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Seit Jades Vater bei einer Expedition in China auf der Suche nach den letzten Drachen verschwunden ist, trainiert sie täglich, um ihr Kung-Fu zu verbessern. Als ihr Großvater sie bittet, ins Reich der Mitte zu reisen, um die Mission zu vollenden, lehnt sie zunächst ab. Sie hält nichts von Aberglauben und ist überzeugt, dass ihr Vater nur untergetaucht ist. Aber als Schläger ihren Großvater bedrohen, begibt sie sich dennoch auf die gefährliche Reise. In Shanghai gerät Jade in einen Strudel aus dunklen Machenschaften. Kinder verschwinden, Jade wird gejagt. Wird es ihr gelingen, die Drachenstatuen zum Leben zu erwecken und die Kinder zu retten?
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Charlotte Charonne
Drachenkönigin
Urban Fantasy
Charonne, Charlotte: Drachenkönigin. Urban Fantasy. Hamburg, Lindwurm Verlag 2022
Originalausgabe
EPUB-ISBN: 978-3-948695-83-5
PDF-ISBN: 978-3-948695-84-2
Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.
Print-ISBN: 978-3-948695-82-8
Lektorat: Katharina Platz
Korrektorat und Satz: Lilly Seidel, Lindwurm Verlag
Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, Lindwurm Verlag; Vorlage von Alexander Kopainski
Umschlagmotive: Landschaft, Pagoden, Textur © Elina Li/Shutterstock; Textur und Äste © Le Panda/Shutterstock; Mond © vector illustration/Shutterstock; Textur © solarbird/Shutterstock; Junge © Sergei Mokhov/Shutterstock; Frau © Alexey_M/Shutterstock; Blütenblätter © Begin Again Studio/Shutterstock; Goldtextur © SWEviL/Shutterstock; geflügeltes Wesen © Annelie Lamers
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar.
Der Lindwurm Verlag ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg
_______________________________
© Lindwurm Verlag, Hamburg 2022
Alle Rechte vorbehalten.
http://www.lindwurm-verlag.de
Für Christian, Malin, Madita und Morten
zur Erinnerung an unsere Zeit in China
Liebe Leserin,
lieber Leser,
von 2013 bis 2018 hatte ich das Glück, in China, Shanghai, zu leben und die Kultur des Landes kennenzulernen. Für mich zeichnet sich das Reich der Mitte vor allem durch seine gewaltigen Gegensätze aus: Hochhäuser mit architektonischer Raffinesse treffen auf Hutongs mit Gassen und traditionellen Wohnhöfen, moderne Fitnesszentren auf Tai-Chi im Park, Luxuslimousinen auf schrottreife Fahrräder, Starbucks Kaffee auf grünen Tee. Viele meiner Impressionen haben Einzug in diesen Roman gefunden, wie Erpel Knut, der es sich ab Kapitel 14 in den Zeilen bequem macht.
Zwar nicht Knut, aber eine andere Ente begegnete mir kurz nach unserer Ankunft in China. Damals brachte uns ein Chauffeur ins Zentrum Shanghais.
»Guck mal, Mama, da ist eine Ente«, sagte mein Sohn plötzlich.
Ich schaute aus dem Fenster, konnte aber keinen Citroën 2CV entdecken.
»Nein«, flüsterte er, »im Kofferraum.«
Ich beugte mich über die Rückenlehne und da saß er (oder sie) und beäugte mich ängstlich. Der Körper war in einen rechteckigen Karton gepfercht und der Kopf ragte durch die kreisrunde Aussparung im Deckel. Mein Herz verkrampfte sich. Das Tier musste fürchterliche Angst und wahrscheinlich auch Hunger und Durst haben. Unbeholfen, da ich noch kein Mandarin sprach und mit den Gepflogenheiten nicht vertraut war, versuchte ich, dem Fahrer seine Beute abzuschwatzen. Vergeblich. Er verstand kein Wort Englisch, schenkte mir verständnislose Blicke und gelegentlich ein amüsiertes Glucksen.
Mein Versagen verfolgt mich noch heute. Glücklicherweise ist mein Hauptcharakter, Jade, cleverer als ich. Bei ihrer Ankunft in Shanghai trifft sie im Taxi auf eine Ente in einem Pappkarton. Im Gegensatz zu mir gelingt es ihr, das Tier zu retten.
Doch nicht nur der Erpel hat Einzug in diesen Roman gefunden, sondern zahlreiche weitere Eindrücke und Erlebnisse, um Ihnen den Schauplatz authentisch vor Augen zu führen und China ein Stückchen näherzubringen.
Ich danke Ihnen von Herzen für Ihr Interesse an der Drachenkönigin und wünsche Ihnen eine spannende Lesereise mit Jade, Liam und Tian ins Reich der Mitte.
