»Das ist wirklich gut!«, rief er und brach wieder in sein anhaltendes Lachen aus, bis er atemlos und erschöpft innehalten musste.

»Was ist denn los?«

»Es ist zu komisch. Sie erraten sicher nicht, womit ich mich heute beschäftigt habe und wie ich meine Tätigkeit beschloss.«

»Keine Ahnung. Vermutlich haben Sie Haus und Gewohnheiten von Miss Irene beobachtet?«

»Ganz recht, und ich habe allerlei Merkwürdiges erlebt. Lassen Sie sich erzählen. Ich verließ also als stellenloser Groom heute früh meine Wohnung. Ich sage Ihnen, unter diesen Pferdemenschen herrscht eine wunderbare Kameradschaft, ein wahres Freimaurertum. Gehört man zu ihnen, erfährt man alles, was man wissen will. Ich fand denn auch bald die Wohnung. Die zweistöckige Villa ist wirklich ein bijou, hinten dehnt sich ein Garten aus, während die Vorderseite des Hauses bis dicht an die Straße grenzt. Rechter Hand befindet sich ein geräumiges, schön ausgestattetes Wohnzimmer, mit großen, fast zum Boden reichenden Fenstern und jenem dummen englischen Fensterverschluss, den jedes Kind öffnen kann. Sonst war nichts Bemerkenswertes zu entdecken, höchstens die Möglichkeit, vom Dach des Kutscherhauses in das Flurfenster zu gelangen. Ich schlenderte die Straße hinab und fand richtig meine Erwartungen nicht getäuscht; in einem Gässchen, das sich an einer der Gartenmauern entlangzog, lag ein Pferdestall. Ich half den Stallknechten beim Abreiben ihrer Pferde und verdiente damit ein Trinkgeld, ein Glas Bier und so viel Auskunft über Miss Adler, als ich nur wünschte. Natürlich musste ich dafür die Biografien von mindestens zwölf Leuten aus der Nachbarschaft, die mich nicht im Geringsten interessierten, mit in Kauf nehmen.«

»Nun, und Irene Adler?«, fragte ich.

»Oh, sie hat allen Männern im ganzen Stadtteil die Köpfe verdreht. Sie ist das entzückendste Geschöpf unter der Sonne, darüber herrscht nur eine Stimme in den Pferdeställen der Serpentine Avenue. Sie lebt sehr zurückgezogen, singt in Konzerten und fährt täglich um fünf Uhr aus, um sieben kehrt sie dann zum Essen zurück. Zu anderer Tageszeit verlässt sie selten das Haus. Sie empfängt nur die häufigen Besuche eines brünetten und auffallend hübschen Herrn. Er kommt täglich ein, ja auch zwei Mal und ist ein Mr Godfroy Norton aus dem ›Inner Temple‹. Da sehen Sie, welch einen Vorteil es bringt, Kutscher zu Vertrauten zu haben! Sie hatten ihn mindestens ein Dutzend Mal nach Hause gefahren und waren genau über ihn orientiert. Als ihr Redefluss versiegt war, wanderte ich langsam in der Nähe auf und ab und entwarf meinen Feldzugsplan.

Dieser Mr Norton war entschieden ein nicht zu unterschätzender Faktor in dieser Angelegenheit. Er war Jurist, das klang fatal. Welche Beziehungen bestanden zwischen diesen beiden, und welchen Grund hatte er für seine häufigen Besuche? War sie seine Klientin, Freundin oder seine Geliebte? Im ersteren Fall hatte sie ihm wahrscheinlich das Bild in Verwahrsam gegeben, im letzteren war das weniger zu befürchten. Hiervon hing es aber doch ab, ob ich in der Villa meine Nachforschungen fortsetzen oder das Feld meiner Tätigkeit in die Wohnung des Herrn verlegen musste. Das war ein sehr kniffliger Punkt und machte die ganze Sache weit verwickelter. Ich fürchte, diese Details langweilen Sie, aber zum weiteren Verständnis der Situation sind sie durchaus notwendig.«

»Ich folge Ihnen sehr aufmerksam«, antwortete ich.

