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Zusammen mit der Familie Meinhart, die schon lange zu seiner Patientenkartei gehört, freut sich Dr. Stefan Frank über die Geburt ihres zweiten Kindes, Baby Lio. Die Eltern Maurice und Jana sind überglücklich, und auch die große Schwester Lara, mit ihren vier Jahren schon sehr selbstständig, liebt ihren Bruder vom ersten Tag an und geht sehr herzlich mit ihm um. Das Glück scheint perfekt, hätte Jana nicht immer wieder Bedenken, kleine Unterschiede, die ihr auffallen, wenn sie Lio beobachtet und sich an Lara in seinem Alter erinnert. Tatsächlich stellt auch Dr. Frank fest, dass der Säugling an einer Muskelschwäche leidet - aber die ist auf jeden Fall behandelbar. Doch dann kommt der Tag, den Jana nie wieder vergessen wird: Aus dem Nichts erleidet Lio einen Atemstillstand, und auch wenn er es rechtzeitig schafft, von selbst wieder zu atmen, ist der Schock groß. Und in Dr. Frank kommt der schrecklicher Verdacht auf, dass hinter Lios Muskelschwäche etwas viel Schlimmeres stecken könnte ...
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Seitenzahl: 134
Cover
Uns blieb nicht mal ein Jahr mit dir
Vorschau
Impressum
Uns blieb nicht mal ein Jahr mit dir
Das dramatische Schicksal um Baby Lio
Zusammen mit der Familie Meinhart, die schon lange zu seiner Patientenkartei gehört, freut sich Dr. Stefan Frank über die Geburt ihres zweiten Kindes, Baby Lio. Die Eltern Maurice und Jana sind überglücklich, und auch die große Schwester Lara, mit ihren vier Jahren schon sehr selbstständig, liebt ihren Bruder vom ersten Tag an und geht sehr herzlich mit ihm um. Das Glück scheint perfekt, hätte Jana nicht immer wieder Bedenken, kleine Unterschiede, die ihr auffallen, wenn sie Lio beobachtet und sich an Lara in seinem Alter erinnert. Tatsächlich stellt auch Dr. Frank fest, dass der Säugling an einer Muskelschwäche leidet – aber die ist auf jeden Fall behandelbar. Doch dann kommt der Tag, den Jana nie wieder vergessen wird: Aus dem Nichts erleidet Lio einen Atemstillstand, und auch wenn er es rechtzeitig schafft, von selbst wieder zu atmen, ist der Schock groß. Und in Dr. Frank kommt der schrecklicher Verdacht auf, dass hinter Lios Muskelschwäche etwas viel Schlimmeres stecken könnte ...
Maurice Meinhart merkte, dass sein Herz anfing, schneller zu schlagen, als er die Tür zu der Grünwalder Wohnung öffnete, die er gemeinsam mit seiner kleinen Familie bewohnte.
»Ist alles gut gegangen?«, wollte Rebecca, die Babysitterin, wissen.
Maurice nickte und lächelte sie erschöpft, aber glücklich an. Rebecca verstand, dass die Familie nun erst mal Ruhe brauchte, und verabschiedete sich zügig.
»Wenn irgendetwas ist die nächsten Tage, ruft mich jederzeit an«, bot sie an und winkte der vierjährigen Lara zum Abschied zu.
Es dauerte keine zwei Sekunden, bis die kleine Lara auf Papas Schoß kletterte. In hohem Bogen warf sie das störende Kissen vom Ohrenbackensessel, damit sie mehr Platz hatte, und kuschelte sich eng an ihn. Maurice fühlte seinen heftigen Herzschlag, der gegen den zarten Rücken seiner Tochter klopfte. Der Siebenunddreißigjährige war aufgeregt. Hoffentlich reagierte Lara gut.
Ungeduldig rutschte das kleine Mädchen hin und her.
»Wo sind sie denn?«, wollte sie wissen und schaute ihn mit ihren großen Kulleraugen voller freudiger Erwartung an.
Im selben Moment hörte Maurice, wie die Tür ins Schloss fiel. Gleich würde Jana mit der großen Überraschung das Wohnzimmer betreten, und nichts würde so sein wie vorher. Maurice gab Lara einen zärtlichen Kuss auf ihre feinen, lockigen Haare und flüsterte ihr zu, wie lieb er sie hatte.
