Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Saiwala wurde ihr Leben lang darauf vorbereitet, Familienhüterin zu werden und ihren Liebsten mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Als der Tag gekommen ist, der sie offiziell in diesen wichtigen Stand erheben soll, wird ihr Plan allerdings jäh über den Haufen geworfen. Sie trägt eine Drachenseele in sich, wie das Ritual der Drachenweihe enthüllt, an dem sie wie alle Sechzehnjährigen teilnehmen muss. Damit ist klar, dass sie sich in naher Zukunft in einen Drachen verwandelt, aber das ist noch nicht alles. König Talon aus dem Nachbarreich macht Jagd auf alle Drachenseelen, um sie für seine Zwecke zu missbrauchen. Hals über Kopf muss Saiwala fliehen, doch ihr Gedanke gilt allein ihrer Familie, die dem grausamen Tyrannen in die Hände gefallen ist. Wird sie es schaffen, ihr Schicksal anzunehmen und mithilfe der Drachen ihre Liebsten zu retten? Oder ist das erst der Anfang einer viel größeren Prüfung?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 498
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
Landkarte
Prolog
Kapitel 1 - Saiwala
Kapitel 2 - Saiwala
Kapitel 3 - Gadeltha
Kapitel 4 - Saiwala
Kapitel 5 - Gadeltha
Kapitel 6 - Saiwala
Kapitel 7 - Saiwala
Kapitel 8 - Gadeltha
Kapitel 9 - Saiwala
Kapitel 10 - Saiwala
Kapitel 11 - Gadeltha
Kapitel 12 - Saiwala
Kapitel 13 - Saiwala
Kapitel 14 - Gadeltha
Kapitel 15 - Saiwala
Kapitel 16 - Saiwala
Kapitel 17 - Gadeltha
Kapitel 18 - Gadeltha
Kapitel 19 - Saiwala
Kapitel 20 - Gadeltha
Kapitel 21 - Saiwala
Kapitel 22 - Saiwala
Kapitel 23 - Saiwala
Kapitel 24 - Saiwala
Kapitel 25 - Saiwala
Kapitel 26 - Gadeltha
Kapitel 27 - Saiwala
Kapitel 28 - Saiwala
Kapitel 29 - Saiwala
Kapitel 30 - Saiwala
Kapitel 31 - Gadeltha
Kapitel 32 - Saiwala
Kapitel 33 - Saiwala
Kapitel 34 - Saiwala
Kapitel 35 - Saiwala
Kapitel 36 - Gadeltha
Kapitel 37 - Saiwala
Kapitel 38 - Saiwala
Kapitel 39 - Saiwala
Kapitel 40 - Saiwala
Kapitel 41 - Gadeltha
Dank
Glossar
Anja Bärike
Drachenseele
Band 1: Der Ruf des Rätselsprechers
Fantasy
Drachenseele (Band 1): Der Ruf des Rätselsprechers
Saiwala wurde ihr Leben lang darauf vorbereitet, Familienhüterin zu werden und ihren Liebsten mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Als der Tag gekommen ist, der sie offiziell in diesen wichtigen Stand erheben soll, wird ihr Plan allerdings jäh über den Haufen geworfen. Sie trägt eine Drachenseele in sich, wie das Ritual der Drachenweihe enthüllt, an dem sie wie alle Sechzehnjährigen teilnehmen muss. Damit ist klar, dass sie sich in naher Zukunft in einen Drachen verwandelt, aber das ist noch nicht alles. König Talon aus dem Nachbarreich macht Jagd auf alle Drachenseelen, um sie für seine Zwecke zu missbrauchen. Hals über Kopf muss Saiwala fliehen, doch ihr Gedanke gilt allein ihrer Familie, die dem grausamen Tyrannen in die Hände gefallen ist. Wird sie es schaffen, ihr Schicksal anzunehmen und mithilfe der Drachen ihre Liebsten zu retten? Oder ist das erst der Anfang einer viel größeren Prüfung?
Die Autorin
1986 bei Leipzig geboren und aufgewachsen arbeitet Anja Bärike derzeit als Software-Entwicklerin. In ihrer Freizeit ist sie leiden-schaftliche Cosplayerin, die in zwei Kostümvereinen Geld für den guten Zweck sammelt. Dem Schreiben verfiel sie schon in der Grundschule nach einem Kurzgeschichtenwettbewerb für die Schülerzeitung. Mit der ›Herr der Ringe‹-Verfilmung ent-deckte sie schließlich ihre Leidenschaft für das Genre Fantasy und begann ihren ersten Roman zu schreiben sowie Kurzge-schichten in Anthologien zu veröffentlichen. Sie liebt es, die kreativen Geschichten zu Papier zu bringen und so mit anderen teilen zu können. Außerdem verbringt sie sehr gerne Zeit auf Buchmessen, egal ob im Cosplay oder zivil.
www.sternensand-verlag.ch
1. Auflage, Januar 2025
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2025
Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski
Lektorat: Lektorat Laaksonen | Stefan Wilhelms
Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH
Satz: Sternensand Verlag GmbH
ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-337-0
ISBN (epub): 978-3-03896-338-7
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Dieses Buch ist allenTagträumern gewidmet.
Lasst euch nie davon abhalten,eure Gedanken fliegen zu lassen.
Eure Welt wird dadurch nur bunter.
Elf Jahre zuvor …
Saiwalas Hand schloss sich fest um die ihrer Cousine Gadeltha, während sie ihrer Großtante in den dichten Wald folgten. Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg zwischen den gewaltigen Bäumen hindurch, ließen die Farne am Rand des Pfades leuchten, die so hoch waren wie die beiden Mädchen.
Gestern hatten sie ihre fünfte Sommersonnenwende gefeiert, den höchsten Festtag in ihrem Heimatland Hardankwa. Heute sollte ihre Ausbildung beginnen. Eine von ihnen würde eines Tages ihrer Großtante Alduma als Familienhüterin nachfolgen und damit die Geschicke ihrer Großfamilie lenken. Sie würde Seelenbünde segnen oder ablehnen. Die Kinder unterrichten und in ihrer Berufswahl beraten. Den Erwachsenen bei Krankheit und Geburt beistehen. Streit schlichten und Recht sprechen. Es war die höchste Ehre, die einer Frau zuteilwerden konnte.
Entsprechend aufgeregt schritt Saiwala nun den Pfad entlang, ihre Hände schwitzten, doch sie hielt die ihrer Cousine weiterhin fest. Nervös fuhr sie herum, als es im Gebüsch neben ihr knackte. Gadeltha drückte sich eng an sie.
»Das war bloß ein Vogel.« Die beruhigende Stimme ihres Vaters drang von hinten zu ihr.
Er und ihr Onkel begleiteten die Kinder mit Bögen und Schwertern bewaffnet. Der Wald war wild und es gab mehr als ein Wesen, das ihnen gefährlich werden konnte. Besonders in der Dämmerung.
Ihre Großtante Alduma ließ sich nicht beirren. Sie kannte den Weg und schritt weit voraus, sodass die Mädchen sich beeilen mussten, ihr zu folgen. Das dunkelblonde, gelockte Haar ihrer Großtante, das dem von Saiwala sehr ähnelte, war bereits von grauen Strähnen durchzogen und wehte in einer feinen Brise, da sie es offen und lang über den Rücken fallend trug.
Saiwala liebte es, ihr Zöpfe zu flechten, während sie Geschichten erzählte. Ab und an handelten diese auch von ihrem heutigen Ziel. Einem Ort, den die Mädchen bisher nur einmal direkt nach ihrer Geburt erblickt hatten.
Sie waren auf dem Weg zu einem Wächterbaum. Diese seltenen Exemplare überragten alle Pflanzen und ihre Kronen bildeten einen schützenden Schirm in unerreichbarer Höhe. Häufig lebten Baumhüter in ihrem dichten Blätterdach, jene Drachen, die Schicksale vorhersehen und Bilder der Zukunft zeigen konnten.
Die Bewohner Hardankwas verehrten und schützten sie. So wurden weder die Wächterbäume selbst noch andere Pflanzen in ihrem Umkreis jemals gefällt. Wenn die Menschen sie besuchten, brachten sie Opfergaben wie süße Früchte, Beeren oder Nüsse mit, die die Drachen gerne naschten. Auch Alduma trug etwas in einem Jutebeutel bei sich.
Das Zwitschern der Vögel wurde durchdringender, je höher die Sonne am Horizont emporstieg. Vielstimmig hallte ihr Gesang durch das Meer aus Grün. Saiwala mochte diese Laute ebenso wie den Geruch von Moos und Erde.
Endlich weitete sich der Pfad und gab die Sicht frei auf eine kreisförmige Lichtung, in deren Mitte der Wächterbaum wuchs. Sein Stamm war so gewaltig, dass es ein Dutzend Menschen bräuchte, diesen zu umfassen.
Saiwala musste den Kopf in den Nacken legen, um die Krone erspähen zu können. Mit offenem Mund stand sie da und starrte hinauf, bis Aldumas amüsierte Stimme sie weiter vordrängte. »Genug geschaut, Mädchen. Kommt her zu mir.«
Die Cousinen teilten einen nervösen Blick, ehe sie losliefen, um zur Familienhüterin zu gelangen, während ihre Väter am Rand der Lichtung zurückblieben.
Um den Stamm ragten knorrige Wurzeln aus dem Boden. Sie waren mit neuen sowie bereits verwitterten Leinenbändern geschmückt, auf denen die Bewohner ihrer Heimatstadt Barun kleine Botschaften mit Wünschen und Segen an die Drachen niederschrieben. Auch der Baum selbst und die unteren Zweige waren damit behangen. Die Streifen flatterten im warmen Morgenwind.