Herzlichst
Ihre Charlotte
Inhalt
„Die Charaktere“
„TEIL 1“
„Kapitel 1“
„Kapitel 2“
„Kapitel 3“
„Kapitel 4“
„Kapitel 5“
„Kapitel 6“
„Kapitel 7“
„Kapitel 8“
„Kapitel 9“
„Kapitel 10“
„Kapitel 11“
„Kapitel 12“
„Kapitel 13“
„Teil 2“
„Kapitel 14“
„Kapitel 15“
„Kapitel 16“
„Kapitel 17“
„Kapitel 18“
„Kapitel 19“
„Kapitel 20“
„Kapitel 21“
„Kapitel 22“
„Kapitel 23“
„Kapitel 24“
„Kapitel 25“
„Kapitel 26“
„Kapitel 27“
„Kapitel 28“
„Kapitel 29“
„Kapitel 30“
„Kapitel 31“
„Kapitel 32“
„Teil 3“
„Kapitel 33“
„Kapitel 34“
„Kapitel 35“
„Kapitel 36“
„Kapitel 37“
„Kapitel 38“
„Kapitel 39“
„Kapitel 40“
„Kapitel 41“
„Kapitel 42“
„Kapitel 43“
„Kapitel 44“
„Kapitel 45“
„Kapitel 46“
„Kapitel 47“
„Kapitel 48“
„Kapitel 49“
„Kapitel 50“
„Kapitel 51“
„Kapitel 52“
„Kapitel 53“
„Teil 4“
„Kapitel 54“
„Kapitel 55“
„Kapitel 56“
„Kapitel 57“
„Kapitel 58“
„Kapitel 59“
„Kapitel 60“
„Kapitel 61“
„Kapitel 62“
„Kapitel 63“
„Kapitel 64“
„Kapitel 65“
„Kapitel 66“
„Kapitel 67“
„Kapitel 68“
„Kapitel 69“
„Danksagung“
„Die Autorin“
Die Charaktere
Die Drachenretter
Jade (Xiaoyu) Long Halbchinesin, 22 Jahre
Liam Wang Asiatischer Amerikaner, 23 Jahre
Tian Ein Chee (chinesische Fee)
Jades Familie
Klaus Long Jades Vater
Long Bai Jades Großvater
Long Xinxin Jades Mutter
Liams Familie
Wang Yong Liams Vater
Wang Tingting Liams Mutter
Wang Nick Liams älterer Bruder
Wang Sue Liams Schwägerin
Wang Betty Liams Nichte
Jades Helfer
Ben (Benjamin) Schulte Computerfreak
Theo Bens Freund, Computerfreak
Konstantin Bens Freund, Computerfreak
Shifu Xu Jades Kung-Fu-Lehrer in Shanghai
Li Shulan Teebauer aus Hangzhou
Li Weiqi Shulans Sohn
Willow Smith Ehrenamtliches Mitglied verschie- dener Wohltätigkeitsorganisationen
Doktor Zhang Arzt
Die Wissenschaftler
Dr. Michael Schneider Wissenschaftlicher Mitarbeiter
bei Long Bai
Dr. Werner Sauer Drachenforscher
Mailin Sauers Frau
Dr. Wedekind Drachenforscher
Der Totenkopfritter Jades Verfolger
Die Schattenkinder
Chen Lu Morgentau, 6 J.
Anjing Der Ruhige, 12 J.
Shanghai Studentenwohnheim
Alina Meyer Studentin
Lisa Schmidt Studentin
Haruka Tanaka Studentin
Mister Wu Hausmeister
Die Jadedrachen
Wimpernlang
Schönauge
Tunichtgut
Kamikaze
Die Enten
Knut Erpel
Hope Ente
»Der Weg ist das Ziel.«
Konfuzius,
chinesischer Philosoph,
*551 v. Chr.
Teil 1
Kapitel 1
Frühjahr 2014
Jade bemerkte weder die abfälligen noch die bewundernden Blicke der anderen Parkbesucher. Mit hoher Konzentration vollführte sie ihre Übungen und verschmolz mit der Waffe in ihrer Hand zu einer tödlichen Einheit. Sonnenstrahlen fielen vom Himmel und funkelten wie Diamanten auf der Oberfläche des vor ihr liegenden Weihers. Doch die 22-Jährige nahm das Glitzern nicht wahr. Sie hörte auch nicht die Symphonie der summenden Bienen, der singenden Vögel und der rauschenden Blätter im lauwarmen Wind. Immer wieder wirbelte sie den langen Gun-Stab durch die Luft, während sie sich anmutig wie eine Shaolin-Kämpferin über das Gras bewegte.
Nach dem Training packte sie Handtuch und Wasserflasche in ihre Tasche und griff ihren biegsamen Holzstab. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie die Trainingszeit überschritten hatte und sich beeilen musste. Mit großen Schritten hastete sie über den Kiesweg zum Parkausgang. Die Steinchen unter ihren Sohlen knirschten, während sie an turtelnden Pärchen, Rentnern mit Walking Sticks und albernden Teenagergruppen vorbeieilte. Hoch über ihr hockten die ersten Kastanienblüten auf den Ästen und schauten auf sie herab. Einige Tulpen nickten mit ihren orangen und gelben Köpfen zum Abschied.
Als sie die letzte Kreuzung vor dem Ausgang überqueren wollte, rannte jemand voll in ihre Seite. Sie kam kurz ins Schwanken, dann fand ihr Körper seine Mitte wieder.
»Sorry«, keuchte der Teenager, der zu ihren Füßen im Staub lag. Mit weit aufgerissenen Augen hinter den Brillengläsern schaute er zu ihr auf.
Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen und bildeten einen schwarzen Balken. Noch bevor sie ihren Unmut in Worte fassen konnte, hatten seine drei jugendlichen Verfolger aufgeschlossen und umzingelten sie.
»Denkst wohl, du könntest einfach abhauen?« Ein dreckiges Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Angreifers aus. Mit betonter Lässigkeit strich er sich einige blonde Haarsträhnen aus der Stirn.
Der Gejagte rappelte sich auf und wischte die Handflächen an seiner Jeans ab.
»Jetzt schieb brav dein iPhone rüber.« Der Blonde streckte die Hand aus. Seine Finger wedelten gierig.
»Geht’s noch?« Jade bedachte den Bully mit einem giftgrünen Funkeln. Anscheinend war er der Anführer dieser Möchtegern-Cool-Gang, denn die anderen beäugten ihn aus den Augenwinkeln, als würden sie auf sein Kommando warten. Sie schätzte die Jungs auf sechzehn. Ihre im Fitnessstudio antrainierten Muskeln vermochten bei ihr ebenso wenig Eindruck zu schinden wie ihre Gangster-Hoodies mit Totenköpfen.
»Klappe, China-Schickse. Nimm deinen Wanderstock und geh spazieren.« Der Witz flog flach. Dafür zog der Wortführer die Rotze besonders hoch und spuckte sie ihr vor die Füße.
Seine Kumpel johlten begeistert.
Der iPhone-Besitzer blinzelte mit hängenden Schultern zwischen ihr und dem Bully hin und her.
Jades Mimik blieb reglos.
»Oder noch besser«, der Angeber hechtete auf sie zu und umfasste grob ihren Oberarm, »rück dein Handy gleich mit raus. Und ein paar Scheine.«
Seine Begleiter grölten und gaben sich High five. Vorbeibummelnde Parkbesucher machten einen Bogen um die Gruppe, als wären sie die Hüter des Tors zur Hölle in der Wüste Karakum.
Langsam wandte sie den Blick von seinem Gesicht zu der übergriffigen Hand und wieder zurück. »Finger weg.«
»Glaubst du, ich lass mir von ’ner China-Schlampe sagen, was Sache ist?« Er grapschte nach ihrer Tasche.
ZISCHHHHHHHH.
Bevor seine Finger ihr Ziel erreichten, bekamen sie ihren Stock zu spüren.
»Spinnst du, du verdammte …«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er ballte die Fäuste und holte aus.
Jades Gun-Stab rotierte schwerelos in ihrer Hand. Blitzschnell gab die zweite Hand die Tasche frei und legte sich ebenfalls um den Langstock. Ihre Energie floss über ihre Finger in das Holz. Bevor seine Fäuste sie berührten, traf ihr heftiger Schlag seine rechte Schulter.
Seine Miene verzerrte sich. Er griff an seine Schulter und knickte zur Seite ab. Mit einem Aufschrei sackte er zu Boden und krümmte sich.
Seine Freunde stürzten ihr entgegen.
Sie verschmolz mit der Waffe, und ehe die beiden begriffen, was vor sich ging, hatte sie ihnen die Nasen gebrochen.
Der iPhone-Besitzer stupste seine Brille mit dem Zeigefinger auf die Nase und bestaunte die Szene mit offenem Mund.
»Willst du immer noch unsere iPhones?«, fragte sie den Jungen, der vor ihr im Dreck lag. Ihr Tonfall war freundlich, doch ein Ende ihres Stabs zielte auf sein Gesicht.
Seine Begleiter hielten sich stöhnend die Hände vor die blutenden Nasen. Ihre Tapferkeit stürmte über den Kiesweg davon, und sie machten keinerlei Anstalten, Jade erneut anzugreifen.
Der Typ am Boden presste die Handflächen auf die Lippen, um seine Zähne vor einem Einschlag zu bewahren. Er schüttelte den Kopf.
»Prima«, lobte Jade. »Lass uns gehen«, wandte sie sich an den Jungen mit der Nickelbrille.
Perplex trat er an ihre Seite.
»Ach, fast vergessen.« Sie ließ die Worte auf den Führer-Bully prasseln. »Ist doch klar, dass ihr ihn ab sofort in Ruhe lasst, oder soll ich beim nächsten Mal meine Säbel mitbringen?«
Der Anführer nickte. Aus seinen Augen sprang eine Mischung aus Angst, Hass und Bewunderung.
Sie nahm ihre Tasche auf und setzte ihren Weg zum Ausgang im Eilschritt fort. Jetzt hatte sie noch mehr Zeit verloren.
Der Junge schloss seine Kinnlade und klemmte sich an ihre Seite.
Kapitel 2
Es war das erste Mal, dass Jade in Begleitung durch den Park marschierte. Sie war erbost über den Vorfall, und der Wind hatte aufgefrischt und wuschelte durch die Blätter der dichten Baumkronen.