»Mama!«, rief Lara laut, als Jana lächelnd das Zimmer betrat, und fiel beinahe hin, als sie versuchte, so schnell wie möglich zu ihr zu kommen. »Mama, Mama!« Die Kleine hüpfte um ihre Mutter herum und zog an dem Zipfel des Baumwolltuchs, das sie zu fassen bekam. »Ich will ihn sehen! Ich will ihn sehen!«
Jana schmunzelte. »Nicht so laut«, flüsterte sie und ließ sich langsam auf dem Sofa nieder. »Er schläft.«
Lara war sofort still und nickte. Sie warf ihrem Vater einen ernsten Blick zu und legte ihren Zeigefinger demonstrativ auf ihre Lippen. Maurice stand auf, setzte sich mit etwas Abstand zu Jana auf die Couch und hob Lara ebenfalls hoch, damit sie mehr sehen konnte.
»Das ist dein Bruder«, stellte Jana ihren Nachwuchs vor.
Vorsichtig öffnete sie das dünne Tuch, damit Lara mehr von ihm sehen konnte.
Mit offenem Mund starrte Lara das kleine Wesen an. Sie beugte sich über sein Gesicht und streckte ihre Hand aus. Maurice hielt die Luft an und schickte ein Stoßgebet gen Himmel. Hoffentlich akzeptierte Lara das neue Familienmitglied. Er hatte gelesen, dass dies nicht immer auf Anhieb der Fall war. Er wollte wissen, was er als Vater tun konnte, damit das ältere Kind sich durch sein neues Geschwisterchen nicht zurückgesetzt oder benachteiligt fühlte.
Wie in Zeitlupe streichelte Lara über die Pausbäckchen ihres Bruders und schaute ihn fasziniert an.
»Er ist so klein«, flüsterte sie. »Ganz winzig.«
Maurice war erleichtert. Er kannte seine Tochter und hörte jetzt schon die Liebe aus ihrer Stimme.
»Warum ist er so schrumpelig, Mama?«, wollte Lara wissen.
»Na ja, das ist ganz normal«, erklärte Jana. »Ich musste ihn ja aus mir herauspressen, weißt du? Da sieht man erst mal etwas zerknautscht aus.«
Lara schaute ihre Mutter düster an und wollte wissen: »Hat es ihm wehgetan?«
Jana musste lachen, als sie erklärte: »Ihm nicht, aber mir schon.«
Maurice musste ebenfalls grinsen.
»Willst du dich hinlegen?«, fragte er seine Frau zärtlich.
Er konnte sich vorstellen, dass die letzten Tage wahnsinnig anstrengend für sie gewesen waren.
»Das wäre toll, ja«, seufzte Jana, die die vergangenen Tage und Nächte in der Waldner-Klinik kaum ein Auge zugemacht hatte.
Jetzt, wo sie alle zusammen waren, in ihrem kleinen Zuhause, fiel die Anspannung von ihr ab. Sie sehnte sich danach, so lange zu schlafen, bis ein ganzer Tag herum war.
»Warte, ich helfe dir«, bot Maurice an und wollte ihr aufhelfen.
»Nimm du lieber Lio«, schlug Jana vor und wollte allein ins Schlafzimmer gehen, während Maurice auf das Neugeborene und Lara aufpasste.
»Ich nehme ihn!«, meldete sich Lara da bestimmt. »Ihr könnt ihn einfach hier liegen lassen.«
Jana warf ihrem Mann einen unsicheren Blick zu.
»Schaut, er schläft ganz friedlich. Ich pass auf ihn auf!«, ließ Lara nicht locker, und positionierte sich so vor der Couch, dass ihr Bruder nicht herunterfallen konnte. »Geh ruhig ins Bett, Mama! Ich bleibe bei Lio.«
Maurice nickte Jana zu, nahm sie in den Arm und küsste sie auf die Stirn.
»Lara macht das schon, richtig?«
Lara nickte, ohne sich von Lio abzuwenden, und ließ ihn nicht aus den Augen.
»Meinst du wirklich, das ist eine gute Idee?«, fragte Jana ängstlich, als die beiden Erwachsenen im Schlafzimmer angekommen waren.
»Was soll denn passieren? Außerdem hören und sehen wir doch alles«, erinnerte Maurice sie und zückte das Babyphone. »Sobald du im Bett liegst, bin ich ja auch wieder im Einsatz. Aber wir sollten Lara schnell das Gefühl geben, dass wir ihr vertrauen. Das ist gut für ihr Selbstbewusstsein und wichtig für die Beziehung zu ihrem Bruder.«
»Du hast recht«, gab Jana zu und ließ sich erledigt auf das Bett fallen.