Alduma winkte die Kinder zu einer Stelle direkt am Stamm des Wächterbaumes, an der die Gabelung eines Astes, der vor Jahrzehnten abgebrochen war, eine Ablagemöglichkeit bildete. Sie holte zwei reife Pfirsiche aus ihrem Beutel und drückte sie den Mädchen in die Hand. Zum ersten Mal, seit sie ihr Haus heute Morgen verlassen hatten, mussten sich die Cousinen loslassen.
Ihre Großtante richtete sich auf. »Könnt ihr noch den Text, den wir gelernt haben?«
Saiwala reckte die Brust. »Ja, ich habe ihn ganz oft geübt.«
Gadeltha stand schüchtern an ihrer Seite, beide Hände fest um das süße Obst geschlossen, und nickte zustimmend.
»Also gut. Dann gehe ich ein paar Schritte zurück. Heute ist euer Tag.« Alduma strich Gadeltha eine ihrer braunen Haarsträhnen aus dem Gesicht, ehe sie sich umwandte und ein gutes Stück Abstand zu den Mädchen aufbaute.
Vor lauter Aufregung kribbelte Saiwalas Haut und ihr Mund wurde ganz trocken. Sie schluckte und flüsterte ihrer Cousine zu. »Sollen wir anfangen?«
Gadeltha starrte den Stamm hinauf, ihre hellbraunen Augen aufgerissen. Ihre Stimme war höher als sonst. »Ja, bitte schnell.«
Ein kurzes Kichern entfloh Saiwalas Kehle und löste die Spannung weit genug, dass es den Mädchen gelang, ihr Gebet im Chor auszusprechen.
»Ihr Drachen, so alt wie die Welt, wir beten um Rat, wenn’s Euch gefällt. Die Zukunft heut beginnen kann, stimmt Ihr dem zu, so ist uns nicht bang. Familienhüterin soll eine von uns sein, geschult werden beide, zu sichern der Familie Heim. Wir bringen Euch Gaben, so süß und fein, und wollten Euch fragen, was wird unser Schicksal sein?«
Sie stellten sich auf die Zehenspitzen, um die Früchte am Baumstamm zu platzieren, und atmeten erleichtert durch.
Als ihre Hände wieder frei waren, griff Gadeltha nach denen ihrer Cousine. Ihre Finger waren kalt und Saiwala drückte sie fest, während sie, wie man es ihnen beigebracht hatte, am Fuße des Baumes verweilten.
Es fiel ihr nicht leicht, die Geduld aufzubringen und nicht zu ihrer Großtante oder ihrem Vater zu eilen. In den meisten Fällen ließ sich kein Drache blicken, weshalb Saiwala auch heute nicht damit rechnete. Obgleich sie sich wünschte, einen zu Gesicht zu bekommen.
Sie musste sich nicht lange mit der Frage herumschlagen, wann sie ihre Position verlassen durfte, sollte sich nichts regen, denn ein Rascheln weckte ihre Aufmerksamkeit. Es stammte aus der Baumkrone und näherte sich.
Sie sog scharf die Luft ein und spürte, wie sich Gadeltha dicht an ihre Seite schmiegte, während sie gebannt den Wächterbaum betrachteten. Etwas bewegte sich zwischen den Blättern. Klauen kratzten über die Rinde, grüne Schuppen schimmerten im Sonnenlicht, verschmolzen beinahe vollständig mit ihrer Umgebung.
Die feinen Härchen in Saiwalas Nacken stellten sich auf bei dem Gefühl, beobachtet zu werden. Endlich erspähte sie den Umriss des schlanken Drachenkörpers, der sich um den Stamm wand und tiefer krabbelte. Der Baumhüter, der hier wohnte, musste schon alt sein, denn er war so lang, dass sein Körper den Baum beinahe umschlingen konnte. Allein sein Schädel war so groß wie Saiwala selbst und sie nahm all ihren Mut zusammen, um nicht vor dem Wesen zurückzuweichen, als es knapp über den dargebotenen Früchten stoppte. Kleine, spitze Hörner zierten seinen Kopf und Rücken und mit seinen goldenen Iriden musterte er die Mädchen durchdringend.
Saiwala erschien es, als würde der Drache ihr direkt in die Seele blicken. In diesem Moment wich die Furcht und machte Platz für Wärme und Vertrauen.
Schließlich hörte sie eine melodische Stimme in ihrem Kopf. »Euer Besuch ist wahrlich aufregend. Die Zukunft scheint Großes für Euch bereitzuhalten, dennoch vermag selbst ich sie nicht genau zu sehen. Nur eines ist gewiss: Es wird eine Zeit kommen, in der sich Eure Wege trennen und Ihr Euch doch dringender braucht als jemals zuvor. Deshalb habe ich ein Geschenk für Euch.«
Der Baumhüter löste seinen langen Schwanz vom Stamm, kringelte ihn vor sich ein und fuhr kurz mit der linken Vorderklaue darüber, ehe er sich wieder an die Mädchen wandte. »Streckt Eure Hände aus.«
Saiwalas Atem ging schnell, während sie ihren Griff von Gadelthas befreite und der Aufforderung des Drachen Folge leistete.
Dieser reckte seine Klaue vor und ließ je eine kleine grüne Schuppe fallen, die die Kinder auffingen.
Erneut erklang seine Stimme in Saiwalas Kopf. »Solange Ihr sie bei Euch tragt, werdet Ihr verbunden sein.« Er schnappte sich die Pfirsiche und wandte sich zum Gehen. Schon huschte der Baumhüter die ersten Schritte den Stamm hinauf, als sie seine Worte ein letztes Mal vernahmen. »Bewahrt Euch die Güte in Euren Herzen.«
Saiwala schloss die Hand um die Drachenschuppe und rief dem Wesen eilig hinterher. »Danke schön.«
Hastig folgte Gadeltha ihrem Beispiel. »Oh ja, vielen Dank.«
Saiwala zog die Brauen hoch, sie konnte den Schreck fühlen, der ihre Cousine durchzuckte. Den Moment der Furcht, dem Drachen vielleicht nicht den nötigen Respekt entgegengebracht zu haben.
Mit offenem Mund starrte sie zwischen der Schuppe und Gadeltha hin und her, sah die Faszination in ihren Augen und fühlte sie gleichzeitig in sich.
Ein Lächeln breitete sich auf ihren Gesichtern aus und sie fielen sich in die Arme, als ihnen bewusst wurde, welches Geschenk der Baumhüter ihnen gemacht hatte. Von diesem Augenblick an würden sie immer wissen, wie es der anderen ging, ihre Hoffnungen und Ängste wahrnehmen und ihr mit Mut und Liebe zur Seite stehen können, egal, wo sie sich befanden.
»Saiwala!«
Jemand schrie ihren Namen, doch sie konnte nicht antworten.
Mit der Wucht, als würde ein Drache sie im Fluge packen, wurde sie hinfort gerissen. Kälte umschloss sie, lähmte ihre Glieder und drang in ihre Lunge, die schmerzhaft brannte.
Verzweifelt schlug sie um sich, suchte nach Halt, den die glitschigen Steine ihr nicht boten.
Panik blendete sie, betäubte ihre Sinne.
Luft! Sie brauchte Luft. Allerdings wusste sie nicht einmal, wo oben und unten war.
Für einen Wimpernschlag durchbrach ihr Kopf die Wasseroberfläche und sie atmete japsend ein. Schon spülte der reißende Strom sie weiter, schlug sie gegen Felsen und raubte ihr beinahe das Bewusstsein.
Mit dem linken Arm bekam sie einen Baumstamm zu fassen, den der Fluss ebenso leicht umherwarf wie ihren kindlichen Körper.
Sie zog sich daran hoch, hustete und keuchte, bis ein stechender Schmerz sie aufschreien ließ. Ihr Arm klemmte zwischen dem Stamm und einem Stein, bis die Fluten sie unbarmherzig weiterrissen.
Durch das ohrenbetäubende Rauschen des Wassers hallten undeutliche Stimmen zu ihr.
Saiwala strampelte und kämpfte, aber die Kälte kroch immer tiefer in sie hinein. Ihr Brustkorb verengte sich und ihr Bewusstsein schwand. Nur ein Gedanke blieb zurück: Ich werde sterben.
Keuchend erwachte Saiwala aus jenem Albtraum, der sie seit ihrer Kindheit verfolgte. Auf ihrer Brust lag eine so schwere Last, dass sie nach niemandem rufen konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte.
Ihr Nachthemd war schweißgetränkt und ihre Hände zitterten, als sie sich langsam aufsetzte. Ihr linker Arm pochte in dumpfer Erinnerung an den Schmerz und ihre Kehle brannte, als hätte sie auch jetzt gegen das Ertrinken gekämpft.
Mit bewussten Atemzügen versuchte sie, sich zu beruhigen. Sie war in ihrem Bett, in Sicherheit, sie würde nicht ertrinken.
Nur langsam verklang die Erinnerung und sie stand auf, lief mit nackten Füßen über die Holzdielen, die sie gut genug kannte, um die knarzenden Stellen zu vermeiden.
Sie schlüpfte durch die Tür in den Hauptraum ihres Elternhauses. Der Kamin war erloschen, da es mitten im Sommer nicht nötig war, das Feuer stetig zu schüren. Das erste Licht der Dämmerung fiel durch die Fenster und erleichterte ihr den Weg zum Tisch, auf dem ein Krug mit Wasser und Tonbecher standen.
Sie goss sich etwas ein und trank, um das raue Gefühl in ihrem Hals zu vertreiben.
