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In einem Tunnelsystem in den Schweizer Alpen entdecken Forscher die Überreste einer uralten Zivilisation und einen gigantischen Leichnam. Der Biologe Peter Singer wird mit der Obduktion der monströsen Lebensform betraut, doch etwas geht furchtbar schief. Als der Wissenschaftler Tage später erwacht, ist das Labor völlig zerstört und Singer kann sich an nichts erinnern. Auf der Suche nach der Wahrheit stößt er auf ein Grauen jenseits menschlicher Vorstellung. Etwas Uraltes ist zu neuem Leben erwacht, und es stammt nicht von diesem Planeten. Sein Ziel: Die Auslöschung der gesamten Menschheit.
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In der Tiefe lauert das Böse …
In einem Tunnelsystem unter den Schweizer Alpen entdeckt ein Höhlenforscher die Überreste einer uralten Zivilisation - und den Wahnsinn.
Geldgierige Forschungskonzerne stoßen in Bereiche der Wissenschaft vor, die besser für alle Zeiten unangetastet geblieben wären. Der Biologe Peter Singer und seine Tochter werden von schrecklichen Visionen geplagt, in denen die Welt unaufhaltsam auf den Abgrund zurast.
Können Sie die Dämonen ihrer gemeinsamen Vergangenheit besiegen, während sie von den Schergen eines mächtigen Forschungskonsortiums gejagt werden?
Etwas Uraltes ist erwacht, und es hat nur ein Ziel: Die Auslöschung der gesamten Menschheit.
Bevor du dich ins Vergnügen stürzt …
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UND RAUS BIST DU (Forever Ida-Reihe Bd. 1)
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DIE RIFTWELT-SAGA
TARGET: Du bist das Ziel
TODESZONE: Tatort Malmö
SO KALT DEIN HERZ
TOTGESPIELT
DIE SCHULD DER ENGEL : Sauers erster Fall
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DRAAKK
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DRAAKK: ETWAS IST ERWACHT
Deutsche Erstveröffentlichung
© 2013 L.C. Frey
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Alle in diesem Roman beschriebenen Personen sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Umschlaggestaltung: Ideekarree Leipzig,unter Verwendung von ©StockSnap, Pixabay.de
Impressum:
Alexander Pohl, IDEEKARREE Leipzig, Breitenfelder Str. 32, 04155 Leipzig, E-Mail: [email protected], Tel.: 0341 / 91 888 977, Herausgegeben von: Alexander Pohl, IDEEKARREE Leipzig, www.ideekarree.de
Für Krissy
Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.
– Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1886)
Gebiet des heutigen Golf von Bengalen, 9600 v. Chr.
Sie waren fünf, und sie würden die Letzten sein. Die Stadt unter der gewaltigen Kuppel erstreckte sich beinahe bis zum Horizont, ein gigantisches, steinernes Labyrinth aus Felsblöcken, hunderte von Metern hoch aufgetürmt auf der Oberfläche einer Insel, die eigens zu diesem Zweck erschaffen worden war.
Die gigantische Stadt brannte lichterloh.
Aber sie würde nicht mehr lange brennen, die Insel versank bereits im Meer. Jetzt, da all jene starben, deren Energie die Insel hatte schwimmen lassen. Jetzt, da sie alle schreiend in den Flammen umkamen, einige von ihnen tausende von Jahren alt, andere noch Säuglinge, und ausnahmslos alle von ihnen wahnsinnig. Wenn das Meer über der Insel zusammenschlug, würden sie tot sein, alle von ihnen. Als hätte es sie nie gegeben.
Sie waren fünf, dachte Tharek, und sie waren die Letzten ihrer Zivilisation. Einst hatten sie ganze Welten geschaffen, allein durch ihren Willen, im Einklang mit den allgegenwärtigen, gütigen Kräften des Universums. Derart war ihre Macht gewesen, als ihre Ahnen vor fünftausend Jahren erstmals diesen Planeten betreten hatten. Und auch sie waren auf der Flucht gewesen, so wie jetzt Tharek und seine kleine Gruppe. Sie hatten dieser jungen Welt und ihren Bewohnern Weisheit gebracht, Güte und die Fähigkeit, Gedanken für die Ewigkeit zu binden. Sie hatten dieser Welt eine mächtige, strahlende Zivilisation geschenkt.
Das hatten sie zumindest geglaubt.
Die Menschen hatten ihre Lehren der Liebe und des Einklangs begierig aufgesogen, hatten ihre Schamanen zu ihnen geschickt und ihre weisen Männer und Frauen.
Und sie hatten gelernt.
Unendlich langsam, aber sie hatten gelernt. Wie man die Materie in Einklang mit den Schwingungen des Geistes brachte, wie man ohne Worte sprach und Liebe schenkte, während man Lust empfing. Wie man lebte, ohne zu altern. All das hatten die Menschen irgendwann verstanden.
Aber sie hatten noch nicht gelernt, wie man sich über das Dunkel erhob. Wie man dagegen ankämpfte. Wie sie ihre Welt verteidigen konnten, gegen das, was kommen würde. Gegen die Schwärze, die Thareks Rasse, wenn auch unabsichtlich, aus den Tiefen des Alls mitgebracht hatte. Nun waren sie selbst Opfer dieser Schwärze geworden, die sie viel früher ereilt hatte, als sie es für möglich gehalten hatten. Hingemeuchelt durch einen einzigen Gedanken, den die Finsternis geschickt hatte. Lange, bevor sie den Menschen die wichtigsten Lektionen hatten beibringen können, würden ihre Lehren gemeinsam mit ihnen im Meer versinken.
Die Erde würde schutzlos sein, wenn niemand mehr wusste, wie man den Schild wob, wie man das finstere Wirken der Dunklen hinter ihren zahllosen Masken durchschaute und sich vor ihrem Einfluss schützte. Wie man seinen Geist zu höheren Sphären aufschwang und sich mit anderen Geistern zum Kampf vereinte.
Ein einziger dunkler Gesandter hatte genügt, um das mächtige Reich der Atlantäer auf eine Handvoll Überlebender zu reduzieren, zerlumpte Flüchtlinge, ausgestoßen und verraten von denen, die sie hatten schützen wollen.
Tharek drehte sich um und gedachte ein letztes Mal seiner Brüder und Schwestern, die gestorben waren, damit sie fliehen konnten. Sie hatten ihre Heimstatt und tausende Leben geopfert, um die Schwärze mit sich in die Tiefe des Meeres zu ziehen und Es dort unten zu bannen. Sie waren gestorben, damit die Menschheit leben konnte.
Und auf welche Weise sie gestorben waren! Die entstellten Leiber grausam verdreht und ineinander geschlungen, reißend, kämpfend, ihre Seelen von nichts außer Wahnsinn und Hass erfüllt. Tharek verdrängte die Bilder dessen, was sie sich gegenseitig angetan hatten, was Mütter ihren eigenen Kindern angetan hatten und Brüder ihren Schwestern. Gierig hatten sie ihre Gedanken auch nach den Fliehenden ausgestreckt, als Tharek und seine Begleiter die Schleuse hinter sich verschlossen hatten. Und mitten unter ihnen hatte reglos wie ein Fels das Wesen aus der Schwärze gestanden, dem sie sich alle geopfert hatten.
Und dieses Wesen hatte triumphiert.
