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Dr. Stefan Frank - dieser Name bürgt für Arztromane der Sonderklasse: authentischer Praxis-Alltag, dramatische Operationen, Menschenschicksale um Liebe, Leid und Hoffnung. Dabei ist Dr. Stefan Frank nicht nur praktizierender Arzt und Geburtshelfer, sondern vor allem ein sozial engagierter Mensch. Mit großem Einfühlungsvermögen stellt er die Interessen und Bedürfnisse seiner Patienten stets höher als seine eigenen Wünsche - und das schon seit Jahrzehnten!
Eine eigene TV-Serie, über 2000 veröffentlichte Romane und Taschenbücher in über 11 Sprachen und eine Gesamtauflage von weit über 85 Millionen verkauften Exemplaren sprechen für sich:
Dr. Stefan Frank - Hier sind Sie in guten Händen!
Dieser Sammelband enthält die Folgen 2480 bis 2489 und umfasst ca. 640 Seiten.
Zehn Geschichten, zehn Schicksale, zehn Happy Ends - und pure Lesefreude!
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Seitenzahl: 1212
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben
Für die Originalausgaben:
Copyright © 2018 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Für diese Ausgabe:
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Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Covermotiv: © CandyBox Images/shutterstock
ISBN: 978-3-7517-6488-9
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https://www.sinclair.de
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Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Dr. Stefan Frank 2480
Wir haben nichts versäumt
Dr. Stefan Frank 2481
Nicht gegen mein Gewissen
Dr. Stefan Frank 2482
Schönheit um jeden Preis
Dr. Stefan Frank 2483
Erinnere dich an das, was war
Dr. Stefan Frank 2484
Ist seine Liebe echt?
Dr. Stefan Frank 2485
Zusammen schaffen wir das, Paula
Dr. Stefan Frank 2486
Die vermisste Frau
Dr. Stefan Frank 2487
Freudentränen zum Geburtstagsfest
Dr. Stefan Frank 2488
Sommer in meinem Herzen
Dr. Stefan Frank 2489
Leben ist mehr
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Contents
Wir haben nichts versäumt
Aber muss ich dich jetzt schon gehen lassen?
Hanna und David sind schon lange ein Paar. Vor drei Jahren mussten sie einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen: Die beiden haben ihr ungeborenes Baby verloren. Doch obwohl der Schmerz darüber oft unerträglich war, haben sie es gemeinsam geschafft, nach vorn zu blicken und weiterzuleben. Vor allem aufregende Reisen an die entlegensten Orte der Welt haben ihnen geholfen, neuen Lebensmut zu schöpfen.
Aber als Hanna eines Abends mit furchtbaren Schmerzen zusammenbricht, wird schnell klar, dass das Schicksal erneut unbarmherzig zugeschlagen hat: Hanna ist schwer krank. Todkrank.
David wacht am Krankenbett seiner Frau. Er weiß, sie beide haben wahrlich nichts versäumt, sie haben das Leben genossen. Aber trotzdem darf Hanna nicht jetzt schon von ihm gehen. Herrgott, sie ist gerade mal neunundzwanzig! Sie muss einfach wieder gesund werden, sie muss! Und er wird alles tun, um sie dabei zu unterstützen …
Der Januar brachte bitterkalte Temperaturen nach München. Der Wind schnitt wie der eisige Atem eines Ungeheuers in die Wangen der Passanten. Räumfahrzeuge kämpften darum, die Straßen schneefrei zu halten, aber dieses Unterfangen wurde von ständigen neuen Schneefällen torpediert.
Die Weiden am Ufer der Isar neigten sich unter der weißen Last, und am Rand des Flusses hatte sich Eis gebildet, an dem das Wasser sprudelnd vorüberfloss.
An diesem Morgen waren hier nicht viele Passanten unterwegs. Der Weg war gerade frisch geräumt worden, und dafür war Hanna dankbar. Sie war es gewohnt, jeden Tag joggen zu gehen. Ihre Lieblingsstrecke führte an der Isar entlang. Festgestampfter Schnee knirschte unter ihren Laufschuhen.
Vor ihr stärkte sich eine Schar Spatzen an einer bunten Körnermischung, mit der jemand das Futterhaus bestückt hatte, das am Stamm einer Kiefer festgemacht war. Eine Meise baumelte an einem Meisenring und pickte nach der Stärkung. Zwischendurch hielt sie inne, drehte den Kopf hin und her und gab helle Laute von sich. Das muntere Zwitschern entlockte Hanna ein Lächeln.
Da verspürte sie mit einem Mal ein unliebsames Kribbeln im Nacken. Es fühlte sich so an, als würden unsichtbare Augen sie beobachten. Ihr Lächeln schwand. Als Polizistin war sie es gewohnt, auf ihren Instinkt zu vertrauen. Ihre Vorsicht hatte sie schon mehrmals vor Verletzungen bewahrt.
Sie drehte den Kopf, konnte jedoch niemand entdecken. Das war seltsam, denn es kam nicht zum ersten Mal vor, dass sie sich verfolgt fühlte. Seit einigen Tagen ging das schon so: Es gab Momente, in denen sie sich sicher war, dass verborgene Augen auf ihr ruhten. Aber wer sollte sie beobachten? Und warum?
Rudi lief neben ihr her. Er schien ihr Unbehagen nicht zu teilen. Aufmerksam blickte der Mischlingshund zu ihr hoch, als wollte er sagen: Alles gut. Niemand da. Wollen wir weiterlaufen?
Hanna entspannte sich ein wenig. Wenn ihr Hund nichts Schlimmes ahnte, war hoffentlich alles in Ordnung. Rudi stammte aus Kroatien. Ihre Großmutter hatte ihn aus dem Tierheim geholt, als er noch ein Welpe gewesen war. Sein schwarzes Fell wies goldfarbene Flecken an den spitzen Ohren und rings um die klugen braunen Augen auf. Seine Rute war kurz, wedelte dafür aber umso lebhafter, wenn er sich freute. Ihre Großmutter war vor einem Jahr gestorben. Seitdem lebte Rudi bei Hanna und ihrem Mann und gehörte inzwischen längst zur Familie.
Hanna kniff die Augen zusammen und spähte umher. Niemand zu sehen, der zu ihr herüberschaute oder sie gar beobachtete. Vermutlich hatten ihre Nerven ihr nur einen Streich gespielt.
Das kommt vom Stress, grübelte sie. Bei der Arbeit geht es zurzeit hoch her. Ich könnte einen Urlaub gebrauchen.
Die kalte Morgenluft schnitt eisig in ihre Lungen und zwackte in ihre Wangen. Hanna hatte ihre langen schwarzen Haare zu einem Zopf gebunden, der bei jedem Schritt auf ihrem Rücken hin und her schwang. Das Rauschen des Verkehrs im Hintergrund nahm sie kaum wahr.
An einer kleinen Bank am Ufer machte sie Station. Sie zog einen Zettel aus ihrer Tasche und strich ihn glatt. Ein Brief war es. Geschrieben an ihr Baby.
Ihr kleines Mädchen wäre jetzt beinahe drei Jahre alt. Sie hatte es verloren, als sie in der siebzehnten Woche schwanger gewesen war. Ihr Baby hatte so früh gehen müssen. Seitdem ging ein Riss mitten durch Hannas Herz. Jedes Jahr schrieb sie ihrem Baby einen Brief an dem Tag, an dem sie es verloren hatte, und ließ ihn frei.
Ihre Zeilen auf dem Papier waren stellenweise verwischt, weil sie geweint hatte. Jedes einzelne Wort sprach von Liebe und Vermissen.
„Ich werde dich niemals vergessen, mein Liebling.“ Sie drückte einen Kuss auf die Nachricht. Dann faltete sie ein Papierboot daraus, trat ans Wasser und beugte sich ein Stück vor, um über den vereisten Rand zu gelangen. Behutsam setzte sie das Boot auf das Wasser. Es wurde sofort von den Fluten fortgetragen wie vom Lauf des Lebens selbst.
Hannas Blick folgte dem weißen Punkt, bis er um eine Flussbiegung trieb und aus ihrer Sicht verschwand. Mein kleiner Liebling … Ihre Augen liefen über.
Eine Weile überließ sie sich ihren Erinnerungen.
Irgendwann stupste Rudi sie mit der kalten Nase an.
„Hast ja recht“, schniefte sie und wischte sich über die Augen. „Wir sollten heimkehren. Hier draußen wird es allmählich wirklich zu kalt.“
Sie hatte sich die Hundeleine umgehängt und lief nun weiter, ließ das Flussufer hinter sich. Ihr Mann wusste nichts von ihrem Ritual. David würde sie begleiten wollen, wenn sie es ihm erzählte, ganz gewiss. Er würde es mit ihr teilen, wie er alles mit ihr teilte. Der Verlust ihres Babys hatte ihn genauso getroffen wie sie, deshalb schloss sie ihn nicht gern aus, aber das hier, das musste sie allein tun.
Der Verlust hatte David und sie enger zusammengeschweißt. Seitdem reisten sie viel und oft. Die erste Fernreise hatte David gebucht, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Damals hatte sie ihm das beinahe übelgenommen. Glaubte er etwa, ein Urlaub wäre ein Trost oder gar ein Ersatz für ihr verlorenes Kind? So hatte sie sich empört.
Doch mit der Zeit hatte sie erkannt, dass ihr Mann sie zusammenhalten wollte. Viele Paare trennten sich nach dem Verlust eines Kindes, und David tat alles, um das zu verhindern. Letztendlich hatten die gemeinsamen Erlebnisse während ihrer Reisen ihre Bindung enger gemacht.