»Ich war mit der Geschichte noch nicht im Klaren, als eine Droschke sich näherte und vor der Villa hielt. Ein auffallend hübscher Mann, mit einer Adlernase in seinem bärtigen Gesicht, sprang heraus, zweifellos derselbe, der mir beschrieben wurde. Er schien große Eile zu haben, befahl dem Kutscher zu warten und eilte an dem öffnenden Mädchen mit der Miene eines Mannes vorüber, der sich völlig zu Hause fühlt. Sein Aufenthalt dauerte ungefähr eine halbe Stunde; ich konnte ihn zuweilen durch das Fenster des Wohnzimmers erblicken, in dem er erregt sprechend und lebhaft gestikulierend auf und nieder schritt. Von ihr war keine Spur zu entdecken. Plötzlich kam er in verstärkter Aufregung wieder heraus. Bevor er einstieg, warf er einen Blick auf seine Uhr. ›Fahren Sie wie der Teufel‹, befahl er. ›Zuerst zu Gross und Hankey in der Regent Street und dann zur St. Monica’s Church in Edgeware Road. Eine halbe Guinee, wenn die Fahrt nur zwanzig Minuten dauert!‹

Fort ging es, und ich überlegte eben, ob ich ihnen nicht folgen sollte, als ich einen hübschen kleinen Landauer das Gässchen heraufkommen sah. Der Kutscher hatte kaum vor der Tür gehalten und war noch nicht damit fertig, die Knöpfe seines Rocks zu schließen, als sie schon eilig aus der Haustür schlüpfte und selbst den Schlag aufriss. ›Nach der St. Monica’s Church, John‹, rief sie. ›Und einen halben Sovereign, wenn du in zwanzig Minuten dort bist.‹

Ich sah sie nur ganz flüchtig, doch es genügte, um jede Torheit eines Mannes begreiflich zu finden. – Die Gelegenheit durfte ich mir nicht entgehen lassen, Watson. Glücklicherweise fand ich eine Droschke in der Nähe, die mich aller Zweifel enthob, auf welche Weise ich dasselbe Ziel erreichen konnte. Der Kutscher wusste nicht recht, was er aus seinem schäbigen Fahrgast machen sollte, aber ehe er noch Zeit zu irgendwelchen Einwendungen fand, saß ich schon im Wagen. ›Ein halber Sovereign, wenn Sie die St. Monica’s Church in zwanzig Minuten erreichen!‹ Es fehlten noch fünfundzwanzig Minuten an zwölf Uhr, und es lag klar auf der Hand, was vor sich gehen sollte. Mein Wagen fuhr sehr rasch, aber sie waren doch früher zur Stelle. Als ich ankam, hielten die beiden Wagen mit ihren dampfenden Pferden schon vor der Kirchtür. Ich bezahlte meinen Kutscher und ging schnell hinein. Außer den beiden Gesuchten und einem sehr bestürzt aussehenden Geistlichen, der eifrig auf sie einsprach, war keine Seele weiter dort zu sehen. Alle drei standen in einer dichten Gruppe vor dem Altar. Ich schlenderte mit der Miene eines Müßiggängers, der zufällig in eine Kirche geraten ist, durch das Seitenschiff. Zu meiner großen Überraschung richteten plötzlich die drei ihre Aufmerksamkeit auf mich, und Godfroy Norton schritt rasch auf mich zu.

›Gott sei Dank!‹, rief er. ›Sie können uns einen sehr großen Dienst erweisen. Kommen Sie schnell, schnell!‹

›Was soll ich denn?‹, fragte ich.

›Kommen Sie nur, kommen Sie nur, es fehlen nur noch drei Minuten, sonst ist die Sache ungültig.‹

Ich wurde halb zum Altar geschleppt, und bevor ich recht wusste, was geschah, hörte ich mich Antworten murmeln, die in mein Ohr geflüstert wurden, und Dinge bezeugen, von denen ich keine Ahnung hatte, kurzum: Ich assistierte bei der feierlichen Verbindung von Jungfrau Irene Adler mit dem Junggesellen Godfroy Norton. Im Augenblick war alles vorüber, und dann dankte mir ein Herr rechts und eine Dame links, während mir der Prediger von vorn seine Zufriedenheit ausdrückte. Ich sage Ihnen, ich habe mich nie in einer alberneren Lage befunden, und es war die Erinnerung daran, die mich vorhin so zum Lachen brachte. Mit dem Trauschein hatte es sicher einen Haken, und der Geistliche weigerte sich außerdem ganz entschieden, die Zeremonie ohne Zeugen vorzunehmen. Wäre ich nicht zufällig dort gewesen, hätte sich der Bräutigam seinen Trauzeugen von der Straße holen müssen. Die Braut schenkte mir einen Sovereign, den ich zum Andenken an meiner Uhrkette tragen werde.«