Als Maurice sie so weit entkleidet hatte, dass sie sich wohlfühlte, und ihr die Decke liebevoll bis zur Nasenspitze gezogen hatte, so wie sie es mochte, schlief sie sofort ein. Maurice betrachtete das schlafende Gesicht seiner Frau, die so tapfer gewesen war. Eine richtige Kriegerin, dachte er sich, und spürte eine unendliche Dankbarkeit für die Frau, die ihm nun schon zum zweiten Mal ein Kind geschenkt hatte.
Maurice hatte sich immer schon eine eigene Familie gewünscht und war völlig aus dem Häuschen gewesen, als Jana vor vier Jahren seine Lara geboren hatte. Er vergötterte seine Tochter, ebenso wie seine Frau, und wusste, dass es mit Lio genauso werden würde. Gerade als er aufstehen wollte, hörte er ein kratziges Geräusch aus dem Babyphone. Er hielt es an sein Ohr, konnte aber nur ein undeutliches Gebrabbel vernehmen. Als er zurück im Wohnzimmer war, blieb er auf der Türschwelle stehen, um Lara nicht zu stören, und sah zu seiner Entzückung, dass das kleine Mädchen sämtliche Kissen der Sitzlandschaft um Lio herum verteilt hatte.
»Nicht runterfallen, hörst du«, murmelte sie beschäftigt, als sie die letzten Kissen auf dem Fußboden auftürmte.
»Das sieht ja aus wie eine richtige Festung«, lobte Maurice, als sie fertig war.
»Eine Kissenfestung«, verkündete Lara und war hochzufrieden mit ihrem Werk.
»Es ist schön, dass du aufpasst, dass ihm nichts passiert.«
»Solange ich da bin, wird ihm niemals etwas passieren. Gell, Lio?«, fragte Lara ihren kleinen Bruder, der im Schlaf seine Nase rümpfte. »Papa, schau!«, rief die Kleine begeistert und ließ Lio zusammenzucken.
»Nicht so laut!«, mahnte Maurice.
Doch es war zu spät. Lio machte die Augen auf, runzelte seine Stirn und sah aus wie ein Kritiker, der nicht sicher war, ob ihm gefiel, was er sah.
»Hallo, Lio«, sagte Lara leise. »Hallo, ich bin's, deine Schwester. Hallo ...«
Maurice überlegte, wie er Lara am besten erklären sollte, warum ihr kleiner Bruder gleich anfangen würde, zu weinen, doch er machte sich umsonst Sorgen.
Lara lächelte ihren Bruder aufmunternd an, als sie seine Hände befreite, und erleichtert sah Maurice, wie der kleine Lio seine winzige Faust Lara entgegenstreckte. Als er einen von Laras Fingern zu fassen bekam, griff er zu und hielt sich fest.
»Papa, Papa, guck mal!«, freute sie sich. »Boah, du bist ganz schön stark, Lio. Papa, er ist richtig stark! Dabei ist er so klein.«
Glücklich ließ Maurice sich auf der Couch nieder, um seinen beiden Kindern näher zu sein, die offensichtlich ganz wunderbar miteinander zurechtkamen.
»Papa!«, hörte er Lara aus der Ferne. »Hallo, Papa, du kannst doch jetzt nicht schlafen!«
Müde öffnete er ein Auge und brummte: »Warum denn nicht?«
»Das ist unhöflich«, beschwerte sich Lara. »Ich will nicht, dass Lio denkt, wir sind langweilig.«
Maurice musste lächeln, konnte sich aber kaum noch wach halten.
»Nur zwanzig Minuten«, bat er seine Tochter um Erlaubnis. »Lass mich nur kurz die Augen zumachen. Danach löse ich dich ab.«
Lara schnaufte empört und widmete sich wieder ihrem Bruder, dem sie geduldig erklärte, dass ihre Eltern normalerweise viel mehr konnten, als nur zu schlafen.
***
»Schauen Sie, hier ist der kleine Wonneproppen«, sagte Praxisschwester Marie-Luise Flanitzer zwei Wochen später zu ihrer Kollegin und wedelte stolz mit ihrem Mobiltelefon durch die Luft.
»Zeig mal her!«, forderte Martha Giesecke und schnappte sich das Gerät. »Oh, det ist ja entzückend!«
»Niedlich, oder? Wenn Sie mehr sehen wollen, müssen Sie nach links swipen, das ist eine Galerie.«
»Wat soll ick? Swipen?«
Marie-Luise musste lachen. Ihre ältere Kollegin Martha unterhielt sie nicht nur mit ihrem sympathischen Berliner Dialekt, sondern auch mit ihrer unverkennbaren Skepsis, wenn es um digitalen Fortschritt ging.