In dem Moment schwang die Eingangstür auf und ihr Vater trat herein, blieb abrupt stehen, als er sie entdeckte. Von ihm hatte sie sowohl die dunkelblonden Locken als auch ihre blaugrauen Augen geerbt. »So früh schon auf? Bist du nervös wegen der Drachenweihe?«
Er schob die Tür hinter sich zu und streifte die schweren Stiefel ab, an denen noch Erde klebte. Er musste im Wald gewesen sein.
Sie versuchte sich an einem Lächeln, nur gelang es ihr nicht recht. »Nein, ich habe bloß schlecht geträumt.«
Erst nach ihrer Antwort begriff ihr noch immer vernebelter Verstand seine Frage. Heute war ihre Sommersonnenwende. Sobald die Sonne ihren höchsten Stand erreichte, würde sie mit allen anderen Sechzehnjährigen auf dem Weiheplatz stehen. Sie schluckte.
Badu hängte seinen Umhang über eine Stuhllehne und forderte sie dazu auf, sich zu ihm zu setzen. »Du hattest schon eine Weile keinen Albtraum mehr«, hakte er besorgt nach, während er sich ebenfalls einen Becher Wasser eingoss.
Saiwala hielt ihren mit beiden Händen umklammert und starrte auf die klare Flüssigkeit. »Vielleicht ist es tatsächlich die Aufregung.«
Sacht strich ihr Vater ihr eine Haarsträhne hinters Ohr und brachte sie so dazu, zu ihm aufzublicken. »Egal, wie der heutige Tag ausgeht, ich möchte, dass du zwei Dinge weißt: Ich werde immer stolz auf dich sein. Und solange ich lebe, werde ich immer für dich da sein.«
Eine tiefe Furcht, die sie bisher verdrängt hatte, ließ sie erschaudern. »Ich weiß, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, aber … wenn ich eine Drachenseele in mir tragen sollte, dann werde ich mich in nicht allzu langer Zeit in eines dieser Wesen verwandeln und … euch vergessen.«
Kalt fuhr es ihr den Rücken hinunter bei dem Gedanken, sich selbst zu verlieren und zu etwas vollkommen anderem zu werden ohne irgendeine Chance auf Wiederkehr.
»Dein Herz schlägt für den Wald und für deine Familie.« Die ruhige Stimme ihres Vaters zog sie aus dem Strudel der Angst. »Ich sehe in dir das Selbstvertrauen eines Waldgeistes und die Weisheit eines Baumhüters. Es ist egal, in welcher Gestalt du durch die Wildnis streifen wirst, ich werde dich immer erkennen.«
Saiwala stellte ihren Becher beiseite und fiel ihrem Vater so stürmisch um den Hals, dass der beinahe sein Wasser verschüttete, ehe er sie innig umarmte.
Auch wenn sie weiterhin hoffte, dass sie keine Drachenseele in sich trug, erschien ihr die Vorstellung, als eine von ihnen durch den Urwald zu ziehen, der ihre Heimatstadt umgab, nicht mehr so beängstigend. Ein geschickter Jäger zu sein, wie es die Waldgeister waren, oder zu einem der verehrten Baumhüter zu werden und den Menschen ab und an Zukunftsvisionen zu schenken, war ein Gedanke, der sie ein wenig beruhigte. Zudem kamen ihr die Geschichten um Barniskei in den Sinn. Sie war ihre Tante zweiten Grades gewesen und Saiwala erinnerte sich nur an wenige verschwommene Bilder aus ihrer frühesten Kindheit. Alduma hatte ihr erzählt, dass Barniskei es schon in ihrer Jugend liebte, sich um die Kinder in der Familie zu kümmern. Sie passte auf alle Nichten, Neffen, Cousins und Cousinen auf und kümmerte sich um sie. Das änderte sich auch nicht, nachdem die Drachenweihe offenbarte, dass sie Trägerin einer Drachenseele war. Im Gegenteil, sie verbrachte all die Zeit, die ihr noch als Mensch geblieben war, mit den Kindern der Familie. Sie verwandelte sich schließlich, nachdem sie die Nachricht erhielt, dass ihr Neffe sich im Wald verirrt hatte. Barniskei hatte sich daraufhin in bunten Nebelschwaden aufgelöst. Sie erschien dem Jungen im Wald als kleiner bunt geschuppter Drache. Ein Kinderstreich, der ihn tröstete und nach Hause führte, ehe er mit den Worten verschwand, dass ihn nun andere Kinder dringender bräuchten.
Ein paar Stunden später band Saiwala mit zittrigen Fingern das zeremonielle Leinengewand im Nacken ihrer Cousine zusammen. Das Gespräch mit ihrem Vater hatte trotz allem nicht verhindern können, dass sie im Laufe des Morgens stetig nervöser geworden war. Immerhin war sie nicht mehr ängstlich.
Gewissenhaft kontrollierte sie den Sitz des weißen Kleides rund um den ausgelassenen Rücken im Streifen des Sonnenlichts, das durch die halb geschlossenen Fensterläden fiel, als Gadeltha zusammenzuckte.
»Sai, deine Hände sind eiskalt«, beschwerte sich die Braunhaarige und wandte sich um.
Schon seit vier Generationen bereiteten sich ihre Familienmitglieder in dem alten Lehmhaus, in dem ihre Großtante wohnte, auf die Zeremonie vor. Die alten Dielen knarzten unter ihren Füßen. Es roch nach dem Kräutertee, den sie ihnen heute Morgen aufgegossen hatte.
Entschuldigend zog Saiwala die Schultern hoch. »Tut mir leid. Das kommt von der Aufregung.«
Die hellbraunen Augen ihrer Cousine musterten sie verständnisvoll. »Ich bin auch nervös. Aber für dich muss es noch viel schlimmer sein.« Sacht griff sie Saiwala an den Schultern und drehte sie um, ehe sie ihre dunkelblonde Lockenmähne in Strähnen am Kopf entlangflocht.
Saiwala musste sich dafür nicht einmal auf einen der Stühle setzen. Gadeltha war einen ganzen Kopf größer als sie. »Immerhin wirst du heute Familienhüterin. Zumindest, wenn sich bei dir keine Drachenseele zeigt.«
Ein Nicken unterdrückend, um die Flechtfrisur nicht zu ruinieren, seufzte Saiwala und knetete ihre Hände. »Es wäre so aufregend, wenn eine von uns zur Trägerin einer Drachenseele würde. Aber ich hoffe sehr, dass ich keine besitze. Mein Leben lang habe ich mich auf die Rolle vorbereitet, die Familie als Hüterin anzuführen. Ich kann mir nichts anderes vorstellen.«
Über Saiwalas Haut lief ein Kribbeln bei dem Gedanken daran, dass sie nach der Weihe die Aufgaben von Alduma übernehmen würde.
Obwohl es ihr verboten sein würde, selbst eine Familie zu gründen oder auf lange Reisen zu gehen, hatte Saiwala sich nie etwas anderes gewünscht. Nicht auszudenken, sollte sich gleich auf dem Festplatz herausstellen, dass sie Trägerin einer Drachenseele war. Da diese meist nur wenige Jahre oder gar Monate lebten, ehe sie sich in Drachen verwandelten, würde die Rolle der Familienhüterin an Gadeltha übergeben.
Erst bei dem Gedanken an ihre geliebte Cousine bemerkte Saiwala, dass diese noch immer schwieg.
Hatte sie Gadeltha gekränkt? »Wenigstens wüsste ich die Familie bei dir in guten Händen.«
Gadeltha vereinte die Strähnen zu einem dicken Zopf und band ihn mit einem Lederriemen zusammen.
»Ich danke dir. Für den Rest der Familie wäre ich wohl eher ein Ersatz.« Gadeltha ließ den fertigen Zopf los und als Saiwala sich zu ihr umwandte, bemerkte sie, dass diese den Kopf hängen ließ.
Saiwala zog sie zu sich heran und schloss sie fest in die Arme. Sie flüsterte ihr ins Ohr: »Wie oft muss ich dir sagen, wie viel Wissen, Liebe und Können in dir steckt, bis du es glaubst? Du musst es den anderen nur öfter zeigen.« Sie spürte, wie Gadeltha sich eng an sie schmiegte.
Seit ihrem fünften Lebensjahr bereiteten sie sich gemeinsam auf diese Rolle vor. Lernten in eben jenem Haus, in dem sie sich nun umzogen, wie man Menschen las, Streit schlichtete, Handel trieb und was die Vergangenheit einem beibrachte.
Mit einem Ruck wurde die Holztür geöffnet und die beiden lösten sich hastig voneinander.
Ihre Großtante Alduma, deren Haar die Jahre weiß gefärbt hatten, betrat auf einen Gehstock gestützt das Zimmer und sah stirnrunzelnd zwischen ihnen hin und her. Dadurch vertieften sich die vielen Falten in ihrem Gesicht und ließen sie älter wirken. »Sai, du bist noch nicht umgezogen«, sagte sie in energischem Tonfall. »Nun aber flott. Gadeltha, dein Haar darf den Rücken nicht bedecken. Kinder, das wisst ihr doch.«
Die Präsenz der Hüterin, die ihre Familie seit beinahe fünfzig Jahren leitete, duldete keine Widerworte oder gar Trödelei. Von ihr hatten die Mädchen alles gelernt. Saiwala konnte ihr stundenlang zuhören, denn ihre Geschichten strotzten von Erfahrung und Weisheit.
Rasch streifte Saiwala ihr Kleid ab und hängte es achtsam über eine der Stuhllehnen. Sie liebte die blauen Blüten, die sie im letzten Winter selbst darauf gestickt hatte. Stattdessen schlüpfte sie in das zeremonielle Leinengewand, das den Rücken frei ließ und im Nacken geschlossen wurde.