»Das ist ja eine sehr unerwartete Wendung«, sagte ich. »Was nun?«

»Ja, mein Vorhaben wurde jetzt ernstlich bedroht. Es hatte den Anschein, als wollte das Paar sofort abreisen, und da galt es meinerseits die schnellsten und energischsten Maßregeln zu treffen. Doch an der Kirchentür trennten sie sich, er fuhr zum ›Temple‹ und sie zu ihrer Wohnung. ›Um fünf Uhr fahre ich wie gewöhnlich in den Park‹, rief sie ihm zu. Mehr hörte ich nicht. Sie entfernten sich in verschiedene Richtungen, und ich machte mich auf den Weg, um mich meinen eigenen Angelegenheiten zu widmen.«

»Und die sind?«

»Etwas kaltes Roastbeef und ein Glas Bier dazu«, antwortete er, indem er klingelte. »Ich habe bis jetzt keine Zeit gehabt, an Essen und Trinken zu denken, und der Abend wird mir wahrscheinlich noch mehr Arbeit bringen. Ich möchte übrigens um Ihre Unterstützung bitten, Doktor.«

»Mit Vergnügen.«

»Sie haben doch keine Angst, einen Verstoß gegen das Gesetz zu begehen?«

»Nicht im Geringsten.«

»Ebenso wenig fürchten Sie sich, gegebenenfalls eingesteckt zu werden?«

»Für eine gute Sache nie.«

»Oh, die Sache ist vortrefflich.«

»Also bestimmen Sie über mich.«

»Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen könnte.«

»Was haben Sie denn vor?«

»Wenn Mrs Turner alles hereingebracht hat, will ich’s Ihnen erzählen. Verzeihen Sie«, sagte er, sich hungrig dem einfachen Mahl zuwendend, das unsere Wirtin bereitgehalten hatte. »Ich muss schon während des Essens meinen Vortrag halten, mir bleibt nur wenig Zeit übrig. In zwei Stunden müssen wir uns auf dem Schauplatz unserer Tätigkeit befinden, denn Miss oder vielmehr Mrs Irene kehrt um sieben von ihrem Ausflug zurück. Wenn wir sie treffen wollen, müssen wir deshalb nach Briony Lodge.«

»Und dann?«

»Alles Weitere überlassen Sie mir. Ich habe schon alle Vorkehrungen getroffen. Doch auf etwas muss ich bestehen: Was auch immer kommen mag, Sie dürfen sich in keiner Weise einmischen. Verstanden?«

»Ich soll also neutral bleiben?«

»Vollständig. Wahrscheinlich wird es zu einigen Misshelligkeiten kommen; kümmern Sie sich nicht darum. Wenn ich, was die Hauptsache ist, ins Haus geschafft werde, hört jeder Streit auf. Vier bis fünf Minuten später wird das Fenster des Wohnzimmers geöffnet werden. Sie müssen sich in der Nähe dieses offenen Fensters halten.«

»Ja.«

»Sie können mich von draußen sehen und dürfen mich nicht aus den Augen lassen.«

»Ja.«

»Sobald ich nun meine Hand erhebe, werfen Sie den Gegenstand ins Zimmer, den ich Ihnen geben werde, und schreien zur selben Zeit: ›Feuer!‹ Merken Sie sich auch alles?«

»Aufs Genaueste.«

»Es ist nichts Gefährliches«, sagte er und zog eine lange, zigarrenförmige Rolle aus der Tasche. »Es ist nur eine gewöhnliche Rauchrakete, wie sie die Bleiarbeiter bei uns gebrauchen, an beiden Enden mit Zündhütchen versehen, welche die Selbstentzündung verursachen. Darauf beschränkt sich Ihre ganze Aufgabe. Ihr Feuerruf wird rasch verbreitet werden. Sie gehen dann ruhig die Straße hinunter, und in ungefähr zehn Minuten bin ich wahrscheinlich bei Ihnen. Hoffentlich habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

»Ich muss neutral bleiben, mich dem Fenster nähern, Sie beobachten, auf Ihr Zeichen dies hineinwerfen, dann ›Feuer!‹ schreien und Sie an der Straßenecke erwarten?«

»Ganz richtig.«

»Sie können sich völlig auf mich verlassen.«

»Vortrefflich. Doch nun ist es wohl Zeit, mich auf meine Rolle vorzubereiten.«

Er begab sich in sein Schlafzimmer und kehrte nach wenigen Minuten als ein liebenswürdiger, schlicht aussehender Methodisten-Prediger zurück. Sein breiter schwarzer Hut, seine weiten Beinkleider, die weiße Perücke, das milde Lächeln und der eigentümliche, stets damit verbundene Ausdruck im Verein mit wohlwollender Neugier konnten kaum treffender dargestellt werden. Aber Holmes wechselte nicht nur seinen Anzug. Seine Züge, sein Benehmen, ja sein ganzes Wesen schien ebenfalls mit jeder neuen Rolle zu wechseln.