An diesem Tag hatte Hanna Spätschicht und musste erst mittags zur Arbeit. Trotzdem lenkte sie ihre Schritte nun heimwärts. Unterwegs kaufte sie noch eine Tüte mit frischen Semmeln. Das Backwerk war noch warm und duftete wunderbar. Mit klammen Fingern kam Hanna schließlich daheim an.
David und sie wohnten in einem hübschen Reihenhaus im Süden von München. Hanna warf die Haustür hinter sich ins Schloss und löste Rudi von seiner Leine. Als sie sich aufrichtete, wurde es ihr kurzzeitig schwindlig. Alles drehte sich um sie.
„Oh!“ Ein leiser Wehlaut entfuhr ihr. Sie klammerte sich an der Flurgarderobe fest, bis das Unbehagen nachließ. Was war nur los mit ihr? War sie zu weit gelaufen?
Der Drehschwindel verschwand, und sie schlüpfte erleichtert aus ihren Schuhen und hängte ihre Jacke an die Garderobe. Das Haus hatten David und sie gemeinsam eingerichtet. Sie mochten beide helle Farben und klare, geometrische Linien und setzten auf Sparsamkeit. So waren die Räume mit dem Notwendigsten ausgestattet, aber nicht überladen.
Hannas Grünpflanzen und zahlreiche Fotografien von ihren Reisen machten die Zimmer behaglich. Obendrein gab es etliche Lampen, denn Hanna brauchte viel Licht um sich herum.
Neben dem Flurspiegel war eine Fotowand angebracht. Auf einem der Bilder standen David und sie in gelbe Kapuzenjacken gekleidet Arm in Arm vor den Niagarafällen. Auf einem anderen hatte ihr Mann sie erwischt, wie sie mit roten Wangen im New Yorker Central Park Schlittschuh lief und dabei eine Pirouette drehte. Sie erinnerte sich noch, dass er sie wenig später vor einem Sturz bewahrt und liebevoll geküsst hatte. Einer der Gründe, weswegen sie das Foto so mochte.
„Morgen.“ Nur in T-Shirt und Shorts tappte ihr Mann aus dem Badezimmer und blinzelte.
„Guten Morgen, Liebling. Ich war joggen und hab frische Semmeln geholt.“
„Hm-m“, brummelte er. Morgens brauchte er immer ein bisschen Zeit, um in Gang zu kommen. Dafür war er abends gern lange auf. Seine dunklen Haare standen vom Schlaf noch nach allen Seiten ab. Er strich sie mit den Händen glatt und spähte auf ihre Tüte. „Du hast einen halben Tag erlebt, während ich gerade erst aufgestanden bin“, stellte er fest.
Hanna schnupperte. „Aber du hast Kaffee aufgesetzt, Lebensretter.“
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Hab mir gedacht, dass du einen brauchen würdest.“ Er beugte sich zu ihr und gab ihr einen liebevollen Kuss.
„Nicht, ich bin ganz verschwitzt“, wehrte sie matt ab.
„So habe ich dich am liebsten.“ Er kniff verschmitzt ein Auge zu und brachte sie damit zum Lachen.
Rudi kam in den Flur, seinen Futternapf zwischen den Zähnen. Wedelnd blickte er erwartungsvoll von einem zum anderen.
Hanna tauschte einen Blick mit ihrem Mann.
„Da hat noch jemand Hunger.“
„Scheint mir auch so. Na, dann kommt mal mit!“
Sie gingen in die Küche, wo Hanna ihnen beiden Kaffee einschenkte. David füllte Rudis Napf auf. Dann richtete er sich wieder auf.
„Ich habe eine Überraschung für dich“, verriet er mit einem geheimnisvollen Lächeln.
„So? Was ist es denn?“
„Das verrate ich noch nicht, sonst ist es ja keine Überraschung mehr.“
Hanna verzog unwillkürlich das Gesicht. Früher, als sie noch in Berlin gewohnt hatten, hatten mehrere unliebsame Zwischenfälle ihr Leben gehörig auf den Kopf gestellt. Seitdem bevorzugte sie es, wenn ihr Alltag in geordneten Bahnen und nach Plan verlief. Unvorhergesehene Ereignisse machten sie argwöhnisch und brachten sie aus dem Takt.
„Ich mag keine Überraschungen“, gestand sie leise.
„Diese hier wirst du mögen“, erwiderte ihr Mann. Er legte die Arme um sie, küsste sie liebevoll und verbannte jeden unliebsamen Gedanken vorerst aus ihrem Kopf.
***
„Es ist die Hölle auf Erden, Herr Doktor.“ Mit verzerrter Miene berichtete Marcel Weidmann von seinen Beschwerden. „Nach jedem Essen habe ich das Gefühl, innerlich zu verbrennen. Es schmerzt hier drinnen …“ Er deutete auf sein Brustbein. „Ich muss immer wieder husten, aber erkältet bin ich nicht.“
Doktor Stefan Frank hörte die Beschreibung seines Patienten und auch die Qual in seiner Stimme. Vor ihm saß ein junger Mann von nicht einmal dreißig Jahren, mit dunkelblonden Haaren und einer sportlichen Statur, die verriet, dass er sich gern und viel bewegte. Seine Haut war trotz der winterlichen Jahreszeit leicht gebräunt.
Marcel Weidmann war zum ersten Mal in seiner Praxis, sein leichter Dialekt verriet, dass er aus Berlin kam.
„Wie lange haben Sie diese Symptome schon, Herr Weidmann?“
„Seit ein paar Monaten. Anfangs kam es nur ab und zu, da habe ich es noch verdrängt, aber es wird schlimmer und passiert öfter. Inzwischen bringe ich kaum noch eine ganze Mahlzeit hinunter. Manchmal habe ich das Gefühl, an der Säure in meinem Hals zu ersticken. Ich kenne Sodbrennen, aber das hier, das ist tausendmal schlimmer. Haben Sie eine Ahnung, was es sein könnte?“
„Ja, das hört sich ganz nach einer gastroösophagealen Refluxkrankheit an.“
„Äh, wonach?“ Sein Patient blinzelte. „Ein … Rückfluss? Meinen Sie das?“
„Ganz richtig. Normalerweise verhindert ein Schließmuskel, dass mit Magensäure vermischter Speisebrei aus dem Magen in die Speiseröhre zurückfließt. Wenn dieser Muskel beeinträchtigt ist, kann es zu einem Rückfluss kommen. Das ist mit brennenden Schmerzen und starkem Unwohlsein verbunden.“
„Oh ja“, pflichtete ihm sein Patient spontan bei. „Das können Sie wohl sagen. Was verursacht diesen … Reflux?“
„Dafür kommen ganz unterschiedliche Ursachen in Betracht. Nikotin oder bestimmte Medikamente können die Muskelspannung schwächen. Zu viel Magensäure – zum Beispiel durch falsche Ernährung, Stress oder eine Magenerkrankung – könnte die Beschwerden hervorrufen. Eine verengte Speiseröhre, Geschwülste oder ein Zwerchfellbruch kommen in selteneren Fällen ebenfalls infrage. Rauchen Sie, Herr Weidmann?“
„Schon seit einigen Jahren nicht mehr.“
„Wie steht es um Ihre Ernährung?“
„Ich lebe ziemlich gesund, esse reichlich Obst und Gemüse. Ich achte auf mich.“ Sein Patient schob die Augenbrauen zusammen. „Allerdings sage ich bei einem guten Stück Fleisch nicht Nein. Falls das ein Problem sein sollte, könnte ich notfalls aber auch darauf verzichten.“
„Nein, ich glaube nicht, dass Ihre Beschwerden davon kommen. Ihre Ernährung scheint mir ausgewogen zu sein. Was ist mit Ihrem Beruf? Haben Sie viel Stress bei der Arbeit?“
„Stress?“ Ein Muskel zuckte im Gesicht seines Patienten. „Durchaus, ja, den habe ich.“
„Dann wäre es gut, wenn Sie für genügend Entspannung in Ihrem Alltag sorgen könnten.“ Dr. Frank machte sich eine Notiz. „Nehmen Sie regelmäßig Medikamente ein?“
„Abgesehen von einer Kopfschmerztablette hin und wieder, nehme ich nichts weiter ein.“
„Die naheliegendste Erklärung ist Stress bei der Arbeit, deshalb werde ich Ihnen für den Anfang einen Säurehemmer verschreiben. Der Inhalt schützt die empfindliche Schleimhaut der Speiseröhre. Sie können sich das Medikament in der Apotheke besorgen und vor den Mahlzeiten einnehmen.“
Dr. Frank stellte seinem Patienten das Rezept aus.
„Diese Mittel sollten Ihre Beschwerden lindern. Wenn sich nicht bald eine deutliche Besserung einstellt, kommen Sie aber bitte noch einmal wieder. Dann müssen wir weitergehende Untersuchungen anstellen. Falls Sie starke Schwierigkeiten beim Essen haben, können Sie es vorerst mit Brei versuchen. Der ist leichter zu verdauen und wird weniger Beschwerden verursachen.“
„Brei? Oh, ich glaube, da hungere ich lieber. Ich bin doch kein Baby.“
„Nur für den Anfang, bis es Ihnen besser geht.“
„Hm, mal sehen. So hatte ich mir meinen Urlaub wirklich nicht vorgestellt.“
„Wie lange bleiben Sie in München?“
„Weiß ich noch nicht genau. Eine Weile vermutlich schon. Übers Wochenende habe ich einige Pläne, aber sonst …“ Sein Patient zuckte mit den Achseln, stand auf, nahm das Rezept an sich und reichte Dr. Frank zum Abschied die Hand. „Vielen Dank, Herr Doktor.“
„Gute Besserung, Herr Weidmann.“ Stefan Frank begleitete seinen Patienten hinaus. Marcel Weidmann war sein letzter Patient für diesen Tag gewesen.