Währenddessen flocht Gadeltha sich ihre langen Haare zu einem dicken Zopf, der ihr über die Schulter fiel. In Windeseile waren sie bereit und traten vor ihre Großtante.
Diese musterte sie streng, ehe sie eines ihrer seltenen Lächeln zeigte und zufrieden die Brauen zucken ließ. »Ich bin wirklich stolz auf euch. Ihr würdet beide eine hervorragende Familienhüterin abgeben.« Dann wanderte ihr Blick aus blaugrauen Augen zu Saiwala, die ihr Ebenbild darstellten. »Aber die Drachen haben entschieden, dich einen Tag früher auf die Welt zu schicken. Und wir zweifeln niemals an ihrem Urteil.«
Alduma reichte ihren Gehstock an Gadeltha, damit beide Hände frei waren, um sich die Kette abzunehmen, die sie seit so vielen Jahren trug. An ihr hing ein zierlicher bronzener Schlüssel.
Saiwala hielt die Luft an und beugte sich andächtig vor.
Ihre Großtante war mit den Jahren immer kleiner geworden und ihre Arme ließen sich im Alter nicht mehr so einfach heben.
Saiwalas Herz flatterte und sie griff in ihr Kleid, um sich irgendwo festzuhalten, als die Hüterin ihr den Schlüssel zum Familienbuch umhängte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Alduma ihr diesen noch vor der Drachenweihe übergab.
Ihre Ausbildung ermahnte sie schließlich zu einer Antwort. »Ich danke Euch vielmals. Es ist mir eine große Ehre.« Ihre Stimme zitterte.
Die Augen der Hüterin blitzten verschmitzt. »So kannst du nachher deinen ersten Eintrag machen. Über den Ausgang der Weihe.« Sie nahm den Gehstock wieder entgegen und wandte sich um. »Auf geht’s. Eure Eltern warten. Das Lied wurde sicherlich schon angestimmt.«
Einen kurzen Blick, ein Lächeln und einen Händedruck teilten die Cousinen miteinander, ehe sie nach draußen traten.
Alle Verwandten hatten sich versammelt und empfingen die Mädchen, die heute zu Frauen wurden, mit Gesang und Blütenregen. Die Sonne strahlte warm auf sie herab und es roch nach den Festtagsbraten, die in den Häusern auf die Rückkehr der Feiernden warteten.
Saiwala umarmte ihre Eltern, grüßte Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, Großmütter und -väter, die alle in ihre besten Gewänder gehüllt waren. Die Frauen trugen helle Kleider, manche sogar aus teuren gelb gefärbten Stoffen, kunstvoll bestickt mit Blumen, Blättern und kleinen Sonnen. Die Männer kleideten dunkelgrüne oder braune Hosen und ebenfalls helle Hemden.
Ihr großer Bruder Fripus schlug ihr aufmunternd auf die Schulter und sie lächelte ihn an.
Saiwala war von der Sommersonnenwende begeistert. Dieser höchste aller Festtage, wenn jeder Bewohner sich herausputzte, die Bärte gestutzt und die Haare zu aufwendigen Frisuren geflochten wurden. Doch mehr noch liebte sie den Gesang. Das alte Lied, das nach und nach vor vielen Haustüren der Stadt angestimmt wurde und stetig anschwoll, während sich die Menschen auf der großen Straße vereinten und zum Stadttor hinausschritten.
Wie eine Welle trug das Lied die Menschen, die in den Choral einstiegen.
Drachenseele, Drachenseele,
tief in mir, tief in mir.
Hör den Ruf, erwache! Hör den Ruf, erwache!
Zeig dich hier, zeig dich hier.
Drachenseele, Drachenseele,
sing mit mir, sing mit mir.
Freiheit auf uns wartet! Freiheit auf uns wartet!
Tanz mit dir, tanz mit dir.
Drachenseele, Drachenseele,
Magie alt, Magie alt.
Wirst wiedergeboren, wirst wiedergeboren,
in mir bald, in mir bald.
Drachenseele, Drachenseele,
komm zu mir, komm zu mir.
Zeige meine Seele, zeige meine Seele,
allen hier, allen hier.
Nervös schaute Saiwala sich um. Für gewöhnlich waren nicht so viele Bewohner gleichzeitig in den Gassen Baruns unterwegs. Nur zu den großen Markttagen war die Handelsstadt so belebt wie heute.
Die Familie bahnte sich ihren Weg vorbei an den hölzernen Wohnhäusern, auf die breite Straße, die von Geschäften und Wirtshäusern gesäumt war.
Ihr folgend schritten die Einwohner Baruns durch das steinerne Tor, das die Stadt vom üppigen Wald trennte, der sie zu drei Seiten einsäumte.
Saiwala sang innig den alten Text, während sie an der Stadtmauer entlanglief und auf den Pfad nach links in den Wald hinein bog.
Tief atmete sie ein. Der unverkennbare Geruch nach feuchtem Holz, der sich selbst im Sommer nie ganz verlor, erfüllte sie mit Ruhe.
Hier fühlte sie sich wohl, unter den Blättern der Urwaldriesen, die Ruhe und Schutz ausstrahlten. Zwischen den Farnen, deren Wedel ihr heute nur noch bis zur Hüfte reichten, und auf den dicken Moospolstern, die den Boden und umgefallene Baumstämme bedeckten.
Jede freie Minute hatte sie sich allein oder mit ihrem Bruder und ihren Cousins in die Wildnis geschlichen, obwohl ihr das strengstens untersagt und nicht ungefährlich war. Trotzdem hatte Saiwala die Bestrafungen in Kauf genommen, um in die Freiheit der Wälder zu flüchten.
Doch heute würde sich das alles ändern.
In Scharen machten sich die Bewohner Baruns auf den Weg zur großen Lichtung, die seit Generationen für die Drachenweihe benutzt wurde. Weiße Bänder säumten den Weg, von Kindern gebastelte Drachen aus Stroh und Zweigen hingen in den unteren Ästen.
Je näher sie dem Festplatz kamen, desto aufgeregter wurde Saiwala, bis sie schließlich die Hand ihrer Cousine in der ihren spürte und sie sich anlächelten.
Jedes Jahr hatten sie gemeinsam am Rand gestanden und beobachtet, wie sich das feine Drachenmal auf den Rücken einzelner Bewohner gebildet hatte. Dieses Mal war nun ihr sechzehnter Sommer, und sie würden in der Mitte stehen, alle Augen auf die kleine Gruppe gerichtet, gespannt, ob irgendjemand Träger einer Drachenseele war.
Endlich erreichten sie den Platz, an dessen Rand sich Saiwala von ihrer Familie verabschiedete.
Mit wachsendem Unbehagen umarmte sie ihre Eltern innig, während ihr Bruder ihr sacht gegen den Arm boxte.
»Na, Kleine? Aufgeregt?«, sagte er und sah sie aus blaugrauen Iriden an, die er ebenso wie sie von Vater geerbt hatte. Wahrheitsgemäß nickte sie und Fripus lachte. »Ach, das schaffst du schon. Im Übrigen stehen die Wetten auf dich und Gadeltha ziemlich hoch. Dicht gefolgt vom Sohn des Schmiedes.«
Für einen Moment entgleisten Saiwala die Gesichtszüge, bevor sie halbherzig einen Mundwinkel hob.
Davon bekam ihr Bruder allerdings nichts mehr mit, da er sich der Standpauke ihrer Mutter stellen musste.
»Über so etwas macht man keine Scherze«, schimpfte sie und sah ihn mit zusammengeschobenen Augenbrauen an. »Und man wettet erst recht nicht darauf. Das ist Sache der Drachen, uralte heilige Magie. Sollte ich erfahren, dass du dich an diesen Wetten beteiligt hast, dann gibt es Ärger, das verspreche ich dir.«
Fripus zog den Kopf ein. Auch wenn er schon vor einem Jahr den Seelenbund mit Skilla eingegangen war, mit ihr in einem eigenen kleinen Haus wohnte und ein Kind erwartete, so galt das Wort der Mutter trotzdem.
Obwohl sich der Klumpen in ihrem Magen nicht auflösen wollte, sorgte diese Szene wenigstens dafür, dass Saiwala den anderen ein wenig befreiter in die Mitte des Platzes folgte.
Siebzehn junge Menschen warteten dieses Jahr mit ihr auf die Drachenweihe. Die Mädchen in den traditionellen rückenfreien Leinengewändern, die Jungs nur in Leinenhosen, damit jeder sofort sehen konnte, wenn sich auf ihren Rücken ein Drachenmal bildete.
Die Sonne brannte heiß vom Himmel und Saiwala sehnte sich in die kühlen Schatten des Waldes, weit weg von all der Aufmerksamkeit.
Die Menschenmenge, die um den Platz stand, summte wie ein Bienenschwarm, während sich die Weiheanwärter brav in einer Reihe aufstellten, den Blick gen Norden, den Rücken zu den Zuschauern gewandt.
Angespannt presste Saiwala die Kiefer aufeinander, als sie schließlich das vertraute Geräusch der mächtigen Flügelschläge vernahm. Wie ein Sturm zog es heran, schwoll an, bis die Menschen verstummten und sich der gewaltige Schatten eines Drachen auf die Lichtung senkte.
Der Rätselsprecher, wie dieses Wesen genannt wurde, flog grollend über den Festplatz hinweg. Die silbergrau gemaserten Schuppen glänzten in der Sonne, bernsteinfarbene Augen musterten die Menschen am Boden. Der Drache schmiegte seine vier stämmigen Beine eng an den Körper, während er einen weiten Kreis über ihnen zog. Dann schlug er kräftig mit seinen weiten Lederschwingen und machte sich auf den Weg zur nächsten Stadt.