Als Tharek aufs Meer hinausschaute, war nur noch die Spitze der zerborstenen Kuppel zu sehen. Es war fast vorbei. Obwohl beinahe tausend Lebensjahre auf der Erde ihn mit göttlichem Gleichmut beschenkt hatten, spürte er in diesem Moment eine tiefe Traurigkeit. So sehr sie den ungestümen Übermut der jungen Menschheit auch geschätzt hatten, eine Frage blieb nach all den Jahrtausenden offen, und diese Frage legte sich nun voller Bitterkeit auf seinen Geist:
Gab es im Wesen der Menschen einen Trieb, ein genetisches Vermächtnis, das sie anfällig machte für das Böse und Perfide? Etwas, das sie Dinge tun ließ, von denen sie wussten, dass sie falsch waren? War ihr Schicksal von Anfang an besiegelt gewesen?
War am Ende alles umsonst gewesen?
Tharek wandte sich um und blickte in die sorgenvollen Gesichter seiner Begleiter. Sie waren fünf, und das war alles, was geblieben war. Sie würden in die Berge gehen, sich verstecken und hoffen. Solange es Hoffnung gab. Für die Menschen würden sie jedoch aufhören, zu existieren. Sie würden ein Mythos werden, ein Märchen, das die Mütter ihren Kindern erzählten, damit sie an ein Licht glauben konnten im Angesicht der Dunkelheit, die auf ihren Planeten zuraste. Die Menschen wussten es noch nicht, aber tief in ihrem Inneren ahnten sie es bereits.
Die Menschen hatten ein Gespür für ihre totale Auslöschung.
Als er weiterging, presste er das kleine Päckchen eng an seinen Körper und stellte überrascht fest, dass er weinte. Er weinte um jene, die er geliebt hatte, weinte um seine edle Rasse, die an einem einzigen blutigen Tag mit ihrer Heimstatt im Meer und in der Vergessenheit versunken war.
Und er weinte um die Menschheit, der dieses Schicksal noch bevorstand.
Pragelpass, Muotatal, Schweiz. Gegenwart.
Als sie das Gipfelplateau erreicht hatten, fummelte der Alte aus den Taschen seiner Wanderjoppe eine kleine Pfeife und etwas Tabak hervor. Er beugte den Kopf, um im Windschatten seiner Hände die antike Holzpfeife anzustecken. Er blieb für einen Moment stehen und genoss den Geschmack des Rauchs und die Wärme, die von dem hölzernen Pfeifenkopf ausging. Der Alte schob sich den dunkelgrauen Filzhut in den Nacken und wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn. Hin und wieder sog er an der Pfeife und ein paar feine Wölkchen stiegen daraus empor. Sein nachdenklicher Blick folgte den davonschwebenden Rauchgespinsten und wurde skeptisch, als er die Wolken am nördlichen Horizont gewahrte. Graue Wolken, keine reinweißen. Dies mochten durchaus die Vorboten eines Gewitters sein, welches sich irgendwo hinter dem Bös Fulen zusammenbraute. Es wurde Zeit, dass sie vom Gipfelpass verschwanden.
»Los, Tobi, weiter!« sagte er leise zu dem Bernhardiner und der zottige Hund setzte sich in Bewegung.
Nachdenklich zog der Alte ein weiteres Mal an seiner Pfeife, dann setzte er seinen Marsch fort. Er schritt nun zügiger aus. In etwa einer halben Stunde würden sie den Gruebiwald erreicht haben – dann wären sie in Sicherheit. Vom Gruebi war es nicht mehr weit bis ins Tal, und die mächtigen Bäume des riesigen Forsts würden sie einigermaßen gegen Wind und Wetter schützen. Mit etwas Glück wären sie bereits daheim im Alpenhof, wenn hier oben auf dem Kamm das Inferno tobte.
Als der Alte und sein Hund den Waldrand erreichten, hatten sich die Wolken bereits zu einer dichten, schmutzig-grauen Wand zusammengeballt. Alois Suter schaute ein letztes Mal hinauf zum Kamm, bevor er den dichten Forst betrat. Nun war er sicher, dass es ein Gewitter geben würde, und zwar ein mächtiges.
Der Forst schlängelte sich zwischen den Ausläufern zweier Felsmassive hinab ins Tal. Riesige, uralte Eichen bildeten ein schattiges Dach über den dichten Kiefernbeständen und dem Dickicht am Wegesrand. Ein Teppich aus abgestorbenen Kiefernnadeln dämpfte die Schritte des Alten und seines Begleiters zu einem sanften Tapsen herab. Andachtsvoll betrat er den schattigen Gang zwischen den gigantischen, hölzernen Pfeilern, die ihre Zweige hoch in den Himmel reckten wie Emporen einer gigantischen, lebenden Kathedrale aus tiefem Grün. Säulen, die noch stehen würden, wenn die steinernen Kirchen dieser Welt bereits zu Staub zerfallen waren.
Tobi kümmerte die Andacht des Alten offenbar weniger. Das Temperament des Bernhardiners wollte weder so recht zu seinem fortgeschrittenen Alter noch zur sakralen Atmosphäre der Umgebung passen. Der große, träge wirkende Hund schlug sich mit einer Geschwindigkeit ins Unterholz, die ihm der Alte gar nicht zugetraut hätte, offenbar um einem kleinen Tier hinterherzujagen. Der massige Hund brach durch das Gebüsch am linken Wegesrand und war kurz darauf im dichten Forst verschwunden.
Der Alte blieb stehen und wartete ein paar Minuten. Er sah ein weiteres Mal hinauf zum Himmel, den das Geäst der Baumkronen nun größtenteils vor seinen Blicken verbarg. Das wenige, das er erkennen konnte, war schmutzig-grau und sah nach Regen aus.
Er stieß ein paar schrille Pfiffe aus, aber der Bernhardiner blieb verschwunden. Kein Rascheln im Gebüsch, kein reumütig zerknautschtes Hundegesicht, das beschämt aus dem dichten Unterholz hervorlugte. Nur das ewige Rauschen des Windes in den Wipfeln weit über ihm. Der Alte stand still und lauschte in den Wald hinein.
Da – ein kurzes Bellen! Leise, fast schon schüchtern. Es schien tief aus dem Inneren des Waldes zu seiner Linken zu kommen, gedämpft durch den dichten Bewuchs der Kiefern am Wegesrand.
Der Alte seufzte und begann widerstrebend, sich einen Weg durch das Unterholz in den dahinter liegenden Nadelwald zu bahnen. Das sah dem alten Hund ähnlich, sich im Übereifer seines spontan erwachten Jagdtriebs im Wald zu verlaufen! Der Baumbewuchs wurde bereits nach wenigen Metern so dicht, dass er nur ausgesprochen mühsam vorankam. Immer wieder musste er verrottenden Baumresten ausweichen, blieb an Büschen und Gestrüpp hängen. Die biegsamen Äste der Bäume schienen nach ihm zu greifen wie die Hände von hölzernen Wachposten. Störe unsere Ruhe nicht!
Als er schließlich das Ende des Baumbestandes erreicht hatte, bemerkte er, dass er eine Sackgasse erreicht hatte - vor ihm ragte ein steiler Felshang in die Höhe, der sich in beide Richtungen entlang des Waldrands erstreckte, soweit er sehen konnte. Zu beiden Seiten gab es nichts als dichter Nadelwald. Der Alte stieß ein paar schrille Pfiffe aus, rief erneut den Namen des Hundes. Horchte.
»Wuff?!«
Diesmal schien der Ursprung des Bellens näher zu sein, ja sogar aus seiner unmittelbaren Umgebung zu kommen. Allerdings klang der klägliche Laut nur gedämpft herüber – und schien direkt in dem Felsen vor ihm seinen Ursprung zu haben.
Der alte Mann betrachtete die Gesteinsformation, welche vor ihm in die Höhe ragte. Er hob einen Ast auf und klopfte damit gegen die raue Oberfläche. Massiver Stein, wie er vermutet hatte. Und doch war die Stimme seines Hundes von da drinnen gekommen, er war ganz sicher.