»Das war megakrass.« Der Teenager versuchte, mit ihr Schritt zu halten, und taute mit jedem zurückgelegten Meter auf. »Wie du das mit dem Stock gemacht hast.« Er deutete auf die Kung-Fu-Waffe. »Tschiu, tschiu«, ahmte er die Geräusche nach, mit denen der Stab die Luft zerschnitten hatte. Dabei imitierte er die Bewegungen ihrer Hände. »Und wie die geglotzt haben.« Seine Worte sprudelten aus ihm heraus wie Wasser an einer Quelle. »Ich heiße übrigens Benjamin, aber meine Freunde nennen mich Ben. Du kannst mich natürlich auch so nennen. Schließlich verdanke ich dir mein iPhone«, fügte er theatralisch hinzu.
»Übertreib mal nicht.« Jade hatte das Gefühl, durch die geleistete Hilfe um mehrere Zentimeter gewachsen zu sein. Gut, dass die Bullys nur eine große Klappe hatten, aber weder Kampfgeist noch Kampftechniken kannten. Sonst hätte sie sich mehr ins Zeug legen müssen, um ihn zu retten.
Er drückte die Brust raus und beschleunigte seine Schrittfrequenz, um ihr Tempo zu halten. »Wie heißt du?«
»Jade«, grummelte sie.
Ben schob die Brille, die wieder auf der Nase verrutscht war, hoch. »Dschäid«, wiederholte er andächtig. Sein Blick verfing sich in ihrem schwarzen Pferdeschwanz. Er reichte fast bis zum Bund ihrer Combathose. »Bist du Amerikanerin? Ich meine, wegen des Namens.«
»Nee.«
»Also, danke.«
»Kein Problem.« Damit war für sie alles gesagt, was es zu dem Vorfall zu sagen gab. Es waren drei gegen einen gewesen. Zudem war er fast noch ein Kind. So was ging gar nicht. Leider hatte sie durch die Rettungsaktion zusätzlich Zeit verloren. Sie hatte ihrem Großvater versprochen, ihn im Ostasiatischen Seminar der Universität aufzusuchen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte er sie um Hilfe gebeten, wobei er sich sehr kryptisch ausgedrückt hatte. Seitdem plagte sie ein beunruhigendes Bauchgefühl.
»Du scheinst lieber zu kämpfen, als zu quatschen«, bemerkte er. »Glück für mich. Wenn du mir nicht geholfen hättest, hätten die mir mein Handy geklaut. Und mir eine geklatscht. Das kam schon öfter vor. Was war das eben? Karate oder Judo?«
»Wushu«, lautete ihre karge Antwort.
»Wu-was? Egal. Das war die Show des Jahrtausends. Warte mal.« Der Junge blieb stehen und pfriemelte eine Visitenkarte aus seiner Jeanstasche. »Hier. Meine Karte. Falls du mal ’ne Webseite brauchst. Umsonst, versteht sich.«
Sie betrachtete das Papier. Benjamin Schulte. App- und Webdesign stach in ihre Augen. Daneben standen seine Adresse, Telefonnummer sowie seine Social-Media-Accounts.
»Merkwürdig«, murmelte sie.
»Was?«, fragte Ben.
»Deine Nummer ist fast mit meiner identisch.«
»Echt jetzt? Was ist denn anders?«
»Statt der 2 habe ich eine 3. Du machst Webdesign?« Sie versenkte die Informationen in einer Tasche ihrer Combathose und nahm ihren Marsch wieder auf. Ihr kritischer Blick sprach Bände.
»Die besten Webseiten. Außerdem bin ich ein mega Hacker.«
Sie presste die Lippen aufeinander und verkniff sich ein Lachen. In ihren Augen spiegelten sich Belustigung und Ungläubigkeit.
»Du traust mir nicht«, stellte er fest und ließ die Schultern hängen.
»Niemandem«, bestätigte sie.
»Bist du deshalb so drauf? Mit dem Kämpfen und so?«
Ihr Magen ballte sich zu einer Faust. Sie hatte sich nicht wie ein Ritter in glänzender Rüstung vor das Bürschchen geschmissen, damit es ihren wunden Punkt aufdeckte und da-rauf herumritt.
Aber Ben hob entschuldigend die Hände und lächelte sie an. »Nix für ungut. Ich find’s cool.«
»Dein Geblubber bringt dir bestimmt jede Menge Fans.« Ihre Bemerkung biss ihn und ließ sein Strahlen zerbröckeln.
»Hey, tut mir leid«, erklärte er. Um mit ihrer Tempobeschleunigung mitzuhalten, legte er nach jeweils fünf Schritten zwei Laufschritte ein. »Ich habe keine Fans«, stammelte er. »Meine Freunde sind alle so Computerfreaks wie ich.« Er strich sich eine dunkelblonde Locke aus der Stirn.
»Ich geh hier lang.« Jade deutete mit dem Kopf nach rechts.
»Schade«, entgegnete er. »Ich muss in die andere Richtung. Ich ruf dich an. Okay?« Ein Hoffnungsfunke tanzte durch seine blaue Iris.
»Mach’s gut.« Sie hob kurz die Hand zum Gruß und fiel in einen Trab. Sie musste ihren Großvater wenigstens anrufen und das Treffen auf den nächsten Tag verschieben.