Schwester Martha war schon dabei, in ihren Mantel zu schlüpfen und ihre Mütze auf die grauen Haare zu setzen.
„Ick habe die Proben für‘s Labor fertig gemacht und dem Boten mitgegeben. Das Wartezimmer ist aufgeräumt, und gelüftet hab ick auch. Brauchen Sie mich noch, Herr Doktor?“, fragte sie, und ihr Zungenschlag verriet, dass sie ebenfalls auf Berliner Wurzeln zurückblicken konnte, obwohl sie schon seit vielen Jahren in München wohnte.
„Heute nicht mehr. Vielen Dank, Martha. Ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend.“
„Danke, den wünsche ick Ihnen auch. Hoffentlich komme ick bei diesem Wetter überhaupt nach Hause.“ Ein wenig skeptisch blickte sie aus dem Fenster in das dichte Schneetreiben, das vor einer halben Stunde eingesetzt hatte. Die Straßen und Fußwege waren unter einer dichten weißen Schicht verschwunden.
„Sonst können Sie auch gern hier übernachten. Mein Gästezimmer steht im Notfall frei.“
„Det werde ick mir merken.“ Sie kniff verschmitzt ein Auge zu – und weg war sie. Mit ihrer patenten, manchmal ein wenig burschikosen Art war sie das Herz der Praxis. Sie hielt seine Termine in Ordnung, kümmerte sich um die Patienten und sorgte dafür, dass in seinem Medikamentenschrank niemals etwas fehlte. Außerdem achtete sie darauf, dass er tagsüber nicht vergaß, ab und zu eine Pause zu machen.
Stefan Frank zog seinen warmen Parka, Handschuhe und eine Mütze an und ging nach draußen, um den Schnee in seiner Zufahrt zur Seite zu schippen. Das tat auch dringend Not, denn das Weiß häufte sich bereits knöchelhoch. Sein Auto war schon unter einer dicken weißen Haube verschwunden. Wenn er es morgen früh überhaupt noch wiederfinden wollte, musste er sich jetzt ans Werk machen und losschaufeln.
Die Schneeschippe lehnte am Hauseingang. Er nahm sie und machte sich ans Werk. Bald kam sein Atem schwerer, und er schwitzte trotz der winterlichen Minusgrade. Seine Villa stand in der Gartenstraße in Grünwald, einem idyllischen Vorort von München, der für seine grüne Lunge und die Filmstudios bekannt war. Hier waren schon zahlreiche spannende Serien und Filme gedreht worden. Dadurch zählten auch zahlreiche Filmleute zu seinen Patienten.
Ein Garten rings um sein Haus lud in der wärmeren Jahreszeit zum Entspannen ein. Jetzt schlummerten die zauberhaften Rosen unter einer weißen Decke dem Frühjahr entgegen. Die Praxisräume waren im Erdgeschoss untergebracht.
Oben wohnte Stefan Frank. Allein, sehr zu seinem Leidwesen. Er wünschte sich von Herzen, dass seine Freundin bald zu ihm zog, aber Alexandra zögerte noch. Sie hatte eine bittere Trennung hinter sich, das hatte sie vorsichtig gemacht. Er verstand sie, hoffte aber, dass sie es sich eines Tages anders überlegen würde.
Als hätten seine Gedanken sie herbeigezaubert, trat Alexandra mit einem Mal durch das Gartentor. Ihre Nase war über dem karierten Wollschal gerötet, und Schneeflocken glitzerten in den kastanienbraunen Locken, die unter ihrer Mütze hervorlugten. Sie trug eine kleine Reisetasche in der Hand und schaute bibbernd zu ihm auf.
„Hallo, Stefan, du sag mal: Würdest du mir Unterschlupf gewähren?“
„Jederzeit, das weißt du doch, Liebes.“ Er beugte sich vor, gab ihr einen Kuss auf die roten Lippen und spürte, wie sie zitterte. „Was fehlt dir denn?“
„Ich fühle mich wie ein lebendiges Eis am Stiel.“
„Oje! Du bist ja halb erfroren. Komm erst einmal mit ins Haus uns wärm dich auf.“ Er legte ihr einen Arm um die Taille und nahm sie mit hinein. Während sie sich schlotternd in der Küche auf die Eckbank sinken ließ, setzte er Kaffeewasser auf. „Warum frierst du denn so?“
„Bei mir daheim ist die Heizung ausgefallen. Ich habe stundenlang auf den Monteur gewartet, bis er schließlich angerufen und gesagt hat, dass er es heute nicht mehr schaffen wird. Die Kälte sorgt wohl bei vielen für Heizungsausfälle. Es ist ein Chaos. Vor morgen wird meine Heizung nicht repariert.“
„Und das bei dieser Kälte? Heute Nacht sollen es zweistellige Minusgrade werden.“
„Eben. Kann ich hier bei dir übernachten?“
„Natürlich. Immer.“ Stefan Frank nickte. „Was hältst du davon, dass ich dir jetzt eine Badewanne einlasse, und du wärmst dich erst einmal ordentlich auf? Und ich räume derweil draußen den Schnee zu Ende weg und koche uns etwas Gutes zum Abendessen. Wie klingt das?“
„Das klingt fast zu gut, um wahr zu sein.“
„Glaub es ruhig“, versetzte er schmunzelnd. „Ich bin nämlich am Verhungern.“
„Das bin ich auch“, gestand sie ihm, und ihr Lächeln wärmte ihm das Herz. „Womit verdiene ich dich nur, Stefan?“
„Oh, mein Angebot ist durchaus nicht so selbstlos, wie es scheint. Ich esse nämlich nicht gern allein und koche viel lieber für zwei als nur für mich allein.“ Er zwinkerte ihr zu. „Ich wollte dir übrigens etwas vorschlagen.“
„Etwas vorschlagen? Was denn?“
„Das verrate ich dir, wenn du wieder aufgewärmt bist.“
„Du spannst mich auf die Folter, Stefan!“
„Gut so.“ Sein Lächeln vertiefte sich. Er hoffte, dass seine Idee ihr Freude machen würde. Wenn sie noch eine Weile gespannt darauf war, umso besser! „Genau das war der Plan.“
***
„Der Schnee nimmt überhaupt kein Ende mehr, oder?“ Alexandra beugte sich auf ihrem Sitz vor, so weit der Gurt es zuließ, und spähte durch die Windschutzscheibe zum Himmel. Wolkentürme ballten sich über den Bergen zusammen und verrieten, dass es wohl noch stundenlang kräftig weiterschneien würde.
„Sieht ganz so aus.“ Stefan Frank behielt das Lenkrad fest in der Hand. Er hatte seine Freundin zu einem romantischen Wochenende in einer Berghütte eingeladen. Sie hatten frei und wollten die Zeit nutzen, um einmal abzuschalten. Es sollten zwei entspannte Tage werden, dafür mussten sie ihr Ziel aber erst einmal erreichen! Bei dem starken Flockenwirbel war das keine leichte Aufgabe.
Die Fahrzeuge krochen nur über die Straßen, weil sich der Neuschnee schon wieder häufte.
„Es kommt mir so vor, als wären wir vor Stunden in München losgefahren. Wie weit haben wir es noch?“, erkundigte sich Alexandra.
„Schwer zu sagen, aber so langsam, wie es vorangeht, würde ich schätzen, eine Dreiviertelstunde mindestens noch.“ Stefan Frank warf einen Blick auf das Navigationsgerät. „Laut der Anzeige haben wir noch zwölf Kilometer vor uns. Viel ist das nicht, aber bei dem vielen Schnee kommen wir kaum voran.“
Die Straße schlängelte sich vor ihnen durch das Zillertal. Wagen reihte sich an Wagen, aber das Rot der Rücklichter vor ihnen verschwamm in dichten Weiß. Die Scheibenwischer brachten nicht viel. Dafür fielen die Flocken einfach zu dicht.
Dr. Frank hatte eine Kammer in einer rustikalen Berghütte gemietet. Sie mussten noch auf die Höhenstraße hinauf. Von dort aus würden sie ihr Ziel erreichen.
Im Kofferraum war ihr Gepäck verstaut. Die Skier hatte er auf das Dach geschnallt. Als er den Ausflug geplant hatte, war nicht mit so ergiebigen Niederschlägen zu rechnen gewesen. Die Sicht betrug allerhöchstens zwanzig Meter, dann verschwamm alles im dichten Weiß.
„Hoffentlich kommen wir überhaupt an“, murmelte er.
„Sicherlich“, gab Alexandra trocken zurück. „Es ist nur die Frage, ob an unserer Hütte oder in Alaska.“
„So weit wollte ich heute eigentlich nicht mehr fahren“, erwiderte er schmunzelnd und warf einen Blick auf die Uhr. „Mal schauen, was der Wetterbericht sagt.“ Er schaltete das Autoradio ein und hatte Glück – der Wetterbericht war bereits im Gange.
„… wird es heute bis zum Abend weiterschneien. Morgen erwartet uns sonniges, aber bitterkaltes Winterwetter, liebe Zuhörer. Die sibirische Kälte bleibt uns noch eine Weile erhalten. Warme Kleidung ist zurzeit ein Muss. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich glaube, ich habe heute Nacht sogar auf Russisch geträumt.“
Stefan Frank schaltete das Radio aus.
„In dreihundert Metern rechts abbiegen“, forderte das Navigationssystem ihn auf.