Er beugte sich hinab, um den Fels genauer in Augenschein zu nehmen. Eine Birke hatte sich mutig ihren Weg durch den Stein gebahnt – und war dabei in eine Lücke zwischen zwei Gesteinsplatten geraten. Irgendwann hatte die beharrliche Lebenskraft des emporwachsenden Bäumchens den Fels zum Bersten gebracht und dem jungen Leben einen Weg nach oben freigesprengt. Der Stamm der Birke hatte den Spalt im Laufe der Jahre immer weiter aufgedrückt, und irgendwann war der Fels in einen breiten Riss geborsten – breit genug, um einen gefräßigen alten Streuner hindurchzulassen, den der spontane Jagdtrieb überkommen hatte. Wahrscheinlich sogar breit genug für einen Menschen.
Der Alte beugte sich tiefer in den finsteren Spalt hinab. Dort unten gab es nichts als Schwärze. Schließlich, ganz leise – nahm er ein Hecheln wahr, und dann ein Bellen, noch immer schüchtern und furchtsam. Der Mann rief den Namen seines Hundes in die Dunkelheit, woraufhin dieser herbeitrottete und leise winselnd zu dem Alten hinaufstarrte. Offenbar war Tobi im Eifer der Verfolgungsjagd seiner Beute durch den Spalt hinterhergesprungen – und in die Falle gegangen. Für den alten Mann würde es keine leichte Aufgabe sein, den gut achtzig Kilo schweren Hund von dort unten hochzuhieven, aber er konnte Tobi schließlich kaum dort unten seinem Schicksal überlassen. Er würde sich in den Spalt zwängen und ihn irgendwie herausbugsieren müssen.
Er förderte ein kurzes Kletterseil aus seinem Rucksack zu Tage und befestigte es am Stamm der jungen Birke. Dann warf er das andere Ende in die Höhle hinab – kommentiert von Tobis erwartungsvollem »Wuff!«.
Anschließend entledigte er sich seines Rucksacks und quetschte ihn mitsamt des darin befindlichen zweiten Langseils durch den Spalt. Mit einem dumpfen Geräusch schlug es irgendwo unten im Inneren der Höhle auf. Der Alte zog prüfend an dem Seil und zwängte sich dann selbst durch den Riss. Zentimeterweise ließ er sich nach unten gleiten, hinab in die unbekannte Dunkelheit.
Als er den Grund der Höhle erreicht hatte, stellte er fest, dass er bequem darin stehen konnte. Sie musste gut drei Meter tief sein – ein Wunder, dass sich Tobi nicht wenigstens ein paar Knochen gebrochen hatte.
Kaum war er unten angekommen, wurde er von dem wild umherspringenden Tobi begrüßt, der den alten Mann im Überschwung seiner Freude beinahe von den Füßen fegte.
»Hey, langsam, mein Junge!«, sagte der Alte, während der Hund dazu überging, ihm ausgiebig die Hände abzulecken. »Wo bist du hier nur wieder hineingeraten, du alter Räuber?«, sinnierte der alte Mann, während er den Hund gedankenverloren hinter den Ohren kraulte. Das Echo seiner Worte klang seltsam hohl und verzerrt durch die Dunkelheit.
Der Alte kramte seine Stirnlampe aus dem Rucksack hervor. Der aufflammende LED-Scheinwerfer der LupineBetty tauchte das Innere des Felsens schlagartig in gleißendes Licht, wo er auf den Felsen traf. Die Wände waren mit Moosen und Flechten bewachsen – trügerischer Halt, sollte man auf diese Weise versuchen aus der Höhle zu gelangen. Auf dem Boden lagen ein paar lose Felsbrocken und die vertrockneten Überreste einiger kleiner Tiere.
Wie ein zitternder Finger aus Licht strich der Strahl der Grubenlampe über den rauen Fels, als der Alte sich umblickte. Die Höhle war offenbar weit mehr als nur ein breiter Felsspalt, sie war vielmehr der Beginn eines Tunnels, der tiefer in den Felsen führte, viel tiefer. In südlicher Richtung öffnete sie sich zu einem breiten Durchgang, dessen Ende auch die starke LED-Lampe nicht erreichen konnte.
»Sieh mal einer an, du Abenteurer, was haben wir denn da?«, murmelte der Mann und pfiff anerkennend durch seine Zähne. »Das werden wir uns wohl mal genauer ansehen.« Damit warf er sich den Rucksack auf die Schultern und befestigte den elastischen Stirngurt der Betty auf seinem Kopf, sodass er die Hände frei hatte. Dann trat er in den Tunnel.
Der Alte und sein Bernhardiner folgten dem Gang, der in leichtem Gefälle tiefer in den Berg führte. In Alois Suter war der Forschungseifer erwacht und er musste sich ermahnen, den Schritt seiner ungeduldigen Füße zu zügeln. Fast schnurgerade zog sich der Tunnel durch den Berg und noch immer war kein Ende in Sicht. Nach einiger Zeit wurde das Gefälle steiler. Die Kühle des Steins war hier unten stärker zu spüren, sie mussten bereits etliche Meter unter dem Niveau des Waldbodens draußen sein – der nun kaum mehr als eine ferne Erinnerung war. Im Eifer seiner Entdeckung hatte der Alte den Wald und das heraufziehende Gewitter völlig vergessen.
Der Alte musste hin und wieder den Kopf einziehen oder einen größeren Felsbrocken überwinden, doch davon abgesehen war der Gang recht gut begehbar.
Nach etwa einer halben Stunde gelangten sie an eine erste Gabelung und der Alte blieb stehen. Von hier führten drei Gänge in leichtem Gefälle tiefer in den Fels hinein. Aus der Erfahrung unzähliger Höhlenexpeditionen wusste er, dass es nicht ratsam war, in unbekanntem Gebiet mehr als ein paar solcher Gabelungen zu passieren – vorausgesetzt, man wollte irgendwann zum Ausgang zurück finden.
»Links, Mitte oder rechts, mein Junge?«, fragte er den Hund ernst, doch Tobi blickte nur treuherzig und etwas unentschlossen zu ihm empor. »Gut, dann nach rechts. Ganz wie du meinst.«, sagte der alte Mann und sie setzten sich wieder in Bewegung, nachdem er die Wand des rechten Abzweigs mit einem großen X markiert hatte.
Stalaktiten hingen wie steinerne Eiszapfen von der Decke des Gangs und erschwerten das Vorwärtskommen für den Alten und seinen treuen Vierbeiner. Die zuckenden schwarzen Schatten, die das gleißende Licht der Betty warf, wirkten im Vorübergehen wie vorsintflutliche monströse Schlingpflanzen, deren wogende Tentakel nach den Eindringlingen zu greifen schienen.
Schließlich endete der Weg abrupt an einer besonders skurrilen Gesteinsformation. Von der Decke hängende Stalaktiten und ihre vom Boden in die Höhe wachsenden Gegenstücke waren sich im Laufe der Jahrtausende auf halber Höhe entgegengekommen, hatten sich schließlich vereint und bildeten nun eine Art Gitter, wie die Stäbe eines uralten, steinernen Verlieses. Der alte Mann nahm die Lampe vom Kopf und streckte sie durch die Lücken in dem steinernen Gebilde vor sich. Hinter dem Gitter weitete sich der Tunnel zu einem breiten Durchgang und dahinter lag Finsternis, die auch der starke Schein der Betty nicht auszuleuchten im Stande war.
Offenbar führte der Gang in eine gigantische Kaverne – so groß, dass es dem Alten von seiner derzeitigen Position aus unmöglich war, die gegenüberliegende Wand auszuleuchten.