Kapitel 3
Jade hoffte auf ein entspanntes Abendessen. Für heute hatte sie genug gekämpft und verspürte keinerlei Lust auf ein Wortgefecht mit ihrer Mutter. Missbilligend betrachtete sie die Chunlian, die zu beiden Seiten der Haustür baumelten. Obwohl ihre Mutter schon fast 25 Jahre in Deutschland lebte, ließ sie es sich nicht nehmen, die roten Bänder mit der schwarzen Kalligrafie zum Chinesischen Neujahrsfest anzubringen. Für kurze Zeit bewachten die Spruchbänder das Glück der Hausbewohner wie königliche Soldaten den Buckingham Palace. Oder zumindest die Scherben, die Fortuna hinter sich zurückgelassen hat.
»Hallo, Mama«, rief Jade, nachdem sie das Reihenhaus betreten und ihre Schuhe ausgezogen hatte.
»Da bist du ja endlich.« Xinxin kam in den Flur geeilt, stellte sich auf die Zehenspitzen und stempelte die Wange ihrer Tochter mit einem Kuss. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Wo warst du denn so lange?«
»Trainieren. War gerade gut im Flow«, flunkerte sie.
»Das Essen ist längst fertig.« Sie huschte zurück in die Küche.
Als Jade sich die Hände gewaschen hatte, balancierte ihre Mutter eine Schale mit einem Dampfwölkchen aus der Küche zum offenen Ess- und Wohnbereich. Sie stellte die Schüssel auf den Platz ihrer Tochter und holte eine weitere Portion für sich.
Jade stocherte mit den Essstäbchen in der Suppe. Sie duftete köstlich nach Sesamöl. Die rötliche Farbe der Soße verriet, dass die Köchin nicht an Chiliöl gespart hatte. Neben Nudeln badeten Tofu- und Gemüsestücke in dem Sud. Seufzend legte sie die Stäbchen auf den Tisch, schritt in die Küche und bewaffnete sich mit Löffel und Gabel.
»So schmeckt die Suppe doch gar nicht«, mokierte sich ihre Mutter.
Heimlich gab Jade ihr recht. Das Aroma kam erst beim Schlürfen zur Geltung. Demonstrativ lehnte sie aber vieles, was chinesisch war, ab, obwohl sie China nie bereist hatte – ganz besonders die chinesischen Mythen, die ihr Großvater erzählte, und die chinesische Medizin, die ihre Mutter ihr verabreichen wollte. Das genetische Make-up, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, hatte sie von Kindesbeinen an als ein Hashtag empfunden, das sie als minderwertig markierte, auch wenn ihr Vater ihr immer wieder versichert hatte, dass sie besonders schön sei. Ihre Erfahrungen im Alltag reichten von kleinen Sticheleien bis hin zu Müttern, die sie nicht auf Kindergeburtstagen dabeihaben wollten.
Obwohl sie der chinesischen Kultur skeptisch gegenüberstand, hatte sie Gefallen an Wushu oder Kung-Fu, wie es hier genannt wurde, gefunden. Im Alter von zwölf Jahren hatte ihr Großvater sie zu einem Training überredet. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, den Sport zu hassen, hatte sie die Probestunde begeistert. Es war beruhigend, das perfekte Handwerkszeug zu haben, um sich allein durchs Leben zu schlagen. Mittlerweile war sie besessen von dem Wunsch, ihre Fähigkeiten zu perfektionieren. Deshalb trainierte sie dreimal wöchentlich in der Kung-Fu-Schule und die restlichen Tage im Park.
Sie drehte die Nudeln mithilfe des Bestecks auf und schob eine Ladung in den Mund. »Schmeckt prima.« Ihr Blick fiel über die Schulter ihrer Mutter auf eine gerahmte Fotografie. Es zeigte sie gemeinsam mit ihren Eltern, kurz bevor ihr Vater sie verlassen hatte. Seine Augen leuchteten in dem gleichen Jadegrün wie ihre.
»Nein.« Ihre Mutter hatte den Blick bemerkt und schüttelte den Kopf. »Ich werde das Bild nicht abhängen. Nie.«
Jade seufzte. Sie hatten schon oft darüber gestritten. Sie verstand nicht, dass sie ihren Vater immer noch liebte, obwohl er sich vor zehn Jahren aus dem Staub gemacht hatte. Während einer Expedition im Reich der Mitte hatte er sich verliebt und seine Familie für eine neue Liebschaft aufgegeben.
Hatte er sie überhaupt je geliebt? War sie je für ihn von Bedeutung gewesen? Wohl kaum. Sonst hätte er sie nicht vergessen, hätte sich wenigstens einmal bei ihr gemeldet, und sie nicht einfach zurückgelassen. Wem konnte sie noch vertrauen, wenn nicht mal ihrem Vater?
Sie schob die düsteren Gedanken wie einen muffigen Duschvorhang zur Seite. »Ich muss Großvater noch anrufen.« Sie lugte auf den leeren Platz in der Tafelrunde und löffelte die Brühe schneller in ihren Mund.
»Er hat sich gemeldet und entschuldigt. Ein Meeting ist dazwischengekommen. Er hat mich gebeten, dir auszurichten, ihn morgen Mittag in seinem Büro zu besuchen.« Sie sah ihre Tochter an.
»Klar.« Jade fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatte ihr Versprechen nicht gebrochen und ihren Großvater nicht enttäuscht. Sie leerte die Schale und nahm einen Schluck des warmen Wassers aus dem Glas. Eine weitere Angewohnheit ihrer Mutter: Sie servierte heiße Suppe immer mit einem warmen Getränk.