„Dann kann es nicht mehr weit sein“, sagte er aufatmend. „Ist deine Heizung eigentlich wieder in Ordnung?“
„Ja, der Monteur war tatsächlich schon in aller Frühe da, wie er es versprochen hatte. Er sah aus, als hätte er in der vergangenen Nacht kein Auge zugemacht. Dunkle Ringe unter den Augen und unrasiert. Zurzeit scheinen in halb München die Heizungen Probleme zu verursachen.“
„Ein Wunder ist das nicht. Die Temperaturen sind wirklich arktisch. Ich finde es beinahe schade, dass du nach unserem Wochenende schon wieder in deine Wohnung zurückkehren kannst. Ich habe es genossen, dich bei mir zu haben.“
„Wir sehen uns doch trotzdem jeden Tag, wenn es sich irgendwie einrichten lässt.“
„Und das ist ein Glück … Oh, Moment, hier geht es zur Höhenstraße.“ Er setzte den Blinker und bog rechts ab. Sie folgten einem weißen Kleinwagen, der vor ihnen die gewundene Straße hinauffuhr. Der übrige Verkehr blieb hinter ihnen zurück. Einsamer wurde es hier. Und der Schneefall noch dichter.
„Magst du einen Kaffee, Stefan?“ Alexandra packte die Thermoskanne aus.
„Später. Jetzt lasse ich lieber die Hände am Lenkrad …“ Er hatte kaum ausgesprochen, als der Wagen vor ihnen plötzlich nach rechts ausscherte, eine volle Drehung vollführte und schließlich in eine mannshohe Schneewehe rutschte, wo er stecken blieb. „Um Himmels willen!“ Stefan Frank stoppte, schaltete den Warnblinker ein und schnallte sich ab. „Warte hier im Wagen, Liebes.“
„Keine Chance. Ich komme mit. Vielleicht können wir helfen.“ Alexandra war schon halb aus dem Auto. Dr. Frank tat es ihr gleich und zog unwillkürlich den Kopf ein, als dichte Schneeflocken auf ihn herabrieselten und ihm der Wind um die Ohren fauchte.
Er eilte zu dem anderen Wagen hinauf, klopfte an die Seitenscheibe und atmete auf, als die Tür geöffnet wurde und ein silberhaariger Mann auftauchte, der auf den ersten Blick unverletzt wirkte.
„Grüß Gott, ist alles in Ordnung bei Ihnen?“
„Der verflixte Schnee, der verflixte!“ Der andere Fahrer sprach breites Tirolerisch. „Die Straße muss unter dem Schnee vereist sein. Ich hab die Kontrolle verloren.“
„Geht es Ihnen gut? Haben Sie sich verletzt? Ich bin Arzt. Stefan Frank ist mein Name.“
„Angenehm, Mayr-Sepp. Mir fehlt nix. Nur erschrocken bin ich. Und der Wagen steckt fest. Sakra aber auch.“
„Den bekommen wir schon wieder flott.“ Stefan Frank vergewisserte sich, dass der Fahrer allein im Auto gesessen hatte und wirklich mit dem Schrecken davongekommen war. Dann bat er ihn, auf sein Zeichen behutsam Gas zu geben, und stemmte sich gegen das Fahrzeug. „Jetzt!“
Der Fahrer gab Gas, Stefan Frank schob, und Alexandra beugte sich vor und half ihm dabei. Sekundenlang stob der Schnee nach allen Seiten, aber das Auto rührte sich nicht vom Fleck. Gerade, als er zu befürchten begann, dass ihre Kraft nicht ausreichen würde, rollte das Auto plötzlich los und zurück auf die Straße.
„Geschafft!“ Stefan Frank wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Jetzt ist mir warm.“
„Mir auch.“ Alexandra lächelte ihm zu.
„Tausend Dank, Ihnen beiden.“ Mayr-Sepp hielt an und blickte sich zu ihnen um. „Ist bei Ihnen alles gut? Kommen Sie wieder los? Oder soll ich warten und beim Schieben helfen?“
„Wir kommen schon klar.“
„Dann alles Gute, und fahren Sie vorsichtig!“ Der Fahrer winkte grüßend und fuhr weiter.
Stefan Frank folgte seiner Freundin zum Auto, setzte sich wieder hinter das Steuer und gab behutsam Gas. Die Räder drehten kurz durch, dann fanden sie Halt und weiter ging die Fahrt. Er schaltete den Warnblinker aus und seufzte leise.
Der Schneefall ließ nicht nach. Laut Navigationssystem waren sie noch auf dem richtigen Weg, aber von der Straße war in all dem Weiß kaum etwas zu erkennen. Die Stimme aus dem Navigationssystem lotste ihn auf eine Serpentinenstraße, die sich in steilen Windungen weiter bergauf schlängelte.
„Sie haben Ihr Ziel erreicht“, kam es schließlich aus dem Lautsprecher.
Er stoppte verwundert.
„Hier soll es sein? Wirklich? Ich sehe keine Hütte … oder doch?“
Vor ihnen schälten sich dunkle Umrisse aus dem Schneetreiben. Er ließ den Wagen ein Stück weiterrollen, dann sahen sie die Hütte vor sich. Eingeschossig, mit verschneitem Dach und einer Holzveranda, die ebenfalls beinahe unter dem Weiß verschwand. Ein Paar Skier lehnte neben dem Eingang. Ein blauer Wagen stand unter dem Carport. Stefan Frank parkte ein und stieg mit seiner Freundin aus.
„Im Prospekt wurde die Aussicht gelobt“, murmelte er. „Davon hat man heute leider nicht viel.“
„Morgen soll es besser werden.“ Alexandra lächelte ihm unternehmungslustig zu. „Wenn es heute weiterschneit, machen wir es uns einfach drinnen gemütlich. Hast du nicht etwas von einem Kamin gesagt?“
„Ja, das Zimmer müsste einen haben.“
„Dann genießen wir den Tag heute drinnen im Warmen, und morgen gehen wir Skifahren. Ich kann es kaum erwarten. Zwei freie Tage. Wie herrlich!“ Sie wandte sich der Hütte zu. „Anscheinend wohnen wir hier nicht alleine.“
„Das stimmt. Es gibt drei Quartiere, aber als ich gebucht habe, war nur noch ein Zimmer frei. Es werden also noch mehr Urlauber hier oben sein.“
„Die Hütte ist zauberhaft, Stefan. Ich freue mich, dass wir hier sind.“
„Und ich hoffe, wir werden hier oben nicht eingeschneit. Weit und breit gibt es nichts als Schnee, Wald und Felsen.“
„Oh, ich habe allerhand Knabbereien mit. Verhungern werden wir also nicht. Lass uns schnell reingehen. Hier draußen in der Kälte holen wir uns noch den Tod. Außerdem bin ich schon gespannt darauf, wer sich noch hier eingemietet hat …“
***
„Wir sind wirklich angekommen.“ Hanna stieß erleichtert den Atem aus. Die Fahrt von München in die Berge war ihr schier endlos vorgekommen. Der viele Neuschnee machte die Fahrt zu einem Abenteuer. Immer wieder waren sie zum Stehen gekommen, weil sich ein Stau gebildet hatte. Es wurde bereits dunkel, als sie die Berghütte erreichten und von einer freundlichen Hüttenwirtin begrüßt wurden.
Ihr Zimmer lag nach hinten hinaus und bot bei schönem Wetter sicherlich einen reizvollen Ausblick auf die verschneiten Zillertaler Berge. An diesem späten Nachmittag sah man jedoch nichts als Weiß: Schnee, Wolken und noch mehr Schnee.
Die Zirbenhütte befand sich über 2.350 Meter über dem Meeresspiegel und damit weit über der Baumgrenze. Eine hohe Bergspitze mit einem Gipfelkreuz ragte in der Nähe auf.
Hanna hatte eine dunkle, kleine Kammer erwartet und stieß einen erfreuten Juchzer aus, als sie sich in dem bildhübschen Zimmer umsah, das für sie vorbereitet worden war.
Eine breite Fensterfront nahm fast die gesamte Breite des Zimmers ein. Davor lud eine Veranda bei schönem Wetter zum Verweilen ein. Ein rot-weiß kariertes Sofa, ein bequemer Sessel und der helle Holzfußboden ließen den Raum behaglich wirken.
Im Kamin knisterte ein Feuer und verbreitete angenehme Wärme. Eine Wand war mit Stein und Holz verziert, in den hellen Deckenbalken verborgene Lichter erhellten den Raum. Ein breites Bett mit einer roten Patchwork-Tagesdecke wartete für die Nacht auf sie. Es gab ein separates Badezimmer.
„Ich dachte, wir würden uns das Bad mit den anderen Gästen teilen“, sagte Hanna, während sie ihre Garderobe in der großen Truhe verstaute.
„Das hatte ich auch befürchtet“, gestand David. „Ich bin froh, dass wir ein eigenes Bad haben. Unter der Dusche habe ich doch lieber meine Ruhe.“
„Wirklich? Heute Morgen hast du aber anders gesprochen.“ Sie kniff verschmitzt ein Auge zu.
„Für dich habe ich immer Platz, mein Liebling.“ Er erwiderte ihr Lächeln und stellte Rudis Reisekörbchen neben dem Kamin auf. Der kleine Mischling rollte sich darin zusammen und wirkte vollauf zufrieden mit sich und der Welt.
Hanna legte ihr Nachthemd auf einem Stuhl bereit, dazu ein Paar Kuschelsocken. Sie hatte nachts immer kalte Füße.
Ihr Mann hatte nicht zu viel versprochen. Seine Überraschung war ein langes Ski-Wochenende im Zillertal. Sie hatte ihn nach seiner Morgensendung vom Sender abgeholt, dann waren sie gemeinsam in die Berge aufgebrochen.