»Das müssen wir uns noch ansehen, Tobi – und danach kehren wir erst mal um«, sagte der Alte und trat kurzerhand gegen die vorstehende Tropfsteinformation, die ihnen den Weg zur Kaverne versperrte. »Da werden wir auf unsere alten! ...Tage! ...noch! ...zum! ...Schläger!«, keuchte er und tat einen weiteren wuchtigen Hieb gegen das Gestein, was einen ohrenbetäubenden Lärm hervorrief, der vielfach verstärkt von den Wänden zurückgeworfen wurde. Tobi kläffte aufgeregt die Steine an – offenbar war der Hund nun auch vom Entdeckerfieber gepackt. Schließlich barst der schmalste der Stalaktiten mit einem lauten Krachen und gab den Weg zum Durchgang frei. Er gebot Tobi, vor dem Eingang zu warten – niemand wusste, was ihn in der Kaverne erwarten würde und der Hund hatte sie beide für heute wahrlich in genug Schlamassel gebracht. Dann zwängte sich der Alte durch das Loch in die dahinter liegende Finsternis.
Als er in den Durchgang trat, befürchtet er für einen atemlosen Moment, dass seine Grubenlampe urplötzlich erloschen sei – so vollkommen war die Finsternis, die ihn umgab. Er drehte den Kopf nach rechts und plötzlich starrte er in gleißendes Licht, so hell, dass er geblendet die Augen zusammenkniff. Und während vor seinen geschlossenen Lidern kleine Lichtkreise tanzten, begriff er, dass mit seiner Lampe alles in Ordnung war. Die Höhle, die er betreten hatte, war nur einfach zu groß, als dass der kräftige Strahl der Betty die gegenüberliegende Wand hätte erreichen können.
Als die zuckenden Lichtkreise nach einer Weile verschwanden, öffnete er die Augen und schickte den Lichtstrahl erneut in die Dunkelheit. Diesmal tastete er sich behutsamer durch die Finsternis, Stück für Stück riss die Lampe Schemen aus der Schwärze und allmählich erkannte der Alte die wahren Ausmaße der Kaverne. Sie war in der Tat gigantisch.
Hin und wieder verhallte ein leises Tropfgeräusch an den steinernen Wänden der Höhle und der Alte vermeinte ein fernes Rauschen wahrzunehmen, wie das Heulen eines Windes, der durch die Kaverne strich. Der Weg zu seinen Füßen ging nach wenigen Metern in einen schmalen Grat über, kaum mehr als ein Überhang von vielleicht zwanzig Zentimetern Breite, der steil in unergründliche Tiefen abfiel. Unregelmäßig gezackt verlor sich der Vorsprung in der Ferne, schien dort schmaler zuzulaufen, bis er schließlich eins mit der Steilwand wurde. Hier, nahe am Eingang, war der Sims noch breit genug, um einigermaßen sicher ein weiteres Stück in die geheimnisvolle Höhle eindringen zu können.
Also betrat der Alte vorsichtig den schmalen Sims und tastete sich an der Felswand entlang, stets sorgsam darauf bedacht, den nächsten Wegabschnitt erst mit der Spitze seines Bergstiefels zu testen, bevor er das gesamte Gewicht seines Körpers auf die betreffende Stelle legte.
Nachdem er auf diese Weise ein paar Schritte in die Höhle vorgedrungen war, schaute sich der Alte erneut um. Der Abhang unter dem kaum fußbreiten Sims ging weiter unten in eine eine steil abfallende Geröllhalde über und verlor sich in der dunklen Tiefe. Die Steilwand, an der er lehnte, während er sich auf dem Sims entlangtastete bildete etliche Meter über ihm die zerklüftete Decke der Kaverne.
Alois Suter lächelte. Dank Tobis Ungeschick hatte er heute eine gewaltige Entdeckung gemacht. Dies musste ein bislang völlig unbekannter Teil des Hölloch-Systems sein – allein die schieren Dimensionen der Höhle stellten alle bisher bekannten Gruben weit in den Schatten!
Äußerst zufrieden mit sich und der Welt – und nur eine Winzigkeit zu überschwänglich – machte der Alte auf dem Absatz seiner robusten Bergstiefel kehrt, um …
Sein Fuß gleitet auf einer lehmigen Pfütze aus, die er vorher nicht bemerkt hatte. Strauchelnd sucht er nach Halt. Der Abgrund! Nein, nicht in den Abgrund! Muss greifen, etwas packen – er ertastet im Vorübergleiten einen Stein. Ein Halt im Fels, er packt ihn. Nein, der Stein entgleitet seinen Fingern. Das Gewicht seines Körpers zieht den Alten unbarmherzig unten, in die Tiefe.
Sein Fuß rutscht über einen Felsspalt, er versucht, ihn hineinzuzwängen, krallt sich regelrecht in das Gestein. Doch etwas im Felsen bricht, gibt nach und dann ist plötzlich alles in Bewegung. Der Alte verliert erneut das Gleichgewicht, rutscht und – fällt. Seine Grubenlampe wirft tanzende Schatten an die fernen Wände der gigantischen Höhle, während er auf die Schwärze zurast. Mit einem dumpfen Krachen schlägt er auf dem geröllübersäten Abhang auf. Und noch immer rutschen die Gesteinsmassen unaufhörlich in die Tiefe. Er streckt die Arme aus, um nach dem Fels zu greifen, doch hier gibt es nichts als lose Gesteinsbrocken, die sich unter seinen Bewegungen lösen und polternd in die Tiefe rutschen.
Die Steine reißen ihn mit sich, so sehr er auch strampelt und kämpft. Der Staub, den sie aufwirbeln raubt ihm die Orientierung und dringt ihm in Ohren, Nase und Mund. Unaufhaltsam rutscht die Lawine mit ohrenbetäubendem Getöse weiter, und er mit ihr. Das Rumpeln hallt dröhnend von den fernen Wänden wider, tausendfach verstärkt und verzerrt zurückgeworfen von der Decke hoch oben über ihm. Der gnadenlosen Sog der Steinmassen zieht ihn tiefer hinab, er schlägt sich Knie und Ellenbogen an den Felsen auf, und ein großer Stein zischt haarscharf an seinem Kopf vorbei.
Instinktiv rollt sich der alte Mann zusammen, presst Arme und Beine eng an den Körper. Verzweifelt zieht er den Kopf zwischen seine Schultern wie eine Schildkröte, während er mit rasendem Tempo – als Teil der von ihm ausgelösten Lawine – den Schräghang hinabschliddert, bis zum Boden der Kaverne. Tobi, denkt er – und dann wird auch dieser Gedanke vom Getöse um ihn herum verschlungen. Sein Kopf knallt ungebremst an etwas Hartes – ein dumpfer Schmerz in seiner Schläfengegend und dann ... nichts mehr.
Allmählich kam der alte Mann wieder zu sich. Blutig rote Schlieren wechselten sich vor seinen Augen mit der drohenden Schwärze einer erneuten Ohnmacht ab. Mühsam öffnete er die schmerzenden Augen. Dunkelheit, das schwache Fluoreszieren des sich setzenden Staubs. Wie der erste Schnee in einer Winternacht, dachte er benommen. Seine Betty funktionierte also noch. Dann schloss er die Augen wieder.
Die Schlieren tanzten weiterhin, aber ihr Ansturm auf sein Gesichtsfeld hatte bereits etwas nachgelassen. Wie aus weiter Ferne dämmerten die Schmerzen in seinen Gliedern herauf, und dann waren sie schlagartig da. Der pochende Schmerz schien plötzlich überall zu sein, riss an seinen Gliedern und schien seinen Kopf zum Bersten bringen zu wollen. Der Schock war so heftig, dass er für den Moment nicht in der Lage war, den Ursprung der Pein zu bestimmen – sein gesamter Körper schien nur aus Schmerzen zu bestehen. Er schloss die Augen und ließ sich kraftlos bebend wieder zurücksinken. Dann wartete er, schmutzig und verkrümmt, das Gesicht verzerrt in einem stummen Aufschrei der Pein, bis sein Körper sich an die Qualen gewöhnt hatte. Es dauerte eine Ewigkeit.