Die Bewohner Baruns, vor allem aber die Weiheanwärter in der Mitte des Platzes, hielten den Atem an. Der Zauber dieses seltensten und weisesten aller Drachen würde offenbaren, was sich schon von Geburt an in den Anwärtern verbarg und erst an ihrem sechzehnten Sommer sichtbar wurde.
Scharf sog Saiwala die Luft ein, da sie es mit einem Mal spürte. Als würde jemand mit einem nadelspitzen Eiszapfen über die Haut auf ihrem Rücken fahren und ein Bild malen. Alles an ihr erbebte, ihre Fingernägel bohrten sich in ihre Handflächen und als sie die Lider schloss, konnte sie das Drachenmal so klar sehen, als stünde ein anderer Träger direkt vor ihr.
Die zarten weißen Linien erschienen fast unscheinbar auf der hellen Haut ihres Rückens. Sie zeigten einen gewaltigen Drachen mit vier klauenbewehrten Pranken und mächtigen Flügeln. Hörner zierten Kopf und Buckel bis hinunter zum Schwanz und scharfe Zähne blitzten aus dem Maul hervor.
Saiwala presste die Lippen aufeinander und ballte die Hände zu Fäusten. Emotionen brachen über sie herein, die sie kaum zu beherrschen vermochte. Sie wollte weinen und schluchzen, die Ungerechtigkeit und den Verlust ihrer Zukunft hinausschreien. Der Angst, sich in ein anderes Wesen zu verwandeln, sich selbst zu verlieren, freien Lauf lassen. Doch sie durfte nicht. Es wäre eine Beleidigung der Drachen, eine Schmach für ihre Familie. Träger einer Drachenseele zu sein, war etwas, auf das man stolz sein musste. Eine Ehre für die Familie.
Endlich ließ das beinah schmerzhafte Kribbeln nach und Saiwala stand wie benommen da.
Dieser eine Moment hatte ihr Leben zerstört.
Sie würde niemals Familienhüterin werden.
Andere hätten über die neu gewonnene Freiheit wahrscheinlich gejubelt, sie hatte jedoch immer nur eines gewollt: Ihr Leben ihrer Familie widmen und jenen Menschen durch gute und schlechte Zeiten helfen, ihnen den Weg in die Zukunft ebnen. Nun blieben ihr nur wenige Jahre oder gar Monate, ehe sie sich in einen Drachen verwandeln würde.
Der Gedanke schnürte ihr die Kehle zu. Statt wie Alduma all ihre Jahre mit geliebten Menschen zu verbringen, würde sie diese vergessen und allein davonziehen.
Wie aus weiter Ferne drang Jubel an ihre Ohren. Die Menschen feierten ihre neue Drachenseele, warfen lange weiße Stoffbänder in die Luft.
Die Geräusche wurden vom Rauschen übertönt, das in Saiwala tobte. Sie musste sich zusammenreißen, nicht vor Panik davonzulaufen oder einfach am Boden zusammenzubrechen. Nichts gab ihr mehr Halt. Ihre Zukunft bestand aus dieser einen Erkenntnis: eine Drachenseele. Sie besaß eine Drachenseele.
Die Menschen hatten zu Recht auf sie gewettet.
Sie atmete tief durch und langsam nahm sie ihre Umgebung wieder wahr, bemerkte, wie verloren ihre Cousine an den Fingernägeln herumspielte. Auf Gadelthas Rücken sah sie kein Drachenmal.
Saiwala blinzelte mehrfach. Verdrängte Tränen, die sich in ihren Augenwinkeln bildeten. Sie schluckte erneut und brachte all die Beherrschung auf, die sie in den Jahren der Vorbereitung auf ihre Rolle erlernt hatte.
Mühsam setzte sie ein Lächeln auf, schüttelte ihre verkrampften Hände aus und zwang ihre Glieder dazu, sich zu bewegen.
Innig umarmte sie Gadeltha und war sich nicht sicher, wer gerade wen stützte. »Ich gratuliere dir von ganzem Herzen. Du wirst eine großartige Familienhüterin sein.« Ihre Stimme war leise, immerhin brach sie aber nicht.
Die zarten Hände, die ihre Taille umschlangen, zitterten ebenso wie ihre eigenen und sie hielten sich fest, bis sie tief durchatmeten und sich langsam voneinander lösten.
Erst dann wandten sie sich ihrer Familie zu.
Stolz strahlten ihre Eltern und ihr Bruder den Mädchen entgegen und Saiwala wollte sich eben auf den Weg zu ihnen machen, als ein ohrenbetäubender Lärm über die Lichtung schallte und augenblicklich alle verstummten, bevor sich der erste Schrei aus der Menge löste.
Von beiden Seiten drang tiefes Gebrüll zu Saiwala, durchzogen von metallenem Klappern und dem Stampfen Hunderter schwerer Stiefel.
Mit weit aufgerissenen Augen drehte sie sich um und konnte sich vor Schock nicht von der Stelle rühren. Ihr Atem stockte und sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.
Über den Waldpfad stürmten Soldaten auf die Lichtung, schnitten den Bewohnern somit den Rückweg ab. Sie trugen braune Lederrüstungen und blau-schwarz gestreifte Tuniken, die Farben des Nachbarreiches Hallus. Ihre blankgezogenen Schwerter glänzten im Sonnenschein und ihre Kettenhemden rasselten.
Saiwalas Gedanken rasten, sie verstand nicht, was vor sich ging. Es herrschte doch Frieden zwischen den Ländern. Natürlich hatte es in der Vergangenheit immer wieder Auseinandersetzungen gegeben, die letzte offene Schlacht zwischen Hallus und Hardankwa hatte aber noch vor ihrer Geburt stattgefunden. Seither existierten sie friedlich nebeneinander und trieben Handel. Ein Umstand, von dem ihre Heimatstadt, die direkt am Grenzfluss lag, besonders profitierte.
Neben Saiwala schrie Gadeltha auf, was sie aus ihrer Starre befreite. Panisch blickte sie sich um.
Wie hatte es eine ganze Armee schaffen können, sich so nah an die Stadt heranzuschleichen? Hatten sie den lauten Choral genutzt, um ihre Schritte zu verbergen? Oder hatten sie schon länger im Wald auf ihre Chance gewartet?
Einige Stadtwachen lösten sich aus der Menschenmenge und traten schützend vor die Bewohner, was Saiwala erkennen ließ, dass sie sich dringend in Sicherheit bringen mussten. Im ersten Moment des Chaos hatte sie nicht begriffen, in welcher Gefahr sie schwebten. Die Weiheanwärter standen zwischen den fremden Soldaten und den Menschen ihrer Heimatstadt Barun.
Mit klammen Fingern griff sie nach Gadelthas Arm und rannte los, ihren Familien entgegen.
Aber es war zu spät, die Krieger holten sie bereits nach wenigen Schritten ein.
Kräftige Hände packten sie, hielten sie fest.
Ein scharfer Schmerz durchzuckte Saiwalas Arm und sie schrie auf.
»Hiergeblieben«, schnauzte der Fremde sie an.
Doch Panik und Angst verliehen Saiwala ungeahnte Kräfte. Sie dachte nicht daran, sich gefangen nehmen zu lassen.
Wie ein Aal wand sie sich, trat nach allem, was sie erwischen konnte, und biss ihm schließlich so fest sie konnte in die Hand.
Der Soldat brüllte und ließ sie los.
Ohne zu überlegen, stürzte sie sich auf den Mann, der Gadeltha die Arme auf dem Rücken verschränkt hielt. Mit lautem Kreischen sprang sie auf ihn, brachte ihn aus dem Gleichgewicht und riss ihn schließlich um.
Sie wischte ihre Haare aus dem Gesicht und rollte sich auf den Bauch, um sich aufzurappeln, als sie von einem heftigen Tritt zwischen die Schulterblätter zu Boden gedrückt und dort festgenagelt wurde.
Mit einem Stöhnen wich die Luft aus ihrer Lunge. Ihre Finger krallten sich ins Gras. Das Blut rauschte in ihren Ohren.
»Ihr Stümper!«, dröhnte eine tiefe Stimme über sie hinweg. »Wenn ihr die Drachenseele entkommen lasst, macht euch der König einen Kopf kürzer.«
Saiwala stellten sich die Nackenhaare auf, so bedrohlich klangen die Worte des Fremden in ihrem Rücken. Sie musste ihn nicht sehen, allein die Reaktion der Soldaten, die mit einem lauten und deutlichen »Jawohl« antworteten, verriet ihr, welche Stellung er innehaben musste.
Das Gewicht seines Körpers presste sie so fest gegen den Boden, dass Panik in ihr aufstieg, da sie kaum Luft bekam. Mit aller Kraft stemmte sie sich auf die Unterarme, der Fremde schien davon aber nicht einmal etwas mitzubekommen.
Stattdessen bellte er Befehle und überwachte, dass sich auch jemand um Gadeltha kümmerte.
Sie erschien am Rande von Saiwalas Blickfeld, als zwei Soldaten sie mit sicherem Griff neben ihr auf die Knie zwangen.
Saiwala wollte ihrer Cousine helfen, doch sie konnte sich nicht einmal selbst retten. Der Druck auf ihrem Rücken war unnachgiebig, Sterne tanzten vor ihren Augen, sie keuchte hilflos, ihre Hände zogen Furchen im Erdboden.
