Dr. Stefan Frank 2776 - Stefan Frank - E-Book

Dr. Stefan Frank 2776 E-Book

Stefan Frank

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Beschreibung

Enrico Hentschel leitet eine kleine Yogaschule in Grünwald. Nach jahrelanger Selbstausbeutung im Job und einem schweren Burn-out ist der Mittvierziger nun ganz bei sich angekommen. Tägliche Meditation und Yogapraxis, kleine Achtsamkeitsrituale und gesunde Ernährung bestimmen sein Leben. Als jedoch urplötzlich sein verloren geglaubter Sohn nach zehn Jahren auftaucht, steht Enricos Leben Kopf. Niemals hat er geglaubt, Ben noch mal wiederzusehen, nachdem seine Ex-Frau mit ihm abgetaucht war. Enrico will nun alles richtig machen, die verlorene Zeit aufarbeiten, doch die Schuldgefühle kommen hoch. Panikattacken mit Herzrasen, Luftnot und Todesängsten überrollen ihn. Sein Innerstes ist in Aufruhr ...

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Inhalt

Cover

Fehlerhafter Herzschlag

Vorschau

Impressum

Fehlerhafter Herzschlag

Enrico lehrt Ruhe und Gelassenheit, doch in seinem Innern tobt ein Sturm

Enrico Hentschel leitet eine kleine Yogaschule in Grünwald. Nach jahrelanger Selbstausbeutung im Job und einem schweren Burn-out ist der Mittvierziger nun ganz bei sich angekommen. Tägliche Meditation und Yogapraxis, kleine Achtsamkeitsrituale und gesunde Ernährung bestimmen sein Leben. Als jedoch urplötzlich sein verloren geglaubter Sohn nach zehn Jahren auftaucht, steht Enricos Leben Kopf. Niemals hat er geglaubt, Ben noch mal wiederzusehen, nachdem seine Ex-Frau mit ihm abgetaucht war. Enrico will nun alles richtig machen, die verlorene Zeit aufarbeiten, doch die Schuldgefühle kommen hoch. Panikattacken mit Herzrasen, Luftnot und Todesängsten überrollen ihn. Sein Innerstes ist in Aufruhr ...

Tief atmete Enrico Hentschel die frische Luft ein, die durch die geöffnete Balkontür seiner Dachgeschosswohnung strömte. Mit geschlossenen Augen saß er im Schneidersitz auf seiner Yogamatte und konzentrierte sich auf den Geruch der Morgenluft. Der honigartige Duft der blühenden Linde, die stolz vor seinem Fenster in die Höhe ragte, erfüllte ihn mit Lebensfreude. Es war der perfekte Start in den Tag.

Langsam und kontrolliert atmete Enrico aus und ließ seinen Kopf auf die Brust sinken. Nur noch wenige Momente der Stille, dann würde er seine morgendliche Meditation beenden und sich eine eiskalte Dusche gönnen, die ihn zusätzlich mit Energie versorgen würde. Ein letztes Mal für heute lauschte der Münchner dem Blätterrauschen, das über den Balkon zu ihm gelangte. Er stellte sich vor, wie sich die Bäume munter miteinander unterhielten.

Als er die Matte eingerollt, geduscht und sich angezogen hatte, vermied er bewusst den Blick auf die Uhr. Er hatte gelernt, Dinge zu vermeiden, die ihn in seine alten Denkmuster zurückwerfen konnten. Früher hatte der Mittvierziger wie ein Besessener alle paar Minuten auf die Uhr geschaut. Nicht aus freien Stücken, sondern aus reiner Notwendigkeit. Der erfolgreiche Berater hatte jeden Tag dafür gekämpft, sein Leben fest im Griff zu behalten und den ständigen Verpflichtungen immer einen Schritt voraus zu sein. Der nächste Flieger, der erwischt werden musste, die Präsentation, die noch schnell an einen Kunden rausgeschickt werden sollte, oder ein wichtiger Termin, den ihm seine Sekretärin in den schon viel zu vollen Kalender gequetscht hatte: Noch vor ein paar Jahren war dieser Lebensstil für Enrico völlig normal gewesen.