Beruflich waren sie beide stark eingespannt – Hanna als Polizistin und David als Moderator beim Lokalradio. Die beiden freien Tage sollten ihnen beim Entspannen helfen. Hanna freute sich darauf, sich am nächsten Tag mit ihren Skiern in den Schnee zu stürzen.
„Ich freue mich, dass wir hier sind“, sagte sie glücklich.
„Ich mich auch. Noch sind wir unabhängig und können verreisen, wann und wohin wir wollen.“
„Noch? Wie meinst du das?“
„Nun ja, es gibt da etwas, über das ich gern mit dir sprechen würde.“ David fasste sie bei den Händen und zog sie mit sich zum Bett. Hier setzten sie sich, einander fest bei den Händen haltend. „Es war so hart, unser kleines Madel zu verlieren. Ich weiß, wir waren uns einig, mit einem neuen Versuch, ein Baby zu bekommen, noch zu warten. Aber seit einiger Zeit spüre ich, dass ich mich der Vorstellung wieder öffne. Ich wünsche mir ein Kind mit dir, Hanna.“
„Oh.“ Matt stieß sie den Atem aus. Alles in ihr versteifte sich bei seinen Worten. Sie war noch nicht so weit. Noch lange nicht. Was sie verloren hatten, war so unendlich viel gewesen, dass etwas in ihr mit gestorben war. Sie wusste nicht, ob sie je wieder bereit sein würde, einen zweiten Versuch zu wagen, aber noch war sie es nicht, das wusste sie genau.
Sie wollte etwas sagen, aber die Worte schienen in ihrer Kehle stecken zu bleiben.
David spürte ihre innere Abwehr offenbar, denn er strich ihr sacht über die Wange.
„Wir müssen es nicht überstürzen, ich weiß, du brauchst noch Zeit. Aber du sollst auch wissen, dass ich bereit bin, wenn du es bist.“
„O-kay.“ Sie versuchte ein Lächeln, aber es geriet schief, denn schon der bloße Gedanke, noch einmal denselben Schmerz durchmachen zu müssen wie vor drei Jahren, riss etwas in ihr schmerzhaft auf.
Nein, nein, nein, schrie es tief in ihr, und sie vermochte kaum zu atmen. David legte die Arme um sie und zog sie an sich. Sein regelmäßiger Herzschlag und seine vertraute Wärme beruhigten sie. Die weiße Wolle seines Pullovers kitzelte ihre Wange. Hanna schmiegte sich an ihn.
„Morgen soll das Wetter aufklaren, dann können wir sicherlich den Tag auf den Skiern verbringen“, wechselte er das Thema. „Heute sollten wir es uns in der Hütte bequem machen. Was hältst du gleich von einem Imbiss?“
„Ich würde gern etwas trinken. Am liebsten einen schönen heißen Tee.“
„Und ich brauche eine Brotzeit. Ich werde einmal schauen, was die Hüttenküche so hergibt.“
„Lass nur. Du solltest noch fertig auspacken. Ich werde gehen.“ Hanna stemmte sich von dem weichen Bett hoch und warf ihrem Hund einen Blick zu. Rudi stand schon an der Tür und wedelte erwartungsvoll. Offenbar freute er sich auf die Gelegenheit, sein neues Quartier zu erkunden.
„Ich räume noch meine Sachen fort, dann komme ich nach“, versprach ihr Mann.
„Ist gut. Bis gleich!“ Hanna verließ das Zimmer und kämpfte mit dem wilden Schmerz in ihrem Inneren, der wie ein Tornado ihre Gefühle durcheinanderwirbelte.
Der Verlust ihres Babys war drei Jahre her, aber er schmerzte noch so sehr wie am ersten Tag. Sie blinzelte die Tränen zurück und straffte sich.
„Dann wollen wir doch einmal sehen, ob wir hier etwas zu essen finden, Rudi.“ Hanna blickte sich suchend um und entdeckte eine Aufschrift an der Wand des Korridors: Gaststube. Darunter war ein Pfeil aufgezeichnet, der nach links wies. Sie folgte der Beschriftung und gelangte in einen hübschen Gastraum.
Mehrere Holztische standen für Gäste bereit. Auf jedem brannte ein Teelicht. Die Wände waren mit Holz und Aquarellen von den Bergen geschmückt. Schnitzarbeiten zierten die Holzleiste in Augenhöhe.
Lediglich ein Tisch war besetzt. Ein Mann in einem blauen Norwegerpullover saß mit dem Rücken zu Hanna und trank gerade aus einer Tasse. Vor ihm lag eine ausgebreitete Tageszeitung. Obwohl er ihr den Rücken zukehrte, wirkte etwas an ihm seltsam vertraut.
Unmöglich, dachte Hanna, wir sind weit weg von zu Hause. Ich kenne ihn sicherlich nicht. Sie lief an seinem Tisch vorbei und steuerte einen Fensterplatz an, als sie ihn ihren Namen sagen hörte.
„Hanna? Sag mal: Bist du es wirklich?“ Die dunkle Stimme sandte ihr einen Schauer über den Rücken. Nein! Das war doch nicht möglich! Nicht er! Nicht hier!
Hanna blickte sich zu ihm um und schaute in ein vertrautes Gesicht. Dunkelblonde Haare, ein kantiges Kinn und kühle blaue Augen, die sie prüfend musterten. Marcel!
Der Schock fuhr ihr eisig in alle Glieder. Eine Flut von Erinnerungen spülte in ihren Gedanken hoch und fegte jeden klaren Gedanken weg. Sie klammerte sich an den Rand des Stuhls, weil ihre Knie sekundenlang unter ihr nachgaben. War das wirklich möglich? Er hier? Oder spielten ihre Sinne ihr einen Streich?
Rudi blickte den Mann wachsam an und knurrte.
„Na na“, murmelte der andere Gast. „Was ist denn das für eine Begrüßung? Ihr tut ja gerade so, als wäre ich ein Geist.“
„Bist du das denn nicht?“
Rudi bellte aufgebracht.
Marcel schob die Augenbrauen zusammen, sodass sich eine steile Falte dazwischen bildete.
„Bringst du den Köter jetzt zum Schweigen, oder soll ich ihn raus in den Schnee sperren?“, fragte er ärgerlich. „Das Gekläffe ist ja nicht auszuhalten!“
„Still, Rudi.“ Hanna strich ihrem Hund über den Kopf. Rudi beruhigte sich nur langsam, und ihr erging es nicht anders. Sie hatte nicht damit gerechnet, ausgerechnet hier oben im Zillertal ihrem früheren Kollege wiederzubegegnen. Das war wirklich eine Überraschung – und zwar keine angenehme.
„Die Welt ist klein, was?“, fragte er rau.
„Verfolgst du mich etwa?“ Sie musste plötzlich an das mulmige Gefühl der vergangenen Tage denken. Mehr als einmal hatte sie geglaubt, beobachtet zu werden, und es für Einbildung gehalten. Hatte womöglich mehr dahintergesteckt? War Marcel ihr gefolgt?
„Verfolgen? Ich? Dich?“ Er lachte freudlos. „Das wäre dann doch zu weit hergeholt, findest du nicht? Um ehrlich zu sein, hatte ich gehofft, dich nie wiedersehen zu müssen, und ich nehme an, dir geht es mit mir ähnlich.“
Hanna grub die Zähne in die Unterlippe. War ihr Wiedersehen wirklich nur ein Zufall? Durfte sie seinem Wort trauen? Noch vor wenigen Monaten hatte er geschworen, sich an ihr zu rächen, und nun saß er hier – und nicht daheim in Berlin, wo sie ihn vermutet hatte. Ein großer Zufall. Ein unwahrscheinlicher Zufall!
Tief in ihr breitete sich ein flaues Gefühl aus.
„Ist das Kaffee?“ Sie deutete auf seine Tasse.
„Nein, Kamillentee.“ Er verzog prompt das Gesicht. „Kaffee hat mir der Arzt verboten. Eine Magengeschichte. Der viele Ärger ist schuld, nehme ich an.“ Er sah sie vielsagend an.
„Ich verstehe.“ Hanna erwog gerade, die Gaststube zu verlassen und auf den Imbiss zu verzichten, als Schritte einen weiteren Gast ankündigten. Ihr Mann kam herein, warf einen Blick auf den Besucher – und runzelte die Stirn. Fragend wandte er sich Hanna zu.
„Ist das nicht …“
„Marcel, ja“, bestätigte sie leise. „Mein Kollege von früher. Aus Berlin.“
„Und jetzt ist er hier?“
„Ich weiß, ein Riesenzufall.“
„Hm. So würde ich es nicht gerade nennen.“
Die beiden Männer maßen sich mit Blicken. Mit einem Mal war die Spannung im Raum beinahe greifbar. Dann stieß ihr früherer Kollege den Atem aus.
„Ich hab noch eine Verabredung mit einem Buch in meiner Kammer. Wir sehen uns noch.“ Er stand auf, ließ die Zeitung liegen und nahm nur seine Tasse mit. „Wird sich ja leider nicht vermeiden lassen“, fügte er mit rauer Stimme hinzu. Damit verließ er den Raum.
Hanna blickte ihm unsicher nach.
„Was hat er denn hier verloren?“ Ihr Mann fasste nach ihrem Arm.
„Ich weiß es nicht“, gestand sie leise.