Allmählich begann er, wieder einzelne Empfindungen in dem rotglühenden Ball zu unterscheiden, der durch seinen Körper raste. Seine linke Schulter fühlte sich irgendwie falsch und taub an und sandte glühende Wellen der Agonie durch seinen Oberkörper. Er bemerkte, dass sein linker Arm von der Schulter an abwärts taub war, ein Gefühl, als hätte ein irrer Sadist einen steinernen Fremdkörper an seinen Rumpf genäht und diesen mit seinen Nervenbahnen verbunden. Mittels eines Lötkolbens.
In seiner linken Schläfe, die sich seltsam weich anfühlte, tobte ein kräftiges Pochen. Er tastete danach und spürte ein wenig klebrige Flüssigkeit, welche in seinem Haaransatz versickerte.
Noch immer auf dem großen Stein ausgestreckt, versuchte er, seine unteren Gliedmaßen zu bewegen und stellte fest, dass er außer einem funktionstüchtigen rechten Arm noch zwei gesunde Beine hatte, in Anbetracht des Sturzes, den er hingelegt hatte, ein beachtliches Wunder. Lediglich seine Fußknöchel, besonders der rechte, waren lädiert und von tiefen Schürfwunden überzogen. Morgen würden sie eine tiefe blau-schwarze Färbung angenommen haben.
Er hob mühsam den Kopf und öffnete erneut die Augen. Diesmal funktionierte es recht gut. Keine Schmerzen am Genick oder der Wirbelsäule, stellte er erleichtert fest, und nur ein leichtes Ziehen an den Rippen, wenn er tief einatmete. Er sah sich um. Der Staub, den der Gesteinsrutsch um ihn herum aufgewirbelt hatte, hatte sich gesetzt und gab nun nach und nach das Sichtfeld in seiner Nähe frei. Im Schein der unverwüstlichen Betty offenbarte sich ihm das ganze Ausmaß der gewaltigen Geröllhalde, die er hinabgerutscht war.
Er lag inmitten einiger großer Felsbrocken am unteren Ende der mehrere hundert Meter langen Gesteinsaufschüttung, und somit am eigentlichen Boden der Kaverne. Eben jenem Boden, den er vom Sims aus noch nicht einmal hatte erahnen können.
Ein ängstliches Kläffen erscholl irgendwo weit über ihm. Verzerrt zurückgeworfen von den Wänden der Höhle, regte es die pochenden Schmerzen in seinen Schläfen zu neuen Höchstleistungen an. Das Geräusch holte ihn vollends in das Hier und Jetzt seiner Misere zurück.
Tobi. Er stand noch immer oben auf dem Felsvorsprung – Gott allein mochte wissen, wie viele Meter weiter oben.
Der Hund winselte voller Sorge um seinen Herrn, dessen Grubenlampe zu einem fernen Lichtpunkt in der ewigen Nacht am Boden der gigantischen Kaverne geworden war.
»Alles … in Ordnung, Tobi …«, versuchte der alte Mann zu sagen. Heraus kam wenig mehr als ein heiseres Krächzen, begleitet von einem stechenden Schmerz in seinem Hals. Er musste husten und schmeckte etwas Staubiges auf seiner Zunge, was sich mit seinem Speichel zu einem brockigen Klumpen vermischte. Er spie es auf den Boden vor seinen Füßen.
Der Alte tastete nach dem Rucksack auf seinem Rücken. Er war tatsächlich noch an seinem Platz und möglicherweise hatte ihn lediglich das darin verstaute Langseil sogar vor einer ernsthaften Verletzung der Wirbelsäule bewahrt. Er holte das große Taschentuch aus der Seitentasche, knabberte dessen Saum durch und riss es schließlich mithilfe seiner gesunden Hand in zwei Teile. Als er es mit seinen Zähnen abriss, jagte die plötzliche Bewegung einen stechenden Schmerz durch seinen linken Arm, den er bis hinauf zur Schläfe spürte. Sein linker Arm war glatt gebrochen.
Als der Schmerz abklang, machte er weiter. Mit der einen Hälfte des Taschentuchs verband er notdürftig seinen angeschlagenen Kopf, um die Blutung aufzuhalten, mit der anderen versuchte er anschließend eine Schlaufe für den verletzten Arm zustande zu bringen. Beide Vorhaben gestalteten sich ausgesprochen schwierig, da er nur eine gesunde Hand und seine Zähne zur Verfügung hatte, doch schließlich schaffte er es, sich auf diese Weise provisorisch zu verarzten. Mit den Zähnen zog er den Knoten des behelfsmäßigen Schlaufenverbandes fest und hievte sich dann auf dem großen Stein, zu dessen Füßen er seine Rutschpartie so abrupt beendet hatte, in eine aufrechte Position.
Langsam drehte sich der alte Mann auf seinem steinernen Sitz um und schaute nachdenklich in den Teil der Höhle, dem er bislang den Rücken zugekehrt hatte. Aus gutem Grund, wie es schien, denn dort erhob sich nur eine meterhohe Felswand, zu deren Füßen sich unzählige Gesteinsbrocken auftürmten. Hier war die von ihm ausgelöste Steinlawine zu einem jähen Halt gekommen, einige der größeren Felsbrocken waren regelrecht in die Wand eingeschlagen. Wäre er in der Nähe eines solchen Felsens gelandet ...
Nachdenklich stellte der Alte die Intensität seiner Stirnlampe nach, um die Felswand vor sich genauer betrachten zu können. Behutsam kletterte er auf einen der kleinen Berge aus Schutt und Steinen, den die Lawine an den Fuß der Felswand gespült hatte.
Als er den Gipfel der Aufschüttung erklommen hatte, wäre er um ein Haar gleich wieder heruntergepurzelt. Ein kleiner Gesteinsbrocken an der Spitze der Aufschüttung gab überraschend nach, als er drauftrat. Der Alte federte zurück, verlagerte sein Körpergewicht und kickte noch einmal vorsichtig nach dem Stein, der daraufhin mit einem gedämpften Poltern in der Felswand verschwand. Offenbar hatte die Lawine den Fels an dieser Stelle glatt durchschlagen und der kleine Stein war in einen dahinter liegenden Hohlraum gerollt. Der Alte stieß mit dem Absatz seiner Bergschuhe an den nächsten, etwas größeren Brocken, der den gleichen Weg durch den Felsen nahm. Eine Chance, vielleicht.
Energisch trat der Alte einige weitere kleine Steine weg und brachte unter lautstarkem Ächzen schließlich auch einen der größeren Gesteinsbrocken ins Rutschen. Alle verschwanden in der Wand.
Von neuem Elan beflügelt, begann der Alte, den kleinen Geröllberg Stein für Stein abzutragen, wobei er sorgsam darauf achtete, den neu gewonnenen Zugang nicht durch nachrutschendes Gestein zu verschütten. Nach etwa einer halben Stunde hatte er den Durchbruch in den Felsen ausreichend freigelegt, um hindurchschlüpfen zu können. Auf der Seite liegend, um seinen verletzten Arm nicht zu belasten, glitt er – vor Anstrengung schnaufend und so vorsichtig es eben ging – den Schuttberg hinab und in die Felswand hinein.