Inzwischen hatte er sich von den eisernen Ketten seiner beeindruckenden Karriere gelöst und ließ die alte Wanduhr nur hängen, weil ihr rhythmisches Ticken eine beruhigende Wirkung auf ihn hatte. Enrico war stolz darauf, dass er es geschafft hatte, die Wirkung von voranschreitender Zeit umzudeuten. War er früher ungeduldig und immer auf dem Sprung gewesen, konnte er heute schätzen, dass sein Leben sich in einem achtsamen Tempo bewegte. Genüsslich nahm er einen großen Schluck warmes Wasser, das er wie jeden Morgen auf nüchternen Magen trank, um seinen Stoffwechsel in Schwung zu bringen. Er beobachtete die Sonnenstrahlen, die durch seine zarten Vorhänge auf den großen Holztisch in der Wohnküche fielen. Das helle Licht zeichnete die Maserung der Tischplatte nach, die er auf einem Kunsthandwerkermarkt für ein Heidengeld gekauft hatte. Enrico hatte gelernt, auf Kleinigkeiten zu achten und nahm die kleinsten Dinge, die um ihn herum passierten, ganz intensiv wahr. Sich auf Details zu konzentrieren, die andere übersahen, entschleunigte ihn. Vor allem aber bewahrte ihn dieser Blick auf die Welt davor, in seine alten Fußstapfen zu treten. Nie wieder würde er es so weit kommen lassen wie damals.

Beim Gedanken an die Zeit des Burnouts spürte er sofort ein beklemmendes Drücken in seiner Brust. Wie gut, dass all das Geschichte war. Sein altes Leben lag hinter ihm und mit ihm alle Angewohnheiten, die ihn über die Jahre so ausgebrannt und krank gemacht hatten. Enrico musste an Dr. Frank, seinen Hausarzt, denken, der ihm in dieser schweren Zeit zur Seite gestanden war. Ohne ihn hätte er vielleicht nie begriffen, dass er dabei gewesen war, sich zu Tode zu arbeiten. Für andere mochte diese Formulierung vielleicht übertrieben klingen, doch Enrico wusste, dass er in seinen dunkelsten Zeiten nicht weit davon entfernt gewesen war, seine Gesundheit zugrunde zu richten. Ohne Schlaf konnte kein Körper auf Dauer funktionieren, das hatte der Mittvierziger auf die harte Tour lernen müssen. Und Dr. Frank hatte ihn aufgefangen, als niemand sonst aus Enricos Umfeld verstanden hatte, was mit dem Geschäftsmann los war.

Als er den letzten Schluck des Wassers getrunken hatte, schlüpfte er in seine Flip-Flops und verließ mit nichts außer seinem Schlüssel in der Hand seine Wohnung. Er brauchte kein Handy, keine Armbanduhr und auch kein Geld. Alles, was er brauchte, befand sich in seiner Yogaschule, die er nach dem schönen Spaziergang durch den Münchner Vorort Grünwald wie immer lange vor seinen Teilnehmerinnen erreichen würde.

***

»Alexa!«, rief Enrico über die Straße und winkte seiner Lieblingsschülerin, die gerade um die Ecke bog.

Dr. Alexandra Schubert war die Lebensgefährtin von seinem Hausarzt und passte perfekt zu dem schnittigen Mediziner, dem Enrico so viel zu verdanken hatte. Mit ihrem herzlichen Lachen, das ihm immer das Gefühl von Wärme schenkte, begrüßte sie ihn und nahm ihn in den Arm.

»Wie machst du das nur immer?«, wollte sie wissen und schaute ihn beeindruckt an. »Ich glaube, du alterst rückwärts.«

Verlegen lächelte der Yogalehrer und bedankte sich für das Kompliment.

»Du musst mir unbedingt dein Geheimnis verraten«, forderte sie und folgte ihm in den Innenhof der hübschen Villa, in deren zweiter Stock sich die Yogaschule befand.

Die bodentiefen Sprossenfenster ließen so viel Licht in die großzügig geschnittenen Zimmer, dass Enrico beim Unterrichten manchmal fast vergaß, dass er sich nicht in der freien Natur, sondern in einem geschlossenen Raum befand.