»Ach Neiwan, du solltest häufiger auf deinen eigenen Rat hören,« drang eine Männerstimme an ihr Ohr, die so ruhig klang, als stünde die Person nicht mitten im Getümmel, sondern wäre auf einem gemütlichen Spaziergang unterwegs.
»Herr?«, kam die verwirrte und gereizte Antwort des Fremden, der Saiwala nach wie vor am Boden festnagelte.
Der Mann neben ihnen seufzte, ehe sein Ton ernst wurde. »Wenn du nicht sofort dein Bein von der Drachenseele nimmst, stirbt sie dir weg, ehe Talon landet, du Stümper.«
Abrupt verschwand der Druck in Saiwalas Rücken und sie schnappte nach Luft wie eine Ertrinkende, die sich eben an Land gerettet hatte. Eine Situation, die sie allzu gut kannte. Bilder fluteten ihren Kopf, Erinnerungen, die ihre Panik anfachten wie Öl das Feuer. Fluten, die sie davonrissen, umherwirbelten, gegen Felsen schmetterten und unter Wasser drückten.
»Marka, übernimm sie!«, bellte Neiwan bedrohlich.
Schon griffen wieder Hände nach ihr, drehten ihre Arme auf den Rücken und sicherten sie am Boden. Saiwala bekam diesmal zwar Luft, konnte sich aber weiterhin kaum rühren, nur erkennen, was sich in ihrer Blickrichtung abspielte.
Die Enge und Ausweglosigkeit der Situation verliehen ihrer Panik Flügel. Ihr Atem beschleunigte sich, sie keuchte und zitterte am ganzen Körper. Angst drohte ihr den Verstand zu rauben.
Die Angreifer hatten die Zuschauer mittlerweile erreicht, einzig die Stadtwachen standen ihnen noch im Wege. Doch sie waren deutlich in der Unterzahl und durch den überraschenden Überfall vollkommen unstrukturiert und überfordert.
Schreie hallten über den Platz, hervorgerufen durch mutige Angriffe oder todbringende Treffer.
Saiwala hätte vor dem Anblick blutend zusammenbrechender Kämpfer am liebsten die Augen verschlossen, aber sie konnte nicht. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Eine Gänsehaut überzog ihre Arme. So viele Emotionen kämpften in ihrem Inneren darum, hervorzubrechen, dass sie sich taub fühlte.
Wie in Zeitlupe rauschten die Bilder an ihr vorbei, alle Geräusche verzerrten sich zu einem Tosen, bis etwas ihre Aufmerksamkeit forderte.
Saiwala erstarrte. Nackte Angst rann durch ihre Venen, als die Krieger ihre Familie erreichten und ihr Bruder das Schwert einer gefallenen Stadtwache vom Boden aufklaubte.
Er konnte damit umgehen, das wusste sie, jedoch eher als Jäger, nicht als Soldat und erst recht nicht gegen diese Übermacht.
Saiwala zuckte zusammen, als Fripus den ersten Schlag des Angreifers parierte. Nach Leibeskräften wand sie sich, diesmal hielt der Soldat sie allerdings fest und sie musste untätig mitansehen, wie ihr Bruder immer mehr in Bedrängnis geriet.
Schweiß stand auf ihrer Stirn, die Furcht drückte sie ebenso schwer zu Boden, wie es der Befehlshaber zuvor getan hatte, und nahm ihr den Atem. Das alles hier war nicht real. Es konnte nicht wahr sein. Sie träumte, ganz bestimmt. Gleich würde sie panisch atmend aufwachen und feststellen, dass der Tag noch nicht angebrochen war.
Ein ums andere Mal trafen die Schwerter klirrend aufeinander.
Die Geräusche holten Saiwala aus ihrer Trance.
Unfähig, ihrem Bruder zu helfen, rief sie: »Nein. Fripus. Lasst ihn in Ruhe.«
Schluchzend wehrte sie sich, vollkommen ignorierend, dass der Fremde sie nur noch beharrlicher hielt und sie sich mit jeder Bewegung selbst Schmerzen bereitete.
Die Qualen, die ihre Seele erlitt, überlagerten jede körperliche Pein.
Plötzlich trat ein Krieger in ihr Sichtfeld, der viel zu ruhig für all das Chaos um ihn herum wirkte. Wie ein Fels in der Brandung stand er auf der Lichtung, während die Soldaten umherrannten und sich die Menschenmenge hin und her wiegte. Dabei konnte er kaum älter als Saiwala sein.
Seine Lederrüstung war pechschwarz, ein Schuppenmuster zierte sie. Er trug keinen Helm über den kurzen schwarzen Haaren und seine dunklen Augen musterten Saiwala aufmerksam. Er betrachtete sie wie ein Juwelier, der zu unterscheiden versuchte, ob man ihm einen Edelstein der Zwerge oder bloß Strandglas vor die Nase hielt. Dann sah er zu ihrem Bruder hinüber.
Sie stoppte in ihrer Bewegung, als der Soldat sich ihrer Familie näherte.
Schlagartig wurde ihr so kalt, als würde ein Wintersturm über den Platz fegen. Was plante er? Panisch schrie sie erneut los. Ihre Stimme war schrill und überschlug sich. »Lasst sie in Ruhe!«
Kurz schaute der Krieger zu ihr zurück, der neugierige Blick wich Überzeugung und sein Gang wurde zielstrebig.
Schließlich rief er Befehle aus und sie erkannte in ihm die ruhige Stimme des Mannes, der eben noch Neiwan in seine Schranken gewiesen hatte. »Kubitus drei. Die Gruppe nur gefangen nehmen, nicht verletzen! Sie gehören zur Drachenseele.«
Sofort veränderten die Soldaten um Saiwalas Familie ihr Verhalten. Sie steckten die Schwerter weg und packten ein Familienmitglied nach dem anderen, zwangen sie auf die Knie und fesselten ihnen die Hände hinter den Rücken.
Saiwala starrte geschockt zu ihnen hinüber. Das Blut gefror ihr in den Adern. Sie hatte ihre Familie verraten.
Jeden Einzelnen brachten die Soldaten zu Fall, selbst Gadelthas Schwester, die kleine Blomam, die bitterlich weinte.
Nur Fripus wehrte sich weiterhin. Er nutzte aus, dass die Angreifer ihn nicht verletzen wollten, und stellte sich schützend vor seine Frau, die ihren Babybauch umklammerte.
Ein lauter Knall durchzog die Luft.
Saiwala zuckte zusammen und blinzelte gegen Tränen an, die Wut und Angst in ihre Augen trieben.
Fripus’ Schwertarm wurde weggerissen. Er brüllte vor Schmerz und verlor die Waffe.
Bebend und mit tränenverschleiertem Blick beobachtete Saiwala, wie die Krieger ihren Bruder in die Knie zwangen und ihn am Boden festnagelten.
Erst dann, als der Tumult sich allmählich legte, trat mit ruhigen, bestimmten Schritten der in Schwarz gekleidete Mann an ihn heran und löste das Ende seiner schlanken schwarzen Peitsche von Fripus’ Arm.
Einer der Soldaten stürzte sich auf die schwangere Frau, die verängstigt aufschrie, und kassierte dafür einen derben Klaps eines Mannes, der so groß wie breit gewachsen war.
An seiner Stimme erkannte Saiwala Neiwan. »Prinz Jiukan hat gesagt, nicht verletzen! Das übernimmt König Talon noch früh genug.«
Die Männer lachten dumpf und Saiwala wurde schlecht. Hieß das, der Mann mit der Peitsche war der Prinz des Nachbarreiches? Was wollten er und sein Vater mit ihrer Familie und mit ihr? Und wie konnten sie es wagen, so über das Schicksal ihrer Familie zu scherzen?
Dass die Königshäuser in der Vergangenheit im Streit gelegen hatten, wusste sie. Doch ihre Familie hatte mit dem Adel nichts zu tun. Warum griff Talon plötzlich Hallus an?
Lautes Dröhnen riss sie aus ihren Gedanken. Sie hörte das Schlagen lederner Flügel, auch wenn es nicht so tosend war wie das Geräusch, das der Rätselsprecher verursacht hatte.
Saiwala versuchte verzweifelt, etwas zu sehen, aber noch immer wurde sie zu Boden gedrückt und konnte sich nicht rühren. Was ging hier vor? Die Drachen mischten sich nicht in die Kriege der Menschen ein, solange sie nicht selbst Ziel eines Angriffs wurden.
Die Menschen sahen auf und die Menge, die gerade erst unter Kontrolle gebracht worden war, wurde wieder unruhig. Die Bewohner Baruns drängten sich zusammen, Kinder jammerten, wurden von ihren Eltern schützend in den Arm genommen, während sich die Flügelschläge näherten.
Einzig die Soldaten blieben gefasst, kesselten die Menschen ein und leerten den Platz in der Mitte der Lichtung.
Auch Saiwala wurde mit festem Griff auf die Beine gehoben und beiseite gezerrt.
Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie sich um und blieb schließlich mit offenem Mund stehen, ohne einen Gedanken daran zu verlieren, sich zur Wehr zu setzen.
Über ihren Köpfen kreisten vier Pechbringer. Tiefschwarze Drachen, die im Volksglauben Unglück brachten. Der kleinste war kaum größer als ein erwachsener Mann, derweil die beiden mittleren die Stadtmauer überragten.
Doch wirklich beeindruckend war der vierte und größte unter ihnen. Mit seiner Spannweite verdunkelte er den Festplatz und sein Maul war so gewaltig, dass er einen Menschen mit einem Biss verschlingen konnte.