„Sollte er nicht in Berlin sein?“
„Sollte er eigentlich.“
„Und was macht er dann hier im Zillertal? So einen großen Zufall kann es überhaupt nicht geben, finde ich. Wir sind hier irgendwo hoch oben in den Bergen. Und er auch? Das ist reichlich seltsam in meinen Augen.“
Hanna schwieg beklommen, denn das waren auch ihre Gedanken. War die Begegnung wirklich keine Absicht? Auf diese Frage hätte sie gern eine Antwort gehabt. Sie kannte Marcel aus ihrer Zeit in Berlin. Und ihre letzte Begegnung war alles andere als erfreulich gewesen …
Eines Tages hatte sie entdeckt, dass einer ihrer Kollegen gegen Bezahlung bei Drogenvergehen wegschaute. Tom war sein Name gewesen. Er hatte es nicht abgestritten, als sie ihn mit ihrem Wissen konfrontiert hatte, sondern angeboten, sie zu beteiligen.
Sie hatte ihn gemeldet. Daraufhin war er vom Dienst freigestellt worden, und eine Ermittlung war gegen ihn angestrengt worden. Das hatten ihr manche Kollegen nicht verziehen. Vor allem Marcel hatte sie danach regelrecht mit Hass verfolgt, denn Tom war sein Partner gewesen.
Ein Polizist schwärzte einen Kollegen nicht an, das war ein ungeschriebenes Gesetz, aber Hanna hatte ihrem Gewissen folgen müssen. Marcel hatte ihr verübelt, dass sie seinen Freund verraten hatte, und ihr das Leben fortan sehr schwergemacht.
Irgendwann hatte sie keinen anderen Ausweg gesehen, als wegzugehen, wenn sie je wieder in Frieden leben wollte. Ihr Mann und sie waren nach München gezogen und hatten einen neuen Anfang gewagt.
Und nun war Marcel ebenfalls hier im Zillertal. Das konnte kein Zufall sein. Oder?
„Warum sollte er ausgerechnet jetzt hier auftauchen?“, überlegte ihr Mann laut. „Das alles ist anderthalb Jahre her.“
„Ich weiß es nicht, aber in seinen Augen habe ich Verrat an einem Kollegen begangen.“
„Du hast ein Verbrechen gemeldet. Das war richtig so.“
„Aber Tom war ein Kollege.“
„Er war korrupt, Hanna. Er hat falsch gehandelt, nicht du.“
Hanna schlang die Arme um sich selbst. Manchmal war nicht alles schwarz oder weiß. Sie war sich bis heute nicht sicher, ob sie nicht einfach hätte schweigen sollen. Tom war ein guter Polizist gewesen, stark und verlässlich. Es hatte sie damals sehr erschüttert, dass er die Hand aufgehalten hatte.
Und nun war sein ehemaliger Partner hier. In einer einsamen Berghütte mitten im Schnee.
„Ich habe ein mieses Gefühl“, flüsterte sie, „weil Marcel auch hier ist.“
„Das verstehe ich. Mir ist auch nicht wohl dabei, aber wir lassen uns von ihm nicht das Wochenende vermiesen.“
„Es ist so viel Zeit vergangen. Warum taucht er denn ausgerechnet jetzt hier auf?“
David zog sie näher an sich.
„Das wüsste ich auch gern.“
***
Hanna war so erschöpft von der Anreise, dass sie sich nach einem leichten Imbiss auf dem Bett zusammenrollte und nicht bemerkte, wie sie einschlief. Als sie wieder aufwachte, war es dunkel vor dem Fenster. Blinzelnd kroch sie unter der karierten Wolldecke hervor und richtete sich auf.
Draußen schneite es noch immer dicke Flocken. Würden die Wolken wirklich bis morgen weiterziehen und einem sonnigen Tag Platz machen, wie der Wetterdienst es versprach? Im Augenblick sah es so aus, als würde es noch wochenlang weiterschneien!
Obwohl sie gerade erst ein Nickerchen gemacht hatte, war sie immer noch müde. Oder vielmehr ausgelaugt. Sie fühlte sich so erschöpft, dass sie sich kaum dazu aufraffen konnte, sich zu bewegen. Ihre Glieder schienen bleischwer zu sein. Schon seit einigen Wochen fiel ihr jeder Handgriff schwerer als sonst. Seltsam war das.
Ihr Mann saß im Schneidersitz neben ihr auf dem Bett. Er hielt seinen Laptop auf dem Schoß und starrte ganz versunken auf den Monitor. Hanna späht auf die Anzeige und stutzte.
„Internet? Sag bloß, du hast hier oben Empfang.“
„Ja“, erwiderte er ungewöhnlich grimmig.
„Nanu? Stimmt etwas nicht?“
„Es stimmt so einiges nicht. Ich fürchte, ich habe gerade herausgefunden, warum dein früherer Kollege ausgerechnet jetzt wieder in dein Leben getreten ist.“
„Tatsächlich?“ Eine kalte Hand schien mit einem Mal nach ihrem Herzen zu greifen.
David nickte kaum merklich.
„Ich habe ihn gegoogelt, aber das hat zu nichts geführt. Dann habe ich nach deinem Kollegen Tom gesucht und wurde fündig.“ Ihr Mann sah sie halb besorgt, halb mitfühlend an. „Ich würde es dir am liebsten nicht sagen, aber ich nehme an, du wirst es früher oder später ohnehin erfahren. Und es ist bestimmt besser, du weißt Bescheid.“
„Worüber denn?“, fragte sie angespannt. „Wovon sprichst du? Wurde Tom inzwischen verurteilt?“
„Nein, dazu ist es nicht mehr gekommen. Seine Verhandlung vor Gericht zog sich über Monate hin, wie es zu erwarten war. Kurz vor seinem letzten Verhandlungstag … Nun, da hatte er einen Autounfall. Ich habe etliche Zeitungsberichte darüber gefunden. Jeder schreibt etwas anderes, aber in einem sind sich alle einig: Nach der Urteilsverkündung wäre Tom nicht nur als Polizist erledigt gewesen, sondern auch für eine lange Zeit hinter Gitter gewandert.“
„Tom ist verunglückt?“ Hannas Hand fuhr an ihren Mund. „Was ist passiert?“
„Es konnte nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob sein Wagen zufällig auf der vereisten Straße abgekommen und gegen den Baum gefahren ist oder ob er ihn absichtlich gegen den Stamm gefahren hat. Es könnte ein Unfall gewesen sein, aber auch ein Selbstmord …“ David rieb sich das Kinn. „Es tut mir leid.“
„O nein! Tom!“ Ein Zittern lief durch ihren Körper. Sie musste an die Familie ihres früheren Kollegen denken. Was mussten sie jetzt durchmachen! Und seine Freunde! Und … „Marcel!“ Entsetzt sah sie ihren Mann an. „Sicherlich gibt er mir die Schuld am Tod seines früheren Partners. Er denkt vermutlich, dass meine Anzeige seinen Freund in den Tod getrieben hat.“
„Davon müssen wir wohl ausgehen.“ David klappte seinen Laptop zu. „Mir gefällt das alles nicht. Am liebsten würde ich mit dir abreisen, aber bei diesem Wetter und der Dunkelheit ist daran nicht einmal zu denken. Wir würden wohl kaum heil im Tal ankommen. Nein, vorerst sitzen wir hier fest.“
„Ich will auch nicht mehr weglaufen.“
„Aber diesem Mann ist nichts Gutes zuzutrauen. Wenn er uns wirklich hierher gefolgt ist, um Rache zu nehmen, müssen wir auf der Hut sein.“
Hanna nickte. Ihre Gedanken wirbelten durch ihren Kopf wie auf einem Karussell. Es erschien ihr reichlich unwahrscheinlich, dass sich ihr Berliner Kollege zufällig in derselben Hütte eingemietet hatte wie David und sie. Nein, er musste das geplant haben. Und das wiederum bedeutete, dass er eine bestimmte Absicht verfolgte.
„Ich werde mit ihm reden“, beschloss sie.
„Was? Etwa jetzt?“
„Das ist der einzige Weg. Ich muss herausfinden, was er wirklich hier will.“
„Woher kann er gewusst haben, dass wir herkommen würden? Das wussten wir vor Kurzem ja selbst noch nicht.“
„Er ist Polizist. Er kann solche Dinge herausfinden, wenn er das will.“ Hanna straffte sich und verließ das Zimmer. Sie verlangte nicht, dass David mitkam, aber er folgte ihr, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Rudi tappte ihnen hinterher.
In der Gaststube erwartete sie eine weitere Überraschung – diesmal eine angenehme: Dr. Frank und seine Freundin waren ebenfalls hier und saßen bei einem Fondue zusammen. Sie luden Hanna und ihren Mann ein, ihnen Gesellschaft zu leisten. Marcel war nirgendwo zu sehen.
Hanna erkundigte sich nach dem Gast aus dem dritten Zimmer. Daraufhin erzählte ihr Alexandra, dass sich Marcel sein Abendessen mit in sein Zimmer genommen hatte. Das ließ alles in einem anderen Licht erscheinen.
Ging ihr früherer Kollege ihr womöglich aus dem Weg? Fühlte er sich in ihrer Nähe ebenso unbehaglich wie sie sich in seiner? Dann war ihr Wiedersehen vielleicht doch nur ein Zufall? Bei diesem Gedanken wurde der Druck auf Hannas Brust ein wenig leichter.
David und sie setzten sich gerne zu Dr. Frank und seiner Begleiterin. Die Hüttenwirtin brachte ihnen heißen Tee und weitere Zutaten für das Fondue. Dazu gab es selbst gebackenes Brot und eine bunte Salatmischung. Und schließlich für alle ein Glas Zirbenschnaps.
Nach dem Essen schlug Alexandra vor, zusammen Scrabble zu spielen.
„Bei diesem Wetter können wir nicht viel anderes machen, und zu viert ergeben wir eine schöne Runde“, erklärte sie. Alle waren gern dabei, und so versammelten sie sich an einem runden Tisch in der Nähe des Kamins. Hier lagen mehrere Spiele aus, auch ein Scrabble fand sich.