»Prima.« Xinxin zupfte am Kragen ihrer Bluse. »Ich habe einen interessanten Artikel in der Zeitung gelesen.« Sie zog ein Blatt unter ihrem Sitzkissen hervor und platzierte es neben Jades Schüssel. »Physiotherapeutin. Wäre das nicht ein Beruf für dich? Du bewegst dich doch so gerne.«
»Danke.« Ihre Verärgerung war unüberhörbar. »Kein Interesse.«
»Ich verstehe dich nicht, Xiaoyu«, jammerte Xinxin. »Du hattest das beste Abitur deines Jahrgangs und machst nichts aus deinem Leben. Warum studierst du nicht oder suchst dir eine Ausbildungsstelle? Stattdessen schuftest du als Hilfsarbeiterin.«
»Du sollst mich nicht Xiaoyu nennen.« Die Worte waren lauter als beabsichtigt.
»Aber es ist ein wundervoller Name. Er bedeutet kleine Jade. Das ist ein wertvoller Schmuckstein.« Xinxins Hand legte sich auf ihre Brust.
»Das hast du mir schon tausendmal gesagt, und trotzdem hasse ich ihn immer noch.« Eine Hitzewelle flutete durch ihren Körper. Ihre Mutter schaffte es, sie im Nullkommanichts auf hundertachtzig zu bringen. Warum verstand sie nicht, dass sie nur ein gutes Abitur gemacht hatte, weil sie keine Freunde hatte und sich die Einsamkeit mit Lernen und Kung-Fu vertrieb? Dann fiel ihr Bens Visitenkarte ein, die in ihrer Hosentasche steckte. Sie stürmte in die Küche, zerrte die Karte aus der Tasche und versenkte sie im Mülleimer. Sie war bisher ohne Freunde ausgekommen und das würde sie auch in Zukunft. Laut scheppernd räumte sie ihr Geschirr in die Spülmaschine. »Ich bin dann mal weg. Arbeiten«, giftete sie ihre Mutter auf dem Weg zur Haustür an.
»Wir finden bestimmt noch eine Ausbildung, die dir Freude bereitet.« Xinxin schniefte und angelte nach der Bambusbox mit den Papiertaschentüchern. Ihr Kinn zitterte verräterisch.
Sofort ärgerte Jade sich über ihre Schroffheit. »Danke für die Suppe.«
»Ich meine es doch nur gut, Xiaoyu.«
Jade schlug die Tür ins Schloss, bevor sie etwas sagen würde, was ihr später leidtat. Hoffentlich konnte sie wenigstens eine ruhige Nachtschicht schieben.
Kapitel 4
Jade streifte ein Sweatshirt über. Auf dem Rücken prangte das Logo einer Supermarkt-Gruppe. Der Job in der Logistikzentrale gefiel ihr, denn es war dabei unnötig, mit anderen zu kommunizieren. Um ihre Aufgaben zu erfüllen, erhielt sie eine Nummer. Diese blinkte an einem großen Display auf und gleichzeitig eine weitere Ziffer, die ihr verriet, in welchem Gang sie sich einfinden musste, um Obst und Gemüse aus aller Welt, das hier ankam, zu sortieren. Sie liebte Kiwis, Feigen und andere Früchte, weil diese sie nie von der Seite anquasselten.
Meistens arbeitete sie von 18.00 Uhr bis in die frühen Morgenstunden. Dadurch blieb tagsüber genügend Zeit für ihr Training. Im Grunde war das Ausladen und Einräumen der Waren nur eine weitere Trainingseinheit zur Kraftstärkung. Die Bezahlung war okay. Sie brauchte weder Geld zum Feiern noch für teure Kleidung oder anderen Schnickschnack. Für sie war es ein Traumjob. Heute war sie für die Gabelstapler eingeplant. Es würde also eine leichte Nacht werden.
Der Streit mit ihrer Mutter hockte ihr im Nacken. Sie knetete ihr Genick, um die Anspannung zu lösen. Das Thema Ausbildung wurde ihr mindestens zweimal wöchentlich zum Abendessen serviert. War es Zeit, eine eigene Wohnung zu suchen? Es würde das Herz ihrer Mutter brechen, aber hatte sie nicht das Recht, ihr Leben so zu führen, wie es ihr gefiel?
Ihr Handy klingelte. Sie zuckte zusammen, als wäre sie mit Eiswasser übergossen worden.
Sie holte das Telefon aus der Hosentasche und betrachtete das Display. Die angezeigte Handynummer war fast mit ihrer identisch. Bis auf die 3. Dort leuchtete eine 2. Irritiert runzelte sie die Stirn. Ben. Sie unterdrückte den Anruf, stellte das Gerät auf stumm und ließ es wieder in die Tasche gleiten. Gesprächsfetzen drangen an ihr Ohr.
»Ich kann mich heute kaum bewegen«, klagte ein älterer Mitarbeiter seinem Kollegen. »Meine Bandscheiben.« Seine Hand legte sich auf seinen Rücken und untermalte die Aussage.
»Dann besorg dir ’ne Krankmeldung«, riet sein Gegenüber und zwängte seinen großen Kopf durch den Halsausschnitt seines Sweatshirts.