»Da gibt es kein Geheimnis«, versicherte Enrico lachend. »Ehrlich! Alles, was ich mache, ist mich gut zu ernähren, genug zu schlafen und meine tägliche Yogapraxis einzuhalten. Das war's.«

Alexa schien sich damit nicht zufrieden zu geben.

»Für vierundvierzig siehst du jedenfalls verdammt jugendlich aus«, stellte sie fest.

»Du hättest mich mal mit achtunddreißig sehen sollen. Da sah ich aus wie ein Greis«, erinnerte er sich.

Wissend schaute Alexa ihn an und nickte.

»Ich kann es mir vorstellen.«

Alexa wusste, wie alle anderen Schülerinnen, von seiner Vergangenheit. Zumindest von dem Teil, für den er sich nicht schämte. Es gab Sachen, die er niemals mit anderen teilen würde. Aber immerhin ging er mit seinen früheren gesundheitlichen Problemen sehr offen um. In erster Linie, um seinen Schülerinnen zu vermitteln, wie wichtig es war, dass sie auf sich Acht gaben. Wenn er nur eine Person davor bewahren konnte, die dieselben Fehler wie er zu begehen, hatte er mit seinem Yogaunterricht mehr Gutes erreicht als mit allen abgeschlossenen Verträgen, die ihn damals zu einem der Top-Performer in seiner Firma gemacht hatten.

Enrico öffnete die Fenster und setzte sich mit Alexa auf die tiefe Fensterbank. Beide streckten ihre Gesichter in die Sonne und freuten sich über den wunderschönen Samstagmorgen.

»Weißt du, was einen auch jünger aussehen lässt? Wenn man verliebt ist«, teilte Alexa ihm mit. Obwohl Enrico die Augen geschlossen hatte, konnte er ihren prüfenden Blick von der Seite spüren.

»Ich bin nicht verliebt«, stellte er klar und blinzelte.

»Ach, wirklich? Hast du keine Freundin? Oder einen Freund?«, sollte sie neugierig wissen.

»Also, wenn, dann hätte ich eine Freundin«, klärte er sie auf und musste schmunzeln. Dass sie ihn gerade darüber so ausquetschte, fühlte sich an, als wären sie Teenager.

»Du bist also Single«, sagte sie und klang zufrieden. »Und bist du glücklich damit?«

Enrico dachte nach. Es war nicht gerade sein Lieblingsthema, und so beschloss er, die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit zu sagen.

»Ich bin glücklich mit meinem Leben«, antwortete er.

Alexa stöhnte. »Ach, nee. Das ist mir schon klar. Aber du weißt doch, worauf ich hinauswill. Fehlt dir das nicht? Jemanden an deiner Seite zu haben? Jemand, auf den du dich verlassen kannst und mit dem du dein glückliches Leben teilen kannst?«

Enrico seufzte. Alexa würde nicht lockerlassen, so gut kannte er sie. Er mochte ihre forsche Art, mit der sie immer wieder nachbohrte. Und normalerweise genoss er die Gespräche mit der aufgeweckten Ärztin, die einen großen Horizont und interessante Ansichten hatte. Doch diesmal würde er ihre Fragen unbeantwortet lassen.

»Wie gesagt, mein Leben macht mich glücklich«, wiederholte er. »Alles andere findet sich. Man sollte niemals nach etwas suchen, weißt du? Das Leben hat seine eigenen Vorstellungen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich am besten fahre, wenn ich die Kontrolle abgebe und mich dahintreiben lasse, wo mich das Schicksal hinführt.«

Alexas Augen blitzten auf.

»Finde ich gut, deine Einstellung«, stimmte sie ihm zu. »Nicht zu suchen, sondern einfach zu warten, was kommt. Oder wer«, kündigte sie an und grinste verschmitzt, »Lara hat sich bei mir nach dir erkundigt.«

»Deine Freundin, die du letztes Mal mitgebracht hattest?«

Alexa nickte.

»Was wollte sie denn wissen?«, fragte Enrico.

