Dragon Lords - Gefallene Götter - Jon Hollins - E-Book

Dragon Lords - Gefallene Götter E-Book

Jon Hollins

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Beschreibung

Seit der ehemalige Bauer Will Fallows und seine Gefährten den Drachenkönig Mattrax getötet und Kondorra von der Herrschaft der geflügelten Ungeheuer befreit haben, werden sie im ganzen Land wie Helden gefeiert: Sie schwimmen im Gold, die Frauen reißen sich um die tapferen Recken, und sie können sich jeden Wunsch erfüllen. Und sie leben glücklich bis Ende ihrer Tage. So oder so ähnlich hätte die Geschichte zumindest ausgehen können. Wenn die Drachen Kondorras die einzigen gewesen wären. Wenn sich die Drachenkönige der Nachbarreiche von Kondorra ferngehalten hätten. Haben sie aber nicht. Und deshalb beginnt für Will und seine Freunde das gefährlichste Abenteuer ihres Lebens – wieder einmal ...

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Seitenzahl: 854

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Das Buch

Seit die Schar mutiger Helden rund um Schweinebauer Will Fallows das Königreich Kondorra von der Herrschaft des ebenso gefräßigen wie faulen Drachen Mattrax befreit hat, hat sich das Leben zum besseren gewandt: Geld, Frauen, Ruhm – das alles gehört nun zum Alltag der Gefährten. Bis auf ihren Anführer Will – der arbeitet, seit ihn seine große Liebe Lette verlassen hat, wieder als … nun ja, Schweinebauer. Doch egal, ob sie nun ein Leben in Saus und Braus führen oder Ställe ausmisten, mit der Ruhe ist es für die Drachentöter bald vorbei. Denn Mattrax war nicht der einzige Drache in der weiten Welt Avarras – seine geschuppten Brüder sind bereits auf dem Weg nach Kondorra, und sie verfolgen einen schrecklichen Plan: Sie wollen die Götter vom Thron stoßen und sich selbst an ihre Stelle setzen. So bleibt Will und seinen Freunden nichts anderes übrig, als erneut in den Kampf gegen die Drachen zu ziehen …

Der Autor

Jon Hollins wurde in England geboren, und die Begeisterung für Fantasy und Science-Fiction begleitet ihn schon seit frühester Kindheit. Inzwischen lebt der Autor mit seiner Familie auf Long Island.

JON HOLLINS

DRAGONLORDS

Roman

Aus dem Englischenübersetzt von Oliver Plaschka

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

False Idols – The Dragon Lords

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 04/2017

Redaktion: Joern Rauser

Copyright © 2017 by Jonathan Wood

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Karte © by Tim Paul

Umschlagillustration: Luise Preissler

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-20488-4V002

www.heyne.de

Für Tami, Charlie und EmmaAlle Schätze, die ich mir nur wünschen kann.

»Tritt nicht dazwischen, wenn der Drache wütet!«

– König Lear

William Shakespeare

Aufstieg der Drachen

1

Erste Thaumatobiologin am Platz

Quirkelle Bal Tehrin träumte häufig von Feuer. Es entflammte in ihrem Schlaf, leckte an den Füßen ihrer Begierden und Ängste und schwang sich schließlich – mit weiten Schwingen – gen Himmel, durchstieß ihr Unbewusstes. Dann war es ein aufgewühltes Flammenmeer, das nichts als Zerstörung hinterließ. Und sie erwachte in ihrem Bett in der Mansarde im Dachgeschoss der Universität von Tamathia, das Bettzeug war schweißnass und die Abdrücke ihrer Hände hatten sich ins Laken gebrannt.

Noch war sie sich nicht ganz im Klaren darüber, ob ihr Herz zu diesen Gelegenheiten vor Furcht oder vor Vergnügen raste.

Doch aller Verwirrung zum Trotz gab es einige Dinge in ihrem Leben, derer sie sich gewiss war: dass sie mehr über Drachen wusste als irgendwer sonst, zum Beispiel. Dass ein solches Wissen ihre Stelle an der Universität sicherer als den Keuschheitsgürtel einer Prinzessin machte. Und dass der Palast des tamarischen Kaisers nicht ganz so beeindruckend wirkte, wie dieser meinte.

Nun saß sie mit ihm am Esstisch, bloß zwei Plätze weiter, flankiert von seiner Tochter und seiner Frau.

Der Kaiser war ein kleiner Mann in seinen späten Fünfzigern, das spärliche schüttere Haar zu kurzen grauen Stoppeln geschoren. Er war von Kopf bis Fuß in Gold gekleidet. Ausufernde Stoffe umschmeichelten seine Arme und seinen Oberkörper. Eine riesige Goldkette – die wahrscheinlich fast so viel wie das Vögelchen von Kaiserin selbst wog – hing um seinen Hals. Das tief gefurchte Gesicht, das sich aus ihren Tiefen erhob, schien im Vergleich dazu seltsam unzulänglich. Zudem war er mit religiöser Ikonografie behangen: Ein Medaillon mit dem Zepter Lalls, des Götterkönigs, baumelte über der Kette. Die geöffnete Hand Klimps, des Gottes des Kommerzes, war in seine breiten Ohrringe graviert. Die Weizengarben Schufts, des Gotts der Fruchtbarkeit und der Felder, prangten auf seinen Ringen.

Mittlerweile war es üblich, dass er sie einmal in der Woche zum Essen mit seiner Familie, den hochgestellten Höflingen und den gelegentlichen Würdenträgern anderer Länder einlud. Zunächst war sie mehr ein Gegenstand der Unterhaltung als eine eigenständige Teilnehmerin gewesen. Jedoch hatte sie es verstanden, mit der Zeit zu einem immer wesentlicheren Bestandteil dieser Treffen zu werden.

In eben diesem Augenblick startete Seine Eminenz einen Angriff auf ein kleines, gebratenes Rebhuhn und erwies sich rasch als die unterlegene der beiden Parteien. Mehr als einmal musste er sich von einem Leibwächter den Ellbogen aufs Brustbein schlagen lassen, um einen Knochen, der in der Kehle feststeckte, auszuspucken. Auf der Habenseite hatte er die Enthauptung seines Kochs noch nicht angeordnet. Inzwischen wusste er, dass Quirk das nicht schätzte.

»Also dann«, sagte der Kaiser, den Mund voller Knorpel, und zeigte mit einem Rebhuhnschenkel auf sie, als sei es ein winziger Degen. »Was hältst du von dieser Sache mit dem Elfenkönig?«

Quirk spürte, wie sich dreißig Augenpaare auf sie richteten. Edelleute, Lords und Ladys, die Cousins des Kaisers, zwei seiner unehelichen Kinder, drei Botschafter und ein Gesandter aus Verra. Alle schauten sie an und warteten, was sie sagen würde.

Die Wahrheit war natürlich, dass ihr begrenztes Wissen über die ganze Welt sie für eine Antwort auf diese Frage beklagenswert unqualifiziert erscheinen ließ. Den Großteil ihres Lebens hatte sie in Einsamkeit verbracht – erst als die persönliche Waffe eines mörderischen Halbgottes, dann als eine einsiedlerische Akademikerin im Kaninchenbau der Universität. Das eine Mal, dass sie sich in die Welt hinausgewagt hatte, war sie Zeugin des Todes von sieben Drachen und etwas mehr als zehntausend Bewohnern Kondorras geworden. Es war nicht gerade ein Abschnitt ihres Lebens, den sie als Erfolg werten würde.

Und doch warteten nun alle auf ihre Antwort. Alle wollten hören, was die führende Thaumatobiologin und Drachenexpertin der Welt zu sagen hatte.

Sie fragte sich, ob denn überhaupt irgendjemand in der Runde ihre Artikel gelesen oder ihre Vorlesungen besucht hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich der Schatzkanzler tatsächlich mit den Details des Verdauungstraktes des Varanus draconis befasst hatte. Er hatte genug Probleme damit, seinem eigenen etwas anderes als Alkohol zuzuführen.

Und auf solchen Schultern ruht das Schicksal von Nationen, dachte sie.

Die besondere Angelegenheit, die der Kaiser meinte, betraf den Tod eines weißen Hirschs durch mehrere tamarische Jäger. Der Hirsch war aus den Wäldern des Weiten Tals – die der Elfenhof beanspruchte – bis in die angrenzenden Wälder Tamars gewandert, wo die kaiserlichen Jäger auf Wildschweinjagd waren. Die Jäger pflegten die Wege der Vorsehung nicht zu hinterfragen, wenn diese in Richtung einer prall gefüllten Börse führten. Von daher erlegten sie den Hirsch, ohne zu zögern, zogen ihm das Fell ab und verkauften es zu einem Preis, der selbst in der Hauptstadt Händlern die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Was alles schön und gut war, bis der Elfenkönig die Nachricht überbringen ließ, der Hirsch sei sein hoheitliches Eigentum, die Jäger seien Diebe, und wenn man sie nicht umgehend ausliefere, auf dass er sie hinrichten könne, hätte das schwerwiegende Folgen.