Der Schein der Betty offenbarte ihm, dass die Lawine die Felswand tatsächlich an einer dünneren Stelle erwischt und glatt durchschlagen haben musste. Er rutschte vollends in das Loch hinein und kam schließlich auf einem wackligen, kleinen Steinplateau zum Stehen. Nachdem er ausgiebig dessen Stabilität getestet und für ausreichend befunden hatte, erhob er sich schwerfällig auf seine Beine, wobei er sich mit der gesunden Hand am oberen Rand des gezackten Loches abstützte. Wie ein Artist, der einen besonders komplizierten Jonglagetrick aufführt, balancierte er auf der Steinplatte – und wäre beinahe erneut in einen bodenlosen Schlund gestürzt.
Zu seinen Füßen gähnte ein Abgrund. Tiefer, als es hier unten überhaupt möglich schien, fiel die Steilwand unter ihm ins Bodenlose ab. Also doch – nach all der Plackerei – nur eine weitere Sackgasse. Und zum ersten Mal kam dem alten Mann der Gedanke, dass er hier unten sterben würde.
Suter hielt inne und lehnte sich an die Felswand, dann rutschte er in eine sitzende Position. Seine Lampe warf nur einen schwachen Schein auf die gegenüberliegende Seite des Abgrunds, dazwischen klaffte die Schlucht. Der Alte griff sich einen der herumliegenden Steine und wog ihn stumm in seiner Hand.
Nachdenken. Und Licht sparen.
Er knipste die Betty aus. Horchte in die Stille hinein, die hier unten so absolut und endgültig war wie in einer gigantischen Gruft.
Nein, dachte er, das stimmte nicht. Das gleichmäßige, leise Rauschen drang wieder an den Rand seiner Wahrnehmung vor. Es war kein Wind. Und es kam auch nicht aus seinem Kopf, war keine Nachwirkung des Sturzes. Vielmehr schien das Geräusch aus der Tiefe des gähnenden Schlundes zu seinen Füßen zu kommen. Eine Art fernes, beruhigendes Murmeln, verzerrt zurückgeworfen und emporgetragen von den meterhohen Felswänden.
Er brauchte eine Weile, bevor er sich eingestand, was er da zu hören glaubte. Doch, tatsächlich – unter ihm musste sich ein Wasserlauf befinden – dem fernen Plätschern nach zu urteilen allerdings kaum mehr als ein schmales Bächlein – und dennoch: auch dieser Bach musste irgendwo in einen Fluss münden, um irgendwann im fernen Meer anzukommen wie alle fließenden Gewässer.
Und er hatte noch das Langseil im Rucksack. Einen Versuch war es vielleicht wert.
Schließlich warf er den Stein in die Schlucht zu seinen Füßen. Nach einiger Zeit drang ein deutlich vernehmbares »Platsch!« herauf. Treffer! Wenn er auch momentan nicht mehr viel hatte, an das es sich zu klammern lohnte – nun hatte er immerhin ein bisschen Hoffnung. Und einen Plan. An sich war es ein einfacher Plan – seine Durchführung würde sich jedoch als ausgesprochen schwierig erweisen.
Jedes fließende Gewässer führt zwangsläufig aus dem Berg hinaus.
Das Problem lag darin, dass er momentan hier oben saß, viele Meter über dem Fluss. Und er war kein Stein. Sein »Platsch!« würde wesentlich lauter sein – und mit Sicherheit tödlich. Er musste also einen weniger direkten Weg nach unten finden – oder es zumindest versuchen.
Erneut knipste er die Betty an. Die starke LED-Leuchte tauchte seine Umgebung sofort in unbarmherzig grelles Licht. Er wandte den Blick nach unten und sah zwischen seinen baumelnden Füßen in den Abgrund hinab. Er vermeinte, nun auch die Reflexionen der dünnen Wasserschnur auszumachen, die sich am Grund der Steilwand unter ihm entlang schlängelte. Verdammt tief unter ihm.
Sein Blick glitt aufmerksam über die Felswand zu seinen Füßen. Nach etwa einer halben Stunde des intensiven Starrens hatte sich der erfahrene Kletterer die wesentlichen Trittstellen in der Wand eingeprägt.
Er wuchtete das aufgewickelte Langseil aus dem Rucksack, der nur mehr den kläglichen Rest seines Proviants und ein paar verbrauchte Ersatzakkus für die Betty enthielt, und entrollte das Seil. Er schlang einen festen Knoten hinein, einen Sackstich, wobei er wiederum seine rechte Hand und seine Zähne benutzte. Dann klemmte er das verknotete Ende in einen Felsvorsprung und riss einige Male prüfend daran. Er warf einen letzten Blick zurück in die Kaverne, in deren schwarzer Tiefe er noch immer Tobi vermutete (was allerdings nicht stimmte – der Hund war bereits umgekehrt und suchte nach einem Ausgang aus dem Berg). Der Alte warf das lose Ende des Seils in die Schlucht hinab. Er zog die schweren Bergstiefel von den Füßen und stopfte sie in seinen Rucksack. Viel zu klobig, um an der steilen Wand einigermaßen sicher klettern zu können. Aber später würden sie vielleicht nützlich sein.
Ohne weiteres Zögern schlang er sich das Seil um den Rumpf und führte es mit der Hand seines gesunden rechten Arms. Dann begann er, sich die Felswand herabzulassen. Seine nackten Füße gegen den Felsen stemmend versuchte er, sein Gewicht so zu verteilen, dass er sich allein mit der gesunden Hand am Seil hinablassen konnte – ein Kraftakt, dessen Gelingen er vor allem seiner jahrzehntelangen Klettererfahrung verdankte - manch jüngerer Mann hätte dieses Kunststück nicht zustande gebracht.
Die Muskeln seines rechten Oberarms waren zum Äußersten angespannt, als er dem Vorsprung etliche Meter unter ihm entgegenstrebte. Immer wieder drohte sein vor Schmerzen schreiender Körper aufgeben zu wollen, aber der Kraft schierer Verzweiflung krallte sich seine Hand um das Seil, das tiefe, blutende Striemen in die Innenseite seiner Handfläche schnitt. Sein Körper war jetzt eine einzige, sehnige Muskelfaser, die er bald hierhin, bald dorthin bog, um sein Gewicht am Seil besser verteilen zu können. Zentimeter um Zentimeter arbeitete er sich die Wand hinab, während der Schweiß in einem steten Rinnsal an seinem Körper herunterlief.
All dies drang kaum ins Bewusstsein des konzentrierten Kletterers. Nach Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, erreichte er ächzend und keuchend den winzigen Vorsprung zwanzig Meter unter dem Punkt, an dem sein Abstieg begonnen hatte. Vorsichtig öffnete er die Hand und gab das Ende des Seils frei, als seine Füße auf dem schmalen Sims einen einigermaßen sicheren Halt gefunden hatten.
Bis hierhin hatte er das Seil gehabt, aber nun gab es kein Zurück mehr, von jetzt an würde der winzigste Fehltritt tödlich sein.
Erst jetzt bemerkte er die Schmerzen in seinen Kiefergelenken, wo sich seine Zähne mahlend aufeinandergepresst hatten. Er öffnete den Mund und machte ein paar Grimassen, um die Gesichtsmuskeln zu entspannen. Dann konzentrierte er sich erneut auf den Fels. Er drückte seinen Körper an die Wand, presste sich regelrecht in das Gestein hinein – nunmehr allein auf die Kraft seiner Füße und eines verbliebenen Arms gestellt. Dann öffnete er langsam die Augen und betrachtete die schier endlos verlaufende Steilwand zu seiner Linken.