»Ob du eine Frau oder eine Freundin hast«, antwortete Alexa. »Sie war total beeindruckt von dir und würde dich gern kennenlernen. Privat, nicht hier in der Yogaschule.«

Der Yogalehrer wusste nicht, wie er auf das Interesse der Frau reagieren sollte.

»Sie hat mich gebeten, dich nach deiner Nummer zu fragen«, ließ Alexa nicht locker.

Enrico räusperte sich. »Ich ... ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«

»Lara war eigentlich auch nicht auf der Suche nach einem Date. Aber du hast ihr so gut gefallen, dass sie dachte, sie probiert es mal. Dass ich sie in deinen Unterricht mitnehme, war ja auch nicht geplant, sondern ist ganz spontan passiert. Das klingt schon etwas nach Schicksal, oder?«, verwandte Alexa Enricos Worte gegen ihn.

»Wenn du keine Augenärztin wärst, würdest du eine fantastische Anwältin abgeben«, zeigte er sich von ihrer Hartnäckigkeit beeindruckt und musste schmunzeln.

»Also? Kann ich ihr deine Nummer geben? Oder soll ich ihr sagen, dass du kein Interesse hast?«, stellte Alexa ihn vor die Wahl. »Lara wäre nicht böse oder eingeschnappt, bitte fühl dich nicht gedrängt, wenn du wirklich nicht willst.«

Enrico dachte nach.

»Ich kann das nicht so spontan entscheiden«, sagte er schließlich ehrlich. »Ich bin etwas überrumpelt.«

»Das verstehe ich. Es besteht ja auch kein Zeitdruck: Falls du in den nächsten Tagen Lust bekommst, mit Lara einen Kaffee trinken zu gehen, meldest du dich einfach bei mir. Dann gebe ich dir ihre Nummer. Ist das ein Deal?«

»Ja, so machen wir es«, stimmte Enrico gerne zu, stand auf und reichte Alexa die Hand. »Komm, wir wärmen uns schon mal auf, bis die anderen kommen.«

***

Als Enrico die letzte Yogastunde vor der Mittagspause beendet hatte, hörte er ein leises Grummeln. Er hatte Hunger und sich seine erste Mahlzeit des Tages redlich verdient. Er praktizierte seit einigen Wochen Intervallfasten, was in seinem Fall bedeutete, dass er nur an acht Stunden am Tag Nahrung zu sich nahm, die restlichen sechzehn Stunden wurde gefastet. Er freute sich schon auf sein Mittagessen, für das er nur noch eine Kleinigkeit auf dem Heimweg besorgen musste.

Auf dem Wochenmarkt angekommen, wurde der Yogalehrer sofort angeschrien.

»Enrico, mein Guter«, schallte es über den runden Platz, der von Bänken umrandet war. »Schau, was wir heute haben!«

Der Angesprochene folgte dem wilden Fuchteln des alten Gemüsehändlers, der zwar einen der kleinsten Stände auf dem Markt hatte, aber stets die beste Qualität anbot.

»Ich hab sie dir extra auf die Seite gelegt«, erzählte der Biobauer stolz, holte eine braune Papiertüte hervor, die er unter der normalen Auslage versteckt hatte und ließ Enrico hineinsehen.

»Steinpilze?«, versicherte dieser sich lieber, bevor er sich zu früh freute.

Enrico liebte die eiweißhaltigen Pilze, die so lecker nach Nüssen schmeckten, traute sich aber nicht zu, sie von anderen Pilzen zu unterscheiden.

Der Bauer nickte und zwinkerte ihm zu. »Ich habe gehofft, dass du heute kommst.«

»Sonst hätte er sie selbst essen müssen, der Arme«, meldete sich die Frau des Händlers zu Wort, die gerade eine Kundin kassiert und mit einem vollen Einkaufskorb verabschiedet hatte, und begrüßte Enrico mit einem herzlichen Lächeln. »Weißt du schon, was du mit ihnen machst?«

»Ich hatte eigentlich andere Pläne, aber ihr wisst ja, bei Steinpilzen kann ich nicht widerstehen«, antwortete Enrico und dachte nach. »Ich könnte sie mit Feldsalat machen«, fiel ihm beim Blick auf die prächtigen Blattrosetten ein.