Das hieß … sofern man den besonderen Elfendialekt frei übertrug. Wörtlich übersetzt, hatte die Botschaft nämlich gelautet: »An den sogenannten Kaiser des sogenannten Reichs von Tamar: Gib mir die Rundohren, die mir meinen Hirsch gestohlen haben, sonst komm ich vorbei und schieb ihn dir rein. Seine hochwohlgeborene Eminenz, Meister der Bogensehne, Schlächter der Rundohren, Oberbefehlshaber der Streitkräfte des Weiten Tals, der wohlgeformte Pinsel IV.«

»Nun ja«, sagte Quirk so diplomatisch wie möglich. »Angesichts des Tonfalls und Inhalts dieses Briefes kann ich im Ernst nicht finden, dass wir König …«, sie zögerte und brachte den Ausdruck »Pinsel« so würdevoll wie möglich über die Lippen, »… entgegenkommen sollten. Weiterhin glaube ich nicht, dass er notwendigerweise seine Drohung wahr machen wird, Euch, äh …«, hier zögerte sie ebenfalls kurz, »… zu schänden.«

»Dann scheiß auf ihn«, sagte einer der Edelmänner und wieherte vor Lachen. Zahlreiche andere stimmten mit ein, stampften mit den Füßen und schlugen zustimmend die goldenen Kelche auf die rote Samttischdecke.

Quirk zuckte zusammen – und nicht bloß, weil ihr die rote Samttischdecke wieder in den Sinn kam. Eines Tages würde sie wirklich mit dem Kaiser über dieses besondere Detail sprechen müssen … Sie hob einen zierlichen Finger, um anzuzeigen, dass sie noch nicht ganz fertig war.

»Allerdings …«, fuhr sie fort, doch es hörte schon niemand mehr zu.

Der Kaiser hustete vernehmlich. Alle Gespräche am Tisch erstarben, und die Aufmerksamkeit galt schon wieder dem reichsten, mächtigsten Mann im Raum. Der warf einen strengen Blick in die Runde, dann fragte er Quirk: »Was wolltest du sagen?«

»Dass es mir sinnlos erscheint, König … Pinsel unnötig zu ärgern«, nahm sie den Faden wieder auf. »Und obgleich er niemanden hier … schänden kann, dürften seine Streitkräfte Euren Grenzpatrouillen doch das Leben schwer machen – und niemand wünscht sich ernsthaft einen Krieg mit den Elfen.«

»Mir würde es nichts ausmachen«, kommentierte ein Edelmann, ehe ihm bewusst wurde, dass ihn ein jeder hören konnte.

»Ach ja, Lord El Sharred?«, fragte der Kaiser. Er hatte eine scharfe, näselnde Stimme. »Wie würde es Euch gefallen, Eure Kavallerie in einen dichten Wald zu führen, wo die Pfeile nur so auf Euch niederregnen, und wie wäre es, Gegner zu jagen, die wie Geister zwischen den Ästen verschwinden?«

Lord El Sharred hatte eine rasche Abwägung zu treffen: Entweder er beugte sich der überlegenen Weisheit seines Herrn, oder er versuchte, das Gesicht vor den anderen Adligen zu wahren. Und dann traf er die falsche Entscheidung.

»Wir sollten alles um ihre Ohren herum einfach abbrennen«, sagte er trotzig.

Abermals wurden die Kelche auf den Tisch geknallt. Der Kaiser verdrehte die Augen. Quirk lächelte gefasst. Fragen zum Thema Feuer konnte sie gern beantworten.

»Habt Ihr jemals versucht, lebendiges Holz zu verbrennen, Lord El Sharred?«, fragte sie. »Ehrlich gesagt, bezweifle ich, dass Ihr je auch nur trockenes Holz verbrannt habt. Schließlich habt Ihr doch Untergebene dafür.« Sie lächelte herzlich und verfolgte, wie dem Mann die Beleidigung vollständig entging. »Lebendiges Holz brennt nicht wie das Feuer daheim in Eurem Kamin. Es brennt langsam, mit viel Rauch und nur widerstrebend. Gelänge es Euch, auch nur einen Baum in Brand zu stecken, bevor die Elfen Euch und Eure Männer in exklusive Nadelkissen verwandeln, so würde ich Euch als einen Meister Eures Fachs bezeichnen.«

Da musste der Kaiser endlich lachen. Und wenn er lachte, lachten alle – sogar Quirk. Lord El Sharred wurde sehr rot im Gesicht, dann nickte er, brachte ein »Das will ich auch meinen« heraus und nahm schließlich Zuflucht zu seinem Kelch.

»Wie üblich«, sagte der Kaiser, sobald sich der allgemeine Frohsinn wieder legte, »hast du mehr Weisheit und Erfahrung unter Beweis gestellt als viele der Männer, die hier sitzen, Quirkelle Bal Tehrin. Daher frage ich dich abermals und hoffe, dass du ohne Unterbrechung antworten kannst: Was rätst du mir?«

»Schickt Ihm doch einfach zehn Eurer Hirsche, geschlachtet und fertig zum Braten, sodass er auf unsere Kosten ein Fest feiern kann. Das wird Leben retten und der Ehre Genüge tun.«

Der ganze Tisch hielt den Atem an, während der Kaiser dies erwog. Schließlich schnippte er mit den Fingern. Augenblicklich war ein Diener an seiner Seite, den Blick unterwürfig gesenkt.

»Sag den Jägern, sie sollen zehn Hirsche erlegen und sie zur Lieferung an König Pinsel vorbereiten. Dazu kommt noch eine Botschaft, in der ich mein tiefes Bedauern über diese unglückliche Situation zum Ausdruck bringe.«

Der Diener nickte und entfernte sich. Der Kaiser pflückte die Reste seines Rebhuhns auf, betrachtete sie angewidert und warf sie über die Schulter. »Machen wir mit dem gottverfluchten Nachtisch weiter, oder?«

Diesmal gab es keine Widerrede.

Auf das Essen folgten selbstverständlich Musik, Tanz und der überwältigende Wunsch zu entkommen.

Quirk wusste sehr gut, dass es eine Ehre war, so regelmäßig in den Kaiserpalast eingeladen zu werden. Sie war sich auch darüber im Klaren, dass viele sie mit Neid, ja, regelrechter Eifersucht bedachten. Sie wusste, dass das Essen hier besser war, als es an der Universität je sein würde, und dass ihre Ratschläge den Regierungsstil des Kaisers maßgeblich beeinflussten. Doch sie wusste ebenfalls: Am meisten wünschte sie sich einen ruhigen Abend mit ihren Schriften, ihren Notizen und einem vollen Tintenfass.

Unglücklicherweise war es dem Würdenträger aus Verra gelungen, sie in eine Ecke zu drängen. Und was noch schlimmer war, er schien fest entschlossen, sie so lange dort festzuhalten – notfalls mit Gewalt –, bis sie sich eine Meinung zu seinem anvisierten Handelsabkommen aus den Fingern sog.

»Aber ist es denn nicht offensichtlich, dass eine zwei-komma-sechs-prozentige Reduktion der Einfuhrzölle auf verranische Baumwolle den Exporten der hiesigen Textilindustrie völlig neue Horizonte eröffnen würde?«

»Nein«, sagte Quirk, die schon weit über das Vorschützen höflicher Verwirrung hinaus war.

»Oh«, sagte der Würdenträger mit freundlichem Grinsen. »Dann erkläre ich es wohl besser noch einmal.«

Quirk fragte sich, ob die Gunst des Kaisers auch einen Mord abdecken mochte. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie Pazifistin war.

Eine Pazifistin allerdings, die für den Tod von sieben Drachen und über zehntausend Bürgern Kondorras mitverantwortlich ist…

Doch gerade, als der Verraner eine Lunge voll Luft einsaugte, die den Blasebalg jeder Gießerei in den Schatten stellen konnte, erregte etwas auf der Treppe glücklicherweise seine Aufmerksamkeit. Er drehte sich um und quietschte geradezu vor Freude. »Es ist da!«, rief er. Das Grinsen auf seinem Gesicht wuchs wie ein Weinfleck auf einem Tischtuch, dann sprang er davon.

»Eure Eminenz!«, rief der Würdenträger den Kaiser unter Verletzung aller Etikette zu. »Eure Eminenz! Es ist da!«

Der Kaiser warf dem Verraner einen skeptischen Blick zu. Quirk glaubte nicht, dass das Handelsabkommen gute Chancen hatte.

Vier Diener kamen die Treppe herabgestolpert und brachen unter der Last eines von einer purpurnen Decke verhüllten Geschenks fast zusammen. Sie schafften es gerade so bis in den Speisesaal, taumelten noch drei Schritte weiter und setzten dann das Geschenk mit einem lautem Krachen ab.

»Vorsicht, ihr Trottel!«, zischte der Verraner.

Der Kaiser verdrehte die Augen.

Neben dem verhüllten Etwas nahm der Verraner eine Pose maximaler Großspurigkeit ein. Es war fast so groß wie er selbst. Asymmetrische Teile ragten ein Stück weit hervor, wurden aber von der Falten werfenden Decke verhüllt.

»Ich darf präsentieren!«, rief er prahlerisch. »Ein Zeichen von Verras Wertschätzung.« Damit verbeugte er sich tief.

Natürlich meinte er mit diesen Worten eine Bestechung. Ich gebe Euch dies, und Ihr könntet mir im Gegenzug meine Baumwollimporte verbilligen. Lasst uns aber gar nicht über die Riesenzahl von Baumwollplantagen drüben in Verra sprechen, sondern einfach so tun, als wäre es das Beste für uns alle.

Immerhin beruhigte des Kaisers protzige Zurschaustellung von Reichtum Quirk dahingehend, dass er wohl ziemlich schwer zu bestechen war.

Der Verraner zupfte an der Decke, die sein Geschenk verhüllte. Sie verhakte sich an einem der Vorsprünge. Er riss abermals. Als der straff gespannte Stoff an der Stelle entzweiplatzte, gab es ein reißendes Geräusch. Der Verraner stampfte wütend mit dem Fuß auf. Er zerrte daran, begriff, dass es nichts nützen würde, und machte sich daran, die verhedderte Stelle zu lösen. Sein Lächeln war längst zu einer starren Maske gefroren. Endlich hatte er alles frei, zog noch einmal und enthüllte …

Welches Wort fasst das am besten zusammen?