Er warf einen letzten Blick auf das baumelnde Seilende vor seinem Gesicht, dann wischte er seine blutige, verkrampfte Rechte bedächtig an der Hose ab – das Gesicht und den ganzen Körper unverwandt an den Stein gepresst. Er spannte und entspannte die Muskeln seiner Hand und krallte dann die Finger in einen schmalen Spalt in der Felswand, um seinem Körper den nächsten Kraftakt aufzuzwingen. Anschließend schob er seinen linken Fuß Zentimeter für Zentimeter den Vorsprung entlang und verbog seinen Oberkörper, bis jede Faser seines Rumpfes schmerzte. Als er erneut sicheren Halt unter seinen Füßen spürte, dehnte er sich langsam zurück, während seine Hand tastend den nächsten Halt in der glatten Oberfläche fand. Jede Wiederholung dieser mühseligen Prozedur in schwindelerregender Höhe brachte ihn seinem Ziel ein paar Zentimeter näher.
Er betrieb diese erschöpfende Aktion beinahe eine Stunde lang – ungeachtet der Schmerzen und seiner Erschöpfung. Der raue Fels hatte seine Jacke und Hose aufgescheuert, sie hingen nur mehr in Fetzen an ihm. Eine dicke Kruste aus Dreck und Blut bedeckte seinen Körper. Aber der alte Suter kletterte weiter.
Als er schließlich den Felsspalt erreichte, der den nächsten Abschnitt seiner Route markierte, war ihm bereits jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen. Von hier wollte er den direkten Abstieg ins Tal vornehmen – gut und gerne fünfzig Meter spiegelglatter Fels, und diesmal ohne Halteseil.
Suter schloss die Augen und verharrte eine Weile reglos in die Wand gepresst, versuchte, das Reißen in seinen Gliedern zu ignorieren, zu ignorieren, wie erschöpft er bereits war. Er würde den weiteren Abstieg nicht schaffen. Nicht ohne Seil und nicht in seinem Zustand. Er öffnete die schmerzenden Lider und sah sich um.
Hier gab es einen senkrechten, gezackten Riss im Gestein, den er sich als Anhaltspunkt eingeprägt hatte. Wenig mehr als Loch im Berg und eine von dort senkrecht nach unten verlaufende Spalte, die er als Haltegriff für den Weg nach unten vorgesehen hatte. Allerdings hörte diese Spalte bereits wenige Meter unter ihm unvermittelt auf und danach kam nur die Wand. Kein guter Plan.
Hier oben allerdings, da wo sie ihren Ursprung hatte, klaffte die Spalte zu einem breiten Riss auf, der tiefer in den Felsen führte, eine Höhlung, vielleicht? Breit und tief genug, um sich zu setzen und zu verschnaufen, nur für einen Moment?
Er rutschte ein paar weitere Zentimeter auf das Loch im Felsen zu und stellte fest, dass es tiefer war, als er zuerst angenommen hatte. Tatsächlich klaffte ein Tunnel von gut zwei Metern Durchmesser in der Wand. Mit einem Schlag machten sich seine schmerzenden Muskeln wieder bemerkbar. Ein paar Meter noch – dann würde er Halt machen und rasten können.
Mühsam zwang er sich selbst dazu, Ruhe zu bewahren, während er weiter auf die Vertiefung zukroch. Schließlich war er nah genug, um einen Fuß darin abstellen zu können, und dann zog er sich ächzend hinein. Für einen Moment schwankte er bedenklich unsicher über dem meterhohen Abgrund, bevor er sich mit einer letzten, übermenschlichen Kraftanstrengung herumschwang und seinen Körper schließlich in das Loch hineinwarf.
Das Letzte, was der alte Mann im schwächer werdenden Schein der Betty wahrnahm, als er in der kreisrunden Aushöhlung zusammenbrach, war ein merkwürdiges, in die Innenwand der Vertiefung gehauenes Symbol.
Dann schlug die Finsternis über ihm zusammen.
Der alte Mann erwachte aus einem sanften Dösen. Er streckte seine Glieder in dem samtbezogenen Ohrensessel aus und sein Mund verzog sich zu einem herzhaften Gähnen. Offenbar war er bei der abendlichen Lektüre des Boten wieder einmal eingenickt. Das Feuer im Kamin der kleinen Wohnstube tauchte den Raum in rot-goldenes Zwielicht. Es war fast heruntergebrannt und die nächtliche Kühle begann bereits, sich in den Raum zu schleichen. Jenseits des Fensters herrschte nun nichts als undurchdringliche Schwärze, die Nacht war schon vor Stunden angebrochen. Ungewöhnlich früh für diese Jahreszeit, fand der Alte, machte sich aber weiter keine Gedanken darüber. Er dehnte sich ein weiteres Mal in dem weichen Polstermöbel und setzte sich dann aufrecht. Seine Hand tastete nach unten, an die Stelle vor dem Kamin, wo er den Hinterkopf seines Bernhardiners Tobi vermutete. Doch er griff ins Leere. Auch das sanfte Hecheln des großen Hundes war nicht zu hören – tatsächlich war es ungewöhnlich still in dem kleinen Raum.
Die zerwühlte Spieldecke vor dem Kamin war leer, unangetastet der große Wassernapf aus Blech, daneben der zerkaute Spielknochen. Aber keine Spur von dem Hund.
Der Alte erhob sich bedächtig aus seinem Sessel, faltete den Boten zusammen und legte die Zeitschrift auf die glimmenden Holzscheite im Kamin. Fasziniert beobachtete er, wie sich auf dem dünnen Zeitungspapier bräunliche Flecken bildeten, alsbald schwarz wurden und sich zu einer rissigen Haut aus verkohlten Fetzen zusammenzogen, welche in der Glut zu Asche vergingen. WIE AUCH DU ZU ASCHE VERGEHEN WIRST. WIE IHR ALLE VERGEHEN WERDET!
Ein scharfes Bellen riss ihn aus seinen Gedanken. Tobi!
Das abgehackte Kläffen kam von draußen – offenbar ein gutes Stück vom Haus entfernt. Missmutig begab der Alte sich zur Tür und trat hinaus in den Wald.
Der Alte lief in die Richtung, aus der das Bellen gekommen war. Irgendwo vor ihm im pechschwarzen Forst, irgendwo tief in der Dunkelheit ...
Der uralte Forst wirkte in der Finsternis dichter als sonst, abweisend und – feindselig? Der Alte lief tiefer in den Wald hinein, dem gelegentlichen Kläffen seines treuen Hundes folgend. Zweige streichelten wie sanfte Finger sein Gesicht, glitten forschend und tastend an ihm herum. Ein Gefühl, welches ihm nicht gänzlich unangenehm war – es war anregend und von einem sanften Entzücken begleitet. Der Alte spürte das verlangen, über die raue Rinde zu streichen, sie mit den Fingern zu erforschen, zu liebkosen und … Die Bäume um ihn herum schienen plötzlich dichter zu stehen, fast so, als bewegten sie sich langsam auf ihn zu. Als hießen sie ihn in ihrer Mitte willkommen, damit er eins würde mit ihnen.
Ein neuerliches Bellen, lauter diesmal, direkt vor ihm, fast greifbar nah. Fragend. Unsicher. Ängstlich?
Er lief tiefer hinein in die Dunkelheit des Waldes. Wie lange war es her, dass er aufgebrochen war, um nach Tobi zu suchen? Ihm kam es vor, als irre er schon seit Stunden durch den endlosen Forst. Oder waren es Tage? Er verharrte für einen Moment und schaute zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Versuchte, sich zu orientieren. Von seinem Haus jenseits der Bäume war jedoch nichts zu sehen. Kein Licht durchbrach die Finsternis von da, wo sich das anheimelnde Wohnzimmer des Alpenhof hätte befinden müssen.