»Schon wieder? Nee. Ich will den Job nicht verlieren. Wir brauchen die Kohle«, jammerte er.
»Dann lass dich doch zum Gabelstaplerfahren einteilen.« Er dehnte den Halsausschnitt, um seinem Stiernacken mehr Luft zu gönnen.
»Hab ich versucht, aber die Zicke hat mich absichtlich zum Ausladen der Transporter eingeteilt. Weiß auch nicht, was ich der getan habe.« Seine Schultern sackten nach unten.
Jade räusperte sich. »Was haben Sie für eine Nummer?«
Der Mann gaffte sie an. Überraschung huschte durch sein Gesicht. »36. Wieso?«
»Wir tauschen. Ich bin für die Gabelstapler eingeteilt. Okay?« Für heute hatte sie eigentlich genug Robin Hood gespielt, doch ihr Mitgefühl meldete sich. Das Sortieren der Kisten war schon ohne Rückenschmerzen anstrengend.
Ungläubigkeit nistete sich in den Falten seines Gesichts ein. Er schaute zu seinem Kumpel und wieder zu Jade. »Echt jetzt?«
»Klar. Ich schlafe auf den Staplern immer ein«, flunkerte sie. Beim Kistenschleppen hätte sie zumindest keine freie Energie, um über ein eigenes Apartment nachzudenken. Außerdem musste sie erst mit ihrem Großvater sprechen, bevor sie eine Entscheidung traf. Was, wenn er krank war? Der Gedanke sandte ein Stechen durch ihre Brust. Könnte sie ihn und ihre Mutter dann allein lassen? Von klein auf hatte sie von ihrem Großvater und ihrer Mutter gelernt, das Wohl der Familie über ihre eigenen Wünsche zu stellen. Auch wenn ihr das westliche Denken, in dem das Individuum im Mittelpunkt stand, mehr zusagte, konnte sie das Gelernte nicht so einfach abstreifen wie ein altes Paar Schuhe.
»Das ist ja …« Dem Mann fehlten die Worte. Er klopfte ihr kameradschaftlich auf den Rücken. »Du bist ein feiner Kerl, wenn ich das so sagen darf.« Er schluckte. »Danke.«
»Gern«, meinte Jade. »Da blinkt’s auch schon«, ergänzte sie mit einem Blick auf das Display. »Ich zieh dann mal los.« Sie war froh, der Situation zu entkommen.
»Danke nochmals«, rief er ihr nach.
Sie hob die Hand, ohne sich noch mal umzudrehen. Eine dunkle Vorahnung wie damals vor dem Verschwinden ihres Vaters heftete sich an ihre Fersen. Ihre Nackenhaare sträubten sich. Morgen würde sie sich mit ihrem Großvater treffen und der Wind der Veränderung wehen. Dann würde sie sich entscheiden müssen, ob sie lieber eine Mauer oder eine Windmühle bauen würde.
Kapitel 5
Jade öffnete die Tür zum Foyer des Ostasiatischen Seminars. Vor 25 Jahren hatte ihr Großvater einen Lehrauftrag in Deutschland erhalten und seine Heimat verlassen. Zunächst hatte er an der Universität Sprachunterricht erteilt, später Vorlesungen, wie Medien und Künste Chinas, Kultur und Philosophie Chinas und andere, gehalten. Daneben forschte er eifrig. Sein Schwerpunkt lag auf den Kollektiven MythenChinas.
Als sie eintrat, stürzte der Leiter des Arbeitsbereichs Chinastudien/Kultur Chinas auf den Ausgang zu und wäre um ein Haar mit ihr zusammengestoßen. Gegen seine Brust presste er einen Aktenberg und krümmte sich unter der Last wie eine Weide. Er erkannte sie und stoppte. »Guten Tag, Jade«, japste er wie nach einem Dauerlauf.
»Hallo, Herr Doktor Schneider.« Sie drehte sich um, schnappte den Griff der zufallenden Tür und hielt sie auf.
»Danke, sehr freu-, freundlich«, stammelte er und schaute zu beiden Seiten. »Was machst du hier?«
»Mein Opa möchte mich sprechen.« Sie spendierte ihm ein Lächeln. Sie kannte Doktor Schneider, seitdem er den Arbeitsplatz ihres Vaters an der Uni übernommen hatte.
Jades Vater hatte bereits seine Doktorarbeit bei ihrem Großvater Long Bai geschrieben. Während Klaus promovierte, kam Xinxin oft im Institut vorbei, um gemeinsam mit Long Bai in der Mensa zu essen und den Tag nicht allein verbringen zu müssen. Sie war damals Anfang 20 und es fiel ihr noch schwer, sich auf Deutsch zu verständigen, obwohl sie eine Sprachschule besuchte. Es freute sie, dass sie mit Klaus jemanden außerhalb ihrer Familie gefunden hatte, mit dem sie sich unterhalten konnte, vor allem nach dem tragischen Tod ihrer Mutter. Jades Großmutter war von einem betrunkenen Autofahrer auf ihrem Fahrrad erfasst und hundert Meter mitgeschleift worden. Sie war noch auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben.