Obszönität?

»Ich präsentiere«, sagte der verranische Würdenträger und verbeugte sich tief. »Die Empfängnis von Bussi!«

Die Statue – ganz aus Gold – zeigte Lall, den Götterkönig und Herrn von Recht und Ordnung, sowie seinen Sohn Schuft, der sich vor ihm bückte; und Lall pflügte Schuft durch, als wäre er ein Feld. So lautete die gängige Legende: Schuft – Gott der Fruchtbarkeit und der Felder – wurde schwanger mit der Saat seines Vaters und brachte daraufhin die hermaphroditische Gottheit Bussi zur Welt. Eine Flut von Perlen an der Stelle, an der sich beide Götter vereinigten, zeigte deutlich an, dass dies tatsächlich der exakte Zeitpunkt der Empfängnis war.

Liebe, Wollust, Gewalt, Verrat und Vergewaltigung – all dies in eine geschmacklose, pompöse Zurschaustellung von Reichtum und Macht gegossen. Als Versuch, ein Handelsabkommen abzuschließen, mochte es ebenso brauchbar sein wie alles andere, was Quirk sich denken konnte.

Gerade als sie sich dem Kaiser zuwandte, um seine Reaktion auf dieses Meisterwerk der Sittenlosigkeit zu sehen, wurde die allgemeine Stille durch ein langsames Händeklatschen vom oberen Treppenabsatz aus gestört.

Jeder drehte sich um.

Oben auf der Treppe, die beständig Neuankömmlinge in den Saal spie, stand ein Mann in einem schlichten, aber ausladenden braunen Umhang. Die Kapuze war zurückgezogen und entblößte einen kahlen Schädel und ein Gesicht, das von Linien – ähnlich denjenigen auf einer Höhenkarte – durchzogen wurde. Seine Haut war sonnengebräunt, und dennoch wirkte er im Meer der Tamarer blass. Er trug goldene Ohrringe, und eine komplizierte Tätowierung schlängelte sich über seine Stirn bis zu einem Punkt zwischen den Augen. Er wurde von kaiserlichen Wachen flankiert, wirkte aber eher wie ihr Bewacher als umgekehrt.

Quirks Kindheit in der Gewalt des barbarischen Halbgottes Hethren hatte sie gelehrt, Fremden allzeit mit heftigem Misstrauen zu begegnen. Im Zuge ihrer langen Rehabilitation hatte sie dann gelernt, dieses Misstrauen ebenso instinktiv wieder niederzukämpfen. Dennoch – dieser Mann schien ihr auf den ersten Blick nicht geheuer.

»Was hat diese Unterbrechung zu bedeuten?«, schnappte der Kaiser, obgleich er vermutlich genauso dankbar war wie alle anderen, dass der Verraner nicht länger im Mittelpunkt stand.

Oben auf der Treppe kam der abgehetzt und verärgert wirkende Hofmarschall herangeeilt. »Ich bitte aufrichtigst und untertänigst um Vergebung, Eure Eminenz. Dürfte ich Euch …«

Doch der Mann fiel ihm ins Wort. »Ich bin Ferra, Abgesandter von Diffinax, und komme, Euren edlen Hof um eine Gunst zu ersuchen.«

Diffinax.

Wenngleich Quirk als Erste bereit war einzuräumen, dass es noch eine Menge über Drachen zu lernen gab, so wusste sie doch genug, um ihre Namen zu erkennen, wenn sie einen davon hörte.

Was für ein Mann gibt sich denn einen Drachennamen?

Wahrscheinlich die Sorte von Mann, die einen Abgesandten schickt, der es für schlau hält, einfach in den Speisesaal eines Kaisers hereinzuplatzen und ihn beim Essen zu stören.

Ferra aber redete unverdrossen weiter und schritt dabei die Treppe hinab, den hilflos mit den Armen wedelnden Hofmarschall im Schlepptau.

»Und wie ich sehe«, fuhr der Abgesandte fort, »komme ich gerade zur rechten Zeit, da der Schmutz, die Verdorbenheit, das Chaos des sogenannten Pantheons versucht, seine schäbigen Finger noch fester um Euer Herz zu schließen. Da Eure Sinne bedroht und beleidigt werden von dieser …« Er verharrte unversehens auf den Stufen und bedachte die verranische Skulptur mit einem Ausdruck des Ekels, der schon an Hass grenzte.

Obszönität, vervollständigte Quirk im Geiste.

»Schande«, sagte Ferra.

Er mag ein vorlauter Idiot sein– aber an seinem Kunstgeschmack habe ich nichts auszusetzen.

Der verranische Würdenträger war freilich anderer Ansicht. »Wer seid Ihr?«, spie er aus. »Wie könnt Ihr es wagen …«

»Wie könnt Ihr es wagen?«, giftete Ferra zurück. »Wie könnt Ihr eine solche Schamlosigkeit hochhalten und noch dazu anbeten? Wie kommt Ihr dazu, einen solchen Frevel heilig zu nennen? Ihr wagt es, diesen Mann, diesen Kaiser zu beleidigen, indem Ihr ihm dies als Vorbild präsentiert? Ist es das, wofür Ihr ihn haltet? Einen Vergewaltiger? Einen Sodomiten? Den Vater von Hermaphroditen?«

»Ein bisschen Sodomie ist doch nicht schlimm«, kommentierte der Cousin des Kaisers mit einem Schulterzucken.

Ferra fuhr sichtlich zusammen.

Der Kaiser, der mit wachsendem Interesse gelauscht hatte, legte den Kopf auf die Seite. »Und du nimmst dir heraus, für mich zu sprechen? Du glaubst meine Meinung zu Sodomiten und Hermaphroditen zu kennen?«

Quirk war zuversichtlich, dass das Wort unterwürfig Ferra noch nie in den Sinn gekommen war. Und sie wurde nicht enttäuscht.

»Ich sehe einen Mann, der von einer Welt des Schmutzes heimgesucht wird«, sagte Ferra. »Einen Mann, geboren in eine Welt des Exkrements hinein. Ich sehe einen Mann, ausgestattet mit der Macht, seine Leute aus dieser Jauche zu führen. Ich sehe einen Mann, der eine ganze Welt erhöhen kann. Ich sehe jemanden, den Diffinax zu retten wünscht.«

Der Kaiser lehnte sich zurück. »Aha«, sagte er mit einem Anflug von Verstimmung auf den Lippen. »Du bist also jemand, der annimmt, für jemanden zu sprechen, der wiederum annimmt, ich wünsche gerettet zu werden.«

»Er nimmt gar nichts an. Ob Ihr es wünscht oder nicht, Ihr habt Rettung nötig.«

»Er wagt es, über mich zu urteilen?« Die Lippen des Kaisers zogen sich zu einem Lächeln auseinander. Quirk erinnerte es allerdings eher an das Lächeln einer Katze, das einer Maus galt.

»Er wagt es, über die gesamte Welt zu urteilen«, antwortete Ferra, ohne zu zögern. »Es gibt nichts, das er nicht wagen würde.«

Der Kaiser kaute darauf wie auf ein paar Rebhuhnknochen.

Nun hatte Ferra den unteren Treppenabsatz erreicht und ließ den nach wie vor stotternden Hofmarschall und den verranischen Würdenträger links liegen.

»Es scheint, dein Herr ist ein wagemutiger Mann«, sagte der Kaiser schließlich.

Ferras Lächeln stand dem des Kaisers in nichts nach. »Mein Herr ist kein Mann.«

Das brachte die Unterhaltung kurz zum Verstummen. Auch den Kaiser hatte es kalt erwischt. Plötzlich wirkte er unsicher.

Als Quirk das Wort ergriff, klang ihre Stimme klein und zaghaft in dem großen Saal. »Diffinax«, sagte sie, »ist ein Drachenname.«

Ferra wandte sich ihr zu und bedachte sie mit einem Lächeln, das so schmal wie eine Stilettklinge ausfiel. »Quirkelle Bal Tehrin. Dein Ruf eilt dir voraus.«

Das Luftholen schien endlos zu dauern.

Der Blick des Kaisers ging zwischen ihnen beiden hin und her. Unschlüssig richtete er das Wort an Ferra. »Dein Herr, ist er ein Drache?« Er klang nicht ängstlich. Lange Jahre blutigen Bürgerkriegs hatten dafür gesorgt, dass kein tamarischer Kaiser es innerhalb der nächsten Generationen wagen würde, Schwäche zu zeigen. Doch er klang auch nicht gerade wild auf eine Antwort.

»Mein Herr«, sagte Ferra und entriss Quirk die Aufmerksamkeit, wie man ein Schwert aus einer Wunde reißt, »ist die Heilung für den Wahnsinn dieser Welt. Mein Herr ist Balsam für ihre Wunden. Mein Herr ist die Antwort auf all die Gebete, die die Götter schon viel zu lange ignorieren. Mein Herr …«

»Dein Herr ist Feuer und Unterdrückung.« Wiederum schien Quirks Stimme zu winzig in dem weiten Saal. Doch sie sah es genau vor sich – das Flammenmeer, das ihre Träume heimsuchte und sich über die Welt ausbreitete.

»Mein Herr«, herrschte Ferra sie an, ohne einen Moment lang die Augen vom Kaiser zu nehmen, »ist Friede. Lange ersehnt und erkämpft.«

»Er ist ein Drache«, wiederholte der Kaiser. Diesmal war es keine Frage mehr.

»Er ist so viele Dinge. Eins davon ist ein Drache.«

Die versammelten Edelleute, beinahe vergessen in der Hitze des Schlagabtauschs, schnappten leise nach Luft.