Zehn Minuten vor sieben waren wir in der Serpentine Avenue. Es war schon dämmerig, und die Laternen wurden eben angesteckt; wir wanderten vor der Villa auf und ab, um ihre Bewohnerin zu erwarten. Das Haus war genau so, wie ich es mir nach Holmes’ kurzer Beschreibung vorgestellt hatte, doch die Gegend hatte ich mir viel einsamer gedacht. Sie erschien mir für eine kleine Straße in ruhiger Nachbarschaft sogar sehr belebt. In einer Ecke plauderte eine Gruppe fröhlicher, rauchender Müßiggänger, drüben hielt ein Scherenschleifer mit seinem Rad, und in der Nähe schäkerten zwei Soldaten mit einem Kindermädchen. Mehrere gutgekleidete junge Leute schlenderten, die Zigarre im Mund, langsam auf und ab.

»Sehen Sie«, bemerkte Holmes, »diese Heirat vereinfacht die Sache außerordentlich. Jetzt ist die Fotografie ein zweischneidiges Schwert geworden. Ich glaube nicht, dass ihr viel daran liegt, sie Mr Norton zu zeigen, ebenso wenig wie unser Klient sie von seiner Prinzessin bewundert sehen möchte. Die Frage ist nur, wo finden wir das Bild?«

»Ja, wo?«

»Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie es stets mit sich herumträgt. Ein Bild in Kabinettformat ist viel zu groß, um es leicht in einem Frauenkleid zu verbergen. Vermutlich hat sie es daher nicht bei sich.«

»Wo mag es dann stecken?«

»Vielleicht bei ihrem Bankier oder ihrem Rechtsanwalt. Beide Möglichkeiten sind nicht ausgeschlossen, aber unwahrscheinlich. Warum sollte sie es einem anderen übergeben? Auf sich selbst konnte sie sich verlassen, aber sie wusste nicht, ob auch ein Geschäftsmann jedem politischen oder indirekten Einfluss widerstehen würde. Bedenke außerdem, dass sie entschlossen ist, es in den nächsten Tagen zu gebrauchen, es muss ihr deshalb stets zur Hand sein. Folglich kann sie es nur in ihrer eigenen Wohnung haben.«

»Hat man dort nicht schon zweimal eingebrochen?«

»Pah! Sie verstanden eben nicht zu suchen.«

»Und wie wollen Sie das anfangen?«

»Ich werde gar nicht suchen.«

»Was denn?«

»Sie soll es mir selbst zeigen.«

»Sie wird sich sicher weigern.«

»Dazu gebe ich ihr keine Möglichkeit. Horchen Sie, der Wagen kommt! Nun befolgen Sie ganz genau meine Vorschrift!«

Der Schein der Wagenlaterne wurde sichtbar, und ein eleganter kleiner Landauer rollte auf die Villa zu. Er hielt kaum, als schon einer der herumlungernden Leute herbeistürzte, um für das Öffnen des Schlags ein Trinkgeld zu erlangen. Ein anderer hegte dieselbe Absicht und stieß ihn beiseite. Ein heftiger Streit brach aus, die beiden Soldaten mischten sich hinein und nahmen für den ersten Partei, während der Scherenschleifer sich auf die Seite des anderen schlug. Es kam zu einer förmlichen Schlägerei, und im Augenblick war die aus dem Wagen gestiegene Dame der Mittelpunkt einer Gruppe aufgeregter, zankender Menschen, die mit Fäusten und Stöcken aufeinander losgingen. Holmes stürzte sich zum Schutz der Dame mitten ins Gewühl, aber er hatte sie noch nicht erreicht, als er einen Schrei ausstieß und mit blutüberströmtem Gesicht zu Boden fiel. Dieser Anblick veranlasste die ganze Bande, nach verschiedenen Seiten Reißaus zu nehmen, nur einige Personen aus dem bessergekleideten Publikum, die teilnahmslose Zuschauer der Szene geblieben waren, beeilten sich, der Dame und dem Verletzten zu Hilfe zu kommen. Irene Adler war die Stufen emporgeeilt, auf der Schwelle blieb sie zögernd stehen und blickte auf die Straße zurück, wobei sich ihre prachtvolle Figur vom erleuchteten Hintergrund scharf abhob.