Die riesenhaften Baumstämme standen eng beisammen und ihr dichtes Blätterdach gab nur gelegentlich zerrissene Fetzen des wolkenverhangenen, sternenlosen Nachthimmels frei. Und vermutlich war es besser, dass er diese Sterne nicht sehen konnte.
Wieder ein Geräusch. Ein Winseln. Und dann ein lautes, klägliches Aufjaulen, das abrupt verstummte.
Als er herumfuhr, gewahrte der Alte zwischen den finsteren Stämmen eine mondbeschienene Lichtung, die er vorher überhaupt nicht bemerkt hatte. Die mächtigen Laubbäume gingen hier allmählich in kleinere, verkrüppelte Astgeflechte über. Diese wogten wie dürre Arme zu einem Hügel hinauf, dessen Kuppe gänzlich frei von jedem Baumbewuchs war. Lediglich einige Gräser und trockenes Gestrüpp bedeckten den kargen Boden wie eine ungesund wuchernde Flechte. Ein kränkelnder Vollmond beschien die unwirkliche Szene – ungewöhnlich nah und aufgedunsen hing er über dem kahlen Hügel und warf sein blässliches Licht auf die Erhebung und den seltsamen, großen Stein auf deren Kuppe.
Der an ein vorzeitliches Kultobjekt erinnernde schwarze Felsblock verströmte eine Aura unheimlicher Fremdartigkeit und unvorstellbaren Alters – ein Eindringling, dessen Geschichte lange vor der allen Lebens auf der Erde begonnen hatte, ein widerwärtiger uralter Abszess auf dem Gesicht des jungen Planeten, abstoßend und grauenerregend.
Der Alte kämpfte sich durch die knöchelhohen, klebrigen Gewächse aus dem Unterholz des Waldrandes und betrat die Lichtung. Sein Blick wurde unbarmherzig von dem grob behauenen steinernen Ungetüm auf der Hügelkuppe angezogen – einvorzeitlicher Findling von wahrhaft gigantischen Ausmaßen. Über drei Meter lang und gut zwei Meter breit, bildete der Felsbrocken auf dem Hügel die höhnische Nachahmung eines zyklopischen, schwarzen Sarges. Der Alte trat näher heran. SIEH HIN, SIEH GENAU HIN, ALTER MANN! S'IST EIN ANBLICK, DER SICH WIRKLICH LOHNT!
Auf dem schorfigen Steinaltar schien ein kleines Bündel zu liegen, das den alten Mann unwillkürlich an eine schmutzige und völlig zerfetzte Version der Wolldecke vor dem heimischen Kamin denken ließ. Der blasse Mond tauchte den Stofffetzen in ein fahles, unwirkliches Licht und ein unnatürlich lauer Wind spielte mit einigen losen Enden und verwitterten Falten des modrigen Stoffs. Aus dem achtlos hingeworfenen Bündel quoll eine dunkel schimmernde Flüssigkeit und rann über den monströsen Altarstein. Der Alte tauchte widerstrebend einen Finger in die klebrige Flüssigkeit. JA, TAUCH IHN HINEIN, DEINEN FINGER UND SCHLECK SIE AB, MEINE KÖSTLICHE, KÖSTLICHE SÜßIGKEIT!
Er stellte fest, dass er sich in der Farbe geirrt hatte – tatsächlich war die träge Flüssigkeit nicht schwarz, sondern von einer tiefroten Färbung. Wie Sirup gerann der schleimige Brei an der Seitenwand zu dicken Klumpen, bevor er im Waldboden versickerte. Fast wie ...
In diesem Moment schob sich der gnadenlose Schimmelmond hinter den Wolken hervor und gab dem alten Mann endgültig den Blick auf das Lumpenbündel frei, das verdreht und falsch auf dem Monolithen lag. Ein Bündel, das in Wahrheit nicht aus Wolle oder Leinen bestand – sondern aus den zertrümmerten Knochen und dem ausgeweideten Körper seines getreuen Bernhardiners Tobi. Jemand oder etwas hatte den großen Körper des Hundes wie den einer Puppe zerfetzt und Teile aus diesem Körperherausgerissen.
Aus der dampfenden Masse von Fell, Fleisch und Eingeweiden, die einst sein treuer, vierbeiniger Gefährte gewesen war, starrte ihm ein einzelnes, fürchterliches Hundeauge blicklos entgegen.
Die Finsternis über dem Alten türmte sich zu einem zuckenden Schatten auf, der die traurigen Reste des toten Hundekörpers verdunkelte und die ganze Lichtung in Schwärze tauchte. Der alte Mann drehte sich langsam um, gegen seinen Willen, jedoch – er konnte nicht anders. Denn es war seine Bestimmung, das zu erblicken, was hinter ihm in den Schatten gelauert hatte.
Und dann begann Alois Suter zu schreien.
Der alte Mann erwachte und fand allmählich in die Realität zurück. Allerdings war es eine, die ihm nur wenig Trost versprach. Zusammengekrümmt lag er in dem Felsloch und stellte fest, dass seine Grubenlampe immer noch brannte – und die ganze Zeit seiner Bewusstlosigkeit über gebrannt hatte. Mit einer hastigen Bewegung knipste er sie aus, dann starrte er blicklos in die Schwärze vor sich und lauschte dem Pulsieren seines rasenden Herzens, welches sich allmählich wieder beruhigte.
Hatte er geschrien?
Ein Traum, überlegte er, sonst Nichts. Aber da waren Tränen auf seinen Wangen, die im kratzigen Haargeflecht seines Bartes versickerten und ein rauer Schmerz in seiner ausgedörrten Kehle. Nichts da, dachte der Alte, es ist nur Schweiß.
Und auch sein Traum, so beschloss er, konnte nur das Resultat seiner erschöpfenden Kletterei gewesen sein. Sein über alle Maßen beanspruchter Körper hatte seinen Tribut gefordert. Und seine Nerven, überreizt von der allgegenwärtigen Angst vor dem einsamen Tod, hier unten in der grausamen Finsternis. Doch wieso schien ihm dieses Sterben nun weniger grausam, geradezu lächerlich im Vergleich zu dem, was er in seinem Traum durchlebt hatte? Was, wenn es das war, was nach dem Sterben kam?
Ein Traum, sonst nichts.
Wie lange mochte er hier gelegen haben, ohnmächtig gefangen in diesem schrecklichen Traum von schwarzen Monolithen und zerfetzen Leibern? Er stellte fest, dass sich seine gesunde Hand in den felsigen Untergrund gekrallt hatte, wie in dem Versuch, sich hineinzugraben. Er löste die Finger, entspannte die verkrampften Sehnen seiner Glieder. Seine Hand fühlte sich an, als wäre sie unter einen Mühlstein geraten. Er öffnete und schloss sie ein paar Mal. Glitschig. Vorsichtig strich er über seinen Handteller und wimmerte, als er die offene Wunde mit den Resten seiner abgebrochenen Fingernägel berührte. Der Schmerz raste seinen Arm hinauf und trieb ihm erneut Tränen in die Augen.
Nicht mehr zu gebrauchen.
Seine verbliebene Hand war ein schmerzender Klumpen Fleisch, der nutzlos am Ende seines zerschundenen Armes herumbaumelte. Unbegreiflich, wie er die Kletterei bis hierhin überhaupt geschafft hatte.
Zwecklos, sich Illusionen von einem weiteren Abstieg hinzugeben, er würde keine zwei Meter weit kommen, der alte Mann hatte das Ende seiner Klettertour in einem finsteren Felsloch tief unter dem Gruebiwald erreicht.
Die Angst vor dem Sterben, ganz recht.
Er beschloss, eine Kleinigkeit zu essen. Nicht, dass von seinem Proviant mehr als eben jene Kleinigkeit übrig gewesen wäre.