»Drachen töten«, sagte Quirk gelassen, als spräche sie mit sich selbst. »Sie unterdrücken. Drachen sind … nein, grausam ist nicht das richtige Wort. Das ist eine menschliche Regung, und so was besitzen sie nicht.«

In Kondorra hatte sie Hunderte Männer und Frauen befragt, die unter der Herrschaft der Drachen gelebt hatten. Aus erster Hand hatte sie das Elend erlebt, in das man sie gezwungen hatte.

Ferra schüttelte den Kopf. Ein Ausdruck der Trauer trat auf sein Gesicht, deplatziert auf seinen strengen Zügen. »Ach, Quirkelle, wie fehlgeleitet du doch bist. Wie sehr du andere in die Irre geführt hast. Und für was? Persönlichen Reichtum? Die Gunst mächtiger Männer?«

Einen Augenblick lang verstand Quirk überhaupt nicht, was der Mann meinte. Solche Gedanken waren ihr tatsächlich völlig fremd.

»Ich … ich habe … was?«, war alles, was sie herausbrachte.

»Aber wie kann ich dir Vorwürfe machen?« Ferras Stimme troff vor falschem Mitgefühl. »Wo doch selbst die Götter in ihren himmlischen Höhen nichts anderes tun, als uns fehlzuleiten? Wenn niemand sonst ein besseres Vorbild gibt? Wenn ihr Diffinax’ Weisheit noch nicht in eure Leben, eure Seelen gelassen habt?«

»Das sind schwerwiegende Anschuldigungen«, sagte der Kaiser, während bei Quirk noch immer alles durcheinanderging.

Ferra machte eine abwehrende Geste. »Mit Anschuldigungen gebe ich mich nicht ab. Diffinax hat mich gelehrt, über solchen Dingen zu stehen. Mein Geschäft ist die Wahrheit. Ich befasse mich mit der Welt, wie sie ist, aber nicht mit der, die ich mir wünschen würde. Ich sehe sie, akzeptiere sie und stelle mir die Frage: Was würde ein Wandel tatsächlich erfordern? Und wie kann ich das Vermächtnis einer besseren Welt hinterlassen? Wie bringe ich die Leute dazu, zu mir aufzuschauen und meiner mit Liebe zu gedenken?«

Schamlos fischte er nun nach den Sympathien des Kaisers. Es war ein feiges Schauspiel der niedersten Art, ein Lehrstück in politischer Verführung. Und dem Ausdruck auf des Kaisers Gesicht nach zu urteilen, hatte er damit Erfolg.

»Ihr glaubt wirklich, dass ich des Ruhmes wegen hier bin?«, fragte sie. Es mochte nicht die beste Argumentationslinie sein, doch sie konnte nicht anders. Ferras Anschuldigung war zu dreist, zu falsch, um darüber hinwegzusehen.

Ferras Ausdruck schien voller Verachtung. »Es ist mir wirklich völlig gleich, weshalb du hier bist, Quirkelle Bal Tehrin. Vielleicht zur Selbstverherrlichung. Vielleicht auch, um dich im Kreise deiner Kollegen überlegen zu fühlen. Vielleicht, um einen dunkeläugigen Studenten mit Geschichten von der kaiserlichen Tafel zu beeindrucken. Vielleicht schmeckt dir auch einfach das Essen. Für mich zählen einzig und allein die Lügen, mit denen du das Ohr des Kaisers vergiftest, um ihm die Wahrheit und das Licht Diffinax’ zu verwehren.«

Da lachte ihm Quirk beinahe ins Gesicht. »Ich verwirre seine Sinne? Weil ich ihn nicht darum ersuche, einen Drachen zu verehren?«

Ferras Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Ersuchst du ihn denn um nichts? Versuchst du nie, ihn von der einen oder anderen Handlungsweise zu überzeugen? Stehst du nicht gerade hier und benutzt deinen Einfluss, um ihn von meinem Herren fernzuhalten?«

»Wovon ich ihn fernzuhalten versuche, ist die Sklaverei der Lehren eines nichtmenschlichen Monstrums mit einer psychotischen Gier nach Macht und Reichtum.«

Sie glaubte, sie konnte es mit diesem Mann aufnehmen. Er hatte sie erst kalt erwischt, aber er war genauso armselig, dumm und schlecht informiert wie alle Botschafter und Würdenträger, seinen eigenen Zielen zu sehr verhaftet. Seine Dreistigkeit hatte die Aufmerksamkeit des Kaisers erregt; Quirk aber hatte schon lange des Kaisers Respekt gewonnen.

Ferra machte einen Schritt auf sie zu. Die Bewegung sollte einschüchternd wirken. Stattdessen aber trat Quirk ebenfalls vor, sodass sie sich gegenüberstanden.

Er beugte sich nach vorn und senkte die Stimme. »Hast du es ihm erzählt?«, fragte er. Beinahe beiläufig, beinahe zärtlich. Bei diesem Gedanken überkam sie ein Schaudern. »Hast du auch erzählt, wie du zu deinem Wissen gelangt bist?«

»Jeder weiß, wie …«, hob sie an, denn sie konnte keine Angriffsfläche erkennen. Jeder wusste, dass sie in Kondorra gewesen war. Deshalb war sie ja berühmt.

Doch Ferra ließ nicht locker. »Hast du ihm von den Kindern erzählt, die du verbrannt hast? Von den Frauen, die du als Witwe zurückgelassen hast? Den Kindern, die du zu Waisen gemacht hast? Hast du ihm von deinen Feuerträumen erzählt?«

Quirks Lunge versagte ihr den Dienst. Plötzlich fühlte sich der riesige Saal viel zu klein an, und zu eng. Alles drang auf sie ein.

Ein Flamenmeer, das von Horizont zu Horizont reicht.

Und im Herzen dieses Meeres stand kein Drache – sondern sie selbst. Flammen schossen aus ihren Händen. Die Flammen fegten Männer wie Frauen und Kinder von dieser Welt. Rissen ihnen das Fleisch von den Knochen.

Sie erinnerte sich an eine Nacht in Kondorra, als sie in einer Höhle vor einem Drachen gestanden hatte und Feuer aus ihren Handflächen geschossen war und getötet, getötet, getötet hatte.

Nein. Nein, davon hatte sie dem Kaiser nicht erzählt. Davon hatte sie niemandem erzählt. Niemand außer ihren Gefährten in Kondorra wusste davon.

Wie nur – bei allen Geistern der Unterwelt! – hatte dieser Mann davon erfahren? Dieser hässliche, falsche Scheißhaufen von einem Mann …

»Jetzt willst du mich verbrennen, nicht wahr?«, fuhr Ferra fort, die Stimme klang noch immer wie diese abstoßende Parodie von Bettgeflüster. »Ich weiß, dass es so ist. Ich habe mein ganzes Leben mit Drachen verbracht. Ich kenne Geschöpfe des Feuers, Quirkelle Bal Tehrin. Ein Teil von dir will uns allen beim Brennen zusehen.«

»Nein!«, schrie sie, denn sie konnte nicht anders. Sie musste es leugnen. Niemals konnte sie sich eingestehen, dass er recht hatte.

Der Kaiser starrte sie an. Die Kaiserin auch. Ihre Tochter. Der Hofstaat. Sie alle. Selbst der arme, goldene Schuft – festgehalten in gebeugter Pose und bis in alle Ewigkeit beschämt – starrte sie an. Alle teilten sie denselben Ausdruck des Entsetzens. Weil sie es wussten. Sobald Quirk die Beherrschung verloren hatte, war es ihnen klar gewesen. Quirk war eine Lügnerin.

Sie wandte sich ab und rannte davon.

An den Toren des Palasts verlangsamte sie ihre Schritte. Die Dienerschaft starrte sie an. Wachen hielten nach Unruhequellen Ausschau. Quirks Handflächen rauchten.

Sie atmete tief und bebend, sog die kühle Abendluft ein und versuchte, die Kälte bis in ihr Innerstes dringen zu lassen.

Arschloch. Sie konnte nicht glauben, was da gerade passiert war. Woher wusste er von diesen Dingen? Wie konnte er davon erfahren haben?

Sie sollte zurückgehen. Sie sollte ihm zeigen, wie wenig Angst sie vor ihm hatte.

Sie sollte ihn brennen lassen.

Nein.

Sie war zu aufgedreht, zu nah am Abgrund für eine vernünftige Unterredung. Sie würde alles nur noch schlimmer machen. Sie sollte in ihre Mansarde gehen, in ihr Bett, zu ihren Schriften, ihrer Tinte. Sie sollte sich beruhigen, ihren inneren Frieden wiederfinden.

Sei die Oberfläche des Sees. Ruhig. Unbewegt. Sie versuchte sich an der alten Meditationstechnik, die ihr die Priesterinnen Kluks – der Göttin der Weisheit – beigebracht hatten.

Sie konnte sich den gottverfluchten See gerade nicht mal vorstellen.

Mit einer Grimasse stürmte sie in die Nacht hinaus.

Die Universität von Tamathia war ein beruhigendes Stückwerk aus Steinen, Mörtel und Holz, in einer Vielzahl verschiedener Architekturstile zusammengeworfen. Strebebögen zerschellten an kalten Klippen aus Ziegelstein. Sanft gewölbte Kuppeln wurden von schmerzhaft spitzen Steinnadeln punktiert. Das von Gas gefüllte Observatorium hüpfte über dem Speisesaal, verheddert in einem Chaos von Ankerseilen.