»Schauen Sie, so geht das«, erklärte Marie-Luise und zeigte ihr mit einer Wischbewegung auf ihrem Touchscreen, wie man die anderen Bilder sehen konnte.
»Warum sagst du det nicht einfach?«
»Hab' ich doch!«, erwiderte Marie-Luise scherzhaft entrüstet.
»Swipen hast du gesagt! Hauptsache ein neumodisches Wort, oder wie? Man könnte ja auch einfach ›nach links verschieben‹ sagen! Aber nein, swipen ist natürlich viel cooler.«
»Swipen ist kein neumodisches Wort«, traute sich Marie-Luise, ihre Kollegin zu berichtigen. »Das ist Englisch.«
»Englisch, natürlich«, erwiderte Schwester Martha pikiert. »Das ick darauf nicht selbst gekommen bin!«
»Das heißt ›wischen‹«, übersetzte Marie-Luise und brachte ihre Kollegin zum Stöhnen.
»Wischen tu ick nur beim Putzen«, verkündete die ältere Kollegin genervt und schaute sich dann aber die Fotos genauer an.
»Was gibt's denn so Spannendes zu sehen?«, wollte die tiefe Stimme von Dr. Stefan Frank wissen, der gerade die Praxis betrat.
»Marie-Luise hat Fotos vom kleinen Lio bekommen«, weihte Martha ihren Chef ein.
»Nicht bekommen. Die Meinharts haben sie online gestellt. Das heißt, Jana Meinhart. Wir folgen uns doch, Herr Doktor«, ergänzte Marie-Luise.
»Wat?«, fragte die verdatterte Martha.
»Jana Meinhart und ich gehen doch beide ins selbe Fitnessstudio. Sie erinnern sich?«
»Ach, dieses Zumbazeugs«, fiel es Martha wieder ein. »Da springen sie alle um die Wette und hoffen, dass sie dabei abnehmen.«
Dr. Frank unterdrückte sichtbar ein amüsiertes Lächeln.
»Ich habe Ihnen schon tausend Mal erklärt, dass es dabei nicht in erster Linie ums Abnehmen geht«, entgegnete Marie-Luise seufzend. »Auf jeden Fall folgen wir uns alle auf Social Media, manchmal posten wir ein Gruppenbild oder so und verlinken uns dann gegenseitig.«
»Also ick versteh nur Bahnhof«, grummelte Martha und schaute Dr. Frank hilflos an.
»Und weil Sie sich folgen, können Sie auch die neuesten Familienbilder sehen«, verstand dieser Marie-Luise viel besser. »Zeigen Sie mal her.«
Aufmerksam klickte sich der Hausarzt durch die Sammlung der schönen Bilder, die Maurice, Jana, Lara und den kleinen Lio zeigten.
»Was für eine tolle Familie!«, stellte Dr. Frank mal wieder fest.
»Aber wirklich«, pflichtete Marie-Luise ihm bei. »Man gönnt es den beiden aus vollem Herzen.«
Martha Giesecke nickte. »Der Vater ist ein feiner Mensch«, erinnerte sie sich an Maurice, der, ebenso wie seine Frau, schon lange zur Patientenkartei der Praxis gehörte. »Wenn mich nicht alles täuscht, hat er doch diese Woche einen Termin, oder?«
Dr. Frank nickte und bestätigte: »Seine jährliche Routineuntersuchung. Ich habe darauf bestanden, dass er den Nachwuchs mitbringt.«
Die beiden Praxisschwestern klatschten jubelnd in die Hände.
»Das ist ja großartig«, freute sich Marie-Luise. »Gut, dass Sie uns vorwarnen. Ich muss unbedingt überprüfen, ob unsere Polaroidkamera wieder einwandfrei funktioniert.«
Es war eine langjährige Tradition, dass Dr. Frank sich mit den Babys seiner Patientinnen ablichten ließ, vor allem, wenn er, wie im Fall der Meinharts, jeden Schritt bis zur Geburt begleitet hatte.
»Mich wundert ja, dass du nicht längst auf dein komisches Smartphone umgestiegen bist«, zog Martha ihre jüngere Kollegin auf. »Das macht doch bestimmt schärfere Fotos als die olle Polaroidkamera. Die kommt ja noch aus meinen Zeiten.«
»Das ist es ja gerade! Dieser Retro-Look ist total angesagt«, schwärmte Marie-Luise.