Der knackige Salat war eine richtige Vitaminbombe und genau die richtige Begleitung zu den Pilzen, die er mit Schalotten und frischem Thymian anbraten würde.

»Ich pack dir alles zusammen«, versprach die Händlerin und griff beherzt in die Kiste, in der der frische Salat lag. Ohne Enrico nach seinem Rezept zu fragen, ging sie auf die andere Seite des Standes, suchte sich zwei schöne Schalotten aus und legte eine Knoblauchknolle dazu. »Du isst deine Pilze mit Thymian, richtig?«, erinnerte sie sich und fischte ein paar zusammengebundene Zweige, die herrlich dufteten, aus dem Eisenzuber, in dem die Kräuter lagen.

»Das ist wie immer ein traumhafter Service«, bedankte sich Enrico und bezahlte.

Als er sich verabschiedete, fühlte er sich unendlich gesegnet. Jedes Mal, wenn er auf dem Wochenmarkt einkaufte, wurde ihm bewusst, wie viel Gutes er seinem Körper damit tat. Früher hatte er so wenig Zeit neben der Arbeit gehabt, dass er so gut wie nie gekocht hatte. Inzwischen gehörten das Kochen und auch das Einkaufen zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.

Mit Dankbarkeit im Herzen bog der Mittvierziger in die Seitenstraße ein, an deren Ende das Haus stand, in dessen Dachgeschoss er lebte. Das Haus war sein Eigentum, doch da es viel zu groß für ihn war, hatte er in den beiden anderen Stockwerken zwei junge Familien für einen sehr fairen Mietpreis einziehen lassen. Es ging ihm nicht darum, einen Gewinn zu machen. Ihm reichte es, zu wissen, dass der Mietraum genutzt wurde und die Nebenkosten gedeckt waren. Außerdem bot das Dachgeschoss für eine alleinstehende Person wie ihn mehr als genug Platz.

Enrico seufzte. Er lebte nun schon so lange allein, dass er beinahe vergessen hatte, wie es war, mit einer Frau, geschweige denn einem Kind, unter einem Dach zu leben. Bevor er in schmerzhafte Erinnerungen verfallen konnte, versuchte er, seine Gedanken in die Gegenwart zu lenken. Er lebte gerne allein und alles, was passiert war, hatte seinen Grund. Wichtig war das Hier und Jetzt. Das Hier und Jetzt bestand aus seiner Yogaschule, seinem gesunden Lebensstil und ... ja, aus was noch?

Enrico fragte sich, ob er Lara wohl gernhaben könnte. Die Freundin von Alexa hatte auf ihn schüchtern und zurückhaltend gewirkt – ganz anders als die freche Alexa, die nie ein Blatt vor den Mund nahm und ihn immer zum Lachen brachte mit ihrer direkten Art. Aber vielleicht glichen sich die beiden gerade deswegen so gut aus.

Alexa hatte ihm erzählt, dass sie und Lara seit ihrer Schulzeit Freundinnen waren. Er spürte, dass er schon ein wenig neugierig war, mehr über Lara zu erfahren. Enrico versuchte sich daran zu erinnern, wie sie aussah. Da er seine Schülerinnen aber nie nach ihrem Äußeren bewertete, hatte er auch Lara nicht genau gemustert. Alles, woran er sich erinnern konnte, waren ihre langen, vollen Haare und die warmen Augen, die an dem Morgen, als Lara mit Alexa in seiner Yogaschule erschienen war, in der Sonne wie Bernstein geschimmert hatten.

***

»Warte, ich helfe Ihnen«, bot Dr. Frank zwei Tage später an und eilte seiner Praxisschwester Martha Giesecke zu Hilfe.

Die rüstige Berlinerin stöhnte und gab die schwere Dokumentenbox gerne an ihren Chef ab, die sie gerade aus dem Keller in die Praxis getragen hatte.

»Danke, Herr Doktor! Sie sind wie immer mein Held«, schwärmte sie und schnappte nach Luft.