Das Torhaus, eine der ältesten Strukturen vor Ort, war in frühem Brutalismus ausgeführt worden. Eine abschreckende Masse an Eisenspitzen und wuchernden Steintumoren ließen den Eingang eher wie eine Wunde aussehen. Doch das Licht, das nach draußen fiel, war weich und gelb, und der Anblick erfüllte sie mit heimeliger Wärme.

Stopfer, der Pförtner, saß auf einem Schemel im Durchgang und hielt eine Keule, die fast so alt und krumm war wie er selbst.

»Meisterin Quirk«, grüßte er und tippte sich an die Stirn.

»Stopfer«, sagte sie mit einem Lächeln und nickte ihm zu, und dieses schlichte Ritual linderte das Zittern, das ihre Hände noch immer erfasste.

»Meisterin Afrit hat nach Euch gesucht.« Stopfers Stimme klang wie eine quietschende Tür.

Quirk seufzte. Das war das Letzte, was sie jetzt noch brauchte. Und dann, als hätte die Nennung ihres Namens sie wie einen Dschinn aus dem Märchen heraufbeschworen, eilte Afrit über die Rasenfläche des Innenhofs herbei und rief: »Quirk! Quirk! Quirk!«

Quirk schloss kurz die Augen. »Danke«, sagte sie an den alten Pförtner gewandt. Der nickte nur knapp, war wahrscheinlich schon halb eingeschlafen.

Dann widmete sie sich Afrit und arrangierte ihr Gesicht in einer Weise, dass es einem Lächeln so nahe wie nur irgend möglich kam. »Ja«, sagte sie. »Ich bin zurück, und es ist spät. Und du bist noch auf.«

Afrit strahlte. »Ich habe Arbeiten korrigiert und mir die Haare über der Jugend von heute gerauft.« Sie war jung, dunkelhäutig und hatte ihr langes Haar zu dicken Zöpfen geflochten. Sie mochte dieselbe Art von lockeren Gewändern wie Quirk – vielleicht war es nur eine vorübergehende Vorliebe, vielleicht auch nur Zufall. Quirk wusste es nicht, und ehrlich gesagt hatte sie vor ihrer schicksalsträchtigen Reise nach Kondorra auch nie mehr als ein paar gelegentliche Worte mit Afrit gewechselt. Doch seit ihrer Rückkehr und der Veröffentlichung ihres großformatigen Drachenbandes hatte Afrit Quirks Flamme wie ein ausgesprochen selbstmörderischer Falter umtanzt.

»Wie war es beim Kaiser heute Abend?«, forschte Afrit unverfroren nach. Das war genau die Frage, die zu beantworten Quirk am wenigsten Lust hatte.

»Anstrengend.« Dies schien ihr die beste Strategie zu sein, dem Gespräch zu entgehen.

»Natürlich, tut mir leid. Ich hatte ganz vergessen, wie spät es ist.« Lächelnd trat Afrit einen Schritt beiseite.

Einen Augenblick lang hoffte Quirk, sie möge sie in Ruhe lassen. Dann aber hakte Afrit nach.

»Keine Arbeit, die du heute noch zu erledigen hast?«

Quirk versuchte, ein hörbares Seufzen zu unterdrücken. »Der Dekan hat mich noch einen Monat von der Lehrtätigkeit freigestellt. Meine Vortragsreihe hält mich trotzdem gut auf Trab.«

Afrits Lächeln wurde breiter. »Eines Tages muss ich auch so berühmt werden wie du. Das scheint eine Menge Vorzüge zu haben. Obwohl ich die Lehre wahrscheinlich vermissen würde. Du denn nicht?«

Hilflos zuckte Quirk die Schultern. »Eigentlich finde ich das Berühmtsein zurzeit einfach nur anstrengend.«

Wenigstens besaß Afrit den Anstand, beschämt zu wirken. »Tut mir leid. Jetzt hast du es mir zweimal sagen müssen! Ich lass dich ins Bett.«

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Quirk mit falscher Freundlichkeit. »Bestimmt bin ich morgen früh eine bessere Gesellschaft.«

Afrit nickte. »Und ich lerne, einen offensichtlichen Wink mit dem Zaunpfahl zu verstehen.«

Quirks Lächeln war nun wenigstens halb aufrichtig. »Bis morgen«, sagte sie mit leichtem Widerwillen.

»Bis morgen«, stimmte Afrit zu, und schon einen Augenblick später war Quirk tatsächlich allein.

Quirks Mansarde war lang, hatte eine niedrige Decke und roch nach Staub und Papier. Mit einem Seufzen schloss sie die Tür hinter sich. Dann ging sie im Dunkeln zu dem Tisch, wo sie ihr Zunderkästchen aufbewahrte, und entzündete die erste Kerze.

Während sie ihr Ritual durchging und auch die übrigen Kerzen der Dachstube entzündete, ließen die letzten Nachwehen des Aufeinandertreffens mit Ferra endlich von ihr ab. Dies war ihr Raum, wo sie für sich sein konnte, ohne dass jemand über sie urteilte. Wo sie weder berühmt noch abgehoben oder weise oder irgendetwas anderes als eine Thaumatobiologin sein musste. Sobald auch die Kerzen an der Tür brannten, legte sie ihren Umhang und die hohen, unbequemen Stiefel ab, die am Hof des Kaisers so beliebt waren. Sie zog die Nadeln aus dem Haar und legte sie auf die Kommode zu ihrer Bürste und einem kleinen, polierten Zinnspiegel.

Sie wusste, dass sie durchaus ein größeres Zimmer haben konnte. Der Dekan hatte ihr eines angeboten. Dies aber war ihres. Dies war der Rückzugsraum, nach dem sie sich die ganze Zeit in Kondorra gesehnt hatte. Nun, da sie ihn zurückbekommen hatte, könnte sie ihn für nichts in ganz Avarra wieder aufgeben.

In den Schatten knarrte etwas.

Das unerwartete Geräusch ließ sie aufschrecken. Es gehörte nicht zu dem üblichen Konzert von Knack- und Ächzlauten, das alten Orten so häufig innewohnte. Eher kam es von irgendwo nahe des Schreibtischs an dem noch dunklen Ende der Kammer, zwischen den Bergen von Schriften und Notizen.

»Pettar?«, rief sie. Manchmal kam eine graue, streunende Katze zu ihr hereingewandert und bettelte um Futter. Doch sie zog die Tagstunden vor, wenn sich das Licht unter den Fenstern in Pfützen auf dem Holzboden sammelte. »Pettar, bist du das?«

Stille. Genug Stille, dass sie schon dachte, sie würde sich zur Närrin machen.

Dann erklang das fremde Knarren abermals.

Sie trat in die Schatten.

»Pettar?«

Stille.

Dann jedoch –

»Nicht ganz.«

Sie kannte diese Stimme. Kannte sie nur zu gut. Hatte ihre Unterstellungen, ihre Beleidigungen vor gerade einer Stunde noch erduldet, als sie Geheimnisse aussprach, die Quirk nie geteilt hatte.

Ferra.

Feuer schoss aus ihr hervor, ehe sie wusste, wie ihr geschah. Es war ein instinktiver, heißer Anflug von Furcht und Hass. Ihre Hand peitschte die Luft, und ein feuriges Band entfloh dem Käfig, der es vorgeblich in ihrer Seele einsperrte, und flog durch den Raum.

Einen Augenblick lang war alles hell erleuchtet. Sie sah Kerzen Feuer fangen, Wachs sekundenschnell schmelzen. Sie sah auch, wie sich die Seiten ihrer Notizen kräuselten, sie sah die warm glänzende Drachenkralle, die sie aus Kondorra mitgebracht hatte und noch an die Wand hängen wollte. Sie sah ihren Schreibtisch, dessen Schatten nun die Wand emporfloh, als könnte er der Szenerie entkommen. Und außerdem sah sie Ferra in seinem Umhang, die Kapuze über dem Gesicht, der nun durch ihre Hand sterben würde.

All dies nahm sie in dem kurzen Augenblick wahr, den ihr Feuer brauchte, um durch den Raum zu schießen. Es ließ ihr gerade noch die Zeit, sich zu fragen, wie sie das alles morgen erklären sollte.

In einer boshaft scharfen Bewegung riss Ferra die Hand hoch. Ein Knistern und Zischen erklang, während weiße Kälte das andere Ende der Stube erfüllte. Ihr Feuer schlug in eine blendend helle Wand.

Dann erstarb es.

»Nein«, hauchte sie ungläubig, ja, entsetzt, als Ferra auf sie zutrat und die Arme hob.

Sie sah eisige Hände vor sich in der Luft entstehen, riesenhafte Repliken von Ferras eigenen, mit vorstehenden Knöcheln und dicken Sehnenbündeln.

Diese Finger schlossen sich um ihre Arme und ihre Brust. Sie keuchte auf, als die Kälte tief in ihre Glieder drang. Dann schloss sich die Faust enger, und sie keuchte abermals, als ihr der immense Druck die Luft aus der Lunge quetschte. Ihr Gesichtsfeld verschwamm.

Ferra durchmaß der Länge nach ihre Stube, die Arme noch immer ausgestreckt, der Druck ungebrochen. »So viel Freude es mir auch bereitet hat, dir dabei zuzusehen, wie du dich am Hof des Kaisers windest – ich fürchte doch, ich muss unsere Bekanntschaft nun beenden.« Über ihre rasselnden Atemzüge verstand sie kaum seine Worte.

Die Kälte trug sie davon. Den Druck der Finger spürte sie kaum noch.

Sie suchte nach ihrem Feuer. Vor einem Augenblick noch war es so begierig darauf gewesen, aus ihr hervorzubrechen, nun aber verbarg es sich ängstlich in ihrem Inneren.

Schlag zurück!, schrie sie es an. Ergib dich nicht diesem Mistkerl, diesem Schläger.