»Ist der arme Herr schwer verletzt?«, fragte sie.

»Er ist tot«, schrien mehrere Stimmen.

»Nein, noch ist Leben in ihm«, meinte ein anderer. »Aber ehe er ins Hospital kommt, ist’s aus mit ihm.«

»Das ist ’n braver Mensch«, sagte eine Frau. »Wär er nicht dazugekommen, hätten sie der Dame Uhr und Kette weggerissen. Das war ’ne böse Sorte. Da, er rührt sich noch!«

»Hier kann er nicht länger liegen bleiben – dürfen wir ihn hineintragen, Madamchen?«

»Gewiss, bringen Sie ihn ins Wohnzimmer, da ist ein bequemes Sofa. Bitte hier.«

Langsam und feierlich wurde er ins Haus getragen und im besten Zimmer niedergelegt; vom Fenster aus konnte ich den ganzen Vorgang genau beobachten. Ich sah Holmes auf dem Sofa liegen, da die Vorhänge hinter den erleuchteten Scheiben noch nicht zugezogen waren. Verursachte ihm sein falsches Spiel in diesem Augenblick nicht doch Gewissensbisse? Jedenfalls fühlte ich mich tief beschämt, gegen diese schöne Frau Ränke zu schmieden, die mit so entzückender Freundlichkeit und Grazie für den Verwundeten sorgte. Und doch, jetzt konnte und durfte er nicht mehr zurück, und darum versuchte auch ich jedes Reuegefühl abzuschütteln und zog die Rauchrakete aus meinem Überrock. Ich beruhigte mich damit, dass ihr selbst ja kein Leid geschehen sollte und wir sie nur daran hindern wollten, anderen zu schaden. Holmes hatte sich aufgerichtet, er machte eine Bewegung, als wenn er ersticken müsste.

Ein Dienstmädchen beeilte sich, das Fenster zu öffnen. Im selben Moment sah ich ihn die Hand erheben, warf meine Rakete ins Zimmer und schrie aus Leibeskräften: »Feuer!« Mit Windesschnelle verbreitete sich der Ruf weiter und lockte eine Menge Menschen herbei. Dicke Rauchwolken ballten sich im Zimmer und zogen aus dem geöffneten Fenster. Ich sah undeutlich die Schatten von hin und her laufenden Menschen und hörte gleich darauf die Stimme Holmes’ von innen versichern, es sei nur ein falscher Alarm gewesen. Ich drückte mich aus dem lärmenden Haufen und hatte noch nicht zehn Minuten an der Ecke gewartet, als Holmes seinen Arm in den meinigen schob und wir erleichtert und befriedigt den Heimweg antraten. Einige Minuten ging er rasch und schweigend neben mir, bis wir in die ruhigen Straßen von Edgeware Road einbogen.

»Sie haben es sehr geschickt gemacht, Doktor«, bemerkte er. »Besser konnte es gar nicht gehen. Nun ist alles in Ordnung.«

»Sie haben also die Fotografie?«

»Das nicht, aber ich weiß, wo sie ist.«

»Wie haben Sie das nur herausbekommen?«

»Sie hat’s mir gezeigt – wie ich Ihnen voraussagte.«

»Das ist mir noch unklar.«

»Nun, ein Geheimnis will ich nicht daraus machen«, sagte er lachend. »Die ganze Geschichte ist höchst einfach. Sie werden natürlich erraten haben, dass auf der Straße alle im Einverständnis waren. Sie waren alle für den Abend engagiert.«

»Ich hab es mir fast gedacht.«

»Als nun der Skandal losging, hielt ich etwas feuchten roten Farbstoff in meiner Handfläche. Beim Hinstürzen schlug ich sie mir vors Gesicht und sah nun natürlich zum Erbarmen aus. Das ist ein alter Kniff.«

»Das ahnte ich auch.«

»Man trug mich hinein. Was konnte sie dagegen machen? Und gerade in ihr Wohnzimmer, auf welches ich mein Hauptaugenmerk hatte. Es stößt an ihr Schlafzimmer, mir konnte also nichts entgehen. Sie legten mich nieder, ich schnappte nach Luft, das Fenster wurde geöffnet, und Sie kamen an die Reihe.«