»Soso. Retro«, dachte Martha laut nach. »Na ja, klingt besser als alt. Dann bin ick auch retro.«
Die drei schauten sich an und prusteten los.
***
»Wir sind da!«, piepste es einige Tage später hinter der Rezeption von Dr. Franks Praxis.
Marie-Luise Flanitzer blickte auf, konnte aber niemanden sehen.
»Wer ist denn wir?«, wollte sie wissen.
»Na, wir! Papa, Lio und ich.«
Marie-Luise beugte sich belustigt nach vorne. Jetzt fiel ihr auch das Patschehändchen auf, mit dem die kleine Lara versuchte, die Rezeption zu erreichen.
»Das ist aber auch gemein«, sagte Marie-Luise und machte einen Schritt um ihren Arbeitsplatz herum. »Das ist viel zu hoch für Kinder.«
»Papa kommt gleich«, erklärte Lara. »Mein Bruder muss erst noch schreien.«
»Verstehe«, erwiderte Marie-Luise schmunzelnd. »Dann ist es ja gut, dass du deinen Vater schon mal anmelden willst.«
Sie nahm Lara an die Hand, führte sie hinter die Rezeption und setzte sie auf den freien Stuhl neben sich. Zum Glück war es heute ruhig, und sie hatte Zeit, sich mit Hingabe um den kleinen Besuch zu kümmern.
»Magst du deinen Papa selbst einchecken?«, fragte Marie-Luise und rollte ihren Stuhl ganz nah an die Tastatur.
Lara nickte eifrig.
Geduldig zeigte Marie-Luise dem Mädchen, wie man den digitalen Kalender öffnete und wo man klicken musste. Sie wusste, dass Kinder es gernhatten, wenn sie etwas machen durften, was ihnen wichtig erschien.
»Perfekt«, lobte sie, als Lara alles so gemacht hatte, wie es sich gehörte. »Jetzt müssen wir nur noch warten.«
»Ich habe Papa gesagt, dass Lio auch mit reindarf, wenn er schreit.«
»Natürlich darf er das. Er ist ja noch ein Baby.«
»Genau«, fand Lara auch. »Babys schreien halt. So ist das«, erklärte das kleine Mädchen altklug.
Martha Giesecke, die gerade aus der Teeküche kam, griff sich ans Herz und machte eine mitfühlende Miene.
»Da hast du ganz recht«, sagte die rüstige Berlinerin sanft.
»Schwester Martha!«, rief Lara und fiel bei dem Versuch, die Praxisschwester zu umarmen, beinahe von ihrem Drehstuhl.
Martha reagierte schnell, schnappte sich das Kind und hob es so an, dass sie sich selbst hinsetzen und Lara auf den Schoß nehmen konnte.
»Ick sehe, du hast schon ein bisschen gearbeitet«, stellte sie fest und schaute Lara beeindruckt an. »Sollen wir deinem Papa sagen, dass er reinkommen kann? Bei uns muss niemand draußen warten, nur weil sein Kind weint.«
»Schreit«, berichtigte Lara sie. »Lio schreit.«
»Verstehe.«
Die beiden Praxisschwestern grinsten sich an.
»Das ist bestimmt dolle laut«, vermutete Marie-Luise.
»Mama sagt, wenn Lio so weitermacht, wird sie taub«, erzählte Lara.
»Das kann ich mir vorstellen«, gab Marie-Luise lachend zurück. »So ein Säugling kann sich eben nicht anders verständigen. Es ist normal, dass Babys die halbe Nacht schreien.«
Lara zuckte mit den Schultern und meinte: »Mich stört das nicht.«
»Kannst du denn schlafen?«, wollte Martha wissen.
»Manchmal«, gab Lara zu. »Aber wenn er schreit, klingt er ganz süß.«
Mit einem Ton, der neue Patienten ankündigte, öffnete sich die Praxistür.
»Lio!«, jubelte Lara und sprang von Marthas Schoß auf, um ihren Bruder zu begrüßen, als hätte sie ihn lange nicht gesehen.
»Sie will ständig wissen, wann wir Lio endlich aus unserem Schlafzimmer in ihr Kinderzimmer verlegen«, erklärte Maurice, der mit dem Baby auf dem Arm die Praxis betrat.
»Na, det ist aber eine Seltenheit«, wunderte sich Martha.
»Wir verstehen es auch nicht«, bestätigte Maurice lachend. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie laut der kleine Racker werden kann.«