Ein Flämmchen bebte. Sie brüllte es an. Verbrenn seine Welt!

Abermals flackerte das Feuer auf, bildete eine Korona, die sie wie ein Kokon umgab. Die eisigen Hände sprangen auseinander, als hätten sie sich versengt. Und schon schmolzen sie. Schnaubend stolperte Ferra zurück, die Arme weit ausgebreitet. Gierig sog Quirk warme Luft ein.

Mit einem Aufschrei fuhr Ferras Hand durch die Luft. Etwas Gefrorenes traf wild auf ihre Seite. Quirk taumelte rückwärts, doch ihre Feuerkorona bewahrte sie vor der schlimmsten Kälte.

Fast hatte sie sich schon wieder gefangen, als Ferras nächster Schlag sie von der anderen Seite traf und wie ein Kinderspielzeug durch die Dachstube fliegen ließ. Ihr Kokon erzitterte dabei, und sie stolperte in seinen nächsten Schlag hinein. Strauchelte. Dann schlug er sie wieder. Und noch einmal.

Scheiß auf die Erklärungen morgen. Scheiß auf Ferra. Scheiß auf die Drachen. Scheiß auf die Angst. Dieser Mann würde brennen.

Sie senkte den Kopf, stürmte wie ein Bulle auf ihn los. Ihr flammender Strahlenkranz zog sich in die Länge, wurde zu einem Rammbock, zu einer Lanze.

Sie hörte seinen Aufschrei und stellte Kontakt mit … nein, doch nicht mit ihm, sondern mit einer knirschenden Eiswand her, die sie zurückwarf und ihrem Ansturm standhielt.

Sie biss die Zähne zusammen, ließ all ihre Kraft in den Raum vor sich strömen. Ihre Füße rutschten auf dem Holzboden aus, fanden nirgendwo festen Halt. Sie kämpfte sich erst einen Schritt vor, dann noch einen weiteren. Sie erreichte die alte Drachenkralle, von der nun die Eiszapfen herabhingen.

Ferra verstärkte seine Abwehr. Seine Eiswand wurde immer höher und dicker. Quirks mühsamer Vormarsch kam zum Erliegen.

Und dann – langsam und erbarmungslos – drängte er sie zurück.

Er war stärker als sie. Dies war die hässliche, unleugbare Wahrheit. Er hatte sie aus dem Kaiserpalast vertrieben, bis in ihre Mansarde hinein verfolgt und hier wie eine Ratte gefangen gesetzt. Und nun würde er sie überwältigen und schließlich töten. So einfach stellte es sich dar.

Quirkelle Bal Tehrin war die führende Thaumatobiologin der Welt, die herausragende Drachenexpertin in ganz Avarra. Sie hatte den kondorrischen Aufstand mitgemacht und eine entscheidende Rolle beim Tod von sieben Drachen gespielt. Sie war die lebende Waffe des Halbgottes Hethren gewesen und hatte mehr Männer, Frauen und Kinder auf dem Gewissen, als sie zählen konnte. Und all das bedeutete in diesem Augenblick überhaupt nichts.

Doch für diesen Mann würde sie doch nicht einfach aufgeben und sterben.

Sie gab ihre Mühe, ihren Angriff auf, ließ ihn zusammenbrechen. Einen kurzen Moment spürte sie Ferras Zögern, seine Überraschung, als er mit der nächsten Flammenlanze rechnete.

Doch sie kam nicht.

Quirk warf sich nach links, rollte über den Boden, durch die glimmende Asche ihrer Forschungsnotizen, und rutschte dann über gefrorene Eisflächen.

Sie kam vor der Drachenkralle zum Stehen, die sie aus dem verheerten Ödland vor dem Höllenschlundvulkan geborgen hatte. Ein teurer Besitz. Eine Quelle der Ehrfurcht und Angst. Gänzlich unzeremoniell schnappte sie sich die Kralle und warf sie nach Ferra.

Quirk sah ihn in einem Strahl Mondlicht, der durch ein Fenster fiel. Sah die Umrisse seiner Hakennase, als er sich in die Richtung ihres angestrengten Schnaubens drehte. Was sie allerdings nicht sah, waren seine Augen – ob sie groß vor Überraschung oder eng und konzentriert waren, als die Kralle ihn an der Seite traf.

Blut schoss hervor. Ein Aufschrei.

Der Rest war ihr gleich. Sie rannte bereits, ballte das Feuer um ihre Fäuste.

Ein Blitz weißen Lichts, ein Lodern kalten Windes, der Klang von brechendem Glas. Quirk riss einen Arm vors Gesicht, um ihre Augen zu schützen. Der Wind schlug ihr entgegen.

Als sich dann alles wieder beruhigte, war sie allein. Ferra war verschwunden. Lediglich das Eis und das zerbrochene Fenster bewiesen, dass er überhaupt hier gewesen war.

Ihre verstreuten Forschungsnotizen wehten über den Boden. Fröstelnd schlang Quirk die Arme um den Körper, während die kalte Nachtluft hereinströmte.

2

Zeit zur Häutung

Balur hatte das große Bedürfnis, jemandem das Gesicht abzubeißen.

Eigentlich war dies ja kein gänzlich unvertrauter Zustand für ihn. Zu Hause in der analesischen Wüste, wo er seine prägenden Jahre verbracht hatte, galten Gesichter als eine Delikatesse: vom Schädel gezogen und über dem offenen Feuer gebraten. Zugegeben, auf diese Art bereiteten die Analesier alles zu. Sie waren Wüstennomaden – es war nicht so, als hätten sie ein Übermaß an Koch-Varianten zur Verfügung.

Nun allerdings saß er im Herzen der grünen Täler Kondorras, den schuppigen Hintern auf einem Thron, der aus einem Drachenschädel geschnitzt war, im Zentrum eines großen Zeltes aus schwerem roten Stoff. Draußen trällerten und riefen die Vögel, stampften die Pferde. Und trotzdem malte er sich immer noch den Geschmack von Blut auf seiner Zunge aus.

Weiterhin musste zu seiner Verteidigung gesagt sein, dass der vinländische Botschafter, der da genau in diesem Augenblick vor ihm stand, besonders beleidigend war. Oder herablassend. Oder beides – Balur war sich bei all den Nuancen menschlichen Miteinanders immer noch unsicher.

Weiter erschwert wurde die Lage auch dadurch, dass Balur dem Botschafter gut einen Fuß und dreihundert Pfund überlegen war. Auch fehlte dem Botschafter komplett eine schützende Haut aus steinharten Schuppen. Oder ein Schwanz, um das Gleichgewicht zu halten. Eigentlich bat er doch regelrecht darum, dass man ihm das Gesicht abbiss. Er hätte genauso gut ein Silbertablett und eine Serviette mitbringen können, um den Ablauf etwas zivilisierter zu gestalten.

Leider hatte er das nicht. Stattdessen war er mit einer riesigen Armee im Rücken angereist. Und nuschelte weiter in einem Ton von … war es vielleicht Geringschätzung?

»Wir erkennen die großen … Dienste an, die du in den Augen der Menschen Kondorras als ihr sogenannter Prophet geleistet hast, als du das Drachenkonsortium erschlugst. Doch die Bedeutsamkeit deiner Taten endet an deinen Grenzen. Geltende Handelsabkommen hingegen nicht – ganz im Gegenteil. Kondorra hat Vinland einige Versprechen gegeben – unabhängig davon, wer das Land regiert –, und wir erwarten nun, dass sie auch eingehalten werden.« Der Botschafter rülpste.

Das, vermutete Balur, war ausgemachter Schwachsinn. Er hatte genug Jahre in Söldnerheeren zugebracht und für korrupte Barone, Herzöge und Grafen gearbeitet, um zu wissen, dass niemand ernsthaft von einem neuen Herrscher erwartete, die Zusagen des alten einzuhalten.

Er wusste ebenfalls, dass das dem Botschafter alles scheißegal war. Kondorra konnte vielleicht Streitkräfte von fünfzehntausend Kriegern aufstellen. Vinland konnte ihm mindestens die zehnfache Menge entgegenschleudern. Die Rechnung war einfach: Balur musste für Vinland die Beine breit machen.

Da half es auch nicht, dass der Botschafter restlos betrunken war. Der Geruch von Alkohol stieg in schweren, berauschenden Wellen von ihm auf. Balur schmeckte es beim Züngeln – der Geruch war gleichermaßen eine Beleidigung wie eine Einladung zum Kampf. Balurs Berater hatten ihn allerdings gewarnt, dass mit Trunkenheit zu rechnen wäre. Schließlich kam der Botschafter aus Vinland, einem Reich, das sich in seiner Gänze der Verehrung Otzes verschrieben hatte – des Gottes der Trunkenheit, des Übermaßes und des Gelages. Nüchternheit stellte in ihren Augen einen schweren Frevel dar.

Balur wünschte sich nichts sehnlicher, als betrunken zu sein. Es sei denn, betrunken und bis zum Arsch in Konkubinen stünde auch noch zur Debatte. Doch es war zu befürchten, dass er dann auch das bisschen Selbstbeherrschung verlieren würde, das ihn gerade noch daran hinderte, diesem Mann das Gesicht abzubeißen und zu verschlingen. Und damit wiederum würde er ganz Kondorra zu einem unrühmlichen Ende als Bodensatz in den Braugruben Vinlands verdammen.