»Was konnte Ihnen das helfen?«

»Oh, sehr viel. Wenn eine Frau glaubt, ihr Haus brenne, wird sie instinktmäßig auf den Gegenstand losstürzen, der ihr am teuersten ist. Das ist vollständig naturgemäß, und ich habe es mehr als einmal zu meinem Vorteil ausgebeutet. Eine verheiratete Frau und Mutter greift nach ihrem Kind, eine unverheiratete Frau nimmt ihren Schmuckkasten. Für mich stand es fest, dass für unsere Dame das wertvollste Gut ebender infrage kommende Gegenstand sein musste. Sie würde alles aufbieten, ihn in Sicherheit zu bringen. Der Feuerlärm wurde großartig ausgeführt. Der Rauch und das Geschrei hätten selbst Nerven von Stahl erschüttert. Sie reagierte denn auch vortrefflich darauf. Die Fotografie befindet sich in einer Nische hinter einer verschiebbaren Wandfüllung, gerade über dem Glockenzug. Mrs Irene war sofort zur Stelle, und ich überzeugte mich mit einem raschen Seitenblick, dass sie wirklich ein Bild erfasst hatte. Als ich dann rief, es wäre alles nur ein falscher Lärm gewesen, legte sie es wieder zurück, besah sich die Rakete und eilte aus dem Zimmer. Nachher habe ich sie nicht wieder gesehen. Ich stand auf und machte mich mit vielen Entschuldigungen aus dem Staub. Ich zögerte allerdings, ob ich nicht schnell die Fotografie in meinen Besitz bringen sollte, doch der Kutscher war hereingekommen und ließ mich nicht aus den Augen. So hielt ich es denn für besser, zu warten, da eine kleine Überstürzung alles verderben konnte.«

»Und jetzt?«, fragte ich.

»Ja, eigentlich bleibt kaum noch etwas zu tun. Morgen früh statte ich mit dem Fürsten einen Besuch ab, und falls Sie Lust haben, können Sie uns begleiten. Wir werden dann ersucht werden, im Wohnzimmer auf die Dame zu warten, aber ob sie uns oder die Fotografie bei ihrem Erscheinen noch vorfindet, ist fraglich. Vielleicht bereitet es Seiner Hoheit eine besondere Genugtuung, das Bild mit eigener Hand wiederzugewinnen.«

»Wann soll der Besuch stattfinden?«

»Morgens acht Uhr. Dann wird die Dame noch nicht aufgestanden sein, und wir haben freie Bahn. Wir müssen natürlich pünktlich sein, da man nicht wissen kann, welche Veränderungen diese Heirat in ihrem Leben und ihren Gewohnheiten hervorruft. Ich werde sofort den Fürsten benachrichtigen.«

Während unseres Gesprächs hatten wir die Baker Street erreicht und standen vor der Haustür. Er suchte in der Tasche nach dem Schlüssel, als ihm ein Vorübergehender zurief: »Gute Nacht, Mr Holmes!« Das Trottoir war um diese Zeit ziemlich belebt, doch der Gruß schien von einem jungen Menschen in einem faltigen Überrock herzurühren, der eilig vorwärtsschritt.

»Die Stimme habe ich schon irgendwo gehört«, sagte Holmes, die schwach erleuchtete Straße hinunterblickend. »Wer, zum Teufel, mag das gewesen sein?«

III.

Ich schlief diese Nacht in der Baker Street, und wir nahmen am anderen Morgen eben unser Frühstück ein, als der Fürst hereinstürmte. »Sie haben es wirklich?«, rief er, Holmes bei den Schultern packend und ihm gespannt ins Gesicht sehend.

»Bis jetzt noch nicht.«

»Aber Sie haben doch Hoffnung?«

»Die habe ich.«

»Dann, bitte, kommen Sie – ich vergehe vor Ungeduld.«

»Wir müssen erst einen Wagen holen lassen.«

»Mein Brougham hält vor der Tür.«

»Umso besser.« Wir stiegen ein, und fort ging es nach Briony Lodge.

»Irene Adler ist verheiratet«, bemerkte Holmes.