Schnell hatte der Doktorand Klaus Xinxins Herz erobert, und die gelegentlichen Unterhaltungen und Mittagessen in der Mensa führten zu Abendessen und weiteren Verabredungen. Bereits nach einem Jahr heirateten sie, und Klaus nahm den Familiennamen seiner Frau an. So wurde aus ihm nach seiner Promotion Dr. Klaus Long.
»Ähm, ich w…wollte in die Kantine«, stotterte er. »Ich lade dich gern zum Mittagessen ein. Wir haben uns lange nicht gesehen.«
Dr. Schneider wirkte auf sie noch zerfahrener als üblich. »Nein, danke.« Sie lächelte. »Mein Opa wartet auf mich.«
»Wenn du meinst.« Er hüstelte. »Dann einen schönen Tag.«
»Merkwürdiger Kauz«, murmelte sie und eilte zum Büro ihres Großvaters.
Als sie anklopfte, erklang sofort ein »Herein!«. Jade trat ein und ein Lächeln versüßte die Miene des Großvaters wie eine Zuckerglasur einen Muffin.
»Jade!« Seine Augen strahlten.
»Hallo Opa.« Sein freundliches Gesicht war von zarten Knitterfalten durchzogen, die sich in den Augenwinkeln häuften. Sein Haar war voll, doch an vielen Stellen blitzten graue Strähnen.
»Schön, dass du hier bist.« Er deutete auf einen Stuhl.
Sie ließ sich auf den Sitz sinken. Ihr Blick reiste durch das Zimmer. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Unterlagen, chinesische Kalligrafie tapezierte die Wände. In Vitrinen thronten Vasen aus der Ming-Dynastie und andere Schätze, die auf eine Untersuchung warteten.
Er nahm das schwarze Horngestell von der Nase, beförderte ein Tuch aus der Hosentasche und polierte die blitzblanken Gläser. »Ich fürchte, mein Anliegen wird dir nicht gefallen. Wie erkläre ich es am besten?« Er setzte die Brille wieder auf. »Ich brauche deine Hilfe.«
Ein flaues Gefühl regte sich in ihrer Magengrube und breitete sich wie Wellen auf einem See aus. Ihr Großvater hatte sie noch nie mit einem Anliegen bedrängt. »Klar«, sie zuckte mit den Achseln.
»Du bist dazu bestimmt, die Nachkommen der Drachenkönige Long Wang zu retten.« Die Feierlichkeit, die durch seine Stimme zog, kam der eines tibetanischen Prozessionszugs gleich.
»Was?« Sie lachte laut auf. »Du hast bestimmt schräg in die Tasse geguckt und die Spuren der Teeblätter falsch gedeutet. Für Aberglaube dieser Art bin ich nicht die richtige Adresse.«
»Du bist sogar die einzige Adresse.« Sein Augenlid zuckte. »Ich weiß, es wird dir nicht gefallen, aber du wirst nach China reisen müssen.«
Jade schnellte in die Höhe. Der Stuhl kippte um und knallte auf den Boden. »Da kriegen mich keine zehn Pferde hin und Drachen schon gar nicht.«
»Beruhige dich, Jade.« Long Bai schluckte schwer und rieb sein Ohrläppchen. »Ich hätte nicht mit der Tür ins Haus fallen sollen. Es ist natürlich deine Entscheidung, ob du dich auf die Reise begibst oder nicht. Bitte lass mich den Sachverhalt erklären, bevor du dich entscheidest.«
Jade wischte sich mit zittriger Hand über die Stirn, stellte den Stuhl auf und setzte sich wieder. »Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass etwas an diesen Mythen dran ist?«
»Ich glaube es nicht nur, ich weiß es.« Er öffnete die Schublade seines Schreibtischs und holte ein kleines Holzkästchen hervor. Es war ein schlichter Behälter, ohne Bemalung, Applikationen oder Verzierungen. Er schob den Deckel auf. Die Schatulle war mit dunkelblauem Samt ausgeschlagen. Darin funkelten zwei Miniaturdrachen aus weißer Jade wie Sternschnuppen an einem Nachthimmel. Ihre Länge betrug höchstens drei Zentimeter.
Sie erkannte schlangenförmige Körper mit Köpfen, die an einen Büffel erinnerten. Ohren, Hörner und Tatzen waren so winzig, dass sie diese keinem Tier zuordnen konnte.
»Dies sind Nachkommen des Drachenkönigs Ao Guang, der seinen Palast im Ostchinesischen Meer hat, und des Drachenkönigs Ao Qin im Südchinesischen Meer«, erklärte der Professor.
»Das glaubst du doch selbst nicht.« Ihre Mundwinkel zuckten. »Solche Figuren gibt’s in jedem asiatischen Deko-Shop.«
Ihr Großvater ignorierte den Einwand. »Laut der antiken Bambuszettel werden die Drachenpaläste am Meeresgrund in diesem Jahr zerstört. Die Aufzeichnungen weisen auf Ungeheuer aus Metall hin, die die Paläste und ihre Bewohner vernichten werden. Ich vermute, dahinter stecken der Bau von Bohrinseln, die Verlegung von Rohren und Müllablagerungen. Es ist also Zeit, für Nachfolger der göttlichen Drachenwesen zu sorgen, um Glück, Güte und das Gleichgewicht der Natur zu bewahren.«