Also brummte er stattdessen: »Nur dass sich zu diesen Handelsabkommen keine Verträge finden und sie nachteiligerweise schlecht für mein Land wären … und das Erste, was ich von ihnen hörte, kam …« Im Geiste ging er einige Beleidigungen durch. »… von dir.«

»Du stellst das göttliche Wort der Hohen Priesterschaft Vinlands in Frage, das von den schlaffen Lippen Otzes in die erwartungsvollen Ohren der Gläubigen getropft ist? Du zweifelst an seiner wässrigen Weisheit, die von seinen heiligen Wirten Krug für Krug in die Welt getragen wird?« Es lag richtig Feuer in seinen Worten. Der Botschafter, das musste Balur zugeben, war ein unglaublich effizienter Trunkenbold – hätte sich der Mann nicht auf halbem Weg in ihre Unterredung hinein eingenässt, Balur wäre regelrecht beeindruckt.

Als er die Herrschaft über Kondorra an sich gerissen hatte, war mit einer solchen Entwicklung nicht zu rechnen gewesen. Er hatte eine Armee von sechzigtausend befehligt, das Ergebnis eines allgemeinen Volksaufstands. Sie hatten seinen Namen gerufen, nach ihrem Propheten verlangt und ihr Leben seiner Herrschaft verschrieben. Er hatte sie zu einer Streitmacht rot an Zahn und Klaue machen wollen. Er hatte mit ihnen durch die Welt ziehen wollen, um zu plündern und zu brandschatzen, um ein neues Reich in seinem Namen zu errichten.

Stattdessen waren sie aus ihrem Blutrausch erwacht und zu ihren Höfen und Schmieden, ihren Läden und Schafen heimgekehrt, um nach dreißig Jahren gnadenloser Knechtschaft durch das Drachenkonsortium ihr Leben wieder aufzubauen. Und obwohl die Menschen Kondorras Balur nach wie vor mit fast religiösem Eifer verehrten, hatte das Pantheon Avarras kein allzu gutes Vorbild gesetzt, was religiösen Eifer anging. Ein Senken des Kopfes und ein Lüpfen des Hutes schien den meisten Göttern an Ehrerbietung durchaus zu genügen. Abgesehen natürlich von diesem verdammten Otze – wie es der Gott der Trunkenheit als Einziger verstand, seinen Anhängern eine schon sklavische Hingabe zu entlocken, war Balur zu hoch.

Allerdings galt das in diesen Tagen für eine Menge in Balurs Leben. Beispielsweise, was bei allen Geistern der Unterwelt er nun mit diesem nervtötenden Vinländer anstellen sollte.

Natürlich könnte er ihm den Krieg erklären. Ein Teil von ihm wünschte sich genau das. Es würde mit der Annexion Kondorras und zehntausend Toten enden, aber es wäre schon ein absurd beeindruckender Selbstmord. Gegen einen abscheulich überlegenen Gegner in die Schlacht zu ziehen, zu töten, bis die Leichen ihn wie Wände einschlossen, und dann ganz zum Schluss überwältigt zu werden, wenn diese Wände über ihm zusammenbrachen … Barden würden ein paar sehr epische Balladen darüber singen und mit ihrer Hilfe eine beträchtliche Zahl junger Leute mit geringem Selbstwertgefühl aufreißen. Das war alles, was Balur sich jemals von seinem Tod erträumt hatte.

Das Einzige, was ihn dann doch daran hinderte, war der Verdacht, dass die Vinländer genau das von ihm wollten. Sie mochten besoffen sein, aber doch keine Idioten. Also konnte er entweder ein Handelsabkommen schlucken, das ihn ruinieren würde, oder in einen Krieg ziehen, der sich unmöglich gewinnen ließ.

Das Handelsabkommen würde ihm wenigstens ein paar Monate Zeit geben, sich über all dies Gedanken zu machen.

Zu seiner Überraschung wünschte er, dass Will jetzt hier wäre. Will machte dieser ganze Denksportblödsinn nämlich Spaß. Er war derjenige, der ständig alles plante.

Und eigentlich – um bei der Wahrheit zu bleiben – war Will auch der Prophet, der Balur vorgab zu sein.

Oder vielmehr … war auch Will nicht der Prophet. Es gab gar keinen Propheten – das war alles bloß Scheiß. Sie hatten einen Vorwand gebraucht, um die Kondorrer zum Aufstand gegen ihre Drachenherren zu bewegen, und Balur hatte die Lüge am Leben erhalten, um an der Macht zu bleiben. Nicht, dass irgendwas davon ihm Sorgen bereitete. Er sah nicht, dass diese Lüge irgendwem wehtat. Davon abgesehen hatte er eigenhändig einen Drachen getötet und seinen Leichnam in einen explodierenden Vulkan geritten. Er hatte sich das alles redlich verdient.

Bloß – was hatte er denn noch, in diesem Augenblick? Ein mürrisches Volk und diesen betrunkenen Streithahn von Botschafter.

»Schön«, seufzte er. »Wir werden …«

»Scheiß auf euer Abkommen! Zur Hölle damit! Ihr mit euren Lügen! Du großmäuliger Fleck auf den Hosen der Menschheit! Der Prophet spuckt auf euch und deckt auch alle in der Nähe noch mit ein! Dieser feine Speichel dringt echt überallhin!«

Balur seufzte noch schwerer. Denn was ihm seine Rolle als Prophet außerdem eingebracht hatte, war sein persönlicher Hohepriester: Firkin, der alte Knecht, mit dem Will groß geworden war und der mit seinem Säufermaul so ziemlich alles vermasselt hatte, vom Anfang bis zum Ende.

Waren die Alkoholdämpfe um den Botschafter eine Fuge, so waren sie um Firkin eine voll orchestrierte Komposition. Balur schmeckte die wohlriechenden Dämpfe am Gaumen. Der Alte fiel taumelnd durch den Raum, schwang einen Weinschlauch und schrie den Botschafter unzusammenhängend an.

»… und … pisst … und … mitgefickt … zwölf schöne runde Schafe … paar Hühnerfedern … Eintopf alle … deine Mutter!«, war so ziemlich alles, was bei Balur ankam.

Der vinländische Botschafter fuhr herum, um dem verbalen Angriff zu begegnen. Er gab sich Mühe, hochnäsig auf Firkin herabzublicken, allerdings kam eher ein Schielen dabei heraus.

»Und wer soll dieses menschliche Arschgeschwür sein?«

Balur riss sich zusammen. »Mein Hohepriester und Berater thronweise, der alles übertrumpfende, allseits geschätzte Firkin.« Aus irgendeinem gottverfluchten Grund liebten die Leute Firkin. Wie gebannt hingen sie an seinen Lippen. Und Balur hatte nicht lange gebraucht, um zu begreifen, dass er seine Ziele am einfachsten erreichte, wenn er Firkin bei Laune hielt. Diese Woche machten ihn vor allem dumme, dumme Titel glücklich.

»Dumm wie ein Schwanz«, sagte der Botschafter.

»Stimmt«, gab Balur zu.

»Ach, deshalb hab ich gestern in deiner Mutter gesteckt«, sagte Firkin mit bedauerlicher Deutlichkeit.

Der Botschafter stand kurz vorm Explodieren.

»Firkin«, knirschte Balur zwischen seinen Zähnen. »Solltest du nicht eigentlicherweise eine Rede halten irgendwo?«

Firkin unterbrach kurz seinen üblen Anfall von Blähungen, um zu antworten. »Nein.«

Balur fragte sich, ob er Firkin vielleicht töten, dem Botschafter die Schuld in die Schuhe schieben und das Volk damit ausreichend in Rage bringen könnte, dass es eine Chance gegen die vinländische Armee hatte. Nachdenklich studierte er den Botschafter. Würden die Leute es glauben, dass der Botschafter beißenderweise Firkins Gesicht gefressen hatte?

Er entschied sich dagegen.

»Wir sind einverstanden«, sagte Balur so laut und deutlich, wie es ihm möglich war. »Wir stimmen gänzlicherweise dem dämlichen Abkommen zu. Es ist gut – oder so. Du hast schwänzlicherweise heute den Längeren. Wir gratulieren dir, wie du ihn mächtigerweise hier vor uns schwingst.«

»Einen Scheiß tun wir!«, schrie Firkin. »Wir schieben euch Vinländern das Abkommen ganz, ganz, ganz, ganz …«

»Halt doch die Fresse!«, brüllte Balur. Alles war so viel leichter gewesen, als er noch kein Herrscher gewesen war.

»Und du!«, schrie Firkin zurück. »Du kannst dein ›Halt doch die Fresse‹ nehmen und es dir ganz, ganz, ganz, ganz …«

Da polterte Balur von seinem Thron und marschierte auf Firkin zu.

»Ich werd ihn deiner Mutter schiebenderweise ganz, ganz, ganz, ganz …«

»Ach, seid doch still!«

Sowohl Balur als auch Firkin wandten sich verblüfft dem Vinländer zu, der sie mit einem Ausdruck des Abscheus bedachte. Dann zog er leicht schwankend eine Flasche aus seinem Gewand und kippte sie sich in den Hals.

»Ein Haufen gackernder Hühner«, murmelte er. »Regelt euren Scheiß und schickt mir eine Antwort, bevor ich die Grenze zurück nach Vinland überquere, sonst komm ich mit einer Armee zurück.« Er vollzog mehrere Gesten, die seinem Gebaren nach üblicherweise unter seinem Niveau waren, und torkelte aus dem Zelt.

»Na, prächtig.« Balur warf die Hände hoch.

»Ich frag mich ja …« Firkin deutete mit dem Finger auf ihn. »Hast du irgendwo deine Eier gesehen?«

Der Geschmack bloß eines köstlichen Gesichts…

Das Problem war nur, der Alte hatte recht: So ein Land zu regieren war eine permanente Übung in Selbstentmannung. Balur war ein Sklave der absurden Pflicht, sich um das Wohlergehen anderer zu kümmern, sie am Leben zu erhalten, damit er … ja, was eigentlich? Damit er sich noch weiter um ihr Wohlergehen sorgen konnte?