»Verheiratet? Seit wann?«

»Seit gestern.«

»Und mit wem?«

»Mit einem englischen Rechtsanwalt namens Norton.«

»Wirklich? Nun, lieben kann sie ihn jedenfalls nicht.«

»Und doch wäre das im Interesse Eurer Hoheit nur zu wünschen.«

»Aber aus welchem Grund?«

»Weil das Euer Hoheit vor jeder späteren Unannehmlichkeit sichern würde. Falls die Dame ihren Gatten liebt, liebt sie nicht Euer Hoheit. Und liebt sie Euer Hoheit nicht, warum sollte sie dann Dero Zukunftspläne zerstören wollen?«

»Sehr richtig! Und dennoch – ach, ich wünschte, sie wäre mir ebenbürtig —, welch eine Fürstin wäre sie gewesen!« Er versank in nachdenkliches Schweigen, das auch bis zu unserem Ziel nicht unterbrochen wurde. Die Haustür von Briony Lodge war weit geöffnet, auf der Schwelle stand eine ältliche Frau. Sie verfolgte unser Aussteigen mit wahrhaft sardonischem Lächeln.

»Mr Sherlock Holmes, nicht wahr?«, fragte sie.

Mein Freund warf ihr einen fragenden, ja bestürzten Blick zu. »Allerdings, ich bin Mr Holmes.«

»Wirklich! Meine Herrin hat mich schon auf Ihr wahrscheinliches Kommen vorbereitet. Sie ist heute früh in Begleitung ihres Gatten mit dem 5.15-Uhr-Zug von Charing Cross in Richtung Kontinent abgereist.«

»Was?« Bleich bis in die Lippen fuhr Sherlock Holmes zurück. »Wollen Sie damit sagen, dass sie England verlassen hat?«

»Ja, für immer.«

»Und die Papiere?«, fragte der Fürst heiser. »Also alles verloren?«

»Wir müssen zusehen.« Er schob die Dienerin zur Seite und eilte ins Zimmer, der Fürst und ich folgten ihm auf dem Fuß. Die Möbel standen verschoben und unordentlich im Zimmer umher, die offenstehenden Schränke und Schubladen schienen vor der plötzlichen Abreise noch schnell durchwühlt und teilweise geleert zu sein. Holmes flog zum Glockenzug, schob ein kleines Türchen in der Täfelung zurück und zog eine Fotografie und einen Brief aus der Öffnung. Das Bild zeigte Irene Adler in Gesellschaftstoilette, der Brief war an Mr Sherlock Holmes adressiert. Mein Freund riss das Couvert auf, und wir lasen ihn alle drei gleichzeitig. Er war um Mitternacht des vorigen Tages geschrieben und lautete folgendermaßen:

»Mein lieber Mr Holmes!

Sie führten Ihre Rolle wirklich bewunderungswürdig durch, und es gelang Ihnen vollständig, mein Vertrauen zu gewinnen. Bis der Feuerlärm vorüber war, hegte ich nicht den geringsten Argwohn, doch dann sah ich ein, dass ich mich verraten hatte, und wurde nachdenklich. Vor Monaten wurde ich schon vor Ihnen gewarnt und Sie mir als der Einzige bezeichnet, den der Fürst als Agenten verwenden würde. Ihre Adresse erfuhr ich ebenfalls. Doch dies alles bringt mich auf Ihren Wunsch zurück. Anfangs schämte ich mich meines Misstrauens gegen einen so liebenswürdigen alten Prediger, aber Sie wissen, ich bin selbst Schauspielerin gewesen und verstehe mich daher auf eine gute Maske. Ich habe sogar oft genug selbst von Verkleidungen Gebrauch gemacht. Ich schickte meinen Kutscher John als Aufpasser ins Zimmer und warf mich oben in meinen ›Wanderanzug‹, wie ich ihn nenne. Ich wurde noch rechtzeitig fertig, um Ihnen bis zu Ihrer Haustür folgen zu können und mich selbst zu überzeugen, dass ich für den berühmten Mr Holmes ein Gegenstand des Interesses sei. Unvorsichtig wünschte ich Ihnen sogar ›Gute Nacht‹ und beeilte mich, meinen Gatten aufzusuchen. Wir hielten es beide für das Beste, uns einem so furchtbaren Gegner durch die Flucht zu entziehen. Sie werden daher morgen nur ein leeres Nest vorfinden. Wegen des Bildes mag Ihr Klient völlig beruhigt sein. Ich liebe und werde von einem viel edleren Mann, als er ist, geliebt. Der Fürst mag völlig nach seinem Belieben handeln, ich werde ihm, trotz seiner schweren Schuld gegen mich, nicht mehr in den Weg treten. Das Bild behalte ich in meiner sicheren Hut, es soll mich nur gegen spätere Angriffe schützen. Ich hinterlasse eine Fotografie, auf deren Besitz der Fürst vielleicht Wert legt, und verbleibe, lieber Mr Sherlock Holmes, für immer Ihre ergebene