Die Hüttenwirtin versorgte sie mit Wein und Knabbereien, und bald waren sie in ein lebhaftes Spiel vertieft.
Dr. Frank legte aus seinen Buchstabensteinen das Wort: DIVERTIKULITIS.
Seine Freundin krauste die Stirn.
„Das ist aber kein Wort, Stefan.“
„Freilich ist es eines. Es ist eine ziemlich schmerzhafte Erkrankung des Verdauungstraktes.“
„Also ein Fachbegriff? Du mogelst, Liebling.“
„Sind Fachbegriffe denn verboten?“
„Nun, ich weiß nicht genau. Was meint ihr?“ Alexandra blickte Hanna und ihren Freund an.
Hanna grinste und legte aus ihren Steinen: BLASOMAT.
„Dieses Wort gibt es nun aber wirklich nicht“, mutmaßte Dr. Frank.
„Oh doch! So heißt der Alkomat im Polizeijargon.“
Ihr Hausarzt lachte.
„Mir scheint, wir werden heute Abend noch einiges dazulernen.“
Sie rechneten die Punkte aus und spielten weiter.
Nach einer Weile trottete Rudi zur Tür und kratzte am Türholz. Hanna grübelte gerade, welches sinnvolle Wort sie aus den Buchstaben M, O, R, B, I, A, E, N, E, L, S legen könnte, und blickte nun auf.
„Oh nein, ist das dein Ernst, Kleiner?“, seufzte sie. „Du willst jetzt eine Runde rausgehen? Hast du mal rausgeschaut? Draußen schneit es wie verrückt!“
Ihr Hund ließ von der Tür ab, legte den Kopf schief und blickte zu ihr hoch.
Wann geht‘s los?, schienen seine Augen zu fragen.
„Also schön“, seufzte sie. „Bringen wir es hinter uns.“
„Ich begleite Sie.“ Alexandra stand vom Tisch auf. „Ein bisschen Bewegung wird mir nach dem Essen guttun. Wollt ihr auch mitkommen?“ Sie blickte die beiden Männer an. Diese tauschten einen Blick und schüttelten einmütig den Kopf.
„Nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss.“
„Na schön, dann gehen wir allein. Kommen Sie, Hanna. Überlassen wir die beiden Männer ihren Überlegungen, wie sie das Spiel noch für sich entscheiden können.“ Alexandra zwinkerte ihr zu.
„Entfernt euch nicht zu weit von der Hütte“, mahnte Dr. Frank.
„Und nehmt eine Lampe mit“, ergänzte David.
„Keine Sorge. Wir drehen nur eine kleine Runde um die Hütte und sind im Handumdrehen wieder da.“ Hanna verließ mit Alexandra die Gaststube. Sie holten sich jede eine warm wattierte Jacke, Taschenlampen und warme Stiefel aus ihrem Zimmer.
Hanna stülpte die Kapuze über ihren Kopf und leinte Rudi an. Dann zog sie die Hüttentür auf und prallte beinahe zurück, weil der Sturm ihr einen Schwall Schneeflocken entgegentrieb. Die Kälte stach eisig in ihre Wangen.
„Beeilen wir uns besser!“, rief Hanna über das Fauchen des Windes hinweg. „Je eher wir zurück sind, um so eher können wir Rudi und uns am Kamin wieder auftauen!“
***
Wo bleiben denn alle?
Verwundert blickte sich Dr. Frank um. Er saß mittlerweile allein am Spieltisch. Seine Freundin und Hanna waren noch nicht von ihrer Runde mit Rudi zurückgekehrt, und auch David hatte sich schon vor einer Weile entschuldigt, weil er in seinem Zimmer telefonieren wollte, und war noch nicht wieder da. Allmählich wuchs in Stefan Frank die Sorge, dass etwas nicht stimmte. Die beiden Frauen waren sicherlich schon seit einer halben Stunde fort. Vielleicht sogar noch länger.
Wie lange kann der kleine Rudi bei diesem Wetter für sein Geschäft brauchen?, grübelte er. Er muss auch frieren, oder nicht? Allerdings gibt es nicht viele Bäume hier oben. Ich habe noch gar keinen gesehen. Womöglich findet er keine geeignete Stelle? Oder ist das Schneetreiben so dicht, dass sich die beiden Frauen verlaufen haben?
„Sind sie immer noch nicht wieder da?“ David kehrte mit einer Tüte Studentenfutter zurück und schwenkte sie. „Mehr Nüsse für uns. Allerdings mache ich mir allmählich Gedanken, wo unsere beiden Frauen bleiben.“
„Ich mir auch. Draußen herrschen Temperaturen im zweistelligen Minusbereich. Alexandra würde nicht freiwillig so lange wegbleiben.“
„Hanna auch nicht. Und Rudi erledigt seine Geschäfte im Winter meistens im Rekordtempo. Entweder sind sie draußen ins Reden gekommen oder …“ David stockte.
„Oder es ist etwas passiert“, vollendete Dr. Frank für ihn.
„Wir sollten Marcel Weidmann fragen, ob er die beiden gesehen hat. Er ist ein anderer Gast hier.“
„Warum gerade ihn?“ Dr. Frank kam der Name bekannt vor, aber ihm fiel nicht ein, woher.
„Weil er Hanna von früher kennt und nicht gut auf sie zu sprechen ist. Lange Geschichte. Ich traue ihm nicht.“
„Also fragen wir ihn.“ Sie verließen den Raum und klopften an der Tür des dritten Gästezimmers. Es dauerte eine Weile, bis drinnen Schritte laut wurden, dann öffnete ihnen der Berliner Polizist. Er war nackt bis auf ein Duschtuch, das er sich um die Hüften geschlungen hatte. Wasser perlte von seiner gebräunten Haut, und seine dunkelblonden Haare waren noch nass.
„Hab eben geduscht“, murmelte Marcel und kniff die Augen zusammen. „Kann ich etwas für Sie tun?“
„Wir suchen Hanna und Frau Dr. Schubert.“ David trat einen Schritt vor. „Haben Sie sie gesehen?“
„Also, unter meiner Dusche waren sie nicht.“ Ein spöttisches Lachen begleitete die Worte. „Um eure Ehe ist es wohl nicht gut bestellt, wenn du sie im Bad eines anderen Mannes suchen musst, oder?“
„Sie …“ David stieß einen zischenden Laut aus und ballte die Hände zu Fäusten.
„Schon gut.“ Dr. Frank sah ihn begütigend an. Dann fasste er den Polizisten in den Blick.
Er erkannte den Mann. Marcel Weidmann war vor wenigen Tagen als Patient bei ihm gewesen. Da er aber offenbar nicht gewillt war, seinen Arzt zu begrüßen, blieb Dr. Frank ebenfalls höflich distanziert.
„Also haben Sie sie nicht gesehen?“, fragte er.
„In der letzten Stunde nicht. Nein.“
„Dann werden wir sie suchen gehen.“ Er spürte, wie David neben ihm nickte. Sie eilten in ihre Zimmer und zogen sich warm an, dann brachen sie auf.
Marcel Weidmann schloss sich ihnen nicht an.
Bitterkalte Winterluft schlug ihnen entgegen, als sie vor die Hütte traten. Sie hatten jeder eine Taschenlampe mitgebracht und knipsten diese nun an. Das Licht verlor sich schon nach wenigen Metern im dichten Schneetreiben.
„Das ist meine Schuld“, murmelte David und ließ seine Lampe kreisen. „Ich hätte sie begleiten können. Was, wenn ihnen etwas zugestoßen ist?“
„Das wollen wir nicht hoffen.“
„Warum bin ich nicht mitgegangen?“
„Weil sie nur kurz vor die Tür wollten.“ Stefan Frank kniff die Augen zusammen, weil ihm der Sturm dichte Schneeflocken entgegenwehte. „Hanna? Alexandra?“ Er hob den Kopf und lauschte, aber nur das Fauchen des Sturms antwortete ihm.
Oder etwa nicht?
Ein Geräusch drang zu ihnen durch. Ein Ruf war es … Hanna!
Die junge Polizistin war so blass wie der Schnee. Eiskristalle hafteten an ihren Wimpern. Ihre Zähne schlugen hörbar aufeinander, so sehr fror sie. Auf ihrem Arm trug sie Rudi. Das Fell des Hundes war ebenfalls weiß. Er fiepte hörbar.
„Wo warst du nur, Liebes?“ David eilte seiner Frau entgegen. „Ist dir etwas passiert?“
„Mir fehlt nichts. Rudi hatte sich losgerissen, deshalb musste ich ihn suchen. Ich dachte schon, im Schneetreiben würde ich gar nicht mehr zur Hütte zurückfinden, aber dann habe ich eure Lichter im Flockenwirbel entdeckt und wusste, ich bin auf dem richtigen Weg. Ich bin so froh, euch zu sehen!“
„Wo ist Alexandra?“ Stefan Frank trat vor. Er musste rufen, um sich über das Tosen des Unwetters verständlich zu machen. Grundgütiger, wenn er geahnt hätte, dass sich das Wetter dermaßen verschlechtern würde, wäre er mit seiner Freundin daheim geblieben!