Er war alt und weich geworden. Und das zeigte sich am deutlichsten in der Tatsache, dass er Firkin nicht an Ort und Stelle ausweidete, sondern ihm bloß einen Kopfstoß verpasste, damit er dem Alkohol die Schuld an seiner Bewusstlosigkeit geben konnte. So wurde wenigstens niemand wütend auf ihn.

Stunden später sah Balur niedergeschlagen dem Feuer beim Sterben zu. Sein persönliches Zelt war kleiner als das, in dem er den Botschafter empfangen hatte, doch immer noch groß genug für mehrere kleine Häuser. Draußen im Lager konnte er seine Reiter rumoren hören. Er hatte sie um sich geschart, als er noch geplant hatte, Überfälle in der Gegend durchzuführen, um zu rauben, was er konnte, und den Rest niederzubrennen.

Doch es war schwer, Leute zu überfallen, die einen als Eroberer willkommen hießen. Es verdarb einem den ganzen Spaß daran, etwas niederzubrennen, wenn alle bloß drum herumstanden und klatschten.

Er griff nach seinem Krug, wollte trinken und stellte fest, dass er schon wieder leer war. Er erwog, nach einem neuen zu rufen, aber die Unterwürfigkeit des Jungen, der sie brachte, war Gift für seine augenblickliche Stimmung. So warf er den Krug beiseite, rappelte sich auf und torkelte zu seinem Bett. Das letzte Bier hatte das Zelt schon gehörig in Drehung versetzt. Er brauchte also wirklich keins mehr. Scheiß auf Bier.

Ihr Götter… Scheiß auf Bier? Was dachte er da nur? Kondorra zu regieren hatte ihn wirklich in sein Gegenteil verkehrt… Was er dringenderweise brauchte, war ein Kampf. Ein guter, altmodischer Kampf.

In exakt diesem Augenblick glitt eine Klinge sechs Zoll zwischen seine Rippen.

Trotz dieses beachtlichen Zufalls blieb Balur wenig Zeit, die Ironie des Timings zu würdigen. Stattdessen schrie er auf und zuckte vor dem scharf lodernden Schmerz zurück.

Die Klinge war scharf wie ein Rasiermesser und die Spitze mit Widerhaken versehen. Also eine Profi-Waffe. Sie zerriss ihm schon die Haut, als er zurückschreckte, und dann drehte der Angreifer die Klinge auch noch, um die Wunde zu öffnen und Schmerz und Blutverlust zu maximieren. Jeder normale Mensch wäre bereits außer Gefecht gewesen, wahrscheinlich längst verendet. Angesichts dessen, was die Klinge Balur über die Professionalität ihres Trägers verriet, nahm er an, dass ihn der Angriff in die Knie zwingen sollte, damit man ihm leichter die Kehle durchschneiden konnte.

Was hieß, dass man ihn unterschätzt hatte.

Denn schließlich hatte es die Klinge bloß ein paar Zoll tief durch seine dicke, gepanzerte Haut geschafft, hatte schlimmstenfalls den Rand seiner Lunge gekitzelt. Eine Entzündung könnte zum Problem werden, doch vorher würde Balur dem Narren noch den Schädel zermalmen. Von der Klinge befreit, sprang er vor und schlug zu.

Er traf … nichts.

Im sterbenden Licht des Feuers regte sich ein Schatten. Eine zweite Klinge traf ihn in die andere Seite. Entweder sein Gegner war übermenschlich schnell, oder er hatte Freunde dabei.

Balur änderte die Strategie. Er hatte keine Lust, aus zu vielen Wunden zu bluten. Zwei war zwar noch nicht viel, doch der Trend, der sich hier abzeichnete, passte ihm nicht.

Ehe der Angreifer Gelegenheit hatte, die Klinge zu drehen, trat Balur auf ihn zu. Er spürte ein befriedigendes »Umpf«, als sein massiger Körper gegen einen kleineren stieß. Balur ließ sich auf ein Knie fallen und spürte den schmächtigen Gegner unter seinem Gewicht gefangen. Mit einem zufriedenstellenden Schrei brach das Becken des anderen entzwei.

Ich hab’s immer noch drauf.

Dann spürte er die flüsternde Bewegung des ersten Angreifers, der ihm auf die Pelle rückte, während er noch abgelenkt war. Eine Dolchklinge glitt von einer dicken Schuppe in seinem Nacken ab.

Vielleicht nicht mehr ganz so drauf…

Er schwang den ausgestreckten Arm, als die Klinge schon auf das verletzlichere Fleisch seiner Kehle zuglitt. Spürte den Luftzug, als sein Gegner unter dem Schlag wegtauchte.

Grunzend richtete sich Balur wieder auf, doch im selben Augenblick stach der Angreifer gleich mehrmals auf seinen Arm ein. Fetzen von Fleisch hingen zwischen zerhackten Schuppenstücken heraus. Balur brüllte.

Dann folgte ein weiterer Stich, diesmal in seinem Rücken. Dem Gewicht und der Tiefe des Eindringens nach war das eine Wurfwaffe. Von denen hatte Balur schon genug abgekriegt, um sie gut zu kennen. Da sein zweiter Gegner noch immer am Boden lag und schreiend ergründete, welche Teile seines Arschs noch zusammenhielten, hieß das, dass es hier noch einen dritten Messerstecher geben musste.

Wem zur Hölle hatte er dermaßen ans Bein gepisst?

Die Antwort lag wahrscheinlich auf der Hand. Die Vinländer. Was verrückt war, hatte er ihnen doch nicht einmal Widerrede geleistet.

Er zwar nicht – aber Firkin. Lalls schwarzes Auge auf den kleinen Scheißfleck. Der Alte laberte, was ihm gerade einfiel, und ein paar Verrückte versuchten dafür ihn mit Messern umzubringen …

Er griff nach hinten, zog sich den Dolch aus dem Rücken und warf ihn in die ungefähre Richtung, aus der er gekommen war. Das Stöhnen eines Getroffenen blieb in enttäuschender Weise aus.

Das Werfen war ehrlicherweise immer mehr Lettes Ding gewesen.

Mit einem Stampfen auf den Gefallenen vor ihm wollte er sich trösten, doch der hatte sich in der Zwischenzeit in die Schatten gerollt.

Es gibt hier zu viel gottverfluchte Schatten.

Er brauchte mehr Licht als ein kränkelndes Feuer. Ein Scheit als Fackel würde aber bloß ihn selbst blenden. Er brauchte etwas, irgendwas, um das Blatt in diesem Kampf zu seinem Vorteil zu wenden.

Götter, drei Männer mit Messern, und sie hatten ihn falscherweise auf dem Fuß erwischt. Regierenderweise war er wirklich vergammelt in dieser Achselhöhle von einem Land.

Wieder griff ihn jemand an, diesmal von links. Er ließ ihn kommen, spürte die Klinge in ihn fahren, einmal, zweimal …

Mach nur weiter. Schön gierigerweise.

… und ein drittes Mal. Balur warf sich seinem Angreifer entgegen, rammte ihn mit seiner blutenden Flanke. Überraschtes Grunzen. Balur bekam den Schädel zu packen und drückte zu. Der andere starb mit einem Schrei.

Zwei erledigt.

Jemand ging nun seine rechte Seite an. Götter, er konnte doch diesen Nadelkissenscheiß nicht ewig mitmachen!

Gerade, als er die Handgelenke des Angreifers erwischte, landete ein weiterer Wurfdolch in seinem Rücken.

Jetzt waren sie also schon viererweise…?

Scheiß doch drauf. Balur wusste genau, wo er mehr Licht herbekam.

Er schleppte den letzten Angreifer an den Armen mit, ignorierte die nächsten zwei Dolche, die in seinen Schultern landeten, und warf den Mann in die letzte Feuerglut.

Der sprang mit einem Aufschrei wieder hoch, doch es war schon zu spät: Feuer leckte an seinen Armen und Beinen.

Weshalb man sich die Kleider schwärzenderweise nicht mit Pech einschmieren sollte, dachte Balur. Ganz so Profi also doch nicht.

Wie ein hingekritzeltes Strichmännchen aus Flammen taumelte der Mann durch das Zelt. Endlich konnte Balur die verbliebenen Angreifer erkennen: Drei waren es insgesamt, zwei Männer und eine Frau, wenn er sich nicht täuschte. Sie wirkten aber gar nicht wie Vinländer auf ihn, denn sie torkelten überhaupt nicht, sondern hielten sich aufrecht und wachsam.

Einer der Männer verfügte über eine ganze Handvoll von Wurfdolchen. »Für Theerax!«, rief er und holte aus.

Balur beschloss, dass dieser Hurensohn als Erster dran glauben durfte.

Dann überkam ihn der Blutrausch und raubte ihm für eine Weile die Sinne.

Als er wieder zu sich kam, hackte er noch immer im Rauch des brennenden Zeltes vor sich hin, während er mit der anderen Hand die Gedärme festhielt, die ihm aus dem Bauch zu quellen drohten. Außerdem hatte der den unverwechselbaren Geschmack von jemandes Gesicht auf der Zunge.

Immerhin das ist noch so gut, wie ich gedächtnisweise meinte. Doch keine völlige Verschwendung von einem Tag.

Bloß von Leben.

Der brennende Angreifer hatte sich in der Zeltwand verfangen, ehe er gestorben war, und nun brannte das ganze Segeltuch. Balurs Atem ging schwer. Zu viele Stiche und zu tief. Zu viel Blut, das seine Seiten hinabrann.

Alt und fett. Langsam und tot.