Die Bewohner starrten ihn an, als er in der Mitte des Platzes landete. Flüche hallten ebenso über die Lichtung wie Gebete. Allerdings gingen diese rasch in panische Schreie über, denn die drei kleineren Pechbringer hielten im Sturzflug auf jeden zu, der das Wort an die Drachen wandte. Sie schnappten nach ihnen, verletzten einige mit ihren scharfen Krallen, bis keiner es mehr wagte, etwas zu sagen.
Ungläubig beobachtete Saiwala das Schauspiel und registrierte schließlich, dass sich ein Reiter vom Rücken des größten Drachen schwang.
Wie konnte das sein? Das war unmöglich. Es gab keine Drachenreiter. Ein Traum. Es musste alles ein böser Traum sein. Warum wachte sie nicht endlich auf?
Die Soldaten nahmen Haltung an, und alle, die nicht die Einwohner Baruns oder Saiwalas Familie bewachten, verneigten sich.
Prinz Jiukan ging festen Schrittes auf den Reiter zu, blieb direkt vor ihm stehen und neigte den Kopf kurz, aber deutlich. »Vater, es gab hier in diesem Jahrgang nur eine Drachenseele. Wir haben sie und ihre Familie in Gewahrsam genommen.«
Er wies zu Saiwala, deren Beine ihren Dienst gänzlich zu versagen drohten, während der fremde Herrscher sich ihr näherte.
Sein Brustharnisch war schwarz und wie der seines Sohnes mit Schuppen verziert, die jenen der Pechbringer ähnelten. Die Rüstung unterschied sich nur darin, dass auf ihr das Wappen Hallus’, des Nachbarreiches von Saiwalas Heimat, eingestanzt war. Ein Schiff, das einen Berg umsegelte, auf dem ein Drache thronte. Darunter trug er ein nachtblaues Hemd, dessen Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt waren.
Er war zwar nicht größer als sein Sohn, besaß jedoch nichts von dessen ernster Ruhe. Wo Jiukan schlank und sportlich war, hatte sein Vater ein breites Kreuz und eine muskulöse Statur. Seine Augen waren eiskalt, seine Unterarme und das Gesicht von unzähligen Narben übersät.
Saiwala fragte sich, woher sie stammten und wie wohl der Rest seines Körpers unter der Lederrüstung aussehen musste. So gezeichnet, wie er war, wirkte Talon alt. Doch Saiwala wusste aus ihrem Unterricht, dass er erst nächstes Jahr seinen vierzigsten Sommer feiern würde.
Festen Schrittes trat er an sie heran, die harten Gesichtszüge wurden durch die stählerne Krone auf dunklem Haar unterstrichen. Seine ganze Präsenz schrie Gefahr.
Saiwalas Mund wurde trocken und das Blut rauschte ihr in den Ohren.
Er packte sie am Kinn, wandte ihr Gesicht zur einen, dann zur anderen Seite, als untersuchte er Handelsware auf ihren Wert.
Doch eben dieser Gedanke ließ sie zornig genug werden, um die Angst aus ihren Knochen zu vertreiben und die Gewalt über ihren Körper zurückzuerlangen.
Mit einem Ruck entriss sie sich seinem Griff, wehrte sich erneut gegen die Hände, die sie hielten, auch wenn es wenig Sinn hatte.
Der fremde König reagierte allerdings keineswegs verärgert. Sein Gesicht verzog sich zu einer grinsenden Fratze. »Eine starke Drachenseele, was für ein Fang. Passt gut auf sie auf, vielleicht wird sie sogar Arbo überragen.«
Der Pechbringer in der Mitte des Platzes grollte und Saiwala sah, dass Jiukan, der neben ihm stand, für den Moment eines Blinzelns die Gesichtszüge entgleisten.
War Arbo der Name des Drachen? Hatte sie ihn nicht schon einmal gehört? Und wie sollte sie ihn überragen? Tausend Dinge tobten durch ihren Kopf. Sie starrte in die berechnenden Augen. »Was wollt Ihr von mir und meiner Familie?«
Der fremde Herrscher zeigte weder eine Reaktion auf das Knurren seines Pechbringers noch auf ihre Frage. Er drehte sich stattdessen zur versammelten Menge um und hob in einer willkommen heißenden Geste die Arme. »Ihr braven Bürger Hardankwas, ihr Einwohner Baruns. Mein Name ist Talon san Anaqiujan, König von Hallus und erster Drachenreiter der Neuzeit. Diese Stadt gehört ab heute zu meinem Reich. Solange sich alle anständig verhalten und artig ihrem Tagesgeschäft nachgehen, habt ihr von mir nichts zu befürchten. Eure verbliebenen Wachen werden in die Armee eingegliedert, dafür bleibt ein Trupp meiner Soldaten zurück, um euch zu schützen.«
Die Bewohner sahen sich misstrauisch um, aber der König sprach unbeirrt weiter. »Wer sich bei mir besonders beliebt machen möchte – und ich will erwähnen, dass dies von großem Vorteil sein könnte –, der wird Prinz Jiukan jene Drachenseelen melden, die in dieser Stadt wohnen.«
Er zeigte auf seinen Sohn und Gemurmel rollte über den Platz.
Talon erhob seine Stimme, was die Menschen augenblicklich verstummen ließ. »Sie und ihre engsten Verwandten werden dann auf eine kleine Reise in meine Heimat antreten, um dem größeren Wohl zu dienen.«
Saiwala sah zu ihrer Familie, musterte ihre ängstlichen Gesichter, die ihres spiegelten. Diese verfluchte Drachenseele. Nun stahl sie nicht nur ihr die Zukunft, sondern stürzte ihre ganze Familie ins Unglück.
Wut kochte in ihr hoch. Hilflosigkeit und Verzweiflung ließen Tränen ihre Wangen herunterrinnen.
»Geht nun zurück in die Stadt«, drang Talons feste Stimme wie durch Nebel zu ihr durch. »Für heute bleibt ihr in euren Häusern. Es war genug der Aufregung für einen Tag.«
Die Soldaten machten den Weg nach Barun frei und befahlen der Menge mit gezogenen Schwertern, sich auf den Weg zu begeben.
Nur langsam folgten die Menschen der Aufforderung. Nicht wenige Einwohner warfen Saiwala und ihrer Familie mitleidige oder gar misstrauische Blicke zu. Hinter vorgehaltenen Händen flüsterten sie.
Wer würde es wagen, die anderen Drachenseelen zu verraten, die in ihrer kleinen Stadt wohnten?
Schließlich passierten auch die Letzten das Tor und Talon nickte Jiukan zu, der sofort zu Saiwala herüberkam. »Sperrt sie in den Kerker. Laut unseren Informanten gibt es einen unterm Gerichtsgebäude. Und findet eine passende Unterkunft für ihre Familie, aus der sie nicht entkommen können. Versorgt sie gut und teilt Wachen ein.«
Unsanft wurde sie vorwärts geschoben, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie begriff, dass man sie von den anderen trennen würde. Mit aller Kraft kämpfte sie gegen die erneute Panik an, die von ihr Besitz ergreifen wollte.
Stolpernd trieb man die kleine Gruppe durch das Stadttor bis in den Kern Baruns.
Die breite Straße und den angrenzenden Marktplatz hatte Saiwala noch nie so leer erlebt. Der Kontrast zum Festzug, der eben noch hier entlanggezogen war, hätte größer nicht sein können. Die Soldaten blieben größtenteils vor den Toren zurück und die Bewohner hielten sich an die Anweisung, ihre Häuser nicht zu verlassen. Es erzeugte eine gespenstische Stille mitten am Tag, durch die die klagenden Rufe von Saiwalas Mutter umso lauter hallten.
Sie rief nach Saiwala, die ein gutes Stück vor ihnen hergeführt wurde, schluchzte und flehte die Wachen an, sie gehen zu lassen.
Aber diese zeigten keine Regung.
Unerbittlich schoben sie Saiwala vor sich her, bis sie das steinerne Gerichtsgebäude mit seinen tiefen Kellern und Kerkern erreichten.
Saiwala wurde von einem einzigen Gedanken beherrscht. Sie musste ihre Mutter noch einmal sehen!
Gerade als der Wächter sie durch die Tür ins Gebäude stoßen wollte, schaffte sie es, sich loszureißen.
Blitzschnell drehte sie sich zu ihrer Familie um, lächelte so warm sie konnte durch den Tränenschleier, und rief zu ihnen hinüber: »Macht euch keine Sorgen, wir werden uns wiedersehen. Ich liebe euch!«
Den zweiten Satz hatte sie geschrien, als sie schon halb im Inneren des düsteren Gebäudes verschwunden war. Ein grober Stoß in den Rücken, der sie quer durch den Wachraum stolpern ließ, war der Dank für ihren Ungehorsam. Doch ihrer Familie Mut zu schenken, war es ihr allemal wert gewesen, auch wenn in ihr keine Hoffnung für ihre eigene Zukunft lag.
Sie prägte sich jenes letzte Bild all der geliebten Menschen ein, während ein Soldat sie die schmale Treppe hinunter in den spärlich beleuchteten Kerker führte, in dem sie nicht zu unterscheiden vermochte, ob die Kälte von den kargen Wänden oder aus ihrer Seele kam.
Gadeltha stand in einem holzvertäfelten Raum, hatte die Arme um sich selbst geschlungen und wusste nicht, wohin mit sich.
Nachdem die Soldaten das Gerichtsgebäude durchsucht hatten, war sie mit der Familie nach ganz oben in die Schreibstube geführt worden. Hier gab es lediglich einen massiven Schreibtisch, drei Stühle, einen Kamin und ein Bücherregal. Die Luft war staubtrocken. Nur eine Tür führte herein oder hinaus und die Fenster waren zu hoch, als dass man einen Sprung hätte überleben können.