„Alexandra?“ Alarmiert sah Hanna ihn an, und in ihre Wangen stieg eine hektische Röte. „Ist sie nicht längst wieder zurück? Wir haben uns aus den Augen verloren, als ich nach Rudi gesucht habe. Ich hatte angenommen, sie wäre zurückgegangen.“
„Das ist sie nicht.“
„Aber wo ist sie dann?“
„Das müssen wir unbedingt herausfinden.“ Stefan Frank blickte sich alarmiert um. Seine Augen schmerzten von dem vergeblichen Versuch, das dichte Weiß zu durchdringen. „Wo haben Sie Alexandra zuletzt gesehen?“
„Irgendwo da oben.“ Sie deutete mit der Hand in die Richtung, in der sich am Nachmittag die Bergspitze abgezeichnet hatte. Jetzt war nichts als dichter Flockenwirbel zu erkennen.
Stefan Frank fing einen besorgten Blick von David auf und nickte. Ihnen lief die Zeit davon. Lange konnte ein Mensch es in dieser Kälte nicht im Freien aushalten, ohne ernsten Schaden zu nehmen. Sie waren für diese Temperaturen nicht ausgerüstet!
„Ich werde Alexandra suchen“, entschied er. „David, Sie bringen Hanna hinein.“
„Ich kann allein gehen.“ Hanna legte ihrem Mann bittend eine Hand auf den Arm.
Er nickte verstehend. „Wärm dich gut auf, mein Liebling.“
„Das werde ich.“
„Gut. Wir kommen so bald wie möglich zurück. Versprochen.“ Der junge Polizist straffte sich. „Ich werde Sie begleiten, Herr Doktor. Vier Augen sehen mehr als zwei.“
„In Ordnung. Brechen wir auf.“ Stefan Frank hatte keine Ruhe, ehe seine Freundin nicht gefunden war. Sie ließen die Hütte hinter sich und kämpften sich durch den frisch gefallenen Schnee den Hang hinauf. Eine Weile konnten sie Hannas Fußspuren folgen, aber dann verloren sie sich wie der Rest der Welt im Weiß. Es war so undurchdringlich, dass sie das Gefühl hatten, blind zu werden.
Sie sprachen nicht. Der steile Anstieg und der Sturm raubten ihnen jeden Atem. Außerdem mussten sie sich darauf konzentrieren, nicht die Orientierung zu verlieren und womöglich im Kreis zu laufen – oder sich völlig zu verirren!
Was, wenn das seiner Freundin passiert war? Wenn Alexandra irgendwo in den Bergen umherirrte und den Weg zurück nicht fand? Hier oben gab es keinen Unterschlupf, kein Versteck, nur die bittere Kälte, die den beiden Männern nun unter die Kleidung kroch wie hungrige Nagetiere und sie frösteln ließ.
Dr. Frank packte die Taschenlampe fester und rief immer wieder nach seiner Freundin.
Vergeblich.
Alexandra antwortete ihm nicht.
David stapfte grimmig neben ihm her, drehte den Kopf und schaute sich suchend um. In seine Miene grub sich eine tiefe Sorge ein.
Was machen wir nur, wenn wir Alexandra nicht finden?
Stefan Frank wollte nicht darüber nachdenken, aber die Gedanken kamen wie hungrige Vögel und ließen sich nicht vertreiben. Die dumpfe Angst, dass etwas Furchtbares geschehen war, wuchs in seinem Inneren an. Er hätte Alexandra gern angerufen, aber sie hatte ihr Handy nicht mitgenommen. Es lag in ihrem Zimmer und half nicht bei der Suche.
„Alexandra?!“ Er blieb stehen und lauschte.
Nichts. Ringsum gab es nur den Berg und die Kälte.
Hatte er sie verloren? Die junge Augenärztin war ihm ein Licht geworden. Für sie stand er frühmorgens mit Freude auf und tat alles, damit sie glücklich war. Sie füllte sein Leben mit Wärme und Liebe. Ohne sie, das spürte er, würde er nicht mehr froh werden. Hatte er sie ins Verderben geführt?
„Da!“ Unvermittelt streckte David den Arm aus und deutete nach vorn. Tatsächlich zeichnete sich etwas Dunkelrotes im Schnee ab. Eine Steppjacke, wie Alexandra sie bei ihrem Aufbruch getragen hatte! Aber warum lag sie da und regte sich nicht nicht? War sie etwa … Er brachte den Gedanken nicht zu Ende, sondern stürmte los.
Und wirklich schälten sich wenig später die Umrisse seiner zierlichen Freundin auf dem Schnee ab. Sie lag reglos da, während Schneeflocken auf ihren Wangen schmolzen und weiße Kristalle in ihren Wimpern glitzerten. Über ihr ragte ein Marterl auf. Beinahe zugeschneit und kaum zu erkennen.
„Sie blutet!“ David schnappte hörbar nach Luft.
Tatsächlich zeichnete sich eine rote Lache unter ihrem Kopf ab. Eine blutige Schramme zog sich über ihre Schläfe und den Hinterkopf.
„Ist sie unglücklich gestürzt?“, murmelte David. „Oder hat Marcel sie womöglich mit Hanna verwechselt und verletzt?“
„Meinen Sie Marcel Weidmann? Warum sollte er so etwas tun?“
„Für eine Erklärung müsste ich weiter ausholen.“
„Erzählen Sie mir alles in der Hütte“, bat Stefan Frank und kniete sich neben seine Freundin. Angespannt tastete er nach ihrem Puls und zuckte zusammen. Wie kalt sie war! Sie rührte sich nicht, hielt die Augen weiterhin geschlossen.
Er spürte keinen Puls, tastete energischer und fand endlich einen Herzschlag. Schwach nur, aber spürbar, als würde sie sich mit letzter Kraft ans Leben klammern.
„Wir müssen sie zur Hütte tragen“, drängte David. „Sie muss so schnell wie möglich ins Warme. Wir tragen sie am besten.“
Dr. Frank war sich nicht sicher, ob es eine gute Idee war, seine Freundin zu bewegen. Noch wusste er nicht, wie schlimm ihre Kopfverletzung war. Allerdings war es tatsächlich keine Option, sie hier draußen in der Kälte zu lassen.
Sie war schon halb erfroren! Es grenzte an ein Wunder, dass sie so lange überlebt hatte.
„Halte durch, Liebes“, beschwor er sie halblaut. „Wir bringen dich zurück zur Hütte. Dort werde ich mir deine Verletzungen anschauen und tun, was ich kann, um dir zu helfen. Du musst nur eines tun: durchhalten!“
***
„Habt ihr sie gefunden?“ Hanna war gerade dabei, sich einen warmen und vor allem trockenen Rollkragenpullover über den Kopf zu ziehen, als ihr Mann zurückkam. Schwer atmend betrat David das Zimmer. Schnee bedeckte seine Schultern, und weiße Flocken glitzerten in seinen Wimpern. Sein Gesicht war gerötet von der Kälte.
Rudi hob den Kopf bei seinem Eintreten. Er hatte sich zusammengerollt und sah nicht so aus, als würde er an diesem Tag noch eine Pfote aus seinem Körbchen setzen.
„David? Was ist mit Alexandra?“, drängte Hanna.
„Wir haben sie gefunden.“ Mit spitzen Fingern zog sich ihr Mann die Handschuhe von den Fingern und machte sich daran, den Reißverschluss seiner Jacke zu öffnen.
Hanna bemerkte die dunkelroten Flecken auf dem Stoff.
„Ist das etwa Blut? Oh, David, was ist denn nur passiert?“
„Alexandra ist verletzt. Am Kopf. Wir haben sie zurück zur Hütte getragen. Unterwegs ist sie wieder zu sich gekommen, aber sie hatte starke Schmerzen.“
„Sie ist verletzt? Oh nein! Wie schlimm ist es?“
„Das weiß ich nicht. Ihr war unterwegs übel. Das deutet nach meiner Erfahrung auf eine Gehirnerschütterung hin. Dr. Frank untersucht sie gerade nebenan. Danach wissen wir bestimmt mehr.“
„Das alles ist nur meine Schuld. Ich hätte sie suchen müssen, als wir uns aus den Augen verloren haben. Ich dachte, sie wäre zurückgegangen.“
„Wenn du sie allein gesucht hättest, wärst du vielleicht auch verschwunden. Das will ich mir lieber gar nicht vorstellen. Es war ganz richtig, zur Hütte zurückzukehren.“
„Aber vielleicht hätte ich verhindern können, dass sie sich verletzt. Wie ist das überhaupt passiert? Ist sie gestürzt?“
„Das ist eine gute Frage. Sie lag im Schnee. Weit und breit nichts als Weiß. Entweder ist es woanders passiert und sie hat sich noch ein Stück weitergeschleppt, bevor sie zusammengebrochen ist, oder jemand hat sie angegriffen. Ich weiß es nicht. Und das Problem ist: Eventuelle Spuren hat der Neuschnee inzwischen längst zugedeckt.“
„Angegriffen? Aber hier oben ist außer der Hüttenwirtin und uns niemand weiter. Wer könnte …“ Hanna sog scharf den Atem ein, als ihr ein Gedanke kam. „Glaubst du, Marcel könnte ihr etwas getan haben?“
David schwieg sekundenlang und hängte seine Jacke auf einen Bügel.
„Fragen wir ihn“, gab er grimmig zurück.
Sie nickte und ging voraus zum Zimmer ihres früheren Kollegen. Auf ihr Anklopfen öffnete Marcel ihnen die Tür.
„Ah, ihr seid es.“ Er musterte Hanna. Dann zog er eine Augenbraue hoch. „Dein Mann hat dich vorhin gesucht, und offenbar hat er dich auch gefunden. Wohlauf, wie ich sehe.“
„Mich schon, aber die Begleiterin von Dr. Frank leider nicht. Sie wurde verletzt.“
„Wie schlimm ist es?“
„Sag du es uns.“
„Ich? Ich weiß nichts darüber.“
„Wirklich nicht? Wo warst du in der vergangenen Stunde?“