Irene Norton, geb. Adler.«

»Welch eine Frau – nein, welch eine Frau!«, rief der Fürst, als wir das Schriftstück beendet hatten. »Sagte ich Ihnen nicht, wie schnell und entschlossen sie handelt? Würde sie nicht eine großartige Fürstin geworden sein? Es ist ein Jammer, dass sie nicht mit mir auf gleicher Höhe steht!«

»Nach dem, was ich von ihr gesehen habe, scheint sie mir allerdings einen ganz anderen Standpunkt einzunehmen als Euer Hoheit«, äußerte Holmes kühl. »Ich bedaure nur, die Angelegenheit nicht zu einem besseren Abschluss gebracht zu haben.«

»Im Gegenteil, mein lieber Herr«, rief der Fürst lebhaft, »einen besseren Erfolg kann ich mir gar nicht wünschen. Ihr Wort steht felsenfest. Die Fotografie ist jetzt ebenso sicher, als wäre sie ins Feuer geworfen.«

»Die Worte Eurer Hoheit machen mich sehr glücklich.«

»Ich bin tief in Ihrer Schuld. Bitte sagen Sie mir, womit ich Ihnen danken kann. Dieser Ring …« Er zog einen Smaragdreif vom Finger und hielt ihn Holmes auf der offenen Hand hin.

»Hoheit besitzen etwas, das viel höheren Wert für mich hätte.«

»Bitte nennen Sie es nur.«

»Diese Fotografie.«

Der Fürst sah ihn erstaunt an. »Irenes Fotografie? Aber natürlich, wenn Sie sie haben wollen.«

»Besten Dank, Hoheit. In der Sache lässt sich nun nichts mehr tun. Ich habe die Ehre, Guten Morgen zu wünschen.« Er verbeugte sich und ging, ohne die ausgestreckte Hand des Fürsten zu bemerken.

Auf diese Weise wurde der drohende Skandal im Fürstentum O… glücklich verhütet und die scharfsinnigsten Pläne Sherlock Holmes’ durch die Schlauheit einer Frau vereitelt. Sonst hatte er sich stets über die Weiberschlauheit lustig gemacht, später habe ich nie mehr ein spöttisches Wort darüber von ihm gehört.

DER BUND DER ROTHAARIGEN

Als ich im vorigen Herbst eines Tages meinen Freund Sherlock Holmes aufsuchte, traf ich ihn in eifrigem Gespräch mit einem dicken, blühend aussehenden, älteren Herrn, der feuerrotes Haar hatte. Schon wollte ich mich mit einer Entschuldigung wieder entfernen, als mich Holmes rasch in das Zimmer zog und die Tür hinter mir schloss.

»Gelegener konnten Sie nicht kommen, lieber Watson«, sagte er herzlich.

»Ich fürchtete, Sie seien beschäftigt«, entgegnete ich.

»Das bin ich – und zwar sehr.«

»So will ich im Nebenzimmer warten.«

»Nein, nein, bleiben Sie nur hier – Doktor Watson«, sagte er, mich dem Fremden vorstellend, »hat mir vielfach in meinen wichtigsten Fällen mit Rat und Tat zur Seite gestanden, und ich bezweifle nicht, dass er mir auch in Ihrer Angelegenheit, Mr Wilson, von großem Nutzen sein wird.«

Der dicke Herr erhob sich halb von seinem Sitz und nickte grüßend, indem er aus seinen kleinen, von Fettpolstern umgebenen Augen schnell einen forschenden Blick auf mich warf.

»Nehmen Sie Platz«, bat Holmes, in seinen Lehnstuhl zurücksinkend, und legte die Fingerspitzen aneinander, wie er es in kritischer Stimmung zu tun pflegte. »Ich weiß, lieber Watson, dass Sie meine Vorliebe für alles Absonderliche teilen, für alles, was nicht zum ledernen Einerlei des Alltagslebens gehört. Sie haben das durch die Wärme bewiesen, mit welcher Sie einige meiner eigenen, unbedeutenden Erlebnisse wiedergegeben, ja – entschuldigen Sie – gewissermaßen ausgeschmückt haben.«

»Allerdings interessierten mich Ihre Fälle stets ganz besonders«, erwiderte ich.

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