Ihren Großeltern und Alduma überlies man die Stühle, während ihre Eltern mit Blomam, ihrer verängstigten kleinen Schwester, auf dem Teppich hinter dem Schreibtisch platznahmen.
Fripus stapelte gerade einige dicke Bücher, in denen Urteile der letzten Jahrzehnte festgehalten waren, damit seine schwangere Frau sich ebenfalls setzen konnte.
Nur Saiwalas Eltern kamen nicht zur Ruhe. Ihr Vater hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür, verlangte, seine Tochter zu sehen. Ihre Mutter Daila hingegen schluchzte verzweifelt, jammerte in sich hinein. Eine Strähne des kupferfarbenen Haares hatte sich aus ihrer Flechtfrisur gelöst. »Was haben sie mit ihr vor? Bitte sagt mir doch, dass es ihr gut geht.«
Gadeltha zögerte, strich über die Drachenschuppe in ihrem Ring, die sie seit ihrem fünften Lebensjahr immer bei sich trug. So fern erschien ihr jener Tag, als Saiwala und sie von ihrer Großtante Alduma in den Wald geführt worden waren, um ihre Zukunft als Familienhüterinnen von einem Drachen segnen zu lassen, und mit den Schuppen zurückkehrten.
Jetzt gerade fühlte Gadeltha ihre Cousine so schwach wie noch nie in ihrem Leben. Stets waren Freude, Angst, Aufregung oder Wut zu ihr gesprudelt. Nun war da nichts außer Leere, die auf Gadeltha lastete, als trüge sie einen Mehlsack mit sich herum.
Sie wollte zu ihrer Cousine, sie in den Arm nehmen, halten und irgendwie wieder zum Lachen bringen. War das hier die Trennung, die der Baumhüter ihnen damals prophezeit hatte?
Ein Räuspern riss sie aus ihren Gedanken und Gadeltha zuckte zusammen.
Alduma sah sie unter ihren dichten Brauen hervor an. Sie hatte bemerkt, dass Gadeltha die Schuppe in ihrem Ring streichelte.
Ein kurzes Kopfnicken ihrer Großtante hinüber zu Saiwalas Eltern bedeutete ihr, zu handeln. Doch wie sollte sie die beiden trösten, wenn sie kaum etwas wahrnahm?
»Tut ihr nicht weh. Bitte tut ihr nicht weh«, flehte Daila, die bronzefarbenen Augen weit aufgerissen.
Mit zögernden Schritten näherte sich Gadeltha. »Saiwala hat keine Schmerzen«, versuchte sie, ihre Tante zu beruhigen. Nur klang ihre Stimme so unsicher, dass sie sie nicht beachtete.
Automatisch wanderte ihr Blick zu Alduma, die allerdings keine Anstalten machte, ihr zu Hilfe zu eilen. Sie beobachtete Gadeltha nur erwartungsvoll, als säße sie im Unterricht und wartete auf die richtige Antwort zu einer gestellten Frage.
Sie presste die Lippen aufeinander. Bisher war sie nicht offiziell ernannt worden. Dazu hatten die Soldaten ihnen keine Zeit gelassen. Dennoch sah es so aus, als würde ihre Großtante von ihr verlangen, jetzt die Rolle der Familienhüterin zu übernehmen.
Nervös blickte sie zwischen Alduma und Saiwalas Eltern hin und her. Wie konnte ihre Großtante ihr das nur zumuten? In einer Lage wie dieser? Sie war nicht Saiwala, die sich voller Selbstbewusstsein zwischen Streitende warf.
Wieder strich ihr Finger über den Ring. Ihre Cousine hätte an sie geglaubt, sie ermutigt und angefeuert. Sie schuldete es ihr.
Gadeltha atmete tief durch und wandte sich erneut an Saiwalas Eltern.
Das hier war von heute an ihre Aufgabe. Sie war die neue Familienhüterin.
Sie straffte die Schultern und hörte auf, ihre Finger zu kneten. Sie räusperte sich laut, damit ihr Onkel innehielt. »Sie haben Saiwala nichts angetan. Ich spüre weder Schmerzen noch Furcht.« Mit einem milden Lächeln fügte sie hinzu: »Eure Tochter lässt sich nicht so leicht unterkriegen.«
Es entsprach nicht ganz der Wahrheit, doch diese hätte im Moment niemandem geholfen.
Beruhigend legte sie Daila eine Hand auf die Schulter und führte sie zu Fripus, der sogleich einen weiteren Bücherstapel errichtete.
»Aber du fühlst sie noch? Sie trägt ihren Ring? Sie … lebt?«, fragte ihre Tante aufgelöst.
Gadeltha half ihr, sich zu setzen. »Ja. Sie lebt und sie trägt ihren Ring.«
Tränen liefen Daila über die blassen Wangen. Sie sah zu ihrem Mann, der sich nicht von der Tür entfernen wollte. Aus blaugrauen Augen starrte er das dicke Holz finster an. Die Knöchel seiner zu Fäusten geballten Hände waren wund. Ein letztes Mal schlug er wütend dagegen, aber auch jetzt antwortete niemand.
Gadeltha ging festeren Schrittes zu ihm und griff ihm an die Schultern, damit er sie ansehen musste. »Das Einzige, was du jetzt tun kannst, ist, deine Frau zu trösten.«
Mit vor Wut zitternden Händen fuhr Badu sich durch die dunkelblonden Locken, ehe er schließlich zu Daila ging.
Gadeltha suchte abermals Aldumas Blick. Der war noch immer ernst, doch sie nickte ihr zu. Eine Geste, die ihr viel bedeutete.
Sie hatte ihre erste Aufgabe gut bewältigt. Nur die Umstände, die tausend Fragen und Zukunftsängste, hinderten sie daran, Stolz zu empfinden.
Nun, da Badus Toben und Dailas Jammern verklungen waren, hörte sie erst, dass ihre kleine Schwester leise vor sich hin weinte.
Sie eilte zu Blomam, die von ihrer Mutter in den Armen gewiegt wurde, und strich ihr über die kupferfarbenen Haare, die sie als einzige von ihnen geerbt hatte.
Es war gerade ihr siebter Sommer und bisher hatte das Leben sie davor verschont, den Tod kennenzulernen. Umso schlimmer musste sie den heutigen Tag erleben.
Ihre kleine Schwester so weinen zu sehen, brach Gadeltha das Herz. Denn dieses hier war anders. Keine Wuttränen, weil sie nicht mit in den Wald durfte. Kein Ausdruck von Schmerz, weil sie beim wilden Fangespielen gestürzt war. In den vom Kleid ihrer Mutter gedämpften Schluchzern lagen Angst und Überforderung.
Fieberhaft überlegte Gadeltha, wie sie Blomam ablenken konnte, um die Bilder des Angriffs zu vertreiben. Ihr Blick glitt durch den Raum, doch außer den Büchern gab es hier kaum etwas, womit man sich beschäftigen konnte.
In der Hoffnung, spannendere Dinge als Gerichtsurteile und Rechtsschriften zu finden, lief sie zu dem Teil des Regals, das noch nicht ausgeräumt war, und betrachtete die Buchrücken. Ihre Finger strichen über die kostbaren Ledereinbände und schließlich fand sie ein schmales Notizbuch, das die Aufschrift ›Barun, Träger von Drachenseelen‹ trug.
Sie zog es vorsichtig hervor und schlug die ersten Seiten auf. In feinsäuberlicher Schrift standen alle Bewohner Baruns der letzten fünfzig Jahre niedergeschrieben, die Drachenmale besaßen.
Kurz streifte Gadeltha der Gedanke, dass sie dieses Wissen unbedingt vor den Soldaten verbergen mussten.
Doch für den Moment nahm sie es mit zu Blomam. Sie setzte sich ihrer Mutter gegenüber und sprach die Kleine mit leiser Stimme an. »Schau mal, was ich gefunden habe.«
Ihre Schwester schniefte, den Kopf an der Brust ihrer Mutter geborgen. Dennoch sah sie nach einigem Zögern auf und betrachtete das Buch. Sie musterte die Namen. »Wer sind diese Leute?«
»Das sind die Träger von Drachenseelen. So wie Saiwala nun eine ist«, antwortete Gadeltha und blätterte auf die letzte beschriftete Seite. »Siehst du, Maga hast du schon auf dem Platz gesehen.«
Blomam wischte sich die laufende Nase am Ärmel ihres Kleides ab. »Trage ich auch eine Drachenseele in mir?«
»Das werden wir in neun Jahren erfahren«, erklärte ihre Mutter und strich der Kleinen die Spuren der Tränen von den Wangen.
»Warum?«, kam es sofort zurück und Gadeltha musste lächeln, auch wenn es ihr absurd erschien in ihrer derzeitigen Lage.
Allerdings konnte sie nicht mehr zählen, wie oft ihre Schwester diese Frage bereits gestellt hatte.
Ihr Vater rückte näher zu ihnen heran und legte Gadeltha eine Hand auf den Unterarm. Die Wärme, die diese Berührung ausstrahlte, spendete Gadeltha Trost.
Er nickte ihr dankbar zu, ehe er Blomam mit tiefer, ruhiger Stimme antwortete. »Das liegt an dem Zauber, mit dem die Magier von einst die Welt verändert haben.«
Vielleicht hoffte er, dass eine so komplizierte Antwort das kleine Mädchen befriedigen würde, doch er täuschte sich.
»Warum?«
Ihre Mutter seufzte und Gadeltha bemerkte, wie müde sie war. Also lehnte sie sich an ihren Vater und erzählte jene Geschichte, die sie als Kind so gern von Alduma gehört hatte.